Michael Seitz
Kinderspiel – Die Fesseln der Vergangenheit
Roman
Knaur e-books
Michael Seitz, Jahrgang 1976, hat seine Kindheit und Jugend in München und im ländlichen Niederbayern verbracht. Schon als Kind wollte er Schriftsteller werden und hielt an diesem Traum fest. Der Autor lebt seit 2005 in Wien. Er schreibt vorwiegend historische Romane und Gegenwartskrimis. Das ostbayerische Literaturmagazin Lichttung schrieb über seine Krimi-Reihe rund um den kauzig-sympathischen Ermittler Falco Brunner: »Michael Seitz hat mit Falco Brunner einen Protagonisten geschaffen, in dessen Gefühlswelt sich der Leser gut hineinversetzen kann, mit dem er mitleiden und dessen Gefühle und Handlungen er nachvollziehen kann ...« (Ausgabe 01/2019). Seitz genießt es, mit seiner Frau und seinen beiden Kindern durch Wien zu flanieren und in Buchgeschäften zu schmökern. Die Familie besitzt einen Kater namens »Mizzi«. Seitz wird von der Literaturagentin Lianne Kolf vertreten. »Man muss schon verrückt sein, wenn man Schriftsteller werden will!«, so Seitz’ Lebensmotto.
© 2019 der E-Book-Ausgabe Topkrimi – exiting eBooks
Ein Imprint der Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München. Vermittelt durch die Literaturagentur Lianne Kolf.
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.
Redaktion: Franz Leipold
Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München
Coverabbildung: © FinePic®, München
ISBN 978-3-426-44576-1
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
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Wien, 1983
Im Schulflur stank es wie immer nach Käsefüßen. Der Junge ekelte sich vor dem Geruch. Die großen Ferien schienen ihm plötzlich wie ein schöner Traum, den er am Morgen abgestreift hatte, als er mit den Armen in die Riemen seiner zerbeulten Schultasche geschlüpft war. Er wandelte vorbei an den metallenen Wandschränken mit den Aufklebern, deren Bedeutung für ihn ein Rätsel darstellten: ATOMKRAFT, nein danke! – In den Ferien waren Jugendliche durch die Straßen gezogen und hatten weiße Luftballons an Hauseingängen, Geländern und Laternen festgebunden. Der Junge hatte eine Schere aus der Wohnung geholt und einen der Luftballons an der Schnur abgeschnitten, um ihn an den Lenker seines neuen Fahrrads zu binden. Stolz war er mit dem weißen Luftballon herumgefahren und hatte voll Vorfreude bei seiner Freundin Ilona angeläutet. Ilonas Vater hatte ihm die Tür geöffnet und sich ihm in den Weg gestellt.
»Darf ich reinkommen? Ich will Ilona besuchen«, hatte der Junge gefragt.
Herr Wagner hatte ihn angesehen und mit tonloser Stimme geantwortet: »Heute nicht, Tobias.«
Der Junge mochte Herrn Wagner. Ilonas Vater ging manchmal im Sommer mit ihnen ins Schwimmbad oder im Herbst ins Kino. Der Vater sagte, Herr Wagner habe dafür Zeit, weil er von Beruf Lehrer sei. Der Vater des Jungen dagegen hatte für einen derartigen Blödsinn, wie er es nannte, niemals Zeit, weil er als Arzt in seiner Praxis und im Krankenhaus arbeitete. Er musste jeden Tag Überstunden machen, um Leben zu retten. Lehrer dagegen hatten fast die Hälfte des Jahres Ferien!
Der Junge spürte seine Knie zittern. Herr Wagner sah ihn mit seinen hellen Augen an. Tränen liefen Ilonas Vater über das Gesicht, bevor er den Jungen in den Arm schloss, dahinter das Fahrrad mit dem Luftballon sah und einfach nicht länger an sich halten konnte. Der Erwachsene begann hemmungslos zu weinen.
Als der Junge an diesem Tag nach den Ferien das Klassenzimmer betrat, setzte er sich an seinen alten Platz. Der vertraute Geruch drang ihm in die Nase, eine Mischung aus Spitzabfällen, Radiergummi, Linoleumboden und Desinfektionsmitteln. Zum Gefühl der Übelkeit gesellte sich ein stechender Schmerz in seiner linken Schläfe – es handelte sich um eine Form von Kopfschmerzen, die er vor den Ferien noch nicht gekannt hatte. Erst an dem Tag, an dem er den weißen Luftballon, auf den jemand mit Filzstift eine Taube gemalt hatte, an seinen Fahrradlenker geknotet hatte, war ihm dieser Schmerz in seiner Stirn zum ersten Mal bewusst geworden.
»Ist Ilona schon da?«, fragte Kerstin und zeigte auf den leeren Platz neben dem Jungen.
Der Junge hob die Schultern, und ein anderer Junge namens Marco sagte: »Die kann gar nicht mehr kommen, hat meine Mama gesagt, weil sie nämlich tot ist. Ilona ist jetzt ein Engel!«
»Du lügst!«, sagte Kerstin.
Juliane mischte sich ebenfalls in ihren Disput ein: »Es gibt gar keinen Himmel, sagt mein Vater. Das ist nur eine Erfindung der Kirche … Ilona ist gar kein Engel geworden. Sie liegt jetzt unter der Erde und wird von Würmern aufgefressen und kommt als Scheiße aus den Würmerhintern wieder raus, wenn die Würmer mal aufs Klo müssen.«
»Selber schuld!«, meinte Kaspar. »Das passiert eben mit Kindern, wenn sie allein zur Kiesgrube laufen. Dann begegnen sie bösen Männern, die ihnen wehtun und sie umbringen.«
Kaspar verstummte jäh, als er den Gesichtsausdruck des Jungen sah. Es musste jener Moment gewesen sein, in dem der Schmerz im Kopf des Jungen explodierte. Er sah rote Punkte und Blitze. Das Gesicht seines Freundes Kaspar verschwamm. Plötzlich ergriff ihn eine große dunkle Macht, als ob ein Weltraumriese mit einer Weltraumfernbedienung in der Hand die Kontrolle über ihn erlangte hätte. Der Junge schlug mit den Fäusten auf seinen Freund Kaspar ein. Etwas in ihm brach sich Bahn, das er sich erst Jahre später erklären konnte. Der dunkle Sog, in den seine beste Freundin Ilona geraten war, hatte auch ihm den Boden unter den Füßen weggerissen. Er ruderte mit den Armen und schlug um sich. Aufgeschlitzt! Das Wort hallte durch sein Innerstes. Der Junge hatte einen Teddybären zu Hause mit einem Küchenmesser aufgeschlitzt, woraufhin weißes Zeug aus seiner Bauchdecke quoll. Der Junge verstand nicht. Er hatte sich mit dem Messer in den Finger geschnitten, um sich zu versichern, dass auch wirklich Blut durch seinen Körper lief. Er konnte sich nicht erklären, was mit Ilona passiert war, wer ihr das angetan hatte. Zwar hatte er die Gespräche der Erwachsenen belauscht, doch es handelte sich lediglich um Mutmaßungen. Von Ilona fehlte jede Spur. Er konnte nicht aufhören, seinen Luftballon anzustarren. Er brachte ihn nach Hause und band ihn an seinem Schreibtisch fest. Es dauerte drei Tage, dann war alles Gas aus dem Luftballon gewichen. Er war wütend auf Ilona, weil er ihr doch den Luftballon hatte zeigen wollen und weil sie an dem Tag alleine – ganz ohne ihn – zur Kiesgrube gegangen war … Sie hätte doch auf ihn warten sollen! Sie hätte warten sollen! Wenn sie vorher nicht diesen Streit gehabt hätten, weil er ein Stück Wurstbrot einfach weggeschmissen hatte. Es war Ilonas Brot gewesen, und sie hatte keinen Hunger mehr gehabt. Ilona hatte ihn belehrt, dass es in Afrika Kinder gäbe, die verhungern mussten, weil ihre Eltern sich keine Wurstbrote leisten konnten. Daraufhin hatten sie sich gestritten, und Ilona war einfach ohne ihn losgezogen … Sie hatte ihn mit seinen Schuldgefühlen und seinem verletzten Stolz einfach zurückgelassen!
