Michael Skirl
Wegsperren!?
Ein Gefängnisdirektor über Sinn und Unsinn der Sicherungsverwahrung
Fischer e-books
Michael Skirl, geboren 1951 in Essen, studierte Jura und trat 1980 in den „höheren Justizvollzugs- und Verwaltungsdienst“ des Landes NRW ein. Er war stellvertretender Leiter der JVA Hagen ab 1983. Ab 1999 wurde ihm die Leitung der JVA Werl übertragen.
Covergestaltung: R.M.E., Roland Eschlbeck und Rosemarie Kreuzer
Coverabbildung: plainpicture / Scanpix
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2012
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Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-402279-6
»Früher litten wir an Verbrechen, heute an Gesetzen!«
Tacitus, römischer Politiker, ca. 58–120 n.Chr.
Am 4. Mai 2011 ließ das Bundesverfassungsgericht eine Bombe platzen, deren Knall auch von denen gehört wurde, die die Aktivitäten in Karlsruhe normalerweise nur wenig beachten. Die Diskussionsforen quollen über von Beiträgen, die das Versagen der Politiker aller Parteien geißelten, vom Schlag ins Gesicht der Verbrechensopfer sprachen und den Richtern die gewalttätige Begegnung mit den Profiteuren ihrer Entscheidung an den Hals wünschten. Worum ging es? In der Tat um eine Entscheidung, die die Früchte gesetzgeberischer Arbeit von anderthalb Jahrzehnten über den Haufen warf. Das Bundesverfassungsgericht hob das gesamte gesetzliche Regelwerk die Sicherungsverwahrung betreffend auf. Auch das nur drei Monate zuvor in Kraft getretene Gesetz zur Neuordnung der Sicherungsverwahrung, die aufgrund der massiven Kritik des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte entwickelt worden war, reichte den Ansprüchen des Bundesverfassungsgerichts nicht. Das Verdikt war klar: Die Sicherungsverwahrung, so wie sie bis dahin geregelt war, ist mit dem Grundgesetz nicht vereinbar.
Dass das Thema engagiert diskutiert wird, ist verständlich. Hier geht es tatsächlich nicht um irgendein juristisches Randgebiet, das nur in seltenen Fällen berührt wird. Hier kommt es für eine ganze Gesellschaft zum Schwur: Gelten die Menschenrechte, die wir in Anspruch nehmen, für alle – auch für die, die selbst massiv dagegen verstoßen haben? Müssen Straftäter, die ihre Opfer auf sadistische Weise gequält und getötet haben, die immer wieder fundamentale Rechtsbrüche begingen, darauf hoffen dürfen, dass sie eines Tages in die Gesellschaft zurückkehren können? Oder setzen wir uns über alle Grundsätze hinweg, und es gilt für sie, um den ehemaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder zu zitieren: »Wegschließen – für immer«?
Sicherungsverwahrung ist ein schwieriges Thema: Es ist emotional aufgeladen, was verständlich ist. Grässliche Verbrechen erschüttern uns ebenso wie die Vorstellung, dass jemand ein Leben lang hinter Gittern bleiben und vielleicht sogar im Gefängnis sterben muss. Das eine wie das andere spricht direkt das Gefühl an.
Das Thema ist aber auch jenseits einer persönlichen Betrachtungsweise schwierig, weil es rechtspolitisch enorme Ansprüche stellt. Die Geschichte der Sicherungsverwahrung dauert jetzt bereits rund 80 Jahre, und gerade die letzten 30 davon sind geprägt geradezu von einer Vielzahl zum Teil hektischer Veränderungen, auch von Flickschustereien, denen das Karlsruher Urteil – hoffentlich! – ein Ende gesetzt hat.
Erstaunlich ist, dass die Sicherungsverwahrung jahrzehntelang selbst unter Juristen kaum eine Rolle spielte, dabei markiert sie einen fundamentalen Zielkonflikt in der Rechtswissenschaft: Mit der Sicherungsverwahrung weichen wir von einer Grundfeste unseres Rechtsstaats ab. Es lohnt sich, an dieser Stelle noch einmal die Basis zu verdeutlichen. Erste Pflicht eines freiheitlich-demokratischen Rechtsstaats, der die Bundesrepublik Deutschland von ihrer Entstehung an im Jahr 1949 sein will, ist es, die Freiheitsgrundrechte seiner Bürger zu schützen. Bei einem Straftäter soll aber das Gegenteil passieren: Ihm soll die Freiheit entzogen werden. Dafür braucht es einen guten Grund, von Juristen »Ermächtigungsgrundlage« genannt. Für die Freiheitsentziehung mit Namen »Strafe« liegt diese Rechtfertigung in der durch unabhängige Gerichte festgestellten Schuld. Der Grundsatz lautet: »Keine Strafe ohne Schuld!« Die Bemessung der Strafe folgt der Regel: »Geringe Schuld – kurze Strafe, schwere Schuld – lange Strafe.«
Was Laien vielleicht gar nicht so klar ist: Der zentrale Begriff »Schuld« bezieht sich nach deutschem Strafrechtsverständnis immer nur auf die durch den Täter konkret vollzogene Tat, nie unmittelbar auf den Täter selbst, auch wenn ein Blick auf die Lebensgeschichte des Täters meist unumgänglich ist. Es ist ein sogenanntes Tat-Strafrecht. Ob ein Täter für die Gesellschaft je irgendeinen Beitrag geleistet hat, ob er ein guter oder schlechter Mensch, ein nützliches Mitglied der Gesellschaft ist – das alles spielt keine Rolle. Die Freiheitsrechte des Individuums, die in unserer Verfassung garantiert sind, verhindern die Beurteilung, ob jemand etwas »wert« ist oder nicht, und wenn nicht, dass er dann weniger Rechte hätte.
In politisch anders ausgerichteten Gesellschaften – in Deutschland noch während des Nationalsozialismus oder heute etwa in autoritär regierten Ländern wie Weißrussland oder in sozialistisch verfassten Staaten wie China – zählen die Rechte des Einzelnen deutlich weniger. Wir können also froh sein, dass unsere Freiheitsrechte so hoch angesiedelt sind. Allerdings gibt es einen Nachteil dieser an sich weisen Beschränkung der Strafe auf das »konkret verwirklichte Tat-Unrecht«, wie es der Jurist ausdrückt. Dieser Ansatz lässt nur wenig Spielraum für Gesichtspunkte, wie künftige Straftaten zu verhindern wären. Natürlich kennt auch das deutsche Strafrecht den Aspekt von Spezial- und Generalprävention: So soll der Täter selbst durch das Erlebnis seiner Strafe davon abgeschreckt werden, weitere Taten zu begehen. Und dass die Prozesse öffentlich sind, hat unter anderem auch den Zweck, unbeteiligte Dritte abzuschrecken, sich beispielsweise über verbrecherische Taten bereichern zu wollen.
