Di Morrissey

Im Licht der Korallenblüte

Ein Australien-Roman

Knaur e-books

Inhaltsübersicht

Über Di Morrissey

Di Morrissey ist die erfolgreichste Autorin Australiens. Als Journalistin arbeitete sie für Frauenmagazine, Radio und Fernsehen, schrieb Drehbücher und Theaterstücke und wirkte an zahlreichen TV-Produktionen mit. Sie lebt heute auf einer Farm in Byron Bay, New South Wales.

Impressum

Die australische Originalausgabe erschien 2013 unter dem Titel »The Winter Sea« bei Pan Macmillan Australia Pty Limited, Sydney.

 

© 2015 der eBook-Ausgabe Knaur eBook

© 2013 by Lady Byron Pty Ltd

© 2015 der deutschsprachigen Ausgabe Knaur Verlag

Ein Imprint der Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit

Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

Redaktion: Boris Heczko, Kollektiv Druckreif

Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München

Coverabbildung: FinePic®, München / shutterstock

ISBN 978-3-426-43516-8

Hinweise des Verlags

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.


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Für Giancarlo Manara

 

Erst deine Freundschaft und deine Filme haben mir die Augen für den Zauber Italiens geöffnet!

1

Die Äolischen Inseln vor der Küste Italiens, 1906

Eine Woge baute sich auf, und der Junge beugte sich über den Bootsrand, um im glatten Tal der Welle kurz vor ihrem Überschlag einen Blick auf sein Spiegelbild zu erhaschen. Eine Sekunde lang glaubte Giuseppe d’Aquino, ihm starre ein alter Mann entgegen. Das Gesicht mit den hervortretenden hellblauen Augen, den aufgedunsenen Lippen und den feisten Wangen wirkte seltsam vertraut; sein fragender Ausdruck zeigte zugleich einen Anflug von Enttäuschung.

Plötzlich wuchs die schaumgekrönte Welle zu doppelter Größe an, prallte gegen die hölzerne barca und schob das kleine Fischerboot ein Stück seitwärts. Das Gesicht verschwand im Spritzwasser, rasch packte eine Hand den Jungen hinten am Hemd.

»Giuseppe! Du musst aufpassen!« In dem aufkommenden Wind hörte der Junge nur Fetzen von der Ermahnung seines Vaters, der ihn unter die kleine Abdeckung am Bug schob. Die überdachte Fläche bot gerade genug Platz für ein paar Essens- und Wasservorräte sowie eine Laterne.

»Leg dich hin. Es wird regnen, aber das ist gleich wieder vorbei.«

Obwohl die See immer unruhiger wurde und es wie aus Kübeln schüttete, so dass man hinter der grauen Regenwand den Himmel nicht mehr sah, pflügte das kleine Boot durchs Wasser. Kurz ritt es auf einem Wellenkamm, bevor es krachend ins Wellental hinuntersank, um gleich wieder von einer sich auftürmenden Woge emporgehoben zu werden.

Der Junge rollte sich zusammen und vergrub das Gesicht in den Armen, dabei atmete er den ihm so vertrauten salzig-fischigen Geruch ein. Er stellte sich vor, er könne durch den Boden der Barke sehen, hinunter in das aufgewühlte Meer bis zum Boden, wo die Geschöpfe der Tiefsee lebten. Über viele Fische, die unter ihnen schwammen, wusste er dank seines Vaters Bescheid. Da gab es welche, deren Leiber knapp unter der Wasseroberfläche schnell hin und her zuckten, und andere, die auf halber Höhe zwischen Meeresboden und Wasseroberfläche ihre Runden zogen und gierig die auf und ab hüpfenden Köder beäugten; sowie jene, die am Meeresgrund auf der Lauer lagen – versteckt in Spalten, im Sand vergraben und von Korallen verdeckt.

Er hörte seinen Vater fluchen, als ihr Boot nach einem kurzen Flug durch die Luft in eine Welle krachte, so dass der hölzerne Rumpf erzitterte. Giuseppe fiel der Tag ein, an dem die Männer brüllend und mit Verwünschungen auf den Lippen in den Hafen zurückgekehrt waren. Angstvoll hatten die Dorfbewohner am Ufer gewartet, denn die Nachricht von einem Unfall auf der stürmischen See, einem über Bord gegangenen Mann, hatte die Runde gemacht. Onkel Salvatore war so rasch über Bord gespült worden, dass jede Rettung zu spät kam.

Das Meer war seine Gegenwart und seine Zukunft, das war Giuseppe klar, trotz der Gefahren der See und obwohl er wusste, wie viele Männer aus dem Dorf schon darin umgekommen waren. So war es auch schon für seinen Vater, seinen Großvater und seinen Urgroßvater gewesen. Die Inselbewohner lebten mit dem Meer, für das Meer und von ihm. Keiner verlangte oder erwartete mehr als das, was immer schon gewesen oder geschehen war.

Während Giuseppe reglos auf dem Boden des Fischerbootes ausharrte und darauf wartete, dass der Himmel hinter den dahinjagenden Regenwolken aufklaren und sich die See beruhigen würde, fühlte er sich erwachsen. Er war zehn Jahre alt, und endlich hatte ihn sein Vater zur Jagd auf den Roten Thun mitgenommen. Dann ließ der Sturm tatsächlich nach, die Wolken zogen weiter, und an einem dämmrig-grauen Himmel blinkten die ersten Sterne. Sein Vater nickte ihm zu, und Giuseppe setzte sich still hin, während die anderen Fischer – seine beiden älteren Brüder und sein Onkel Rocco – unbeirrt weiter aufs Mittelmeer hinausruderten. In der einbrechenden Dunkelheit war ihre Heimatinsel, eine der vor Sizilien verstreuten Äolischen Inseln, bald nicht mehr zu sehen.

Auch die anderen Boote, die mit ihnen zusammen hinausgefahren waren, konnte Giuseppe nicht mehr ausmachen, aber er hörte die Männer dort an Bord, die sich übers Wasser etwas zuriefen. Eifer und Aufregung schwangen in ihren Stimmen mit. Ganz gleich, wie oft sie sich schon aufgemacht hatten, um einen der großen Könige des Meeres zu fangen, der Kitzel dieser Jagd ließ nie nach, ebenso wenig wie die Gefahr.

»Jetzt müssen wir die Köder angeln, sonst können wir keinen tonno anlocken«, erklärte sein Vater.

Giuseppe wusste, dass sein Vater damit die kleinen silbrigen Fische meinte. Sie wurden von dem Lichtschein angelockt, den die Laternen der Fischer auf die Meeresoberfläche warfen. Er hatte keine Ahnung, woher sein Vater wusste, dass es hier welche gab. Rasch wurden seitwärts die Netze ausgebracht, um die winzigen Fische zu fangen.

»Vorsicht, Vorsicht«, rief sein Vater, als die Männer die Netze zurück an Bord hievten. Doch alle Fischer wussten, dass man bedachtsam vorgehen musste, um zu verhindern, dass die zierlichen Fische in Panik durchs Netz zu schlüpfen versuchten und in einem glänzenden Schuppenregen verendeten. Und so legten die Männer die kleinen Fische vorsichtig in eigens dafür gefertigte Körbe, die direkt unter der Wasseroberfläche seitlich am Boot befestigt waren.