»Tobias! … Tobias … hör sofort auf … es reicht!«
Die Berührung der Frau, die ihn festhielt, erschien ihm auf einmal, als hätten Arme aus der Dunkelheit ihn von hinten ergriffen, um ihn mit sich fortzuziehen. Erst der vertraute Geruch ihres Parfüms ließ ihn aus seiner blinden Verzweiflung erwachen. Frau Weinberger hielt ihn. Er schrie. Eine zweite Lehrerin, die eine andere Klasse unterrichtete, kümmerte sich um Kaspar. Tobias sah in das vor Schreck geweitete Gesicht seines Freundes, erkannte das Blut an seinen Kleidern, das langsam auf den Boden tropfte. Das Bild des Teddybären, aus dem die Watte quoll, tauchte vor seinem geistigen Auge auf. Tobias verstand nicht. Er wusste überhaupt nicht, wie sein Freund in diesen Zustand geraten war. Er hörte, wie das Mädchen mit dem Namen Juliane sagte:
»Der Kaspar hat gesagt, dass die Ilona von Würmern gefressen wird … da ist der Tobias einfach auf ihn losgegangen!«
Kaspar heulte Rotz und Wasser. Die andere Lehrerin wischte Blut und Tränen mit einem viel zu kleinen Taschentuch von seinem Gesicht. Tobias riss sich los, konnte den Anblick nicht ertragen. Er trug die Schuld an Ilonas Schicksal – und jetzt auch an Kaspars – und an dem der armen Kinder in Afrika, die verhungern mussten, weil er ihr halbes Wurstbrot einfach weggeschmissen hatte! Er stürmte auf den Flur. Der Geruch von Frau Weinbergers süßlichem Parfüm, Desinfektionsmitteln und Käsefüßen bildete in seiner Nase eine unerträgliche Mischung. Der Schmerz in seiner linken Schläfe fühlte sich an, als müsste er jeden Moment sterben – und es wäre ihm egal gewesen, wenn er nur auch ein Engel geworden oder gemeinsam mit Ilona von den Würmern gefressen worden wäre. Hauptsache, er konnte ihr sagen, dass sie recht gehabt hatte mit den armen Kindern in Afrika, die verhungerten, weil ihre Eltern sich kein Wurstbrot leisten konnten … Er wollte ihr sagen, wie recht sie damit gehabt hatte! Und dann würden sie dieses Mal zusammen zur Kiesgrube laufen – oder mit ihren Fahrrädern dorthin fahren. Alles würde gut werden, wenn nur nicht … Tobias übergab sich! Während Tränen über sein Gesicht perlten, brach er in die Knie, spürte, wie die Kraft aus seinen Muskeln schwand. Schwärze hüllte ihn ein. Er verlor die Kraft über seinen Körper – so wie das Zaubergas aus dem Luftballon entwichen war, jenem erbärmlichen, verschrumpelten Rest Luftballon, den er zu Hause unter seinem Kopfkissen versteckte, weil er auf den Tag wartete, an dem die Freundin zu ihm zurückkehren würde.
Flughafen Schwechat, Samstag, 22. Juli 2017
Meinen Jetlag bekämpfe ich für gewöhnlich mit literweise schwarzem Kaffee ohne Milch und ohne Zucker. Wenigstens gibt es heutzutage überall diese Starbucks-Filialen. Der Kaffee dort schmeckt sogar besser als im berühmten Café Sacher in Wien, wo man in erster Linie für den Namen bezahlt. In Texas habe ich die letzten fünf Jahre als Gefängnispsychologe gearbeitet und die Todeskandidaten begleitet. Ohne den Kaffee von Starbucks hätte ich all das nicht geschafft! Starbucks ist das Beste seit der Erfindung des Rades oder der Dampfmaschine.
»Entschuldigen Sie«, sagt eine adrette Dame in Flughafenuniform zu mir, »ist das Ihr Koffer?«
Die Dame zeigt auf ein einzelnes schwarzes Gepäckstück, das einsam die Runde dreht und als letztes auf seinen Besitzer wartet. Ich schaue mich um. Wo sind die anderen Passagiere des Flugs geblieben?
»Ja.«
Ein Stewardessenlächeln, verständnisvoll – ein konditioniertes, antrainiertes Lächeln.
»Ich heiße Tobias«, sage ich, »… Tobias Miller.«
Sie fällt auf meinen kleinen Trick herein – ihr irritierter Blick verrät, dass sie eher mit einem freundlichen Gespräch à la »Dankeschön – gern geschehen – einen schönen Aufenthalt wünsche ich Ihnen!« gerechnet hat als mit der ausgestreckten Hand eines Vierzigjährigen in einem T-Shirt mit Schweißflecken unter den Achseln, Bluejeans und Flipflops. Ich weiß selbst, dass ich keine Schönheit bin. Wir schauen uns kurz in die Augen, reichen einander die Hand, ehe wir in verschiedene Richtungen davongehen. Ich habe die letzten drei Tage nie mehr als eine halbe Stunde am Stück geschlafen. Ich gehe auf die nächste Toilette und betrachte mein Gesicht im Spiegel über dem Waschbecken. Die Ringe unter den Augen sind fast schwarz. Ich wende meinen Blick ab und frage mich noch immer, ob das alles eine gute Idee war. Bin ich ein Fliehender, der seine Zelte abbricht, weil er wieder einmal seinen Karren in den Sand gelenkt hat? Oder gehöre ich eher zur Kategorie Glücksritter? – Ein Mann in der Mitte seines Lebens, auf der Suche … Ich denke an das verdutzte Gesicht der Stewardess. Heutzutage gibt es keinen Serviceberuf mehr, in dem die Menschen nicht auf irgendeine Art und Weise psychologisch geschult sind. Hat sie mich eher in die Kategorie Weg-von-Typ eingeordnet oder vielleicht doch als Hin-zu-Typ? Diese Gedanken kreisen mir durch den Kopf, während ich meine Blase erleichtere. Es gibt Menschen, die verüben ein Verbrechen, weil sie sich dadurch erhoffen, endlich ihren erbärmlichen Verhältnissen zu entfliehen. Sie wollen ihrem Unglück entrinnen und kommen dabei vom Regen in die Traufe. Andere überfallen die Bank in Las Vegas, weil sie hoffen, dadurch in eine neue, bessere Existenz aufzubrechen. Das sind die Leute mit den großen Plänen, die sie am Ende hinter Schloss und Riegel bringen.