Diese Art der Prävention funktioniert mehr oder weniger gut; keiner kann sagen, wie viele Taten nicht geschehen sind, weil sich der potentielle Täter von angedrohter Strafe abschrecken ließ. In Deutschland ist jedenfalls keine überdurchschnittlich ausgeprägte Kriminalität zu erkennen. Aber: Die Idee der Prävention durch Abschreckung greift ohnehin dort zu kurz, wo wir es mit sogenannten Hang- oder Triebtätern zu tun haben. Das sind zum Beispiel Menschen, überwiegend Männer, mit bestimmten Sexualstörungen oder sogenannte Dissoziale. Bei ihnen handelt es sich, ganz einfach ausgedrückt, um Personen »ohne Gewissen«, die dazu neigen, ihre Bedürfnisse spontan und ohne Rücksicht auf die Rechte Dritter zu befriedigen. Auch schwer Suchtabhängige weisen dieses Verhalten auf. Bei diesen Menschen verfängt der an die Vernunft appellierende präventive Ansatz der Freiheitsstrafe umso weniger, je stärker Veranlagung oder situative Enthemmung, Trieb oder Sucht sind. »Wenn du Schuld auf dich lädst, dann wirst du deine Freiheit verlieren!« – diese logische Konsequenz lässt sich bei ihnen offenbar nicht in entsprechendes Verhalten umsetzen.
Um Wiederholungstaten dieser Tätergruppe zu verhindern, kommt nach deutscher Strafrechtslehre eine andere Art der Freiheitsentziehung ins Spiel, die Sicherungsverwahrung. Ihr Ansatz ist ein präventiver: Sie soll die Allgemeinheit vor einem Menschen schützen, dessen Hang zu weiteren Straftaten möglicherweise auch in der Haft nicht vergangen ist. Es handelt sich also nicht um Strafe – eine neue Tat ist ja noch gar nicht begangen worden. Als Rechtfertigung, die für einen solchen massiven Eingriff in die Freiheitsrechte eines Menschen unabdingbar ist, wird dafür die künftige Gefährlichkeit eines Menschen angenommen. Man sollte hier einmal kurz innehalten und sich die Bedeutung dieser veränderten Begründung klarmachen – unabhängig von bekannten Fällen oder konkreten Tätern. Es geht nicht mehr um eine in der Vergangenheit begangene Tat, um Schuld und Strafe, um belastbare Beweise, die zu einem Urteil führen. Es geht vielmehr um eine Vermutung, um die Möglichkeit einer Gefährdung der Allgemeinheit oder Einzelner in der Zukunft. Auch für Laien sollte das Dilemma klar erkennbar sein.
Die Dimensionen sind nicht geringzuschätzen, auch wenn die Zahl der Sicherungsverwahrten eher niedrig ist. 2011 gab es in der Bundesrepublik rund 60000 Strafgefangene und 504 Sicherungsverwahrte, Letztere machen also weniger als 1 Prozent aller Insassen aus. Allerdings schwankte ihre Zahl je nach Epoche deutlich. In der Nazizeit befanden sich Tausende in Sicherungsverwahrung, Anfang der neunziger Jahre waren es 182 Männer, und aktuell sind es rund 500.
Sie fragen sich vielleicht, warum mich das Thema beschäftigt. Die Antwort ist einfach: weil ich selbst jeden Tag ganz konkret damit zu tun habe. Als Leiter der Justizvollzugsanstalt Werl mit rund 880 Insassen, von denen gut 100 zu lebenslanger Freiheitsstrafe und 90 zu Sicherungsverwahrung Verurteilte sind, weiß ich, wovon und von wem die Rede ist. Wann immer in Berlin ein neues Gesetz beschlossen wird, wann immer Karlsruhe oder Straßburg Forderungen stellen, wann immer an den Schräubchen der Sicherungsverwahrung gedreht wird, habe ich die Menschen vor Augen, die davon betroffen sind: die Sicherungsverwahrten selbst, aber auch diejenigen, die professionell mit ihnen befasst sind, die Psychologen, die Therapeuten, die Gutachter, die Vollzugsbeamten und alle anderen. Als Jurist neige ich – schon aufgrund der persönlichen Begegnung mit Kriminellen über mehr als drei Jahrzehnte beruflicher Erfahrung – nicht zu übertriebener Sentimentalität. Bei uns sitzen mit Sicherheit nicht 880 »Fehlurteile« ein. Dennoch haben sie und aktuell besonders die Sicherungsverwahrten einen Anspruch darauf, dass unser Einfluss auf ihr Schicksal rational begründet wird. Das sind wir ihnen schuldig, aber vor allem auch uns als Gesellschaft insgesamt.
Die Sicherungsverwahrung steht auf dem Prüfstand. Ich möchte aus meiner praktischen Erfahrung wie aus meinem Fachwissen heraus den Außenstehenden den Blick für die verschiedenen Aspekte des Themas öffnen. Ich möchte die Diskussion einerseits versachlichen, andererseits auch die menschlichen Dimensionen aller Beteiligten verdeutlichen.
Dieses Buch versucht, dem interessierten, aber juristisch nicht vorgebildeten Publikum die Hintergründe für die manchmal frappierenden Entwicklungen dieses Instruments näherzubringen und damit einen Beitrag zum aktuellen rechtspolitischen Diskurs zu leisten. Daher habe ich im Zweifel der allgemeinen Verständlichkeit den Vorrang vor letzter juristischer Präzision eingeräumt.
Ich werde in diesem Buch zweigleisig verfahren. Zum einen illustriere ich anhand einiger konkreter Fallbeispiele, wie sich im Laufe der Zeit die unterschiedlichen Regelungen individuell ausgewirkt haben. Zum anderen erläutere ich den jeweiligen rechtspolitischen Hintergrund und die Vorgehensweisen des Gesetzgebers. Nur so wird klar, warum sowohl der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte als auch das Bundesverfassungsgericht zu solch vernichtenden Urteilen über die bisherigen Regelungen gekommen sind.