Sobald die Fische verstaut waren, rollten sich die Männer auf dem Boden des Bootes zusammen, um ein paar Stunden zu schlafen. Wenn sie am nächsten Morgen auf der Suche nach dem mächtigen Roten Thun weiter gen Westen ruderten, würden sie all ihre Kräfte brauchen. Trotz der unbequemen Lage schliefen sie gut und träumten von dem bevorstehenden Kampf.

Noch vor Tagesanbruch wurden sie von Giuseppes Vater geweckt und teilten ein bescheidenes Frühstück aus Brot und Käse. Als dann ein erster Lichtstreifen den Horizont rosa färbte, ruderten sie los.

»Halt die Augen offen, mein Sohn«, sagte Giuseppes Vater. »Beobachte die Seevögel. Morgens treibt der große tonno gern direkt unter der Wasseroberfläche, um sich nach der nächtlichen Fischjagd aufzuwärmen. Die Seevögel sehen seine Flosse und fliegen hin, um sich die Sache näher anzuschauen. Wenn wir also die Vögel sehen, fahren wir ebenfalls hin.«

Giuseppe suchte den Horizont ab, bis seine Augen schmerzten, aber er konnte nichts entdecken. Plötzlich rief einer seiner Brüder »Schaut, dort« und deutete in Richtung Norden.

Giuseppe sah immer noch nichts. Die Ruderer legten sich mächtig in die Riemen und steuerten in die von seinem Bruder angezeigte Richtung, und da sah schließlich auch Giuseppe mehrere Seevögel ins Wasser tauchen.

»Ich kann die Vögel sehen!«, rief er aufgeregt.

»Still«, zischte sein Vater. »Wenn hier tonno ist, wollen wir ihn nicht aufschrecken.«

Ihr kleines Boot näherte sich den tauchenden Seevögeln, und die Männer sahen, dass dort tatsächlich eine Schule Thunfische schwamm. Da jedes Boot nur einen der Fische attackieren konnte, die immerhin bis zu fünfhundert Kilo wogen, mussten die Fischer einen passenden Fang auswählen und ihn unauffällig von seiner Schule trennen. Dabei galt es, die übrigen Thunfische nicht zu erschrecken, weil ansonsten alle in unerreichbare Tiefen abtauchen würden.

Während die Männer mit dem schweren Holzboot auf einen riesigen Fisch zuhielten, wartete einer von Giuseppes Brüdern neben einem der Körbe mit Fischködern. Alles hing nun von seinem Augenmaß und seiner Präzision ab. Seine Aufgabe war es, den Thunfisch zum Boot zu locken, indem er ein paar kleine Fische ins Wasser warf. Es war eine Fähigkeit für sich, abzuschätzen, wie viel Fisch genau notwendig war, damit der Thunfisch nah genug ans Boot kam und der Harpunier ihn erwischte. Man hatte nur eine Chance.

Die kleinen silbrigen Fische glitzerten im sonnenbeschienenen Wasser. Der Thunfisch sah sie in die Freiheit schwimmen, schoss auf sie zu und schnappte nach ihnen. Noch mehr Fische wurden dem Thunfisch vorgeworfen, damit er näher zum Boot schwamm. Dann nahm Giuseppes Bruder einen der Köderfische aus dem Korb und quetschte ihm die Augen aus, bevor er ihn ins Meer warf. Orientierungslos schwamm der nun blinde kleine Fisch nicht vom Boot weg, sondern zog daneben ein paar Kreise. Lautlos holten die Ruderer ihre Riemen ins Boot. Ohne Verdacht zu schöpfen, ließ sich der Thunfisch von dem Köder locken. Mit einem Satz schnellte er darauf zu, fast hätte er in seiner Gier das Boot gerammt. Vor Aufregung atemlos, begriff Giuseppe, dass dies der entscheidende Augenblick war: Jetzt konnten sie den tonno fangen.

Er beobachtete seinen ältesten Bruder, der mit einer Harpune, einer traffena, am Bug stand. Eine furchteinflößende Waffe, die einer Heugabel ähnelte, nur dass sie sieben Zinken hatte, jede mit einem Widerhaken an der Spitze. Mit all dem Selbstvertrauen, das sich der junge Fischer im Lauf der Jahre erworben hatte, stellte er sich breitbeinig hin und schleuderte die Harpune auf den Thunfisch. Er hatte auf die verwundbare Stelle am Hinterkopf gezielt, wo das Rückenmark ins Hirn überging. Denn nur an dieser Stelle war der Fisch verwundbar, wie Giuseppe von seinem Bruder wusste. Er war stolz auf seine Geschicklichkeit als Harpunier; der Vater war ein guter Lehrer gewesen.

Der Thun war getroffen. Es fiel Giuseppe schwer, einen Schrei zu unterdrücken. Obwohl alle anderen ebenfalls innerlich jubelten, blieben sie angespannt und wachsam, denn noch war der Fisch nicht an Land gebracht.

In dem verzweifelten Versuch, den Angreifern zu entkommen, tauchte der verletzte Thunfisch tief hinunter, so dass die Harpunenleine durchs Wasser zischte. Doch da die Fischer wussten, wie tief ein Thun abtauchen konnte, war die Leine an der traffena aus bestem italienischen Hanf und dreihundert Meter lang. Aber dieser Thunfisch tauchte höchstens halb so weit. Giuseppes Bruder legte die Hand auf die Leine, um festzustellen, wie viel Gewicht notwendig war, damit er den Fisch an die Oberfläche holen konnte. Ganz allmählich begann er ihn in Richtung Boot zu ziehen. Dabei ging er sehr langsam vor, um herauszufinden, wie viel Widerstandskraft der große Fisch noch besaß. Manchmal trickste ein Thunfisch den Mann mit der Leine aus und schwamm langsam nach oben, um dann mit einer Drehung wieder hinunterzustoßen. Sie alle wussten, dass Eile nichts brachte. Die Zeit war ihre Verbündete.

Nach einer Weile sagte Giuseppes Bruder zum Vater: »Er wird müde. Es dauert nicht mehr lang.«

Doch der große Fisch war noch nicht bereit aufzugeben und machte einen letzten verzweifelten Satz auf das Fischerboot zu, so dass Giuseppe die Pein in seinen aufblitzenden Augen sah.

»Es ist bald vorbei«, sagte sein Bruder. »Er wird schwach.«

Inzwischen stand die Sonne hoch am Himmel, und als Giuseppe über den Bootsrand spähte, sah er die silberblau glänzende Haut des tonno. Seine kleinen Brustflossen an den Seiten schimmerten golden.

Während sie den Riesenfisch näher zum Boot zogen, versetzte Onkel Carlo ihm den tödlichen Streich, indem er den Fisch mit einer zweiten traffena durchbohrte. Als sie feststellten, dass der kraftvolle Kämpfer wirklich tot war, wurde der Thun vorsichtig ans Boot herangezogen und längsseits vertäut.

Nun endlich konnten sie den Fang feiern. Mit lauten Rufen teilte Giuseppes Vater den Fischern auf einem anderen Boot in der Ferne mit, dass sie Glück gehabt hatten. Jemand rief zurück, dass auch ihnen das Glück gelacht hatte.