Ich schleppe mich mit meinen 250 Pfund nach draußen in die Schalterhalle.
»Da bist du ja endlich!«, sagt eine Stimme hinter mir.
Ich drehe mich um. »Roland!«
Ich schaue in ein Gesicht, das ich anders in Erinnerung habe. Roland Wagner, Ilonas kleiner Bruder und mein bester Freund in Wien, trägt einen Bart. Am Kinn wachsen ihm bereits graue Haare. Auf seinem Kopf dagegen zeigt sich schütteres braunes Haar, durch das an vielen Stellen die Kopfhaut verräterisch hervorlugt.
»Du siehst umwerfend aus, mein Freund«, sage ich.
Wir liegen uns in den Armen.
»Und du erst!«, greift er meinen missglückten Scherz auf. Er stupst gegen meinen Bauch, in dem zu viele Burger und Süßigkeiten ihre Spuren hinterlassen haben. Es wäre leicht, meinem Lebensstil, dem ich die letzten Jahre ausgeliefert war, dafür die Schuld zu geben.
»Wie lange willst du dieses Mal bleiben?«
Roland nimmt mir meinen Koffer ab. Wir drängen uns durch die große Halle. Im klimatisierten Bereich fällt es mir leichter, durchzuatmen. Leider kein einziger Starbucks weit und breit! In dem Moment, als wir nach draußen gehen – Richtung Parkplatz –, bleibt mir die Luft weg.
»Alles gut bei dir?«
Roland stellt den Koffer ab, legt eine Hand auf meine Schulter. Ich ringe nach Atem und schaue auf. Meine Nase ist schon wieder verstopft. Ich brauche dringend ein Spray, sobald wir an einer Apotheke vorbeikommen.
»Geht schon wieder!«, antworte ich und ignoriere seine besorgte Miene.
»Wie geht’s bei dir?«, weiche ich seiner Frage aus. »Wie geht’s Verena und den Kindern? Hat sie endlich eine Anstellung gefunden?«
Roland geht auf meinen Ablenkungsversuch ein – er tut mir den Gefallen! – und antwortet prompt: »Sie arbeitet im Allgemeinen Krankenhaus. Habe ich dir das nicht geschrieben? Liest du keine E-Mails?«
»Ach ja«, erinnere ich mich. »Entschuldige. Wie habe ich das nur vergessen können?«
Auf dem Weg zum Auto erzählt er mir von seinen beiden Kindern. Mir fällt es immer schwer, ihre Namen zu behalten. Ein Junge namens Maximilian und ein Mädchen, Florentina. Ich präge mir die Namen ein, weil ich weiß, wie sehr es Roland kränken würde, wenn er von meinem Desinteresse an Kindern erführe. Einmal hat Roland bei einer solchen Gelegenheit zu mir gesagt: »Weißt du, Tobias, irgendwann wirst du feststellen, dass die Welt sich teilt in Menschen mit Kindern und Menschen ohne Kinder … spätestens, wenn du eigene hast!« Wir haben trotz unserer unterschiedlichen Ansichten beschlossen, Freunde zu bleiben. Endlich stehen wir vor seinem Auto – natürlich eine Familienkutsche, hinten links und rechts mit Sonnenschutz: ein roter Rennwagen namens Lightning McQueen und ein rosarotes Einhorn.
»Wie geht es eigentlich deinem Vater?«, frage ich. Ich sehne mich nach einem Schokoriegel. Am liebsten mag ich diese Sorte mit Erdnüssen, Karamell und Krokant. In den USA kriegt man diese Riegel mit Unmengen an Erdnussbutter. In Europa handelt es sich um eine Art Light-Version ohne die Erdnussbutter. Ich vermisse diese Riegel schon jetzt: amerikanische Snickers. Dabei befinde ich mich noch keine halbe Stunde auf österreichischem Boden.
»Die Demenz hat ihn fest im Griff, mal stärker und mal schwächer. Du weißt, wir haben nicht viel zu erwarten.«
Ich nehme auf dem Beifahrersitz Platz. Im Wageninnern herrschen geschätzte eine Million Grad. Die Klimaanlage braucht ein paar Minuten. Ich kurble das Fenster nach unten. Während der Fahrt reden wir wenig. Ich kurble das Fenster wieder hoch. Die Autobahn zieht an uns vorbei.
Roland wiederholt seine Frage: »Wie lange bleibst du diesmal, Tobias?«
Ich beobachte sein Gesicht von der Seite. »Weißt du was von meinen Eltern?«
Er zuckt mit den Schultern. »Wenn du es nicht weißt, wer dann?«
»Klar!« Ich verstehe seinen Einwand. »Natürlich habe ich mit Mama telefoniert. Aber du weißt, die Überseeverbindungen und … und überhaupt …«
»Deine Eltern und meine Eltern haben einander seit Jahren nicht mehr gesehen. Das weißt du. Seit ihr damals von einem Tag auf den anderen plötzlich weggezogen seid! Mein Vater, der Herr Oberstudienrat, und dein Vater, der Herr Doktor, die waren sich doch noch nie besonders grün!«
Die Fahrt dauert eine halbe Stunde. Dann verlässt Roland die Autobahn. Er biegt nach links ab. Die Bäume und Sträucher leuchten in einem betörenden Grün. Wir fahren durch eine Siedlung mit großen Häusern und Villen, an denen allesamt die Alarmanlagen demonstrativ an den Fassaden über Türen und Erkern prangen. Rolands Elternhaus, in dem er mit seiner Familie im Erdgeschoss wohnt, liegt einen Steinwurf vom Bach entfernt. Am anderen Ufer beginnt bereits der Wienerwald. Die Luft riecht nach Autoabgasen, Harz und Erde. Ich stehe wie paralysiert vor der Gartentür.
»Tobias? Alles klar bei dir?«, fragt Roland. Er kratzt sich nervös an seinem halbgrauen Bart.
Die Situation ähnelt eins zu eins jener bei der Gepäckausgabe mit der Stewardess. Ich erwache aus meinen Gedanken. Schon wieder hat mich jemand dabei erwischt, wie ich Löcher in die Luft starre. In Wien nennt man das: ins Narrenkastel stieren! Ich versuche ein Lächeln.