Das Persönlichkeitsrecht erschwert zum Schutz der Betroffenen, echte Fälle in allen Einzelheiten darzustellen. Die Beispiele in diesem Buch, insbesondere die Hauptfigur Werner D., sind daher konstruiert und aus verschiedenen Fällen zusammengesetzt, es handelt sich nicht um tatsächlich lebende oder tote Personen. Die Fälle hätten sich aber alle so ereignen können. Insofern sind es realistische Fälle, auch wenn sie nicht real sind.
Eine betroffene Gruppe habe ich bisher nicht erwähnt: die Verbrechensopfer und ihre Angehörigen. Auch im Verlauf des Buchs werde ich mich ihnen nur selten explizit widmen. Das geschieht nicht aus Missachtung oder Geringschätzung ihres Leids, schon gar nicht sollen die Täter gegen die Opfer ausgespielt werden. Ich konzentriere mich nur deshalb auf die eine Seite, weil ich für sie zuständig bin und deshalb davon mehr verstehe. Dafür bitte ich um Verständnis.
Die Sicherungsverwahrung ist eine sperrige, aus den verschiedensten Gründen auch eine schwierige Sache. Verkürzte Darstellungen und medienwirksame, populistische Forderungen werden ihr nicht gerecht. Wir kommen nicht umhin, uns gründlich mit dem Thema zu beschäftigen, und wir sollten es nicht allein den Stammtischen überlassen. Dafür geht es einfach um zu viel. Es geht darum, wie wir uns gegenüber denen verhalten, die gegen die Grundlagen unserer gesellschaftlichen Ordnung in massiver Weise verstoßen haben. Wir können es uns nicht leisten, sie quasi »als Parallelgesellschaft« zu betrachten, für die andere Regeln gelten als für uns selbst. Denn das würde bedeuten, dass wir einen Verstoß mit einem anderen beantworten. Es gilt, einen Ausgleich zwischen unserem Bedürfnis nach Sicherheit und ihrem Recht auf Freiheit zu finden. Und genau davon handelt dieses Buch.
»Am Abend des 27. Oktober 1979 fuhr der Beschuldigte mit dem Omnibus aus der Kreisstadt zurück in seinen Wohnort, wo er ein möbliertes Zimmer gemietet hatte. Seit dem Vormittag hatte er verschiedene Gaststätten und Lokale besucht und erhebliche Mengen Schnaps getrunken, so dass er am Abend angetrunken war, aber noch genau wusste, was er tat.
An der Omnibus-Endstation – es war etwa 20.15 Uhr – fiel dem Beschuldigten ein junges Mädchen auf, das auch den Bus benutzt hatte, die 15 Jahre alte Zeugin Kerstin B. Er ging ihr über mehrere Straßen nach, zunächst auf der anderen Straßenseite, schnitt ihr dann aber in Höhe der Kleingartenanlage den Weg ab und stellte sich vor sie. Er hatte die Absicht, mit ihr geschlechtlich zu verkehren, wenn sie nicht wollte, mit Gewalt. Die Zeugin bat, ihr aus dem Weg zu gehen, und ging an ihm vorbei. Der Beschuldigte folgte ihr jedoch und legte ihr von hinten beide Hände um den Hals. Die Zeugin versuchte, sich zu wehren, gab es aber auf, weil der Angeklagte mit beiden Händen zudrückte, so dass sie in Atemnot geriet. Sie hatte Todesangst und sagte dem Beschuldigten, sie wolle nicht sterben. Dieser erwiderte, er wolle sie nicht umbringen. Die Hände um ihren Hals gelegt, schob er die Zeugin auf den Eingang der Gartenkolonie zu und befahl ihr, über das verschlossene Törchen zu steigen. Die Zeugin, die völlig verängstigt war und in der einsamen Gegend zu dieser Zeit nicht auf Hilfe rechnen konnte, gehorchte, obschon sie ahnte, dass sie vergewaltigt werden sollte. Der Beschuldigte wusste, dass die Zeugin Angst hatte und nicht freiwillig mitging. Es war ihm gleichgültig. Er führte sie zu einem nahe gelegenen Gartenhäuschen und forderte sie auf, sich auszuziehen. Das tat die Zeugin in ihrer Angst. Auch der Beschuldigte zog sich aus. Er fasste sie überall an und legte sich auf einer Bank vor dem Gartenhäuschen auf sie, um den Beischlaf mit ihr auszuführen. Da ihm das nicht sofort gelang, verlangte er von der Zeugin, sein Glied anzufassen und in den Mund zu nehmen, damit es steif werde. Aus Angst tat sie das, obwohl es sie ekelte. Anschließend führte der Beschuldigte sein Glied vollständig in ihre Scheide ein, und es kam zum Samenerguss. Nach dem Geschlechtsverkehr zogen sich beide wieder an.« So heißt es in den nüchternen Worten der Angeklageschrift.
Wenige Tage später lernt Werner D. auf der Allerheiligen-Kirmes eines Nachbarorts eine gleichaltrige Frau kennen; beide verbringen Nachmittag und Abend in verschiedenen Gaststätten. Beschwingt und angeheitert, bietet sie ihm in ihrer Wohnung eine Übernachtungsmöglichkeit »in allen Ehren« an; in der Folge des noch einvernehmlichen »Gutenachtküsschens« kommt es dann zum erzwungenen Geschlechtsverkehr.
Am 27. November 1979 schließlich bestellt Werner D. sich nach einem feuchtfröhlichen Abend in seiner Stammkneipe ein Taxi, zu seiner Überraschung mit einer Frau am Steuer. Er dirigiert sie in der Absicht, den Geschlechtsverkehr zu erzwingen, in eine abgelegene Sackgasse, die an ein Waldstück grenzt. Dort versucht er, die sich heftig wehrende Frau zu entkleiden; dabei berührt er sie sexuell. Gleichwohl schafft sie es, über Funk bei ihrer Zentrale Alarm auszulösen.
Als es ihr schließlich gelingt, Tränengas-Spray einzusetzen, flüchtet er mit einiger Mühe. Noch vor seiner Wohnung wird er von der wenig später eintreffenden Polizei festgenommen. Auf Grundlage der Ermittlungsergebnisse erhebt die Staatsanwaltschaft die öffentliche Klage bei der Großen Strafkammer des Landgerichts.