Als sie mit dem Thun ins Dorf zurückkehrten, wurde das Können der Fischer gepriesen. Giuseppe war stolz, dass er dabei gewesen war. Und er sehnte den Tag herbei, an dem er es sein würde, der mit gezückter traffena darauf wartete, seine Fertigkeit gegen die mächtigen, wendigen Könige des Meeres auszuspielen.

 

Giuseppe war ein schüchterner Teenager, braun gebrannt, barfuß, mit lachenden Augen und einem verschmitzten Lächeln, bei dem seine hübschen weißen Zähne blitzten. Am Markttag flirteten die Dorfmädchen, die sich um die Stände scharten, hinter den Rücken ihrer Mütter mit ihm. Er war stark und sah älter aus als ein Fünfzehnjähriger. Die größeren Mädchen neckten ihn und sahen zu ihm herüber, wenn er auf dem Boot seines Vaters die Netze flickte oder den Kai entlangspurtete, wo Fische und Meeresfrüchte auf nassen Holztischen und in Weidenkörben zum Verkauf angeboten wurden. Allerdings hatte der Vater ein wachsames Auge auf ihn, er warnte Giuseppe davor, sich in den Durchgängen und schmalen Gassen zwischen den kleinen Steinhäusern herumzutreiben, wo junge Frauen ihm aus offenen Fenstern und Haustüren freche Bemerkungen zuriefen. Manche drohten gar, ihre Nachttöpfe auf die Gasse auszuleeren.

Giuseppe war sehr stolz gewesen, dass er nun regelmäßig auf dem Boot seines Vaters hinausfahren durfte. Nicht nur, dass er nun die Arbeit eines Mannes verrichtete, er trug damit zum Lebensunterhalt seiner Familie bei. In einer bitterarmen Gegend Italiens zählte ihre Insel zu den ärmsten, auch wenn sich Giuseppe dessen nicht bewusst war. Immerhin hatte die Familie ein bescheidenes Dach über dem Kopf, und Mutter und Großmutter brachten stets ein Essen auf den Tisch, selbst wenn es manchmal sehr einfache Kost war. Doch jeder musste seinen Beitrag leisten.

Ihre Insel war trocken und steinig. Sie lag zwischen mehreren anderen mit aktiven Vulkanen, darunter auch Stromboli. Ohne Süßwasser aus sprudelnden Quellen war der Anbau von Feldfrüchten nur sehr eingeschränkt möglich, und so waren die Dorfbewohner auf die Schätze des Meeres angewiesen. Zwar sammelten sie Regenwasser von ihren Dächern und speicherten es in Zisternen, doch das reichte nicht aus, um in nennenswertem Maß Acker- oder Gemüseanbau zu betreiben. Tomaten und Auberginen wurden in Töpfen gezogen und von Hand bewässert. In den Hügeln behaupteten sich Feigen- und Olivenbäume. Weizen musste in unregelmäßigen Abständen vom Festland importiert werden; das Brot, das nur einmal im Monat gebacken wurde, war gegen Ende der vier Wochen stets hart und trocken. Oft hörte man Giuseppes Großmutter murmeln: »Kein Wasser, aber jede Menge Erdbeben. Was hat sich Gott nur dabei gedacht, als er diese Insel schuf?«

Wie die anderen Jungen auf der Insel hatte auch Giuseppe nur wenig Schulunterricht genossen. Die Nonnen hatten ihm das Alphabet und die Zahlen beigebracht, aber seit er mitarbeiten musste, hatte er für solchen Luxus keine Zeit mehr. Trotzdem war er froh über seine zumindest rudimentäre Bildung. Bei seinen Schwestern hatten sich seine Eltern gar nicht erst die Mühe gemacht, sie zur Schule zu schicken. Es schien ihnen sinnvoller, dass sie zu Hause blieben und der Mutter halfen, um dann so bald wie möglich zu heiraten und eigene Familien zu gründen. Giuseppe hatte nur zwei Schwestern, die er beide mochte. Manchmal dachte er an seine anderen drei Schwestern und den einen Bruder, die schon als Kinder gestorben waren. Alle Familien, die er kannte, hatten den Tod kleiner Kinder zu beklagen, die an Krankheiten oder Unterernährung gestorben waren. Giuseppe erschien das ganz normal.

Eines Morgens half Giuseppe seinem Vater beim Pökeln der Fische und verschloss dabei die Ohren vor den neckischen Bemerkungen der Dorfmädchen. Da sah er, wie Alfonso, der Schäfer, der in den Bergen lebte, mit seinem Eselskarren auf den Kai fuhr. Auf dem Karren saß seine Tochter, die Augen abgewandt und das Gesicht hinter einem Lockenvorhang verborgen.

Er war überrascht, dass der Schäfer mit seinem Vater sprach.

»Sohn, lade den gepökelten Fisch auf Alfonsos Karren«, wies ihn der Vater an. »Ich muss etwas Geschäftliches mit ihm besprechen.«

Giuseppe ließ sich Zeit und versuchte einen Blick auf das Gesicht des Mädchens zu erhaschen, während er langsam den Fisch hinten auf den Karren lud. Doch weder sprach das Mädchen mit ihm, noch sah sie ihn an. Er schlenderte vor zum Esel und kraulte ihn hinter den Ohren, während die beiden Männer eine ernste Unterredung führten. Schließlich ging sein Vater zum Boot und nahm einen alten Anker heraus, den er neben den Fisch auf Alfonsos Karren legte.

»Ich bin sicher, dass sich bei dem Anker etwas machen lässt«, sagte Alfonso. »Jedenfalls ist mir klar, was du dir vorstellst.« Dann schob er seine Wollkappe in den Nacken und sprach mit dem Mädchen. Sie hob einen Stoffsack hoch, der zu ihren Füßen lag, und hielt ihn Giuseppe hin. Einen Moment lang spürte er ihre Fingerspitzen und sah ganz kurz in ihre Augen, die ihn an das blauschwarze Meer vor einem Sturm erinnerten. Als er den weichen Sack entgegennahm, stieg ihm der Lanolingeruch frisch geschorener Wolle in die Nase, und er überlegte, was er zu ihr sagen könnte. Doch noch bevor ihm auch nur eine Silbe über die Lippen gekommen war, saß Alfonso schon wieder neben seiner Tochter, und der Karren polterte über die Pflastersteine davon. Während der Esel vorwärtszuckelte, beobachtete Giuseppe, wie eine Brise die langen, dunklen Locken erfasste, die über den Schal fielen, den das Mädchen um die Schultern geschlungen hatte.

»Bring die Wolle zu deiner Mutter«, hieß ihn der Vater. »Sie wartet darauf.«

Es dauerte viele Monate, bis Giuseppe das Mädchen wiedersah. Es war bereits Winter, und Eiskristalle glitzerten auf dem steinigen Hang, als Giuseppe und sein Vater langsam den holprigen Pfad zu Alfonsos kleinem Hof hinaufstiegen. Da eine von Giuseppes Schwestern heiratete, wollte sein Vater ein Zicklein für die Hochzeitsfeier kaufen. Die Dorfbewohner konnten sich nur selten Fleisch leisten, und so war es ein besonderes Ereignis, eine Ziege zum Verzehr zu kaufen.