»Wie alt bist du jetzt eigentlich?«, frage ich Roland.
Der Trick funktioniert auch dieses Mal. Ich sehe die Irritation in Rolands hellen Augen. »Siebenunddreißig«, antwortet er nach der üblichen Schrecksekunde.
»Und du bist keinen Tag von zu Hause ausgezogen?«
»War einfach nicht nötig«, antwortet er. »Das Haus ist doch groß genug. Und mein Vater wohnt oben. Unten wohnen Verena und ich mit den Kindern.«
»Wolltest du eigentlich nie von zu Hause weg?«
Er öffnet die Heckklappe des Autos und stellt den Koffer zwischen uns.
»Muss denn jeder in der Welt herumirren, damit er zu sich selbst findet?« Er zwingt sich zu einem Lächeln – ich muss an einen Mann mit Hämorrhoiden denken, der auf der Toilette sitzt und in der Zeitung plötzlich einen Witz liest: ein Hämorrhoidenlächeln.
Ich versuche einen Scherz: »Du hörst dich schon an wie meine Mutter.«
Er nickt. »Dann wird es höchste Zeit, dass du eine Dusche, was Vernünftiges zu essen und eine Haube voll Schlaf kriegst, mein Freund. So ein Jetlag ist was Grauenhaftes!« Er klopft mir auf die Schulter. Ich bücke mich seufzend nach dem Koffer. Als wir zur Haustür gehen, verspüre ich Bauchschmerzen. Es fühlt sich dort unten an, als träte mir ein hyperaktiver Zwerg unentwegt gegen den Magensack. Der Gedanke an meinen Lieblingsschokoriegel wird zur Qual. Ab morgen mache ich Diät. Ganz bestimmt! Ich nehme einfach viel zu viele Kalorien zu mir. Kein Wunder, dass mir ständig schlecht ist. Unbewusst fasse ich gegen den linken Schläfenlappen. Ich ignoriere den dezenten Schmerz. Neulich habe ich in einem Heft gelesen, dass viertausend Jahre alter Honig, der neben ägyptischen Mumien gefunden wurde, noch essbar gewesen sein soll. Erinnerungen und Schmerz haben ebenso wenig ein Ablaufdatum wie Honig, sinniere ich vor mich hin. Man nennt das auch Unterbewusstsein. Im Unterbewusstsein gibt es kein Vergessen – ganz egal, wie lange und wie weit ein Mensch vor seiner Geschichte davonläuft. In diesem Moment bin ich zu einer einzigen Erinnerung aus Fleisch und Blut geworden, die in jeder Zelle meines Körpers auf die Schmerzrezeptoren einhämmert. Der Anblick von Kinderfahrrädern, Rollschuhen und Skateboards neben der Haustür treibt Angstschweiß aus meinen Poren.
»Ich habe Lasagne gekocht«, sagt Roland.
Ich stelle den Koffer im Hausflur neben einem stummen Diener ab, über dem unzählige Kinderjacken und Mäntel hängen.
Die Küche duftet nach Pasta. Der hyperaktive Zwerg in meinem Magen gibt Ruhe. Roland entfernt die Alufolie von einer Backform. »Guten Appetit!«, sagt er und sieht zweifellos das verräterische Blitzen in meinen Augen.
»Oh, das sieht ja verführerisch aus«, höre ich mich sagen. »Ich habe nur gerade keinen großen Hunger!« Ich atme tief durch.
Roland geht zurück in den Gang. Ich höre durch das Stiegenhaus seine Stimme. Er ruft seine Kinder. Am liebsten möchte ich mich in dieses Kunstwerk aus Nudelplatten, faschiertem Fleisch, Gemüse und jeder Menge Olivenöl hineinlegen. Der Gedanke an Béchamelsauce löst Fantasien in mir aus, die jegliche erotischen bei Weitem übersteigen … Ich ertappe mich beim Gefühl der Gier. Ich möchte nicht, dass Roland seine Kinder holt und diese womöglich mitessen! Ich bin immerhin hier der Gast! Ihr Vater hat die Lasagne für mich gekocht! Jesus, wann habe ich eigentlich aufgehört, normal zu essen?
Ich stehe mitten in einer Küche und höre fröhliche Kinderstimmen. Im nächsten Moment geht die Tür auf, und Maximilian stürmt herein, hinterher seine kleine Schwester Florentina. Die Kinder bleiben bei meinem Anblick abrupt stehen.
»Darf ich vorstellen«, sagt Roland, »Onkel Tobias aus Amerika ist angekommen.«
Die Kinder bringen kein Wort hervor. Maximilian blickt schüchtern zu mir auf. Blond, blaue Augen, ein hübscher Junge … Seine Schwester Florentina blickt verschämt zu Boden. Ich höre meine Stimme sagen: »Hallo, ihr beiden, wann habe ich euch zuletzt …« Jede weitere Silbe aus meinem Hals verwandelt sich in ein tonloses Krächzen.
Ich höre Roland antworten: »Vor vier Jahren warst du zuletzt hier in Wien. Damals war Maximilian vier und Florentina gerade zwei, fast noch ein Baby.«
Schweigen. Betroffenes Schweigen beherrscht den Raum mit der rustikalen Einbauküche aus alten Zeiten. Selbst die massiven Stühle aus dunklem Eichenholzfurnier und der Tisch von damals stehen noch an ihrem Platz. Florentina schaut mich mit hellen, beinahe durchsichtigen blauen Augen an, einer Mischung aus Verträumtheit und einer Art kindlichem Verstehen. Ich spüre Rolands Blick in meiner Schläfe. Er mustert abwechselnd seine Tochter und mich. Das Kind blickt kurz zu ihm, und ich sehe Florentinas feines Profil, eine Himmelfahrtsnase, hohe Wangenknochen und ein zartes, filigranes Kinn. Auf den Fotos, die Roland mir in den letzten Jahren geschickt hat, waren immer nur er und seine Frau abgebildet. Er misstraut dem Internet, würde niemals Kinderfotos per E-Mail versenden. Aus gutem Grund!
Ich bekomme keine Luft mehr durch die Nase. Ich drehe mich um nach dem Fenster mit Blick in den Garten. Dort stehen die Schaukel und die Rutsche, und ich frage mich, wie Roland es nur erträgt, in Florentinas Gegenwart ein normales Familienleben aufrechtzuerhalten. Seine Tochter gleicht seiner Schwester wie ein Ei dem anderen. Wo wir doch alle wissen, dass Ilona seit einer Ewigkeit tot ist! Selbst wenn ihre Leiche nie gefunden worden ist, wissen wir mit fast absoluter Sicherheit, dass sie längst nicht mehr unter den Lebenden weilt.
»Ich glaub, ich hab doch keinen Hunger!«, sagt Maximilian. »Papa, dürfen wir wieder zu Opa nach oben?« Er nimmt seine kleine Schwester an der Hand, als wolle er sie vor mir beschützen. Der Mann mit dem nassen T-Shirt riecht wahrscheinlich nicht gerade gut unter den Achseln, vermute ich.