Werner D. wird am 20. November 1953 geboren. Über seine Kindheit und Jugend ist wenig bekannt; unauffällig wächst er mit zwei jüngeren Geschwistern in »einfachen, äußerlich geordneten Verhältnissen«, wie es in Urteil und Gerichtsgutachten später heißen wird, in einem 500-Seelen-Dorf am linken Niederrhein auf. Sein Vater ist als Fleischer in einer Wurstfabrik beschäftigt, seine Mutter Hausfrau.
Er besucht die Volksschule, bleibt dreimal sitzen und wird schließlich 1967 aus der 6. Klasse entlassen. Zunächst ist er als ungelernter Hilfsarbeiter in demselben fleischverarbeitenden Betrieb wie sein Vater tätig, eine Berufsausbildung beginnt er nicht. Er wohnt weiterhin bei seinen Eltern, mit denen er gut auskommt.
In den siebziger Jahren ist er zeitweise in anderen Betrieben der Fleischindustrie beschäftigt, häufig ist er arbeitslos. Irgendwann verlässt er sein Elternhaus und nimmt sich ein möbliertes Zimmer im Nachbarort. Seine Freizeit ist geprägt von Fußball, Fernsehen und regelmäßigen Aufenthalten in Kneipen. Andere Interessen als das runde Leder hat er nicht, er lässt kein Spiel seines Vereins aus und ist oft Zaungast beim Training. Weitere bescheidene Höhepunkte seines kleinstädtischen Milieus sind die Kirmes, das Schützenfest und der landwirtschaftliche Jahrmarkt, mit Prämierung des besten Zuchtbullen.
Bei Frauen hat Werner D. kein rechtes Glück: Teils sind es absichtlich flüchtige Kontakte, teils klappt es mit einer Beziehung nicht, weil ihr der Fußballverein im Weg steht. Ebenso wenig hat er einen Freundeskreis, der der Rede wert ist, Kontakt besteht nur zu Vereinskumpeln, immer häufiger zu seinen Trinkkumpanen, denn Menge und Bedeutung des täglichen Alkoholkonsums wachsen, gerade in Phasen der Arbeitslosigkeit. Der Heimweg des Einzelgängers insbesondere nach solchen alkoholumnebelten Abenden wird immer heikler: Allein, innerlich leer, ziellos streift er umher, enthemmt und ohne Grenzen, darauf aus, sich einfach das zu nehmen, was seinen spontanen Bedürfnissen entspricht.
In seiner sexuell aktivsten Lebensphase überschreitet er die Schwelle des Strafrechts. So wird er schon Anfang 1974 wegen Vergewaltigung zu einem Jahr und sechs Monaten Jugendstrafe, im Juli 1975 wegen versuchter Vergewaltigung zu einem Jahr Freiheitsstrafe und im August 1976 wegen Vergewaltigung und Körperverletzung zu drei Jahren Freiheitsstrafe verurteilt, die er auch jeweils voll verbüßt – die Spekulation, ob das alles war oder nur die Spitze eines Eisbergs, erübrigt sich.
Zum 1. Februar 1980 war ich in den höheren Justizvollzugs- und Verwaltungsdienst des Landes NORDRHEIN-WESTFALEN eingestellt worden, zeitgleich mit einem Kollegen. Zum ersten Dienstort war uns die Justizvollzugsanstalt, kurz JVA, Duisburg-Hamborn bestimmt worden. Zwei Anfänger in einer als übermächtig empfundenen Institution rücken rasch zusammen. Schon bald vertrauten wir einander an, dass sich jeder mit dem Eintritt in den Justizdienst schwergetan hatte. Nur wenige Jahre zuvor hatten wir noch flammende Aufrufe und schneidige Flugblätter verfasst, in denen gerade die Strafjustiz und ihre »Büttel« im Vollzug ihr Fett wegbekamen. Unsere Texte brandmarkten sie als Inkarnation des staatlichen Unterdrückungsapparats, und dass die Bourgeoisie des akademischen Mittelstands mit den Mitteln des Strafrechts auf die Unterschicht einprügelte, war absolut klar. Wer da mitwirkte, machte sich zum Handlanger einer spätkapitalistischen Klassenjustiz.
Und jetzt waren wir also selbst dabei, zwei älter gewordene Sympathisanten der 68er-Bewegung. Die Einarbeitung in den organisierten Freiheitsentzug verlief daher zunächst distanziert und ein wenig beklommen. Wir setzten darauf, dass an der inzwischen leicht verstaubten linken These vom »Marsch durch die Institutionen« vielleicht doch etwas dran wäre und wir das verkrustete System von innen heraus sprengen konnten.
Zugegeben, unsere Ansichten nach etlichen Semestern Jura und der Referendarzeit waren nicht mehr ganz so heftig wie zu Beginn unseres Studiums. Dennoch waren wir uns einig, dass wir drei Grundsätze nie preisgeben würden: 1. das glasklare Bekenntnis zu einem gleichen Recht für alle als das sicherste Kontrollinstrument der Macht über Menschen; 2. der Vorrang des Resozialisierungsgedankens gegenüber Ideen von Sühne und Repression; 3. unser sehr ernst gemeintes und bis heute gültiges gegenseitiges Versprechen, sofort diesen Dienst zu quittieren, sollte jemals die Todesstrafe wieder eingeführt werden.
Distanz und Beklommenheit gegenüber dem »System« währten nicht sehr lange. Es strömte so viel Neues auf uns ein, dass unsere Vorbehalte bald in den Hintergrund traten. Täglich waren wir nun für acht, manchmal auch für zehn Stunden hinter Gittern – entscheidender Unterschied zu den meisten anderen allerdings: Wir hielten den Schlüssel in der Hand. Die Gefangenen beteiligten sich auf ihre Weise an unserer Einarbeitung und stellten uns, wo immer sie konnten, auf die Probe. Wir waren die Neulinge diesseits, sie die Profis jenseits der Gitter.
Im Grunde kämpften wir außerdem an zwei Fronten, denn die überall geläufigen beruflichen Sozialisierungsrituale wurden auch an uns vollzogen: Mit größter Selbstverständlichkeit erwarteten der Anstaltsleiter und sein Stab von uns als Angehörigen des höheren Dienstes die Pflege des tradierten Rollenbilds, in Schreibstil und Sprachgebrauch ebenso wie in Auftreten und Kleidung. Wie alle anderen auch sollten wir in Anzug und Krawatte zum Dienst erscheinen. Selbstredend kam das für uns überhaupt nicht in Frage!