Giuseppe war dankbar für den dicken Pullover, den er trug. Seine Mutter hatte ihn aus der Wolle gestrickt, die aus der im Frühsommer von Alfonso eingetauschten Schur stammte. Als Vater und Sohn zu der Kate des Schäfers kamen, begrüßte sie Alfonso, der neben einer niedrigen Steinmauer stand. Zu dritt gingen sie auf eine Weide, wo die Ziegen und Schafe auf den Winterstoppeln grasten.

Alfonso wandte sich der Kate zu und rief: »Angelica, bring mir ein Seil.«

Und schon kam das junge Mädchen, das Giuseppe mit seinen Locken so betört hatte, aus dem kleinen Haus gelaufen. In den Händen hielt sie ein kurzes Seil, das sie ihrem Vater reichte. Er wählte eine der Ziegen aus und band ihr das Seil um den Hals.

Der Anblick des Mädchens überwältigte Giuseppe, und er hätte gern etwas gesagt, aber ihm fiel nichts Gescheites ein. Und so fragte er nur: »Bist du traurig, dass die Ziege geschlachtet wird?«

Sie zuckte die Achseln. »Mein Vater hat sie für euch ausgesucht. Hast du Mitleid mit den Fischen, die du fängst und tötest?«

»Manchmal ja«, erwiderte Giuseppe. »Die großen Fische sind sehr schön. Und starke Kämpfer. Warst du schon einmal auf einem Boot?«

Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Ich mag die Berge. Und Schafe sind mir lieber als Fische.« Nach einer kurzen Pause fuhr sie fort: »Die Wolle sieht gut aus. Deine Mutter ist sehr geschickt.« Dann eilte sie mit wehenden Locken davon, ihre Füße flogen über den Boden.

Bevor Giuseppe und sein Vater aufbrachen, gingen die beiden Männer noch hinter Alfonsos Kate. Giuseppe folgte ihnen und sah überrascht, dass Alfonso dort eine einfache Schmiede eingerichtet hatte. Der Schäfer verschwand hinter dem Bau und kehrte mit einem kleinen Anker zurück, den er Giuseppes Vater zeigte.

»Er ist noch nicht fertig. Ich muss ihn noch genau ausrichten«, erklärte Alfonso. »Aber der Schwenkkopf funktioniert und gibt den Anker frei, wenn er sich verhakt hat.« Auf seinem normalerweise verdrießlichen Gesicht breitete sich ein Lächeln aus. »Ich habe mich an deine Anweisungen gehalten.«

Nachdem der Vater den Anker untersucht hatte, nahm ihn Giuseppe in Augenschein. Der Löseriegel verhinderte, dass der Anker, wenn er sich auf dem Meeresboden oder in einem Riff verfing, zurückgelassen werden musste. Giuseppe war stolz darauf, dass seinem Vater immer wieder etwas einfiel, um seine Ausrüstung zu verbessern.

»Das ist eine großartige Erfindung. Du musst auf unser Boot kommen und dir anschauen, wie sie funktioniert«, schlug der Vater vor.

»Wir fühlen uns auf dem Meer nicht so zu Hause«, erwiderte der Schäfer.

Giuseppe betrachtete die kahlen, karstigen Steilhänge. Wie trostlos diese windgepeitschte Landschaft doch aussieht, dachte er. Nun, wahrscheinlich würden sich Angelica und ihr Vater auf dem Meer so unwohl fühlen wie er sich hier.

Mit der Ziege am Seil machten sich Giuseppe und sein Vater auf den Heimweg. Von der Anhöhe über dem Dorf blickte Giuseppe auf den kleinen, ihm so vertrauten Hafenort hinunter – die engen Gassen und steilen Treppen, wo die mit Wäscheständern verzierten Häuser so dicht beieinander standen, dass man sich beinahe hinauslehnen und ans gegenüberliegende Fenster klopfen konnte. Er entdeckte ihr eigenes kleines Haus, in dem seine Familie in zwei Zimmern lebte und wo stets Fischernetze an der Decke hingen. Eine breitere, gepflasterte Straße führte ums Dorf herum und den Hafen entlang, wo Krabbenkäfige aufeinandergestapelt waren und Männer Netze flickten und tratschten. Kleine Fischerboote waren an den Eisenpollern auf dem steinernen Wellenbrecher festgemacht. An einem Ende saßen angelnde Jungen auf Stufen, die Fischerfüße im Lauf von Jahrhunderten ausgetreten hatten. Von diesen Stufen aus segnete der Pfarrer auch jedes Jahr die Fangflotte. Hinter dem Wellenbrecher lag ein Kiesstrand, wo über der Hochwassermarke umgedrehte Dingis und kleine Holzboote angebunden waren. Nicht weit entfernt führte eine Fahrrinne aus der Bucht hinaus aufs offene Meer. Dieses Dörfchen war seine Heimat, und als er mit seinem Vater zu ihrem Haus hinunterging, war er mit seiner kleinen Welt glücklich und zufrieden.

 

Die Hochzeit von Giuseppes Schwester bot Anlass für ein rauschendes Fest. Das junge Mädchen heiratete einen Burschen aus dem Dorf, den sie schon ihr Leben lang kannte. Die Inselfamilien heirateten immer untereinander. Das wurde so erwartet. Die Insel war ihre Welt, wohin sonst sollten sie gehen? Giuseppes Vater war erfreut über diese Verbindung, denn der Zukünftige seiner Tochter stammte ebenfalls aus einer angesehenen Fischerfamilie. Auf der Insel war man überzeugt, dass nur die Familie Schutz vor Armut bot, und so hatte er dafür gesorgt, dass seine Tochter in eine arbeitsame, respektable Familie einheiratete.

Im Sonntagsstaat ging das Paar zur Kirche, wo der Priester inmitten von Weihrauchschwaden und Statuen ihre Ehe segnete. Danach gab es ein großes Fest. Die Ziege war geschlachtet worden und drehte sich über glühenden Kohlen an einem Spieß, wobei sie häufig mit Olivenöl begossen wurde, auch an Rosmarin wurde nicht gespart. Alle Gäste warteten begierig darauf, dass der Braten fertig wurde.

Giuseppes Mutter Emilia und ihre Töchter hatten Tage damit verbracht, das Essen vorzubereiten, das angesichts der bescheidenen Auswahl an erhältlichen Zutaten erstaunlich vielseitig geraten war. Es gab Sardinen-Pasta mit Rosinen und Pinienkernen, Pasta mit Auberginen, Couscous und Pasta mit Schwertfisch, was besonders hoch geschätzt wurde. Denn obwohl die Fischer gelegentlich Schwertfisch fingen, war er doch viel zu wertvoll, als dass die Familien der Insel ihn selbst gegessen hätten, er wurde fast immer verkauft. Das Festmahl endete mit Cannoli, frittierten Teigröllchen, die mit Ricottakäse und in Honig eingelegten Feigen gefüllt waren. Außerdem hatte Giuseppes Vater ein großes Fass Wein vom Festland kommen lassen, denn auf der Insel reiften zu wenige Trauben, um in nennenswerten Mengen Wein herzustellen. Nach Dorfmaßstäben handelte es sich damit um eine extravagante Hochzeit, doch es war seit jeher Brauch, dass der Vater der Braut ein solches Fest ausrichtete, das ja nicht nur die Stellung der Familie in dem kleinen Fischerdorf zeigte, sondern auch das Ansehen ihres Oberhaupts unterstrich. Und Giuseppes Vater war entschlossen zu zeigen, dass er ein wichtiger Mann war.