»Aber ich habe doch extra euer Lieblingsessen gekocht!«, schimpft Roland.
»Lass sie«, sage ich. »Lass sie ruhig.«
Die Kinder gehen zur Tür. Als Letztes erhasche ich einen Blick in Ilonas-Florentinas Gesicht. Florentina fixiert mich eine Sekunde lang aus den Augenwinkeln. Das Mädchen weiß Bescheid! Es fühlt sich an, als ob eine tiefe dornröschenartige Traurigkeit zwischen uns beiden herrscht – wie ein stilles, einvernehmliches Übereinkommen. Eine Trauer, die uns zu Schicksalsgefährten erhebt. Dann schließt Maximilian die Tür hinter seiner Schwester. Mädchen mit großen Brüdern wissen gar nicht, wie glücklich sie sich schätzen dürfen!
»Setz dich«, sagt Roland.
Ich folge seiner Aufforderung.
»Möchtest du ein Stück?« Er zeigt mit einem Tortenheber auf die Lasagne.
Ich schüttle den Kopf. »Nein, danke.«
»Hätte ich dich warnen sollen?«
»Wovor?«
Ich höre sein Seufzen. »Du weißt schon.«
Ich versuche, in seinem Gesicht so etwas wie Anteilnahme zu lesen. Oder finde ich darin sogar Spuren von Schadenfreude? Oder irre ich mich total?
»Warum hast du mir das nicht gesagt?«
»Hör mal!«, sagt er. »Soll ich dich vor meiner eigenen Tochter warnen?«
»Ja … nein … natürlich nicht!« Ich greife mir an die Stirn und versuche, einen klaren Gedanken zu fassen. »Entschuldige … es ist nur …«
»Du und deine Eltern und deine Schwester, ihr seid ja damals schon sehr bald aufs Land gezogen. Du hast nicht gewusst, wie es ist, wenn man jeden Tag in dem Haus lebt, in dem auch deine tote – oder verschwundene – Schwester gelebt hat … In einem Haus, in dem dich verdammt noch mal alles an sie erinnert! Meine Eltern haben den alten Kasten hier nie verkauft. Und als ich erwachsen war, habe ich längst gelernt, wie es ist, hier zu wohnen. Und um auf deine Frage zurückzukommen, warum ich es nie geschafft habe, auszuziehen – nein, ich konnte meinen Vater hier nicht einfach allein zurücklassen in seiner Trauer. Erst recht, nachdem auch noch Mama an Brustkrebs verstorben war – zehn Jahre nach Ilonas Verschwinden! Ich konnte nicht einfach einen Schlussstrich ziehen so wie du. Meine Eltern hätten es nie ertragen, wenn ich ihnen auch noch den Rücken zugewandt hätte. Kannst du dir vorstellen, wie gerne ich manchmal von hier weggezogen wäre? Wie oft ich es dir nur allzu gerne nachgemacht hätte? In wie vielen Städten hast du gelebt? Graz, Linz, Berlin, Los Angeles, Houston …«
»… und Zürich!«
»Ach ja, Zürich … entschuldige! Wie konnte ich das nur vergessen? Du warst der Weltreisende, während ich immer hier war. Keinen einzigen Tag meines Lebens habe ich woanders übernachtet nach Ilonas Tod. Verstehst du? Ich bin ja froh, dass ich in Verena eine Frau gefunden habe, die sich auf dieses Abenteuer hier eingelassen hat, dass sie einen Mann geheiratet hat, der sein ganzes Leben bei seinem alten Vater wohnt! Und wenn du es genau wissen willst, es gibt noch etwas, das ich dir verschwiegen habe.« Hastig steht Roland auf und verlässt den Raum. Ich höre seine Schritte im Gang, eine Tür, er kramt irgendwo in einem alten Möbelstück mit einer sperrigen Schublade; schließlich kommt er mit großen Schritten zu mir zurück und legt die Ausgabe einer Zeitung vor mir auf den Tisch.
Ich sehe das Bild und die Schlagzeile: MÄDCHENLEICHE NACH 33 JAHREN AUFGETAUCHT!
Es handelt sich um die Aufnahme des Schulfotografen. Die Tafelklässlerin lächelt tapfer in die Kamera. Sie hat die erste Schulwoche hinter sich. Das Kind bekommt eine Ahnung davon, was es heißt, erwachsen zu werden; das verraten seine hellen, klaren Augen. Einmal haben wir alle auf diese Weise in unsere Zukunft geblickt, und wir haben eine intuitive Ahnung von dem in uns gespürt, was unser Schicksal ist. Zumindest scheint es mir im Nachhinein so zu sein, wenn ich an meine Kindheit zurückdenke. In einem allumfassenden Bewusstsein, in dem alle Menschen miteinander verbunden sind, spüren die Kinder in ihrer Unbedarftheit den Weg, der vor ihnen liegt. So stelle ich es mir zumindest manchmal vor! Ich frage mich, ob Ilona diese Vorahnung auch hatte, ob sie die Anwesenheit des Mannes, der sie umgebracht hat, zu dem Zeitpunkt bereits in sich gespürt hat. Ob sie seine Schritte, als er auf sie zuging, tief in ihrer Seele wahrgenommen hat, unausweichlich? Manchmal hat sie von einem Mann mit einer dunklen Kapuze geträumt, der sie verfolgt hat. Davon hat sie mir ein paar Tage vor ihrem Tod noch erzählt. Nach ihrem Tod wurde ihr Traum zu meinem Traum. Ich habe den Schatten des Mannes mit der Kapuze sogar in Tagträumen wie eine dunkle Vision vor meinem inneren Auge gesehen. Vor dem Monster in dir selbst kannst du nicht einfach weglaufen.
»Spaziergänger haben sie gefunden. Im Wald«, sagt Roland. »Wie es aussieht, haben Wildschweine ihr Skelett ausgegraben!«
Ich schaue fragend zu ihm auf.
Roland spielt mit der rechten Hand in seinem Bart. »Es spielt keine Rolle«, beantwortet er meine stumme Frage. »Wer weiß, ob ihr Mörder überhaupt noch lebt, Tobias. Mein Vater und ich wollen mit der ganzen Sache nichts mehr zu tun haben!«
»Und wenn er doch …«
»Nein«, sagt Tobias und zeigt auf die Zeitung, »wir haben Ilona letzten Monat neben ihrer Mutter auf dem Friedhof begraben. Damit ist dieser Albtraum nach all der Zeit endlich auch für uns erledigt.«
Samstag, 22. Juli, zur selben Zeit – Christian
Tränen liefen dem Mann über das pausbäckige Gesicht. Tränen der Wut. Tränen des Zorns. Tränen der Enttäuschung. Er presste den Unterarm gegen seinen Mund und verbiss sich in das Fleisch zwischen Elle und Speiche. Seine Kiefer mahlten. Der Schmerz legte sich warm, pulsierend und wohltuend über die Gefühle, die das Stillleben mit der Leiche vor seinen Augen in ihm verursachte. Sein Blut troff von den Mundwinkeln auf die tote Frau, die ihn aus großen Pupillen wie ein Fisch aus einem Salzwasseraquarium heraus anglotzte.