Diese Art der bourgeoisen Anpassung – das wäre einfach zu viel gewesen. Mein Lieblingsstück war ein anthrazitfarbener Wollpullover mit V-Ausschnitt, den ich über einem Hemd mit offenem Kragen trug. Noch zu Studentenzeiten hatte ich ihn für kleines Geld im Secondhand-Laden als »Pilotenpullover« gekauft, damals die ideale Ergänzung zum angesagten Bundeswehr-Parka. Anfangs war ich im sogenannten Abteilungsdienst eingesetzt, das ist der Tätigkeitsbereich der uniformierten Beamten. Natürlich trug ich oft mein Lieblingsstück – eben den rustikalen Pulli – auch an dem Tag, an dem ich eine Gruppe von 15 Gefangenen in den zentralen Duschraum im Keller bringen sollte. Im Aufzug standen wir recht eng beieinander, als ich meinen Anstaltsschlüssel aus der Tasche zog, um die Kabine in Bewegung zu setzen. Ich merkte geradezu körperlich, wie sich alle Aufmerksamkeit auf mich richtete. Einer fragte, mit zweifelndem Unterton in der Stimme, aber glitzernden Augen: »Sag mal, wie kommst du denn an den Schlüssel?« Da fiel es mir wie Schuppen von den Augen: Die Gefangenen trugen den gleichen Pullover wie ich.
Kurze Zeit später bat mich ein Untersuchungsgefangener schriftlich, wie es üblich war, um ein Gespräch. Als ich seine Zelle betrat, kam mir zu meiner Überraschung derjenige Gefangene entgegen, der mich im Aufzug nach der Herkunft des Schlüssels gefragt hatte: Werner D. Unsere erste Begegnung würdigte er keines Wortes. Jetzt trieb ihn die Sorge um, dass er im laufenden Verfahren nicht nur mit einer »saftigen« Strafe, sondern auch mit der Sicherungsverwahrung rechnen muss; die bald zur Verhandlung anstehenden Taten, die er im Wesentlichen zugibt, sind nun mal nicht seine ersten dieser Art.
Rein formal war die Antwort klar: Da ich nicht am Prozess beteiligt war, musste er diese Frage seinem Verteidiger stellen; der würde sich eine Einmischung meinerseits sicher verbitten. Aber anhand dieser Frage wurde mir schlagartig deutlich, dass in meinem erwählten Beruf die Straftaten nicht mehr lediglich abstrakte, nüchtern zu behandelnde Themen im Lehrbuch, in der Vorlesung oder im Urteil waren. An diesem Tag wurde mir erstmals bewusst, dass ich jetzt und in Zukunft immer wieder Tätern gegenübersitzen würde, dass ich mich Aug in Aug mit Menschen aus Fleisch und Blut befinden würde, die oft nur sehr schwer begreifbare Taten begangen hatten. Auch sie waren von Sorgen, Hoffnungen und Wünschen geplagt – die allerdings nicht im mindesten mit den Ängsten und Leiden vergleichbar waren, die sie ihren Opfern zugefügt hatten.
Jenseits aller juristischen Kenntnisse und allen logischen Denkvermögens wurden von mir plötzlich ganz andere Fähigkeiten gefordert als bisher: das richtige Verhältnis von Verständnis für den Gefangenen einerseits und Empathie mit den Opfern andererseits, eine ausgewogene Mischung aus Zuwendung und professioneller Distanz, aus Hinhören, Abgrenzung und Durchsetzungsvermögen gegenüber den Menschen auf der anderen Seite der Gitter. Nichts von dem hatte in Studium und Referendariat auch nur die geringste Rolle gespielt. »Learning by doing« – etwas anderes gab es nicht. Und an Stoff würde es mir nicht fehlen. Es war die erste, aber beileibe nicht die letzte Erfahrung dieser Art.
Werner D.s Sorgen hinsichtlich des Urteils sind berechtigt. Der Hauptverhandlung zufolge hält ihn die große Strafkammer wegen seiner Tat vom 27. Oktober 1979, da er Kerstin B. zum Oralverkehr genötigt hat, der sexuellen Nötigung in einem besonders schweren Fall und, da er den Vaginalverkehr erzwungen hat, der Vergewaltigung für schuldig. Innerhalb des Strafrahmens, den § 177 Abs. 2 Ziffer 1 Strafgesetzbuch (STGB) dafür vorsieht, setzt sie sechs Jahre Freiheitsstrafe fest. Nur kurz entlässt das Gericht Kerstin B. aus der üblichen Reduzierung der Opfer auf ein Beweismittel und lässt in vier dürren Sätzen schlaglichtartig ihr Leid aufblitzen:
»Für die im Tatzeitpunkt 15 Jahre alte Zeugin war es der erste Geschlechtsverkehr. Sie wurde durch die Tat des Angeklagten schwanger. Ende Januar 1980 wurde die Schwangerschaft abgebrochen. Sie leidet noch heute, über ein halbes Jahr später, unter der Tat und befindet sich in psychologischer Behandlung.«
Deutlich andere Tatumstände sieht die Kammer bei Werner D.s Übergriff nach der Allerheiligen-Kirmes: Im Hinblick auf den Leichtsinn des Opfers und angesichts der vergleichsweise geringen Gewaltanwendung hält sie für diese Vergewaltigung eine Freiheitsstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten für angemessen. Die sexuelle Attacke auf die Taxifahrerin stellt sich für die Kammer in Gestalt der sexuellen Berührung als sexuelle Nötigung, diese in Tateinheit mit versuchter Vergewaltigung dar; sie setzt dafür drei Jahre und sechs Monate Freiheitsstrafe fest.
Mit Blick auf den Seriencharakter der aktuellen Taten und angesichts der einschlägigen Vorstrafen beantragt die Staatsanwaltschaft zugleich, im Anschluss an die Strafe die Unterbringung Werner D.s in der Sicherungsverwahrung anzuordnen.