 

Eines Sonntags, mehrere Monate nach der Hochzeit, bat die Mutter Giuseppe, gesalzenen Fisch zu Alfonso in die Hügel hinaufzubringen und dafür Wolle und Ziegenkäse einzutauschen.

Giuseppe war ein bisschen befangen, als er sich dem Hof näherte, auf dem Alfonso mit seiner Tochter lebte. Doch als Alfonso ihn bergauf steigen sah, begrüßte er ihn fröhlich, bat ihn in die Küche und rief seiner Tochter zu, sie möge ihm etwas Wasser holen.

Die steinerne Kate war klein, dunkel und kühl. In einer Ecke stand ein großer Ofen, der im Winter für Wärme sorgte. Draußen hatte Giuseppe einen aus Lehmziegeln gemauerten Ofen gesehen, auf dem Alfonso im Sommer kochte. Ein Holztisch und Stühle nahmen die Mitte des Raumes ein, in einer Ecke stand ein Spinnrad. Doch was Giuseppes Aufmerksamkeit wirklich fesselte, war ein Regalbrett an der Wand voller Bücher. Es waren bestimmt zwanzig, und er starrte sie staunend an.

Alfonso sah seinen Gesichtsausdruck und nahm eins der Bücher herunter, die auf den Einband geklebte Illustration zeigte einen Piraten. »Kannst du lesen, Junge?«

Giuseppe nickte. »Ich kenne das Alphabet und die Zahlen.«

»Das ist nicht lesen. Hast du jemals ein Buch gelesen?«

»Nein«, sagte Giuseppe leise.

»Möchtest du es gern tun?«, fragte Alfonso.

Giuseppe wusste es nicht. Seine Eltern achteten die wenigen Inselbewohner, die fließend lesen und schreiben konnten. Allerdings fanden die d’Aquinos, dass ihre Familie sich diese Fähigkeiten nicht unbedingt aneignen musste. Was hatten denn Fischer für einen Nutzen davon?

Langsam nickte Giuseppe.

Angelica, die mit dem Wasser hereingekommen war, machte eine aufmunternde Kopfbewegung. »Mein Vater findet, jeder sollte Bücher lesen«, sagte sie.

»Du kannst all diese Bücher lesen?«, fragte Giuseppe, und in seiner Stimme klang leiser Zweifel mit.

»Natürlich. Ich habe sie schon alle gelesen«, sagte Angelica.

Giuseppe war sprachlos, doch Alfonso lachte.

»Das stimmt nicht ganz, Angelica. Aber wenn du möchtest, Giuseppe, kannst du herkommen und jedes meiner Bücher lesen. Ich helfe dir dabei.«

Und so wanderte Giuseppe künftig einmal in der Woche, immer sonntags nach dem Kirchgang, den Hügel hinauf, um zusammen mit Alfonso zu lesen.

»Wozu lernst du denn Bücher lesen? Wir haben keine, und du wirst dir nie welche leisten können«, gab einer seiner Brüder zu bedenken.

Giuseppe zuckte die Achseln. »Vielleicht ist es eines Tages mal ganz nützlich.«

»Du willst ja nur Zeit mit der Tochter verbringen«, meinte ein anderer Bruder.

Giuseppe funkelte ihn wütend an und stapfte davon. Doch es war etwas Wahres daran.

Angelica bezauberte ihn. Giuseppe wusste, dass sie mit den Schafen und Ziegen herumstreifte und ebenso ein Geschöpf der Berge war wie diese. Hin und wieder traf er sie, wenn sie auf einer alten Steinmauer saß und die Tiere beobachtete. Dann wurde er verlegen und traute sich nicht, mit ihr zu sprechen, denn er fürchtete, dies könnte ihrem Vater missfallen. Doch sie, die so schüchtern wirkte, als er sie damals am Hafen zum ersten Mal gesehen hatte, plauderte jetzt ganz ungezwungen mit ihm über sein Leben auf dem Fischerboot und im Dorf. Giuseppe fiel auf, dass sie so viel mehr über die meisten Dinge – außer das Fischen – wusste, dass sie viel älter wirkte als er, obwohl sie fast gleichaltrig waren. Auch hätte seine Mutter nie mit einem solchen Selbstvertrauen und solcher Gelassenheit mit seinem Vater geredet wie Angelica mit ihm.

Eines Tages fragte er sie schließlich: »Wie kommt es, dass du so reden kannst? Du weißt so viel.«

Angelica lachte auf. »Ich lebe hier ja vielleicht ruhig und abgeschieden, aber ich lese Bücher und unterhalte mich mit meinem Vater. Er ist ein kluger Mann und erzählt mir viele Geschichten.«

Giuseppe konnte sich nicht vorstellen, mit seinem Vater lange Gespräche zu führen. Dieser tat etwas kund, und die Familienmitglieder stimmten ihm zu. »Mein Vater hat mir beigebracht zu fischen. Es dauert viele Jahre, bis man das kann«, verteidigte Giuseppe ihn. »Dazu muss man keine Bücher lesen können, aber den Wind und die Wolken. Man muss wissen, was die Farbe des Meeres bedeutet, und die Vögel beobachten, damit man sieht, in welche Richtung sich ein Fischschwarm bewegt. Oder die Zeichen entschlüsseln können, wo die großen Fische jagen.«

Angelica hüpfte von der Mauer. »Das mag stimmen, aber mein Vater kann dir viele andere Dinge beibringen. Ich komme demnächst mal, wenn du liest, und höre zu.«

Und so tauchte Angelica hin und wieder an der Tür der Kate auf und lauschte Giuseppe, wenn er las und sich anstrengte, sich nicht dabei zu verhaspeln.

Nach einem Jahr konnte Giuseppe leidlich lesen, und Alfonso entschied, dass es für ihn an der Zeit war, sich Bücher auszuborgen, statt sie weiter laut vorzulesen. Dadurch kam Giuseppe nicht mehr so regelmäßig zum Hof des Schäfers, doch er fand immer wieder die Zeit, sich auf den Weg zu machen, um mit Alfonso zu reden. Der Schäfer hatte nicht immer auf der Insel gelebt. Er war gereist und gebildeter als die meisten Einwohner hier. Warum Alfonso als junger Mann fortgegangen war, wusste Giuseppe nicht, aber er war nach dem Tod von Angelicas Mutter auf die Insel zurückgekehrt. Nur zu gern lauschte Giuseppe den Geschichten aus jenen Tagen, die der Schäfer in Norditalien verbracht hatte. Alfonso sprach über Italiens Geschichte und Politik und die Zukunft des Landes, und Giuseppe hörte dem Schäfer aufmerksam zu.