»Ich habe immer gesagt, du bist ein Schwachkopf, Christian«, hörte er die Stimme der Frau. »Du wirst eines Tages in einer Anstalt für Geistesgestörte enden oder im Gefängnis! Ist es das, was du willst? Ist es das wirklich?«
»Nein, Mama …«, schrie er in seiner Erinnerung.
Er packte eine der Puppen mit den Porzellangesichtern, die er am Vortag noch neben ihr in den Schlaf gesungen hatte, und schmiss sie mit aller Kraft gegen die Wand. Scherben flogen umher, landeten im Bett und überall im Zimmer. Der Mann spürte die Nässe zwischen seinen Beinen.
Er schrie: »Mamamamamama!«
Die Leiche neben ihm antwortete: »Du bist an allem schuld, Christian. Du bist schuld, dass der Papa mich verlassen hat! Weil du ein kranker Idiot bist! Er hat sich für uns beide geschämt! Aber in erster Linie wegen dir! Dir! Dir! Dir, du Idiot!«
Er spürte in seinem Innern ihre Arme, die sich um ihn schlangen, während Fliegen aus ihrer Nase krochen und um seinen Kopf schwirrten. Viel zu oft hatte sie die Arme um ihn geschlungen, und dann nahm sie sein Glied in ihren Mund. Schmatzend. Er hatte jedes Mal Angst, sie würde ihn mitsamt Haut und Haaren verschlingen. An die Angst vor der Schwärze schloss sich eine Ekstase an. Ein rhythmisches Zittern, nachdem sie sein Glied in den Mund mit den lachsroten Lippen zwischen ihre Beine eingeführt hatte und er sich in sie ergossen hatte.
»Das ist die Strafe für deinen Papa! Weil du ihn mir genommen hast«, sagte sie mit einer Stimme, die sich ganz und gar vom süßlichen Singsang unterschied, wenn sie ihn morgens in die Schule für Kranke gebracht hatte. So hieß der Ort, an dem er tagsüber mit Bällen spielen und auf Luftpolstern reiten durfte und lernte, wie man seinen Namen schreibt: Christian –
Jetzt war der Junge ein Mann, und er wollte schon lange nicht mehr dorthin. Zuletzt hatte er eine der Lehrerinnen gewürgt, damit sie seinen Wunsch endlich begriffen. Inzwischen war mindestens zehnmal Weihnachten vergangen – und die Nikoläuse waren draußen auf dem Bürgersteig vorbeigewandelt, mit ihrem gefüllten Sack über der Schulter und ihrem Bischofsstab in der Hand. Er hatte sich versteckt aus Angst, der dunkle Gesell könnte ihn finden und ihn totprügeln, weil er die Schuld am Verschwinden des Vaters, an der Wut und an der Traurigkeit seiner Mutter trug.
»Wenn ich dich noch einmal dabei erwische, wie du es dir selbst machst, dann schneide ich ihn dir mit der Brotmaschine ab!«, drohte ihm die Mutter für gewöhnlich.
»Noch einmal – und der Mann mit dem Sack und der Rute wird dich mitnehmen!«
An dem Morgen, an dem Christians Mutter zum ersten Mal blau angelaufen war und keine Luft mehr bekam, war er in Panik nach draußen gelaufen. Er rannte. Den Weg zur Kiesgrube kannte er, seit er denken konnte. Unterwegs brach er neben dem Stumpf der tausendjährigen Eiche zusammen.
»Nicht sterben … bitte nicht sterben, Mama!«, schluchzte er.
Er raffte sich auf, bemerkte den nassen Fleck zwischen seinen Beinen. Er schämte sich, und er hasste sich. Immer musste ihm dieses Malheur passieren! Die Mutter würde ihn dafür ohrfeigen. Die Stimme der Mutter hallte auch dann in seinen Ohren, wenn sie nicht bei ihm war: »Du hast es nicht anders verdient! Du bist weniger wert als ein Stück Vieh! Das ist dein Problem, du hast weniger Seele als jedes Tier!« Er begann, seinen Zorn hinauszuschreien. Radfahrer fuhren an ihm vorbei. Ein Mann stieg ab, fragte, ob er ihm helfen könne. Christian reagierte nicht. »Ich habe dir gesagt, du sollst gefälligst nicht mit Fremden sprechen! Sonst kommst du in die Psychiatrie auf dem Rosenhügel! Der Professor Rhett weiß, wie man mit Missgeburten wie dir umgeht!« Einmal als Kind war er in der Psychiatrie gewesen, wo sie ihn in ein Netzbett gesperrt hatten – ein Bett, das wie ein Käfig ausgesehen hatte. Das war lange her … Christian spürte Panik in sich aufsteigen. Er schleppte sich den Weg bis zur Kiesgrube und versteckte sich hinter einem der gezackten Granitfelsen, die aussahen wie der vorstehende Rücken eines Drachen, der ein unterirdisches Dasein fristete.
Er konnte sich nicht mehr erinnern, wie er an diesem Tag wieder nach Hause gekommen war. Dort war die Mutter in ihrem Bett gesessen, den Oberkörper hochgestützt auf einem Berg von Kissen.
»Die Nachbarin hat die Rettung gerufen!«, hatte sie mit einem anklagenden Blick in seine Richtung gekeift. »Der Notarzt war da! Stell dir vor, er wollte mich mitnehmen.«
Er schrie: »Neineineinein!« Und ergriff ihre Hände, küsste ihre Finger. Die Angst verwandelte sein Herz zu einem Stein, den er kaum tragen konnte. Er vernahm die unausgesprochene Drohung in seinem Innern: »Wenn ich nicht mehr da bin, dann bist du verloren. Es gibt keinen einzigen Menschen auf der ganzen Welt, der sich um einen Idioten wie dich freiwillig kümmert. Du bist dann ganz allein und wirst verdursten und verhungern. Und das alles nur, weil dein Vater mich wegen dir verlassen hat!«
»Sie wollten mich ins Krankenhaus bringen!«, fuhr die Mutter fort. »Ich wär fast gestorben! Aber wegen dir habe ich nicht mitfahren können. Du bist schuld, wenn ich sterbe … du! Nur du! Ich kann dich doch nicht alleine hierlassen!«
Christian hatte seinen aufkeimenden Zorn unterdrückt. Er sah über ihre Schulter aus dem Fester. Draußen war es noch hell. Es war der erste warme Tag in diesem Jahr gewesen.
Christian ballte die Fäuste, senkte den Kopf, schnaubte – und biss sich voller Inbrunst mit den Zähnen in den Unterarm. Die Wunde, die sich dort befand, war noch nie zur Gänze verheilt. Eine Zeit lang hatten sie ihm eine Metallschiene verpasst, die Ärzte, zu denen seine Mutter ihn brachte! Er hatte sich die Schiene beim nächsten Anfall einfach heruntergerissen und war auf ihr herumgetrampelt. Ein abstraktes Abbild seiner emotionalen Entgleisung blieb zurück, und er musste wieder die Tabletten nehmen, damit sein Blut »sauber blieb«, wie die Ärzte und die Mutter sagten. Das unaussprechliche Wort hieß Entzündung – das andere Amputation …
Christian hatte die Tabletten jedes Mal ausgespuckt. Die Menschen, die vor seinem fauligen Atem und dem Anblick seiner schwarzen Zähne flohen, wussten nichts von seinem Schmerz. Und hätten sie es gewusst, dann wäre er ihnen ebenso gleichgültig gewesen. Er spürte die Verachtung in ihren Gesichtern – dieselbe Verachtung, die seine Mutter ihm entgegenbrachte. Niemand will einen Trottel als Freund!
Der Tag, an dem ihm das Mädchen bei der Kiesgrube begegnete, lag ungefähr drei Wochen zurück – und doch schien es in ihm, als eröffnete ihr Anblick ihm ein Tor in längst vergangene Zeiten …
»Wie oft habe ich dir gesagt, dass du dich von Kindern fernhalten sollst?«
Er lag in einem Gestrüpp aus Kiefern. Käfer und Ameisen krochen unter dem Verband auf seiner Wunde hervor. Er genoss das Jucken und Kreuchen und Fleuchen. Er fühlte sich angenehm trunken von der Bläue des Himmels, von der sanften Brise, die ihn umwehte.
Das Mädchen stand neben der großen Mulde, es war in Begleitung eines Jungen. Der Junge trug einen Koffer, den er neben einem der Felsen abgestellt hatte. Darin befanden sich Werkzeuge, wie Forscher sie benutzten, wenn sie nach den Überresten toter Tiere gruben. Das Mädchen schob ein Fahrrad vor sich her.
In seinem Versteck hielt Christian still, auch wenn er am liebsten laut gelacht hätte. Das Gefühl unter seinem Verband war dermaßen angenehm, dass er sich diesmal vor Freude in die Hose gemacht hatte. Und er genoss die angenehme Wärme, in der sein Glied sich in einem Versprechen ekstatischer Vorfreude regte. Er nahm es in die Hand, während er das Mädchen betrachtete. Es trug ein Kleid, das im Wind um die Knie flatterte, Sandalen und einen Hut mit bunten Blumen, unter dem ihr Haar wie das einer Prinzessin hervorlugte.
Christian verstand kein Wort von dem, was die Kinder sprachen – »Wie auch! Ein Idiot wie du wird nie begreifen, worüber normale Menschen sich unterhalten. Wenn ich tot bin, werden sie dich in ein Verlies sperren, du wirst sehen. Und den Schlüssel werfen sie weg! Mein Tod ist auch dein Tod!«
Das Mädchen sagte: »Wenn wir die Überreste von einem Tyrannosaurus rex finden, darf ich ihn dann behalten, ja?«
Der Junge protestierte: »Aber es ist mein Werkzeug!«
»Okay«, sagte das Mädchen, »dann darfst du den Schwanz und den Rücken behalten und ich den Schädel.«
Christian hatte plötzlich Tränen gespürt, die über sein Gesicht liefen, und er wollte das Mädchen in den Arm nehmen und es beschützen. Beschützen vor … Er wusste nicht vor wem oder was. Es schien ihm mit einem Mal, als verblasste der Junge neben ihr. An seiner Stelle tauchten Schatten neben dem Mädchen auf, die es niederrangen – zu Boden drückten, das Mädchen so lange festhielten, bis es sich nicht mehr bewegte. Christian empfand das Gefühl der Ohnmacht in einer Intensität, wie er sie bereits einmal in seinem Leben verspürt hatte – er konnte nicht sagen, wann und in welchem Zusammenhang! Der Wunsch erwachte in ihm: einen Menschen zu lieben und zu beschützen …
… und die Prinzessin zu retten!
»Du machst keinen Mucks, habe ich gesagt! Wenn sie dich da oben finden, ist es aus mit dir. Sie werden dir die Eier und den Schwanz abschneiden und dich zwingen, es zu essen!«
Der Gedanke blitzte in ihm auf. Er wartete, bis die Kinder mit ihren Ausgrabungen fertig waren und nach Hause gingen. Die Wärme in seiner Hose erkaltete. Die Nässe verdunstete. Christian hatte sich in einen Stein verwandelt – in seiner Schockstarre! Die Schatten in Christians Innerem bewegten sich wie in einem Stummfilm – einem jener Filme mit dem kleinen Vagabunden, die er so sehr liebte, dass das Christkind ihm zu Weihnachten sogar eine DVD davon unter den Weihnachtsbaum gelegt hatte.
»Verschwinde, habe ich gesagt! Du verlierst kein Wort darüber, was du gesehen hast! Verstanden? Sie werden dir kein Wort glauben – und sie werden dich ins Gefängnis stecken, mein lieber kleiner Junge! Du bist alles, was mir von deinem Vater geblieben ist. Ich könnte es nicht ertragen, dich auch noch zu verlieren … Dann bin ich allein! Willst du das?«
Er dachte auch noch an das Mädchen, während er neben dem Leichnam seiner Mutter lag und sein Glied in sie einführte. Er wusste, was die Mutter von ihm fast jeden Abend verlangt hatte.
Christian war ein braver Junge.
Samstag, 22. Juli, fünf Minuten später – Tobi
»Endlich sehe ich einmal deine Frau wieder, Roland!«
»Darf ich vorstellen, die wunderschönste aller Frauen«, erwidert Roland, »Verena!«
»Sorry«, sagt Verena, »ich habe es leider nicht ganz pünktlich aus dem Krankenhaus geschafft. Der Chef wollte noch mit mir über einen Patienten sprechen.«
»Ausnahmsweise mal was Neues!«, ätzt Roland und verdreht die Augen.
Verena hängt ihre Handtasche über einen der Sessel. Ich stehe auf, und wir geben uns links und rechts Küsschen. Wir haben uns bisher nur ein einziges Mal gesehen. Verena und Roland haben mich damals in Berlin besucht. Ich wohnte gegenüber diesem Lokal, in dem die Gäste ihre Berliner Weiße mit Schuss aus Urinflaschen trinken und ihr Essen in Bettpfannen serviert bekommen. Das war in Charlottenburg gewesen. Wenn man die Straße ein paar Meter aufwärtsgeht, gibt es einen wunderbaren Griechen. Dem haben wir den Vorzug gegeben, sind draußen gesessen. Maximilian hat ständig auf seinem Kindersitz gezappelt. Florentina saß die meiste Zeit auf Verenas Schoß. Ich erinnere mich an eine Frau mit unreiner Haut, die – wie Tobias mir anvertraute – entsetzlich unter ihrer Gewichtszunahme von zwanzig Kilo litt.
Jetzt steht mir eine ranke und schlanke Gestalt gegenüber und lächelt mich an, als hätte es die Frau mit dem Baby-Blues niemals gegeben. Verena trägt ein rotes Sommerkleid mit einem Blumenmuster. Finger- und Zehennägel sind in einem dunklen Rot lackiert. Ein Fußkettchen spielt um ihren linken Knöchel.
»Ich hoffe, dein Flug war angenehm, Tobias.«
Maximilian und Florentina stürmen herbei und umarmen ihre Mutter zur Begrüßung. Wahrscheinlich führt ihre kindliche Intuition sie vom oberen Stockwerk herunter ins Erdgeschoss, wo sie ihrer Mutter um den Hals fallen.
»Wir wollten gerade zum Opapa gehen«, sagt Roland zu Verena.
»Da wird dein Vater sich aber freuen, Roland«, sagt Verena. »Er redet manchmal von dir, Tobias.«
Ich nehme den Geruch von Parfüm, ihrer Haut und ihres Haars wahr.
»Echt?«
Roland und Verena küssen einander.
Roland relativiert die Offenbarung seiner Frau: »Manchmal, in diesen Phasen, in denen er wieder ganz in der Vergangenheit lebt … da redet er von dir, als würdest du mit deiner Familie noch immer im Haus gegenüber wohnen, Tobi.«
»Ich bin schon ganz gespannt, wie es ihm geht.«
»Zurzeit stehen die Chancen gut, dass er dich erkennt«, sagt Verena. »Wenn du willst, begleite ich dich zu ihm …«
Roland fällt seiner Frau ins Wort: »Lass, ich mach das schon, Geliebte, Gazelle und Frau!«
Verena ist Fachärztin für Psychiatrie. Einen Liebeswahn bei ihrem Anblick zu entwickeln, würde selbst mir leichtfallen. Das sieht wirklich alles aus wie im Bilderbuch – was mich hier erwartet!
»Dann wollen wir mal«, sagt Roland.
»Wir wollen auch noch mal zum Opapa!«, rufen die Kinder wie aus einem Mund.
Roland streichelt über ihre Köpfe. »Das wird dem Opapa doch zu viel, wenn so viele Leute auf einmal zu ihm kommen!«
Seine Frau widerspricht: »Lass sie doch! Die Kinder sind die Einzigen, die ihm niemals zu viel werden. Das sagst du doch selbst immer!«
Rolands Lächeln, mit dem er seine Frau bedenkt, offenbart in diesem Augenblick sehr viele Zähne! Er hat nicht nur eine wunderbare Frau, sondern er kann sich als Architekt auch einen ausgezeichneten Zahnarzt leisten, ziehe ich innerlich meine Schlussfolgerungen.
Er spricht ein Machtwort. »Geliebte, ich möchte mit meinem Vater und mit Tobias alleine sein. Nur dieses eine Mal!«
Anschließend folge ich Roland die Stiegen in den ersten Stock hinauf. Stufen gehören nicht zu meinen Freunden. Ich spüre jede einzelne von ihnen in meinen Knien.
Roland besitzt einen Schlüssel für Anton Wagners Wohnung. Wir betreten den Gang. »Hallo, Papa«, ruft er, »ich habe dir einen Besucher mitgebracht. Tobias Miller kommt dich besuchen, der Tobi von früher.«
In meiner Kindheit haben Rolands Großeltern in dieser Wohnung gelebt, die inzwischen auch schon seit einigen Jahren verstorben sind. Wie mag es sich für einen Mann anfühlen, vom unteren in den ersten Stock dieses Hauses zu ziehen?, frage ich mich. Wenn man weiß, dass nach diesem Umzug nichts mehr kommt!
»Roland?«
Die Stimme hört sich genau gleich an wie in meiner Kindheit.
»Du hast Tobi mitgebracht?«
Dann betreten wir das Wohnzimmer. Die Mansarden ragen tief und dunkel in den Raum. Auf einer grauen Ledercouch sitzt ein Mann mit weißen Haaren, weißem Bart und viel zu tief liegenden blauen Augen. Das Lächeln um seine Lippen erlischt jäh, als er meiner gewahr wird.
»Roland?«, fragt er, »wo ist Tobi?«
Er sieht mich an wie einen Postboten oder einen Zeugen Jehovas, den jemand aus der Familie versehentlich ins Haus gelassen hat. Herr Wagner zwingt sich zu einem Lächeln.
»Das ist Tobi, Papa«, sagt Roland. »Hast du vergessen, dass Tobi inzwischen ein erwachsener Mann geworden ist? Ich bin ja auch erwachsen, Papa.«
»Natürlich weiß ich, dass Tobi erwachsen ist!«, erwidert sein Vater – um im nächsten Moment hinzuzufügen: »Hallo, Tobi, wie schön, dass du endlich kommst! Roland behandelt mich immer, als wäre ich ein Kind. Dabei ist er ja in Wirklichkeit das Kind! Er vergisst das immer!«
Ein Mann, der versucht, seine Demenz hinter einer Fassade zu verstecken, denke ich. Der Gedanke erfüllt mich mit Schmerz. Andererseits ist es vielleicht ganz klug, alles zu vergessen, was uns ein Leben lang gequält hat. Dann hätte die Demenz sogar einen Sinn.
Herr Wagner reicht mir die Hand. »Herzlich willkommen, Tobi! Ich habe schon auf dich gewartet. Setz dich.«
»Ich freue mich, dass ich hier sein darf, Herr Wagner.«
Er macht mir auf seiner Couch Platz. Ich betrachte die Fotos in ihren Rahmen auf dem Tisch vor uns. Es sieht so aus, als hätte Anton Wagner sie gerade eben noch in Reih und Glied aufgestellt.
Das Bild von Ilona kurz vor ihrem Verschwinden sticht mir als Erstes ins Auge.
Anton Wagner legt einen Arm um mich. »Das ist mein Mädchen, Tobias«, sagt er. »Und ich werde sie jetzt schon ganz bald wiedersehen.«
Roland fällt ihm ermahnend ins Wort. »Geh, Papa – bitteeeh…«
»Nein!«, sagt sein Vater. »Ich weiß, dass ich alt bin und ein Narr geworden bin. Und es ist sogar schön, wenn man das alles schon hinter sich hat. Denk an deine Mutter! Sie ist schon lang …« Herr Wagner lächelt. »Sie ist jetzt schon fast zwanzig Jahre bei Ilona. Es war nicht der Krebs. Es war ihre …«
»Papa!« Roland hat wohl geahnt, dass diese Begegnung für seinen Vater schwer werden würde.
»Nein, Roland«, sagt Anton Wagner, »es ist, wie es ist. Und du wirst mit der Wahrheit leben müssen, dass deine Eltern schon bald bei deiner Schwester sind. Ich kann nicht mehr lange bei dir bleiben. Und du musst dich um dich selbst kümmern!«