Bevor wir uns ansehen, was dieses Urteil für Werner D. bedeutet, lohnt ein genauerer Blick auf die für die Anordnung der Sicherungsverwahrung einschlägige Vorschrift, § 66 Abs. 1 STGB. Sie hatte damals den folgenden – schon leicht vereinfachten – Wortlaut:
»Wird jemand wegen einer vorsätzlichen Straftat zu zeitiger Freiheitsstrafe von mindestens zwei Jahren verurteilt, so ordnet das Gericht neben der Strafe die Sicherungsverwahrung an, wenn
1. der Täter wegen vorsätzlicher Straftaten, die er vor der neuen Tat begangen hat, schon zweimal jeweils zu einer Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt worden ist,
2. er wegen einer oder mehrerer dieser Taten vor der neuen Tat für die Zeit von mindestens zwei Jahren Freiheitsstrafe verbüßt … hat und
3. er infolge eines Hanges zu erheblichen Straftaten, namentlich zu solchen, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt werden …, für die Allgemeinheit gefährlich ist.«
Wie wir lesen, ordnet das Gericht die Sicherungsverwahrung »neben der Strafe« an, das heißt, sie ist etwas prinzipiell anderes als Strafe, nämlich eine andere Art der Freiheitsentziehung aus der Gruppe der sogenannten Maßregeln der Besserung und Sicherung. Gerade diese Zweigleisigkeit der Freiheitsentziehung mit ihren unterschiedlichen Zielrichtungen erlaubt es nach deutschem Recht übrigens, das allgemeine Höchstmaß der zeitigen Freiheitsstrafe infolge ihrer strengen Tatschuld-Orientierung im europäischen Vergleich bemerkenswert niedrig zu halten, nämlich auf 15 Jahre zu begrenzen. Darüber hinaus gehenden Präventionsbedürfnissen wird eben durch die Sicherungsverwahrung Rechnung getragen.
Dieser Weg hat sich allerdings nur in einigen westeuropäischen Ländern durchgesetzt, unter anderem im Ursprungsland Schweiz, in Österreich, Dänemark, Norwegen, Großbritannien, Frankreich und seit Kurzem auch in den Niederlanden. Andere Nachbarstaaten bevorzugen es, den Schutz der Allgemeinheit vor künftigen Straftaten durch einen erheblich weiteren Strafrahmen und folglich im Einzelfall eine deutlich längere Strafdauer zu gewährleisten. So beträgt zum Beispiel in Frankreich das mögliche Höchstmaß der zeitlich befristeten Freiheitstrafe 30 Jahre und ist damit doppelt so hoch wie in Deutschland; in Portugal sind es sogar 50 Jahre.
Ähnlich lange oder auch noch längere Freiheitsstrafen, wohlgemerkt unterhalb des »Lebenslänglich«, gibt es auch in den USA; man muss allerdings wissen, dass dort die vorzeitige Entlassung bereits nach einem Viertel der Strafzeit möglich ist. Zum Vergleich: Bei uns geht das frühestens nach der Hälfte, und das als seltene Ausnahme. Häufiger – bundesweit um 30 Prozent – ist eine Entlassung nach zwei Dritteln der Strafzeit. So relativiert sich manch scheinbar großer Unterschied, wenn es um die tatsächliche Verweildauer im Vollzug geht.
Zum besseren Verständnis dieses Nebeneinanders von Strafe und Maßregel im System der strafrechtlichen Sanktionen lohnt ein kurzer Blick auf ihre Geschichte. Ansatzweise tauchte es 1794 im Allgemeinen Preußischen Landrecht Friedrichs des Großen auf und bildete sich etwa hundert Jahre später im Schweizerischen Strafgesetzbuch voll aus. In Deutschland wurde die Sicherungsverwahrung durch das Gewohnheitsverbrechergesetz vom 24. November 1933 eingeführt. Falls Sie aufgrund des Datums schon Ihre Schlussfolgerung gezogen haben: Nein, nach einhelliger Meinung handelt es sich bei der Sicherungsverwahrung nicht um nationalsozialistisches Unrecht. Erste Gesetzentwürfe stammten noch aus der Kaiserzeit, und die entscheidenden gesetzgeberischen Arbeiten fanden in der eher liberalen Weimarer Republik statt. Allerdings fügten die Nationalsozialisten die Sicherungsverwahrung nur allzu gern in das Reichsstrafgesetzbuch ein und sahen darin ein »schneidiges Schwert im Kampfe gegen das Berufs-, Gewohnheits- und Veranlagungsverbrechertum«, so der damalige Justiz-Staatssekretär und spätere Präsident des berüchtigten Volksgerichtshofs Freisler. Dass das braune Unrechtsregime dieses Instrument des Strafrechts weidlich missbrauchte, verwundert nicht: Bereits drei Jahre nach dem Inkrafttreten gab es reichsweit über 3200 Sicherungsverwahrte.
Wohl aufgrund dieser Entstehungsgeschichte fanden nach 1945 die Grundzüge des Regelwerks – mit Ausnahme von bis dahin möglicher Todesstrafe und »Entmannung« – Gnade vor den Augen des Alliierten Kontrollrats. Dieses Gremium der Siegermächte kassierte sonst alle Gesetze mit typisch nationalsozialistischem Unrechtsgehalt, zum Beispiel die »Rassengesetze«. Auch in der jungen demokratischen und rechtsstaatlichen Bundesrepublik Deutschland hielt die Sicherungsverwahrung höchstrichterlicher Rechtsprechung stand. Allerdings geriet sie ab Mitte der sechziger Jahre wie viele andere gesellschaftliche Konventionen in die Kritik. Entscheidender Einwand der Fachwelt: Es seien zu viele und es seien die Falschen darin. Nach einem Bericht vor dem Sonderausschuss für die Strafrechtsreform des Deutschen Bundestags im März 1966 betrug der Anteil der Gewalttäter unter den bundesweit etwa 900 Sicherungsverwahrten lediglich 9 Prozent, der der gewaltlosen Vermögensdelinquenten hingegen 74 Prozent.