Er versuchte sich die städtischen Straßen vorzustellen, wo es von Menschen wimmelte und Geschäfte voller Kleidung oder Läden mit allen möglichen exotischen Lebensmitteln oder nagelneuen, noch glänzenden Möbeln gab. Begeistert sprach Alfonso auch von Theatern, Konzertsälen, Opernhäusern und Kinos, die Stummfilme zeigten. Er versuchte sogar, Giuseppe die Automobile zu erklären, die dort herumfuhren, doch das überstieg die Vorstellungskraft des Jungen. Ihm schien diese Welt ohnehin völlig unwirklich, so sehr unterschied sie sich von dem einfachen Dorf, in dem er seit seiner Geburt lebte. Inzwischen bezweifelte Giuseppe sogar die Autorität des betagten Pfarrers, der als der klügste und gebildetste Mann auf der Insel galt. Im Vergleich zu Alfonsos wirkten sein Horizont und seine Erfahrung reichlich beschränkt. Nicht dass Giuseppe solche Gedanken je laut geäußert hätte. Doch mit jedem Gespräch, das er mit Alfonso führte, wuchs seine Neugier auf das Leben außerhalb der Grenzen seines Dorfes. Und wenn er schon nicht zu den Orten reisen konnte, an denen Alfonso gewesen war, so konnte er doch zumindest über sie lesen und von ihnen träumen.

»Giuseppe«, sagte Alfonso eines Tages, als sie beide am Tisch des Schäfers saßen, »weißt du eigentlich, dass Italien ein ziemlich junges Land ist? Es ist gerade mal fünfzig Jahre alt.« Alfonso brachte das Gespräch gern auf Dinge, von denen er annahm, dass Giuseppe nur wenig darüber wusste. Und der Junge lauschte ihm gern und lernte dazu.

»Das kann nicht sein«, entgegnete Giuseppe. »Ich weiß, dass es alt sein muss, denn auf unserer Insel gibt es viele Ruinen. Davon sind bestimmt einige älter als fünfzig Jahre.«

Alfonso lächelte. »O ja. Im Lauf der Jahrhunderte haben viele verschiedene Menschen auf dieser Insel gelebt – Griechen, Römer, Mauren und Christen, und alle haben sie mit ihren Bauten etwas aus ihrer Epoche hinterlassen. Nein, ich meine etwas anderes. Erst 1861 wurde Italien aus einer Menge unabhängiger Staaten gebildet, da vereinten sich Sizilien, Piemont, Neapel, Kalabrien und so weiter unter König Viktor Emanuel II. zu einem Land.«

»Aber Vater, du hast mir doch erzählt, dass das Land nicht geeint ist«, warf Angelica ein und setzte sich zu ihnen an den Tisch. »Du hast gesagt, die Menschen fühlen sich überhaupt nicht als Italiener.«

»Da hast du recht. Als ich durchs Land gereist bin, habe ich festgestellt, dass überall Trennlinien verlaufen. In erster Linie fühlen sich die Menschen ihrem Dorf verbunden, dann ihrer Region, und erst zum Schluss, falls sie überhaupt so weit denken, kommt Italien.«

»Vater hat auch erzählt, dass die Leute in Norditalien ihn kaum verstanden haben.«

»Wie das?«, staunte Giuseppe, der es für völlig unmöglich hielt, dass jemand den sehr deutlich sprechenden Alfonso nicht verstehen konnte. »Ich hatte noch nie Schwierigkeiten zu verstehen, was du sagst.«

»Danke, Giuseppe. Angelica meint, dass unser Dialekt hier im Süden ganz anders klingt als das, was die Menschen im Norden sprechen. Es ist buchstäblich eine andere Sprache.«

»Der Norden unterscheidet sich also sehr von hier?«

»In Städten wie Turin haben sie ganz moderne Ideen. Dort gibt es sogar eine Fabrik, die Autos herstellt. Fiat. Manche im Norden schauen auf die Leute aus dem Süden herab und halten sie alle für ungebildete Bauern.«

Giuseppe wurde verlegen, weil er wusste, dass dies auf seine Familie zutraf.

»Kopf hoch, mein Junge. Nicht alle Menschen im Norden sind so fortschrittlich wie die in Turin. Ich habe eine Weile in Venedig gearbeitet. Das ist ein wichtiger Hafen, aber die Stadt hat auch ihre Schwierigkeiten mit der Moderne, genau wie wir im Süden. In den Glasbläsereien dort arbeiten Zehnjährige so viele Stunden am Tag, dass sie an den Öfen einschlafen. Auch ist es eine sehr ungesunde Stadt, und viele Menschen dort sterben an Tuberkulose und Malaria.«

»Aber zu den Menschen im Norden ist die Natur nicht so grausam wie zu uns«, sagte Angelica. »Erzähl uns von dem Erdbeben in Messina«, bat sie.

»Ich habe dir diese Geschichte schon so oft erzählt – nun, warum nicht noch einmal. Doch nur in aller Kürze. Wir haben noch zu arbeiten, und Giuseppe muss vor Einbruch der Dunkelheit nach Hause kommen«, sagte Alfonso und lehnte sich auf dem Stuhl zurück.

»Ich war nicht in Messina, als die Erde bebte, Giuseppe, doch als ich wenige Wochen später dorthin kam, sah ich die schrecklichen Verwüstungen. Vor dem Erdbeben war Messina eine blühende Hafenstadt, doch eines Morgens im Dezember 1908 schlug das Schicksal zu. In nur dreißig Sekunden kamen hunderttausend Menschen ums Leben, und alle Gebäude der Stadt wurden zerstört. Zuerst begriff die Regierung gar nicht recht, was geschehen war, und unternahm kaum etwas, um zu helfen, obwohl der König den Ort der Katastrophe aufsuchte. Inzwischen widmet sich die Regierung angeblich dem Wiederaufbau der Stadt, aber jeder weiß, dass so etwas für manche Leute vor allem eine günstige Gelegenheit ist, sich mit Mauscheleien, Betrug und Unterschlagungen die eigenen Taschen zu füllen.«

»Wie schrecklich«, rief Giuseppe. »Warum unternehmen die Menschen dort nichts dagegen?«

»Als Sizilien ein Teil Italiens wurde, waren die Sizilianer begeistert. Sie glaubten, dass die Regierung ihnen helfen würde, sich aus der Armut zu befreien. Doch stattdessen wurden sie mit hohen Steuern belastet und zur Armee eingezogen. Weil die Berge unwegsam sind und die Regierung kein großes Interesse hatte, war es schwer, in Sizilien für Recht und Ordnung zu sorgen, und so bildeten sich gewalttätige Banden.«

»Mafiosi«, sagte Giuseppe, denn jeder wusste, dass diese Räuber und Erpresser Sizilien und auch die nahen Inseln in ihrem Würgegriff hielten und dort das Sagen hatten.