Der französische Philosoph und Soziologe Michel Foucault, Professor am Collège de France für die Geschichte der Denksysteme, lenkte den Blick der gesellschaftskritischen Kräfte in den bewegten Jahren um 1968 herum auf die Justiz im Allgemeinen und den Strafvollzug im Besonderen. Sein 1976 auch in Deutschland erschienenes Buch »Überwachen und Strafen – Die Geburt des Gefängnisses« beeindruckt noch heute. Unter anderem führt er aus, dass historisch gesehen der Freiheitsentzug als die wesentliche Sanktion gegen strafrechtliches Unrecht relativ jung ist, nämlich letztlich ein Kind der Französischen Revolution von 1789. Durch den Freiheitsentzug und seine Entwicklung wurde aber zugleich auch die gedankliche Grundlage für den modernen Überwachungsstaat gelegt. Zwar gab es schon immer so etwas wie Untersuchungshaft und seit dem 16. Jahrhundert auch Zuchthäuser, aber für die überwiegende Mehrheit der Straftäter waren nach der in Preußen bis 1794 geltenden Peinlichen Halsgerichtsordnung Kaiser Karls V. von 1532 die Körperstrafen die Regel. Das bedeutete Strafen »an Haut und Haar«, also etwa das Brandmarken der Betrüger oder das Scheren der Verleumder und die Strafen »an Kopf und Hand« für Diebstahl, Raub oder Totschlag. Die schwersten Strafen waren die möglichst langsame Exekution und öffentliche Marterung, die sich über Stunden oder manchmal über Tage hinzog.
Springen wir voraus, in die Bundesrepublik Deutschland der sechziger Jahre: Die große Koalition unter Kanzler Kurt Georg Kiesinger (CDU) und mit dem Justizminister Horst Ehmke (SPD) brachte am 25. Juni und 4. Juli 1969 aufgrund des anhaltenden gesellschaftlichen Reformdrucks zwei bedeutende Strafrechtsreformgesetze auf den Weg, die allerdings teilweise erst 1975 bzw. 1978 in Kraft traten. Sie gaben unter anderem die Unterscheidung der Freiheitsentziehung nach Zuchthaus, Gefängnis, Einschließung und Haft zugunsten einer einheitlichen Freiheitsstrafe auf. Außerdem schafften sie den berüchtigten § 175 Strafgesetzbuch ab, der homosexuelle Handlungen zwischen erwachsenen Männern, und zwar einvernehmliche (!) gewaltfreie (!), unter Strafe gestellt hatte, weswegen sich die Zuchthäuser und selbst die Sicherungsverwahrung gefüllt hatten.
Auch dieses Instrument des Strafrechts wurde reformiert. Man wollte die Sicherungsverwahrung als »letzte Notmaßnahme der Kriminalpolitik« verstanden und zurückgeschnitten wissen: In einer grundlegenden Neuregelung wurden die Bedingungen, nach denen ein Gericht die Sicherungsverwahrung verhängen durfte, deutlich strenger definiert. Und noch eins: Die erstmalige Vollstreckung der bis dahin unbefristeten Sicherungsverwahrung wurde auf zehn Jahre begrenzt. Niemand konnte damals ahnen, dass gerade dieses Detail eine Kausalkette in Gang setzte, die sich über gut vierzig Jahre erstreckte und in deren Verlauf der Gesetzgeber – knapp dreißig Jahre später und einem ganz anderen Zeitgeist folgend – diese Begrenzung wieder aufheben würde. Und dass sich die Bundesrepublik Deutschland genau damit weitere gut zehn Jahre später, nämlich genau am 17. Dezember 2009, auf europäischem Parkett bis auf die Knochen blamieren würde.
Die unmittelbare Folge der Reform jedoch bestand darin, dass die Zahl der Sicherungsverwahrten schnell zusammenschnurrte: Etliche Kleinkriminelle und insbesondere die »175er«, wie die Homosexuellen damals im Volksmund genannt wurden, kamen umgehend frei. Entsprechend gingen die Zahlen in den siebziger Jahren weiter zurück: Gab es 1965 bundesweit noch 902 Verwahrte, so sank ihre Zahl auf 250 im Jahr 1980. Damit aber war weder das Minimum erreicht noch ausgeschlossen, dass die Zahlen wieder steigen würden, wie wir noch sehen werden.
Kehren wir zurück in die Hauptverhandlung vor der großen Strafkammer des Landgerichts gegen Werner D. am 24. März 1980 und zum Antrag der Staatsanwaltschaft auf Verhängung der Sicherungsverwahrung: Sie kommt wie ausgeführt in Betracht, wenn Werner D. für die Allgemeinheit infolge eines Hanges zu bestimmten Straftaten gefährlich ist.
Mit dieser Frage betritt das Gericht die Domäne der forensischen, das heißt der gerichtlichen Gutachter. Der prominente Sexualforscher und Psychiater Professor Dr. B. führt in seiner abschließenden Einschätzung aus, Werner D. habe eine nicht sonderlich auffällige psychosexuelle Entwicklung durchlaufen. Bei seiner geringen Introspektionsfähigkeit und Konfliktwahrnehmung falle es indessen schwer, den motivationalen Hintergrund der Taten aufzuhellen. Bei allen Straftaten sei jedoch auffällig, dass Werner D. entweder in der Tatsituation selbst Zurückweisungen von Frauen erfuhr oder aber, wie im Vorfeld der ersten Tat, von der Freundin verlassen worden sei. Es sei offenbar so, dass er von Frauen in starkem Maße kränkbar sei und darauf mit Aggressivität und Wut reagiere. In Situationen der Enttäuschung, Zurückweisung oder des Verlassenwerdens durch Frauen könne es wie bisher jederzeit wieder zu Sexualdelikten kommen.
Aus den oben beschriebenen drei Einzelstrafen bildet das Gericht eine Gesamtstrafe, deren Höhe die Summe der Einzelstrafen nicht erreichen darf. Grund für diesen »Rabatt« ist die Annahme, dass insbesondere bei mehreren kurz aufeinanderfolgenden Delikten gleicher Art die Hemmschwelle für die Folgetaten sinke. Die Kammer verurteilt Werner D. am 24. März 1980 zu insgesamt neun Jahren Freiheitsstrafe und siedelt die Strafe damit im mittleren Bereich des Strafrahmens von zwei bis fünfzehn Jahren an, der nach § 177 Abs. 2 STGB zur Verfügung steht. Zugleich hält sie auf der Grundlage des Gutachtens die Gefahr weiterer einschlägiger Delikte für gegeben und ordnet daher im Anschluss an die Strafe seine Unterbringung in der Sicherungsverwahrung an, deren Höchstdauer damals – wir erinnern uns an diese Befristung der Sicherungsverwahrung durch das Strafrechtsreformgesetz 1969 – zehn Jahre betrug.