»Die meisten Sizilianer nehmen die Naturkatastrophen in ihrer Heimat stoisch hin. Sie glauben, man könne nichts dagegen tun. Aber sie sind völlig desillusioniert, was die Regierung in Rom angeht, und wollen die skrupellose Gewalt in ihrer Heimat nicht mehr ertragen. Deshalb wandern viele junge Leute aus.«

»Sie gehen nach Amerika, Vater, nicht wahr?«

»Ja. Jedes Jahr verlassen Tausende Sizilianer das Land, weil sie wissen, dass sie sich woanders ein besseres Leben aufbauen können.«

»Ein Cousin meines Schwagers ist ausgewandert und hat uns geschrieben, dass er jetzt zwei Anzüge besitzt«, erzählte Giuseppe und blickte an seiner schlecht sitzenden Hose herunter, die vor ihm schon zwei seiner Brüder getragen hatten. »Aber wahrscheinlich lügt er, denn wie soll das gehen?«

»Es könnte schon sein«, meinte Angelica. »Ich würde gern losziehen und es selbst herausfinden.« Sie sah Giuseppe an. »Und du?«

»Ich?« Er schüttelte den Kopf. »Die Chance werde ich wohl nie haben.«

»Sei dir da nicht so sicher, Giuseppe«, sagte Alfonso. »Das Leben ist voller Überraschungen.«

Die italienische Front, 1917

Die kleinen Armeezelte waren kaum auszumachen, so dicht schmiegten sie sich an die Felsen, die nur wenig Schutz vor dem Graupelschauer boten. In ihren elend kalten Unterständen und tropfnassen Höhlen unter den Zeltplanen kauerten die Männer mit feuchten Zigaretten, sprachen über die umlaufenden Gerüchte und ergingen sich in Mutmaßungen über die Lage an der Front.

Italien hatte sich den Alliierten angeschlossen und war im Mai 1915 in den Ersten Weltkrieg eingetreten. In elf blutigen Schlachten gegen die Österreicher hatten die Italiener bislang nur geringe Geländegewinne erzielt.

Über den Julischen Alpen, wo der Isonzo durch sein steiles, felsiges Tal strömt, zog es zu. Als der Regenschauer in einen Wolkenbruch überging, hüllte sich Giuseppe d’Aquino enger in seinen abgetragenen Umhang. Der kalte Wind verriet ihm, dass auf den Gipfeln Schnee fiel. Obwohl er erst einundzwanzig Jahre alt war, fühlte er sich nach den monatelangen Kämpfen wie ein erfahrener Veteran. Um ihn herum waren Soldaten aller Altersgruppen, die man aus den ländlichen Gebieten eingezogen hatte, Hände und Gesichter wettergegerbt von der Feldarbeit. Ursprünglich hatte sie der Kampf gegen die Österreicher geeint, doch jetzt wuchs die Unzufriedenheit. In ihrem alpinen Dreckloch nahe dem Städtchen Caporetto fühlten sich die Männer alleingelassen und wie Schachfiguren in einem Spiel, dessen Sinn sie nicht mehr verstanden. Der Wille, für ihr Land zu kämpfen, war kaum noch vorhanden.

Zum vielleicht hundertsten Mal hörte sich Giuseppe schweigend die endlosen Klagen der anderen Soldaten an.

»Was weiß dieser Marschall Cadorna denn schon?«, fragte ein Unteroffizier. »Andauernd entlässt er seine Generäle.«

»Jeder weiß, dass sie unverzüglich gefeuert werden, wenn sie sich in der Schlacht nicht sofort bewähren. In den letzten paar Monaten hatten wir fünf verschiedene Bataillonskommandeure. Nicht dass die letzten drei was getaugt hätten«, fiel sein Freund ein.

»Tja«, meinte der Unteroffizier. »Aber würdest du gern Männer in die Schlacht führen, wenn du weißt, dass ein Misserfolg deine Entlassung bedeutet? Da ist man doch lieber übervorsichtig.«

»Wenn man nicht entschlossen kämpft, kann man auch nicht siegen.«

Diesen Wortwechsel hörte Giuseppe nicht zum ersten Mal. Anfangs hatten ihn diese Worte schockiert. Er hatte angenommen, die erfahrenen Offiziere wüssten schon, was sie taten, doch jetzt, da sich die Kämpfe hinzogen, wurde klar, dass dies keineswegs der Fall war. Ich habe mich verändert, dachte er bei sich. Früher hätte ich nie an einem Mann gezweifelt, der so eindeutig über mir steht, aber inzwischen glaube ich einfach nicht mehr, dass solche Leute alles wissen.

»Natürlich ist General Capello ganz anders«, fuhr der Unteroffizier fort. Alle nickten, denn sie hatten ausnahmslos großes Vertrauen in ihren Oberbefehlshaber, der stets ein offensives Vorgehen befürwortete. »Aber ich habe Gerüchte gehört, er sei krank und man habe ihn zur Erholung nach Padua geschickt.«

Die anderen Soldaten schienen geradezu entsetzt angesichts dieser Nachricht. Sie sollten am nächsten Tag in die Schlacht ziehen.

»Vielleicht stimmt es ja gar nicht«, räumte der Unteroffizier ein. »Doch selbst wenn er gesund ist, wie soll er denn mit dieser Ausrüstung eine Schlacht gewinnen? Das ist doch alles Ramsch.«

Dagegen erhob sich kein Widerspruch. Italien hatte schlicht nicht die industrielle Kapazität, schnell auf Kriegsproduktion umzustellen, und so waren die Waffen der Soldaten völlig unzulänglich.

»Das ist die Schuld dieser Sozialisten in Turin! Ich habe von meinem Bruder gehört, dass sie Sabotage in den Fabriken betreiben, weil sie gegen diesen Krieg sind. Doch was ist mit uns? Wir stecken mittendrin und haben nie genug Munition«, meinte ein anderer Soldat, seiner Aussprache nach eindeutig ein Norditaliener.

»Und nicht genug Artillerie«, ergänzte der Freund des Unteroffiziers.

»Ich habe auch gehört, dass man diese Sozialisten inzwischen hierherschickt, um uns im Kampf zu unterstützen«, sagte der Unteroffizier, der über nie versiegende Gerüchtequellen zu verfügen schien.

Sofort wurde Entrüstung laut.

»Was sollen die uns denn nützen?«

»Will man damit sie oder uns bestrafen?«

»Diesen Sozialisten kann man nicht trauen. Die würden nicht kämpfen.«

Obwohl all diese Klagen völlig berechtigt waren, wusste Giuseppe, dass sich die Soldaten vor allem deshalb so ungerecht behandelt fühlten, weil die Heeresleitung sie total vernachlässigte. Keinem lag etwas an ihrem Wohlergehen oder ihrer Kampfmoral. Zwischen den Schlachten gab es nicht den leisesten Versuch, die Männer mit Freizeitaktivitäten abzulenken, geschweige denn ihnen Heimaturlaub zu bewilligen. Und so hatten sie keine Beschäftigung außer dem Kartenspiel und der Sorge um ihre Familien. Wer würde ihre Lieben beschützen und sich darum kümmern, dass sie genug zu essen hatten?

Die Klagen waren noch nicht verstummt, als der Feldwebel sich erhob. Er war ein kleiner, drahtiger Mann, der von seinen Männern geachtet wurde.

»Am besten, ihr legt euch jetzt hin und schlaft. Wir greifen morgen früh an.«

»Ja, Feldwebel Tommasi«, erwiderten die Männer und zogen sich in ihre kalten, klammen Unterstände zurück. Giuseppe hatte sich in der Nähe des Feldwebels immer sicher gefühlt, denn er war in der Schlacht ein guter Anführer und trug Sorge, dass seine Männer nicht getötet wurden.

Der feindliche Beschuss setzte am frühen Morgen ein und dauerte zwei Stunden. Da die Italiener an feindliches Feuer gewöhnt waren, blieben sie in ihren Schützengräben in Deckung. Doch dann änderte sich alles. Der Beschuss wurde heftiger als alles, was sie bisher erlebt hatten, blitzschnell waren ihre dürftigen Unterstände zerstört. Und plötzlich bekam Giuseppe keine Luft mehr. Er fasste sich an die Kehle.

»Giftgas«, rief Feldwebel Tommasi seinen Männern zu und zog sich seine Gasmaske vors Gesicht.

Giuseppe war wie gelähmt, doch der Feldwebel drückte ihm eine Gasmaske in die Hand und danach noch vielen anderen Männern. Für einige war es jedoch zu spät, sie sanken zu Boden und wanden sich in Todesqualen, während das Giftgas ihre Lungen zersetzte. Giuseppe ergriff sein Gewehr und folgte Tommasi. Ganz offensichtlich war ihre Verteidigungslinie zusammengebrochen; das feindliche Heer strömte zu ihnen hinunter, doch sie waren bereit, es mit den Gegnern aufzunehmen. Da plötzlich wurde den Italienern klar, dass diese Männer, die da auf sie zustürmten, keine Österreicher waren. Sie trugen deutsche Uniformen!

Rasch rückten die feindlichen Soldaten ins Tal vor und brachen die italienische Verteidigungslinie auf. Die Moral der Italiener sackte ins Bodenlose. Bis zum Einbruch der Dunkelheit hatten sich Tausende ergeben und gefangen nehmen lassen. Für sie war der Krieg vorbei.

Doch Tommasi und seine Einheit kämpften auch noch am nächsten Tag mit aller Entschlossenheit. Dennoch war unverkennbar, dass sie den taktisch und waffenmäßig überlegenen Feinden nicht gewachsen waren.

Als es dunkel wurde, sprach der Feldwebel schließlich aus, was alle dachten.

»Wollt ihr den Rest des Krieges als Gefangene verbringen oder nach Hause?«, fragte Tommasi die Männer, die von seiner Einheit noch übrig waren. Viele waren verwundet und alle erschöpft und demoralisiert.

»Nach Hause«, flüsterte Giuseppe. Die anderen nickten zustimmend.

»Gut«, sagte Tommasi. »Dann also nach Hause.«

Angeführt von Feldwebel Tommasi, bewegten sich Giuseppe und der Rest der Einheit vorsichtig einen schmalen Pfad entlang. Giuseppe konnte nur mit Mühe Schritt halten, denn inzwischen hatten sich die Sohlen von seinen Stiefeln gelöst, und scharfe Steine schnitten ihm in die Fußsohlen. Mit einem Schmerzensschrei blieb er stehen und stützte sich auf sein Gewehr. Die anderen Männer ließen sich neben dem Pfad im Schutz hoher Bäume nieder und sahen zu, wie Tommasi Giuseppe die Stiefel auszog und seine blutigen Füße untersuchte. Mit einem Lumpen, trockenem Gras und einer zerlöcherten Socke behob Tommasi den Schaden, so gut er konnte, ehe er alle aufforderte weiterzugehen.

Plötzlich packte der Feldwebel Giuseppes Gewehr und warf es in die Büsche, bevor er seine eigene Waffe hinterherschleuderte.

»Pfft!« Er spitzte die Lippen. »Die brauchen wir nicht mehr.«

Und er wies die anderen Männern an, seinem Beispiel zu folgen. Nach anfänglicher Überraschung gehorchten sie.

Giuseppe ignorierte seine schmerzenden Füße und humpelte an einem Stock die Talstraße entlang.

Zivilisten, die mit ihren Besitztümern auf Leiterwagen und Schubkarren vor dem Feind flüchteten, machten den abrückenden Soldaten den Platz auf der Straße streitig. Italienische Verstärkung, entsandt, um die Lage zu retten, kam einfach nicht durch. Dennoch vollzog sich der Rückzug weiterhin geordnet und ohne Hast, als hätten die Soldaten alle Zeit der Welt, um heil und gesund an ihren heimischen Ofen zurückzukehren. In den verlassenen Dörfern auf ihrer Strecke organisierten sie Essen und Getränke. Und wenn sie an einem Offizier vorbeikamen, befahl Feldwebel Tommasi den Männern zu salutieren. Als ein Militär-Dienstwagen auf sie zukam, wichen sie an den Straßenrand aus, um ihn durchzulassen. Auf dem Rücksitz erkannten sie den verhassten General Cadorna, und unaufgefordert standen sie stramm und salutierten, bis der Wagen vorbeigefahren war.

Tommasi erklärte mit Nachdruck, es sei keine Schande, was sie taten. Wie viel besser war es schließlich für ihre Familien, wenn sie heimkehrten, anstatt Gefangene der Deutschen zu sein?

»Immerhin wurden die einfachen Soldaten von der Heeresleitung im Stich gelassen und nicht umgekehrt«, meinte Feldwebel Tommasi.

Und es ist dieselbe Regierung, die schon die Einwohner von Messina im Stich gelassen hat, dachte Giuseppe bei sich. Sie scherte sich nicht im Geringsten um die einfachen Leute. Doch was würde jetzt aus ihnen werden? Da fiel ihm ein, was Alfonso über Amerika erzählt hatte. Vielleicht sollte auch er dorthin gehen, weit fort von diesem Land, das so wenig zu bieten hatte. Vielleicht konnte er Angelica überreden, mitzugehen. Der Gedanke verlieh ihm einen federnden Schritt. Er konnte es kaum erwarten, auf seine Insel zurückzukehren, um mit den beiden zu sprechen.

 

Doch als Giuseppe schließlich auf seine Insel heimkehrte, erwarteten ihn schreckliche Neuigkeiten. Angelica war gestorben, während Giuseppe fort war.

»Wie das? Was ist passiert?«, fragte er verzweifelt.

Sein Vater schüttelte den Kopf. »Es ging ganz schnell. Man konnte nichts tun. Es war Gottes Wille. Gehst du Alfonso besuchen?«

Giuseppe nahm den vertrauten Pfad durch die Hügel. Ein scharfer, heulender Wind, Widerhall der Schreie in seinem Innern, bremste seinen Schritt. Die steinerne Kate schien sich vor dem Wind zu ducken, und zum ersten Mal hatte er es nicht eilig, sie zu erreichen.

Alfonso stand vor der Tür – eine einsame, dunkel umrissene Gestalt vor schiefergrauem Himmel.

Reglos wartete Angelicas Vater, bis Giuseppe bei ihm angekommen war, dann hob er die Schultern, eine Geste der Hilflosigkeit und der Bestürzung. Erschüttert sah der junge Mann, wie tief sich der Schmerz in Alfonsos Züge gegraben hatte. Er umarmte ihn.

»Meine Tochter ist nicht mehr. Sie war das Licht meines Lebens«, sagte Alfonso mit vor Gram erstickter Stimme.

Stumm nickte Giuseppe, er brachte keinen Ton heraus.