Werner D. muss also von maximal 19 Jahren Freiheitsentzug als Summe von Freiheitsstrafe und Sicherungsverwahrung ausgehen. Wäre er wegen derselben Taten in einem Land ohne Sicherungsverwahrung, zum Beispiel in Spanien oder Portugal verurteilt worden, so hätte er sich auf rund 18 bis 20 Jahre Freiheitsstrafe einrichten müssen, bei deren Bemessung neben die Gründe des Schuldausgleichs auch solche der Prävention getreten wären. Man sieht: Die Unterschiede in den europäischen Strafrechtssystemen liegen weniger in der Dauer der gesamten Freiheitsentziehung als vielmehr in ihrer jeweiligen rechtsdogmatischen Begründung.
Da sowohl Werner D. als auch die Staatsanwaltschaft auf eine Revision verzichten, steht nun die Vollstreckung des Urteils an – was eine weitere, wenig bekannte Aufgabe der Staatsanwaltschaft ist. Sie ist nämlich nicht nur Ermittlungs- und Anklagebehörde vor Gericht, sondern eben als Vollstreckungsbehörde auch für die weiteren Aspekte der Durchführung der Strafe zuständig. Ist jemand wie Werner D. in fortlaufender Untersuchungshaft, veranlasst sie seine Überführung in eine für den Vollzug der Freiheitsstrafe zuständige Anstalt.
Nur kurz zur Klärung der Begriffe: Die Vollstreckungsbehörde, also die Staatsanwaltschaft, setzt den zeitlichen Rahmen der zuerkannten Freiheitsstrafe, entscheidet zum Beispiel über die Haftfähigkeit des Verurteilten, über Aufschub oder Unterbrechung der Vollstreckung. Die Vollzugsbehörde, also die Justizvollzugsanstalt, bestimmt Modalitäten und Inhalte des Freiheitsentzugs (offener oder geschlossener Vollzug? Schulische, berufliche Maßnahmen? Drogen-, Gewalt-, Sexualtherapie? Schuldner-, Eheberatung? Urlaub, Ausgang?).
Zuständig war für Werner D., da er mehr als zwei Jahre Freiheitsstrafe zu verbüßen hatte, die rheinische Einweisungsanstalt, just dieselbe, in der er sich während der Untersuchungshaft befand; Werner D. brauchte also nur von der einen in die andere Haftabteilung derselben Anstalt umzuziehen. Das Einweisungsverfahren gilt als nordrhein-westfälische Errungenschaft des modernen Behandlungsvollzugs. Entwickelt wurde es in den innovationsfreudigen sechziger Jahren, und zu Beginn des folgenden Jahrzehnts institutionalisierte es im Vollzug eine Denkstruktur, die so systematisch allenfalls im medizinisch-therapeutischen Bereich selbstverständlich war. Der Kern: Jede erfolgreiche Behandlung setzt eine sorgfältige und vor allem individuelle Diagnose voraus.
Seit 1971 gingen alle Gefangenen mit mehr als 18 Monaten, später mehr als zwei Jahren Freiheitsstrafe in die JVA Duisburg-Hamborn, wenn sie aus den rheinischen Oberlandesgerichtsbezirken Düsseldorf und Köln kamen. Stammten sie aus dem westfälischen Oberlandesgericht-Bezirk Hamm, wurden sie in die JVA Hagen verlegt. In diesen beiden Anstalten wurden Einweisungskommissionen eingerichtet, die sich aus Juristen, Psychologen, Sozialarbeitern, Lehrern, Arbeitsberatern und speziell geschulten Bediensteten des allgemeinen Vollzugsdienstes zusammensetzten. Für jeden einzuweisenden Gefangenen bildete sich darauf ein interdisziplinär besetzter Spruchkörper mit fünf Mitgliedern, die den Gefangenen nach den Regeln ihres jeweiligen Faches explorierten. Die Erkenntnisse wurden zusammengetragen und zu einer psychosozialen Basisdiagnose verdichtet.
Wenn alles planmäßig abgelaufen wäre, wäre auch im Fall Werner D. das ganze umfangreiche Programm angelaufen, das in solchen Fällen üblich ist:
• Das Vollzugsteam erforscht bei Werner D. die Ursachen seiner Delinquenz und erarbeitet gemeinsam mit ihm Behandlungsmaßnahmen, um einen Rückfall zu vermeiden. Dafür durchläuft er zunächst standardisierte Schulleistungs-, Persönlichkeits- und Intelligenztests, ähnlich wie man sie aus Bewerberauswahl- und Einstellungsverfahren bei Unternehmen und Behörden kennt.
• Danach bewertet der Psychologe aus dem Spruchkörper das aktuelle und die früheren Urteile, die Gutachten und Testergebnisse diagnostisch und sucht mit ihm gemeinsam nach therapeutischen Ansätzen zur Behandlung seiner Sexualproblematik.
• Der Sozialarbeiter führt mit ihm ein Gespräch über seine sozialen Beziehungen, über sein Arbeits- und Wohnumfeld, seine Schulden.
• Ein Lehrer spricht die aktuellen Ergebnisse der Schulleistungstests durch.
• Ein Arbeitsberater entwickelt mit dem gerade mal 26 Jahre jungen ungelernten Mann Ziele für eine Berufsausbildung im Strafvollzug.
• Schließlich bestimmt der Vorsitzende des Spruchkörpers – jemand aus der Anstaltsleitung, in diesem Fall höchstwahrscheinlich ich, weil ich Werner D. nun schon kannte – die für ihn zuständige Vollzugsanstalt.
All das wäre so oder so ähnlich geschehen, wenn … ja wenn Werner D. diese Chance nicht ausgeschlagen und die Mitarbeit an der Planung für seine doch recht lange Zeit hinter Gittern verweigert hätte. Trotz aller, auch meiner Motivationsversuche bleibt er mürrisch und dickköpfig bei seiner Weigerung: Gutes habe er »von dem ganzen Zirkus« nicht zu erwarten, er kenne die Justiz und den Knast zur Genüge, ich dagegen sei noch jung und müsse noch sehr viel lernen. Da war nicht viel zu machen. Die Diagnose beschränkt sich also notwendigerweise auf ein kurzgefasstes Referat der Aktenlage: Lebenslauf, schulische Bildung, Erwerbstätigkeit und kriminelle Karriere, wie wir sie schon kennen. Abschließend heißt es in der Einweisungsentschließung: