Nachruf auf mich selbst.

Harald Welzer

Nachruf auf mich selbst.

Die Kultur des Aufhörens

FISCHER E-Books

Inhalt

Über Harald Welzer

Harald Welzer hat schon mit vielem aufgehört: mit Forschungsthemen, wenn sie keine Fragen mehr aufwarfen, mit seinem Leben als Galerist, mit dem Motorradfahren zum Beispiel. Ohne Aufhören kann man nichts anfangen. Jetzt ist er Direktor von Futurzwei – Stiftung Zukunftsfähigkeit, hat den Rat für Digitale Ökologie gegründet, und wenn er sich nicht gerade leidenschaftlich in eine Debatte wirft, schreibt er Bücher: in den FISCHER Verlagen sind u. a. erschienen »Selbst denken« (2013), »Die smarte Diktatur. Ein Angriff auf unsere Freiheit« (2016) und »Alles könnte anders sein. Eine Gesellschaftsutopie für freie Menschen« (2019). Harald Welzer lebt in Berlin.

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Über dieses Buch

Unsere Kultur hat kein Konzept vom Aufhören. Deshalb baut sie Autobahnen und Flughäfen für Zukünfte, in denen es keine Autos und Flughäfen mehr geben wird. Und versucht, unsere Zukunftsprobleme durch Optimierung zu lösen, obwohl ein optimiertes Falsches immer noch falsch ist. Damit verbaut sie viele Möglichkeiten, das Leben durch Weglassen und Aufhören besser zu machen. Diese Kultur hat den Tod genauso zur Privatangelegenheit gemacht, wie sie die Begrenztheit der Erde verbissen ignoriert.

Bestsellerautor Harald Welzer zeigt in einer faszinierenden Montage aus wissenschaftlichen Befunden, psychologischen Einsichten und persönlichen Geschichten, wie man aus den Absurditäten dieser gesellschaftlichen Entwicklung herausfindet. Man muss rechtzeitig einen Nachruf auf sich selbst schreiben, damit man weiß, wie man gelebt haben will.

Impressum

Originalausgabe

Erschienen bei FISCHER E-Books

 

Covergestaltung: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich

Coverabbildung: Debora Mittelstaedt

 

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.

ISBN 978-3-10-491451-0

Endnoten

Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11.12.2020, S. 6.

Diamond, Jared: Kollaps. Warum Gesellschaften überleben oder untergehen. Frankfurt/M.: Fischer 2005.

Welzer, Harald: Klimakriege. Wofür im 21. Jahrhundert getötet wird. Frankfurt/M.: Fischer 2008.

Dieser Gedanke taucht im Roman »Die Straße« von Cormack McCarthy auf.

Wichtig für die Begründung des 2- bzw. 1,5-Grad-Zieles ist die Möglichkeit, dass bei Überschreiten dieser Werte unkorrigierbare Dynamiken entstehen, deren Folgen sich wechselseitig verstärken – so etwa besonders prägnant dazu Lenton, T.M. et al. (2019), deren Titel »Climate tipping points – too risky to bet against«, schon die Richtung vorgibt: »We argue that the intervention time left to prevent tipping could already have shrunk towards zero, whereas the reaction time to achieve net zero emissions is 30 years at best. Hence we might already have lost control of whether tipping happens.«

So sagt einer der wichtigsten Klimaforscher, Stefan Rahmstorf, in einem Interview: »Bereits bei 1,7 oder 1,8 Grad werden wir weltweit den Großteil der Korallenriffe verlieren, bei zwei Grad werden wir alle verlieren. Das Great Barrier Reef in Australien ist in den vergangenen Jahren zur Hälfte ausgebleicht. Diese Naturwunder sterben bereits. Ein weiteres Problem ist der Verlust der großen Eisschilde, wie etwa auf Grönland. Es gibt einen Kipppunkt, an dem das Schmelzen des Grönland-Eises unaufhaltsam wird. Wir wissen aber nicht, wo er genau liegt. Mit jedem Zehntelgrad über 1,5 Grad hinaus steigt das Risiko, dass wir ihn überschreiten und Inselstaaten und Küstenstädte später aufgeben müssen. Bei einer Erwärmung über 1,5 Grad wird die Welt nicht mit einem großen Knall untergehen – diese Vorstellung mancher Aktivistinnen und Aktivisten ist unbegründet. Aber wir laufen in ständig größere Risiken hinein und werden immer mehr verlieren, an Biodiversität, Ökosystemen, Ernährungssicherheit – mit jedem Zehntelgrad, das wir über die 1,5 Grad hinausgehen.« (https://www.rnd.de/politik/klimaforscher-rahmstorf-wir-mussen-mehr-uber-losungen-diskutieren-7K3YKDQF4FEBZMTVUSJSCZNPIE.html))

Horn, Eva: Zukunft als Katastrophe. Frankfurt/M.: Fischer 2014.

https://de.statista.com/statistik/daten/studie/185394/umfrage/entwicklung-der-lebenserwartung-nach-geschlecht/

Pinker, Steven: Gewalt. Eine neue Geschichte der Menschheit. Frankfurt/M.: Fischer 2011.

Zitiert nach Nassehi, Armin & Weber, Georg: Tod, Modernität und Gesellschaft. Entwurf einer Theorie der Todesverdrängung. Wiesbaden: VS 1989, S. 134.

Ariès, Philippe: Geschichte des Todes. München: dtv 2005, S. 30.

Ebd., S. 123.

Berger, Peter L. & Luckmann, Thomas: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie. Frankfurt/M.: Fischer 1970, S. 108.

Ebd., S. 109.

Ariès (wie Anm. 11), S. 412.

Sloterdijk, Peter: Den Himmel zum Sprechen bringen: Über Theopoesie. Berlin: Suhrkamp 2020.

Nassehi & Weber (wie Anm. 10), hier insbesondere die Seiten 113 bis 155.

Horkheimer, Max & Adorno, Theodor W.: Dialektik der Aufklärung. Frankfurt/M.: Fischer 1969, S. 19.

Elias, Norbert: Über die Einsamkeit der Sterbenden in unseren Tagen. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1982, S. 46.

Uwe Volkmann: Gras im Wind? Frankfurter Allgemeine Zeitung, 6.4.2021, S. 7

Ausgerechnet diese Sendung diente einem Autor der Neuen Zürcher Zeitung zu einer langen Abhandlung über die Unterschiede in der Professionalität von Home-Aufzeichnungen in Zeiten der Pandemie. Ich wurde als Beispiel für den wissenschaftlichen Medienprofi herangezogen, der mit professioneller Licht-, Kamera- und Tonanlage technisch perfekt auf die mediale Herausforderung reagiert habe. Medienprofi, lustig. Meine komplette Ausstattung bestand (und besteht) aus einem sieben Jahre alten MacBook Air, und ich selbst stand wenige Minuten vor einem Herzinfarkt.

Tolstoi, Leo: Der Tod des Iwan Iljitsch. Stuttgart: Reclam 1965 (1886), S. 7.

Sloterdijk (wie Anm. 16), S. 107.

Das gilt nicht, wenn sie – etwa aufgrund einer Pandemie – als zu begründende und zeitlich befristete Ausnahme eingeführt wird, über deren Verlängerung jeweils das Parlament befindet.

Kopatz, Michael: Schluss mit der Ökomoral! Wie wir die Welt retten, ohne ständig daran zu denken. München: oekom 2019, S. 27.

Die folgenden Absätze sind überarbeitete Fassungen eines Textes mit dem Titel »Wissen wird überbewertet«, der in den Beiheften zur Berliner Theologischen Zeitschrift im Verlag de Gruyter am 23.8.2021 erschienen ist.

Patel, Raj & Moore, Jason W.: Entwertung. Eine Geschichte der Welt in sieben billigen Dingen. Berlin: Rowohlt 2018, S. 141.

Ebd., S. 141ff. Die Bundesrepublik hat im Februar 2021 das »Lieferkettengesetz« verabschiedet, das einen ersten Schritt zum Durchbrechen der organisierten Verantwortungslosigkeit innerhalb der Lieferketten geht, in dem es deutsche Unternehmen (zunächst große Konzerne) in Haftung dafür nimmt, wenn ihre Subunternehmer etwa Kinder arbeiten lassen oder Arbeitsschutzstandards nicht einhalten.

Zitiert nach Gronemeyer, Marianne: Die Grenze. Was uns verbindet, indem es trennt. München: oekom 2018, S. 117.

Bloch, Ernst: Experimentum Mundi. Werkausgabe Bd. 15. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1977, S. 237.

Ebd., S. 231.

Ebd., S. 235.

Welzer, Harald: Täter. Wie aus ganz normalen Menschen Massenmörder werden. Frankfurt/M.: Fischer 2005.

Die folgenden Überlegungen sind eine überarbeitete Fassung von Auszügen aus Welzer, Harald: Mentale Infrastrukturen. Wie das Wachstum in den Geist und in die Seele kam. Berlin: Heinrich-Böll-Stiftung, 2011.

Kohli, Martin: »Normalbiographie und Individualität: Zur institutionellen Dynamik des gegenwärtigen Lebenslaufregimes«, in: Hanns-Georg Brose und Bruno Hildenbrand (Hg.), Vom Ende des Individuums zur Individualität ohne Ende. Opladen: Westdeutscher Verlag 1988, S. 35.

Brose, Hanns-Georg & Hildenbrand, Bruno (Hg.): Vom Ende des Individuums zur Individualität ohne Ende. Opladen: Westdeutscher Verlag, S. 13.

Vogl, Joseph: Kalkül und Leidenschaft. Poetik des ökonomischen Menschen. Zürich: diaphanes 2009.

Ebd.

Vogl (wie Anm. 37), S. 336.

Schivelbusch, Wolfgang: Geschichte der Eisenbahnreise. Zur Industrialisierung von Raum und Zeit im 19. Jahrhundert. Frankfurt/M.: Fischer 1977.

Ullrich, Wolfgang: Habenwollen. Wie funktioniert die Konsumkultur. Frankfurt/M.: Fischer 2006.

Osterhammel, Jürgen: Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts. München: Beck 2010, S. 936.

Ebd., S. 937.

Laplanche, Jean & Pontalis, Jean Bertrand: Das Vokabular der Psychoanalyse. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1973, S. 357.

Hagner, Michael: Der Hauslehrer. Die Geschichte eines Kriminalfalls. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2010.

Osterhammel (wie Anm. 42), S. 1131.

Welzer, Mentale Infrastrukturen (wie Anm. 34).

Horkheimer & Adorno (wie Anm. 18), S. 10.

Ebd., S. 15.

Redecker, Eva von: Revolution für das Leben. Philosophie der neuen Protestformen. Frankfurt/M.: Fischer 2020, S. 115.

Marx, Karl: Das Kapital Bd. 1, Berlin: Dietz 1962, S. 529ff.

Horkheimer & Adorno (wie Anm. 18), S. 32.

Ebd., S. 38.

Wittgenstein, Ludwig: Tractatus logico-philosophicus. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1980, S. 105ff.

Heidbrink, Ludger: Ambivalenzen des Finalismus. Unv. Vortragsmanuskript 2004, S. 8.

Horn (wie Anm. 7), S. 387.

Willemsen, Roger: Wer wir waren. Frankfurt/M.: Fischer 2016, S. 43.

Ebd.

Ebd., S. 31.

Hüther, Gerald; Adler, Lothar & Rüther, Eckart: Die neurobiologische Verankerung psychosozialer Erfahrungen. Zeitschrift für psychosomatische Medizin, Jg. 45, 1999, S. 217.

Tomasello, Michael: Mensch werden. Eine Theorie der Ontogenese. Berlin: Suhrkamp 2020, S. 57.

Markowitsch, Hans-J. & Welzer, Harald: Das autobiographische Gedächtnis: hirnorganische Grundlagen und biosoziale Entwicklung. Stuttgart: Klett-Cotta 2005.

Tomasello (wie Anm. 61), S. 23.

Van Schaik, Carel van & Isler, Karin: Gehirne, Lebensverläufe und die Evolution des Menschen. In Fischer, Ernst-Peter & Wiegandt, Klaus (Hg.): Evolution und Kultur des Menschen. Frankfurt/M.: Fischer, 2010, S. 143f.

Schrenk, Friedemann: Menschwerdung I: Die Auskunft der Fossilien. In Fischer, Ernst-Peter & Wiegandt, Klaus (Hg.): Evolution und Kultur des Menschen. Frankfurt/M.: Fischer, 2010, S. 47.

Tomasello (wie Anm. 61), S. 223.

Arendt, Hannah: Vita Activa oder Vom tätigen Leben. München: Piper 1981, S. 232.

Ebd., S. 239.

Ebd., S. 241

Diese Formulierung verweist auf die klassische Trennung von Natur und Menschen auch bei Arendt, aber das spielt für das hier wiedergegebene Argument keine Rolle.

Ebd., S. 242

Ebd., S. 243.

Ebd.

https://www.deutschlandfunkkultur.de/tino-sehgal-im-berlinergropius-bau-kunst-die-nicht-von.1013.de.html?dram:article_id=323682

https://taz.de/!598519/

Die folgende Beschreibung ist eine Gemeinschaftsproduktion von realities:united und mir, die in anderer Fassung schon in dem von Jörg Metelmann und mir herausgegebenen Band »Imagineering« erschienen ist (vgl. Metelmann, Jörg & Welzer, Harald (Hg.): Imagineering. Wie Zukunft gemacht wird. Frankfurt/M: Fischer 2020, S. 145ff.).

Arendt (wie Anm. 67), S. 242.

https://www.spiegel.de/psychologie/christiane-zu-salm-im-porsche-heult-man-nicht-a-c65f57d1-9e25-4ae5-89dd-57011b479671

Salm, Christiane zu: Dieser Mensch war ich. Nachrufe auf das eigene Leben. München: Goldmann 2013.

Glaser, Barney G. & Strauss, Anselm: Interaktion mit Sterbenden. Beobachtungen für Ärzte, München/Ravensburg: Grin 2008.

Macho, Thomas: Das Leben nehmen. Suizid in der Moderne. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2018.

Reckhaus, Hans-Dietrich: Fliegen lassen. Wie man radikal und konsequent neu wirtschaftet. Hamburg: Murmann 2020.

Weick, Karl E. & Sutcliff, Kathleen M.: Managing the Unexpected. Resilient Performance in an Age of Uncertainty. New York: Wiley 2007.

Arendt, Hannah: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. München: Piper 1973, S. 573.

Zitiert nach Peter Longerich: Judenverfolgung und nationalsozialistische Öffentlichkeit. In: Kristin Platt (Hg.), Reden von Gewalt. München: Fink 2002, S. 237.

Arendt (wie Anm. 84), S. 557ff.

Andre Wilkens & Stephan Wegner, Der Spieler. Wie man mit Skat die Welt verstehen kann. In Dana Giesecke et al. (Hg.), Welzers Welt. Störungen im Betriebsablauf, S. 437443. Frankfurt/M.: Fischer 2018.

Norbert Elias, Studien über die Deutschen. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1989, S. 320.

www.futurzwei.org

https://www.nzz.ch/geschichte/die-vielen-gesichter-der-dummheit-ld.1608417

Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften. Reinbek: Rowohlt 1981, S. 679.

Otl Aicher, Innenseiten des Krieges. Frankfurt/M.: Fischer 1985, S. 35 (i.O. alles in Kleinschreibung).

http://www.tanzlinde-peesten.de/historische-tanzlinde/historische-tanzlinde.html

Für Nicholas Czichi-Welzer

I Weg von hier

Ich befahl mein Pferd aus dem Stall zu holen. Der Diener verstand mich nicht. Ich ging selbst in den Stall, sattelte mein Pferd und bestieg es. In der Ferne hörte ich eine Trompete blasen, ich fragte ihn, was das bedeute. Er wußte nichts und hatte nichts gehört. Beim Tore hielt er mich auf und fragte: »Wohin reitest du, Herr?« »Ich weiß es nicht«, sagte ich, »nur weg von hier, nur weg von hier. Immerfort weg von hier, nur so kann ich mein Ziel erreichen.« »Du kennst also dein Ziel?« fragte er. »Ja«, antwortete ich, »ich sagte es doch: ›Weg-von-hier‹, das ist mein Ziel.« Franz Kafka, Der Aufbruch.

Die tote Masse und das Leben

Die Masse der von Menschen hergestellten Objekte hat sich seit 1900 etwa alle 20 Jahre verdoppelt. Damals betrug sie etwa drei Prozent der Biomasse, drei Prozent also alles dessen, was lebt. Im Jahr 2020 hat die tote Masse – also Häuser, Asphalt, Maschinen, Autos, Plastik, Computer usw. usf. – die Biomasse erstmals übertroffen. Die Biomasse aller Wildtiere ist in den letzten 50 Jahren dagegen um mehr als vier Fünftel geschrumpft. Ein atemberaubender Vorgang: Während die Biomasse durch Entwaldung und Zerstörung von Böden und Meeren und Artensterben weiter sinkt, wächst die menschengemachte Masse immer schneller an. So berichten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler vom israelischen Weizmann-Institut.[1]

Man hat versucht, diesen Vorgang dadurch zu veranschaulichen, dass jede Woche für jeden Menschen auf der Welt Produkte geschaffen werden, die seinem Körpergewicht entsprechen. 52 Mal im Jahr kommt das Äquivalent von einem selbst zur toten Masse dazu. Das ist ziemlich gruselig, scheint mir, wobei betont werden muss, dass diese 52-mal-ich-Produktmenge aus Substanzen besteht, die den lebendigen Böden, den Wäldern, den Meeren und Flüssen entnommen werden – woanders können sie ja nicht herkommen. Mit anderen Worten: Die Welt wird in immer noch wachsender Geschwindigkeit von einer natürlichen in eine künstliche oder besser: von einer lebendigen in eine tote umgewandelt. Hergestelltes schlägt Biomasse. Totes schlägt Lebendiges.

Am 23. März 2021 geschah etwas, was die Sache mit der toten Masse live und in Farbe illustrierte: Das 400 Meter lange und fast 60 Meter breite Containerschiff »Ever given« blieb im 1869 eröffneten und für diese bombastische Größe nicht ausgelegten Suezkanal buchstäblich hängen und blockierte auf diese Weise einen erheblichen Teil des globalen Güterverkehrs. Schon nach kurzer Zeit stauten sich 150 weitere Frachter zu beiden Seiten des Kanals, also im Mittelmeer und im Roten Meer. Die durch einen solchen Stau entstehenden Kosten sind gigantisch, weil das ganze Zeug in den Containern und Tanks ja nun nicht pünktlich dort ankommt, wo es nach der auf knappe Umschlagszeiten geeichten globalen Logistik ankommen soll – und Chemie-, Auto- und Elektronikproduzenten warteten entsprechend händeringend darauf, dass das Monsterschiff bitte sofort freikommen möge. Kam es aber nicht. Denn zu seinem Eigengewicht von 220000 Tonnen trug es noch einmal mehr als 20000 Container, und wenn eine solche Masse erst einmal auf Grund gelaufen ist, hebt sie so schnell keiner raus.

Abb. 1: Ever given, leider eingeklemmt

Wie um die Absurdität unserer Lebens- und Wirtschaftsform auf den Punkt zu bringen, trägt dieses Schiff auch noch den Namen »Ever given – ewig gegeben«, und so wie das Ding da hilflos eingeklemmt war, so scheint die Fortsetzung unseres Kulturmodells genauso hilflos eingeklemmt zwischen Vergangenheit und Zukunft.

Die radikalisierte Stoffumwandlung verarbeitet ihre eigenen Voraussetzungen – irgendwann geht es einfach nicht mehr weiter mit diesem »Ever Given«. Ich habe gerade bei dem Anthropologen Michael Tomasello gelesen, dass die menschliche Kultur zu dem faszinierenden koevolutionären Prinzip der kulturellen Vererbung geführt hat. Neue Menschenkinder wachsen immer in eine Welt hinein, in der sie an den jeweiligen Errungenschaften der kulturellen Evolution der vorangegangenen Generationen anknüpfen können. Tomasello nennt das den »Wagenhebereffekt« der menschlichen Lebensform: Die jeweils neue Generation fängt nie von vorn an, sondern immer dort, wo die vorangegangene angelangt ist. Das unterscheidet die menschliche Lebensform von der aller anderen Lebewesen. Sie ist koevolutionär – Menschen existieren nicht nur in einer natürlichen Umwelt, sondern immer auch in einer selbst erschaffenen. Die nennen wir Kultur.

Was Tomasello sich nicht fragt: Was, wenn die kulturelle Entwicklung eine falsche Richtung eingeschlagen hat, wenn sie nicht lebensdienlich war? Dann geht das Ganze ein paar Generationen so weiter, und da die Welt, in die die jeweils Nächsten hineingeboren werden, »ihre« Welt ist, die einfach so ist, wie sie sie kennenlernen, bleibt natürlich lange Zeit unerkennbar, wenn die Entwicklungsrichtung ohne Zukunft ist. Denn die Kultur, in die man hineinwächst, ist nichts Äußerliches – sie sitzt nicht nur in unseren Infrastrukturen und Institutionen, in unserem Grundgesetz, unseren Lehrplänen und Verkehrsregeln, sondern in unseren Gewohnheiten, in unseren Wahrnehmungen und Deutungen, in unserer Psyche, unserem Selbst. Wir sind ja nicht nur Gestalterinnen und Gestalter dieser Lebensform, sondern gleichzeitig von ihr gestaltet, und diese Gestaltung erfolgt nicht bewusst und absichtsvoll, sondern durch die Praxis.

Zum Beispiel durch die, dass man in modernen Hyperkonsumgesellschaften alles immer und immer alles haben kann. Das scheint uns ganz selbstverständlich, und nur wenn es durch eine Havarie wie der im Suezkanal zu »Engpässen« kommt, wird einem gelegentlich klar, dass all das Zeug in den Einkaufszentren nicht einfach »da«, sondern irgendwo hergekommen ist. Unser Kulturmodell blendet die Frage, wo das alles herkommt, systematisch aus. Das ist das kulturell Unbewusste, und daher sind wir alle, als Mitglieder dieser Kultur, gut durchtrainierte Vergessenskünstler – denn wenn wir so ein schönes neues iPhone in Händen halten, interessiert uns die Frage nach seiner höchst vielfältigen und komplexen Herkunft durchaus nicht. Wir kommen nicht mal drauf, uns für diese Frage zu interessieren, so selbstverständlich ist Verfügbarkeit für uns.

Oder: Wie sich wirtschaftlicher Erfolg quantitativ bemisst und in Börsenkursen und im Bruttoinlandsprodukt seinen Ausdruck findet, so hat sich das Messen in fast jede Facette unserer Leben eingeschrieben – von den Schulnoten und credit points bis hin zur Zahl der absolvierten Dates oder der Schritte, die man am Tag zurückgelegt hat. Besonders für die Kontrolle des Körpers mittels iPhone, Apple-Watch und Peloton-Heimtrainings gilt, dass Zahlen sich ganz selbstverständlich in die Darstellung, aber auch in die Wahrnehmung des eigenen Selbst eingefügt haben. Auch diese Einwanderung von Quantitäten in das eigene Selbst und seinen mentalen Haushalt macht klar, dass eine Kultur nie etwas Äußerliches ist, was um die Menschen herum existiert wie eine möblierte Umwelt, sondern sich immer auch in die Innenwelten, in die Psyche und in den wahrgenommenen Selbstwert übersetzt. Und weil sich die Kultur wandelt, sind wir immer schon andere als unsere Vorgängerinnen und Vorgänger, bis in unsere Sinneswahrnehmungen, unsere Gefühle und unsere Selbstbilder hinein.

Deswegen ist es so schwer, sich vorzustellen, dass die Kultur, der man angehört, eine »falsche« Richtung eingeschlagen haben könnte. Diese Kultur ist ja für jeden von uns immer schon »da«, eine Selbstverständlichkeit, so wie für einen Fisch das Wasser. Aber vielleicht kann man so viel sagen: Eine Kultur, die wie unsere ihre eigenen Voraussetzungen konsumiert, muss im Irrtum sein. Das wäre auch menschheitsgeschichtlich gar nichts Neues. Wir haben massenmörderische Kulturen gesehen, wahnhafte und solche, die ihr kulturelles Gepäck in Lebensräume getragen haben, wo es nicht hinpasste. Oder die einen Weg eingeschlagen haben, der ins Desaster und in die Selbstabschaffung führte.

Jared Diamond hat über untergegangene Kulturen das wichtige Buch »Kollaps« geschrieben, wobei das, was in der historischen Rekonstruktion als Irrtum erscheint, in der Wahrnehmung der Zeitgenossen keiner ist, sondern – einfach das, was man immer schon so gemacht hat. Entwaldung, Bodenerosion, Versalzung, Überjagung und Überfischung, Bevölkerungszunahme und wachsender Wohlstand[2] haben ja in der individuellen Wahrnehmung keinen Zeitindex. Unsere Wahrnehmung verändert sich mit der sich verändernden Umwelt, und allenfalls wird in der Rückschau mit Erschrecken registriert, dass man den falschen Pfad eingeschlagen hatte. Im Normalfall aber surfen wir gewissermaßen mit den sich verändernden Verhältnissen mit – und dann fehlen uns die Referenzpunkte, an denen man festmachen könnte, was sich verändert hat und ab welchem Punkt eine Sache aus dem Ruder gelaufen ist. Solche »shifting baselines«[3] verstellen die Einsicht in einen sich abspulenden Niedergang oder gar einen Untergang regelmäßig, weshalb zum Beispiel so ein epochales Ereignis wie der Untergang des kompletten Ostblocksystems inklusive der DDR 1989 nicht einmal von den zuständigen Wissenschaften – Geschichte, Politologie, Soziologie, Ökonomie – vorhergesehen wurde, sondern scheinbar einfach so und ziemlich plötzlich geschah. Ups.

Wenn man also Fragen stellt wie: »Was hat der Mann gedacht, der die letzte Palme auf der Osterinsel gefällt hat?«, »Was dachten die grönländischen Wikinger, als sie unter höchstem Ressourcenaufwand unter arktischen Bedingungen Viehwirtschaft zu treiben versuchten?«, »Was hatten Ingenieure im Sinn, die in Zeiten des Klimawandels tonnenschwere Geländewagen für Stadtbewohner entwickelten?«, dann lautet die Antwort jedes Mal: gar nichts. Denn alles dieses basiert ja auf Entwicklungen, die sich über lange Zeit hinweg vollzogen und als kulturelle Praxis eingeschrieben haben. Und in deren Fließen die neu Dazukommenden, also die Kinder, gleichsam eingefügt werden – wie heute jedes Kind in eine Welt voller Autos und Bildschirme. Heißt: Tomasellos Wagenhebereffekt vollzieht sich unabhängig davon, ob die jeweils sich entwickelnde Kultur langfristig lebensdienlich ist oder nicht. Wo man immer Bäume gefällt hat, fällt man Bäume.

Kulturelle Praxis ist gelebte Praxis, keine diskursive, reflektierte, gedachte Angelegenheit, wo man einfach sagen kann: Moment, hier stimmt was nicht! Deshalb wird eine solche Praxis manchmal auch um die Gefahr der Selbstaufgabe nicht verlassen. Auf unsere heutige Form von Wirtschaft übertragen: Wo man immer mehr produziert hat, produziert man immer mehr – ein Rückgang des Bruttoinlandsprodukts gilt als um jeden Preis zu vermeidende Katastrophe. Als die Coronakrise ausbrach, war die Zunft der Ökonomen zwar komplett unfähig, auch nur eine einzige Idee zur Krisenbewältigung vorzulegen, konnte aber flugs ausrechnen, dass die Wirtschaft im vierten Quartal um soundsoviel Prozent wachsen würde, mit Kommastelle. Und 2021 um soundsoviel Prozent. Das war zwar falsch, wie meistens, was aber komischerweise nichts macht. Die Standardökonomie betrachtet sich als Wissenschaft und wird auch von der Gesellschaft als solche betrachtet, ist aber nichts anderes als Priestertum. Sie hat Rituale der Verkündigung (des Ratschlusses der »Wirtschaftsweisen«), Wallfahrten (zum World Economic Forum in Davos) und magische Erklärungen für die Einrichtung der Welt (der Markt hat …), nicht anders als die Priesterschaft der Osterinsel. Ihr Gott heißt Wachstum.

Es könnte sein, dass das Prinzip des Wachstumskapitalismus zur Kategorie der irrtümlichen Kulturmodelle zählt. Und das ist insbesondere deshalb sehr schwer zu begreifen, weil der Kapitalismus ja so konkrete Verbesserungen von Bildung, Gesundheit, Recht, Freiheit mit sich gebracht hat, wie man sie sich zuvor kaum hätte vorstellen können. Die Menschen in den reichen Gesellschaften leben heute allesamt besser als Ludwig der XIV., keine schlechte Bilanz für den Kapitalismus. Aber seine Geschichte ist, gemessen an den 200000 Jahren Geschichte des Homo sapiens, sehr kurz, schlappe 200 Jahre; seine globale Verbreitung zählt erst ein paar Jahrzehnte.

Die meisten untergegangenen Kulturen haben länger durchgehalten, 800, 900 oder auch ein paar tausend Jahre. Das vermag den Eindruck einer Nachhaltigkeit unseres Kulturmodells nochmals zu relativieren. Vielleicht ist ja der Anfang von seinem Ende genau damit markiert, dass die tote Masse größer geworden ist als die lebendige. Vielleicht ist das ein tipping point, einer jener Punkte, von dem aus man nicht mehr zurück in den vorherigen Zustand kommen kann, ab dem etwas unkorrigierbar wird. Aber vielleicht gibt es in der Geschichte der Menschen solche Punkte gar nicht, weil ihre Lebensform, wie gesagt, ohnehin in permanenter Veränderung und Anpassung besteht.

Und in Techniken der Vorausschau. Was den nieder- und untergegangenen Gesellschaften gefehlt hat, war die Möglichkeit, sich wie in einem Gedankenexperiment von außen zu betrachten – so, wie ich mir manchmal vorstelle, wie Historikerinnen und Historiker in 300 oder 500 Jahren versuchen, unsere zuweilen seltsame Welt im ersten Viertel des 21. Jahrhunderts zu verstehen. Ein solcher Verfremdungseffekt wäre aufschlussreich und hilfreich dafür, Pfade zu finden, die von falschen Richtungen hinwegführen. Eigentlich müssten moderne Gesellschaften Nachrufe auf sich selbst schreiben, in denen sie entwerfen, wie sie sich entwickelt haben werden wollen. Das hört sich grammatisch schwierig an, aber so eine Rückschau aus einer imaginierten Zukunft bricht die Diktatur der Gegenwart, in der zu viele Entscheidungen aus dem kulturellen Unbewussten heraus getroffen werden. Und es bricht den horizontlosen Katastrophismus, in dem wir uns kulturell eingerichtet haben, weil wir fürchten, dass die Zukunft auf jeden Fall eines sein wird: schlechter als die Gegenwart. Wir müssen Zukunft wieder als Gestaltungsaufgabe sehen lernen, nicht als etwas, was man am liebsten vermeiden möchte, weil so vieles – Erderhitzung, Artensterben, Konjunktur der Diktatoren – so düster aus einer kommenden Zeit heraufscheint.

Aber es gibt kein Ende der Geschichte. Die Geschichte ist nur dann zu Ende, wenn die Menschen sich abgeschafft haben. Werden. Die Geschichte wird dann zu Ende gewesen sein, wenn die Menschen sich abgeschafft haben werden. Das ist ein sinnloser Satz. Denn wenn das der Fall ist, gibt es ja niemanden mehr, der das zur Kenntnis nehmen könnte. Jeder sinnvolle Satz setzt eine zukünftige Welt voraus.[4] Solange wir miteinander sprechen, ist die Geschichte nicht zu Ende.

Die Zeit davor

Es wäre also ziemlich blöd, ein Buch für die Zeit danach zu schreiben. Was wir brauchen, sind Bücher für die Zeit davor. Also nicht noch eins zum Verhängnis der Welt, zur Klimakatastrophe, zum Artensterben, zur Plastikflut, zum Untergang. Letztlich sind das ja Bücher für die Zeit danach, wenn es niemanden mehr gibt, der sie lesen könnte.

Freundinnen und Freunde: Lasst uns uns besser um die Zeit davor kümmern! Lasst uns aufhören, Abgesänge auf die Zukunft zu schreiben. Die sind nur rituelle Beschwörungen dessen, dass es das Ende der Geschichte nicht geben kann, weil es das nicht geben darf. Aber alle diese Beschwörungen – es ist noch nicht zu spät, wir haben gerade noch Zeit, es ist ganz kurz vor zwölf (wie lange eigentlich schon?) – lenken permanent von dem einfachen Sachverhalt ab, dass das Leben vor dem Tod spielt. Deshalb sollten wir, individuell wie gesellschaftlich, das Leben vor dem Tod nach der Maßgabe dessen gestalten, wer und wie wir gewesen sein wollen.

Ich war selten melancholischer als in den Tagen nach dem Tod von Frank Schirrmacher. Kaum jemand hat jemals so viele Nachrufe bekommen wie er, der Mitherausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und ihr Feuilletonchef. Sein Wirken war so eindrucksvoll und wichtig, dass man sich nach seinem »viel zu frühen« Tod kaum genug daran tun konnte, alles aufzuzählen, was er Wichtiges und Bedeutendes gesagt und getan hatte. Und wie groß der Verlust sei.

Undsoweiterundsoweiter. Was mich so melancholisch machte, war der Umstand, dass es nur einen einzigen Menschen gab, der alle diese Verdienste nicht zur Kenntnis nehmen, nicht in all den Nachrufen nachlesen konnte. Dieser Mensch war ausgerechnet Frank Schirrmacher selbst, den seine Nachrufe nicht mehr erreichen konnten, denn er war ja nun mal tot. Wie gesagt: Jeder sinnvolle Satz setzt eine zukünftige Welt voraus. Insofern wären Nachrufe nur dann sinnvoll, wenn sie für das Leben davor geschrieben würden, nicht für das danach, das es ja nicht gibt.

Deshalb sollte jede und jeder einen Nachruf über sich selbst schreiben, darüber, wie sie oder er gelebt zu haben hofft, wenn er noch lebt. Danach schreiben die Nachrufe andere, und dann ist es einem zwangsläufig nicht nur egal, was da drinsteht, man hat auch keinen Einfluss darauf. Ich habe den Verdacht, dass die Aufgabe, einen Nachruf auf sich selbst zu schreiben, eine sehr produktive Sache wäre, denn in gewisser Weise würde man sich ja selbst verpflichten, so werden zu sollen, wie man gewesen zu sein gehofft hatte. Dabei kommt natürlich viel mehr heraus, als wenn man nur so vor sich hinlebt und gelebt wird, und dann kriegt man einen Nachruf. Wenn es hoch kommt. Die meisten kriegen ja keinen. Den Nachruf auf mich selbst können Sie ab S. 207 lesen, erst möchte ich Ihnen aber noch ein paar Geschichten erzählen.

Der große Refraktor

Eine der zahllosen Tagungen zum Klimawandel und zur notwendigen Klimapolitik fand im Großen Refraktor auf dem Telegraphenberg in Potsdam statt, keine Ahnung, wann genau das war. Sagen wir, vor zehn Jahren, im Grunde ist es auch egal. Der Große Refraktor ist so etwas wie das Teleskop an sich, 1899 von Kaiser Wilhelm eingeweiht, ein Monument des wissenschaftlich-technischen Zeitalters, noch heute das viertgrößte Teleskop der Welt, tolle Sache.

Ich erinnere mich an diese Konferenz nicht nur wegen des wahrlich eindrucksvollen Ortes, sondern auch deswegen, weil sie als open space organisiert war, also ausnahmsweise kein festgelegtes Programm – Vortrag, Diskussion, Vortrag, Diskussion usw. – hatte, sondern die Teilnehmerinnen und Teilnehmer selbst Themen für Sessions vorschlagen konnten, deren Ergebnisse dann wiederum vorgestellt und debattiert wurden. Es gab eine Menge Themen – CO2-Bepreisung, bessere Kommunikation der Klimaproblematik, Strategien der Einwerbung von Forschungsgeldern –, die gut angenommen und bearbeitet wurden. Ich hatte das Thema »What if we fail?« vorgeschlagen. Es schien mir sinnvoll, dieses open space einmal dafür zu nutzen, ganz »open« die Möglichkeit zu besprechen, dass nach Lage der Dinge alle Anstrengungen, das damals noch postulierte 2-Grad-Ziel zu erreichen, ebendieses Ziel verfehlen könnten, dass man mithin den Klimawandel nicht einbremsen würde – was dann?

Abb. 2: Schöner ist es immer draußen: Großer Refraktor

Auch heute noch, mindestens ein Jahrzehnt später, bin ich der Auffassung, dass die Möglichkeit, Zukunft zu gestalten, davon abhängt, die Bedingungen dafür realistisch zu betrachten, also nicht nur von dem Wunsch getrieben, dass das doch bitte irgendwie gutgehen möge, trotz aller Daten, die dagegensprechen. Und ein solcher Realismus muss das Scheitern einkalkulieren, sonst weiß man gar nicht, welche Maßnahmen und Forderungen entwickelt werden müssen, um das Scheitern zu verhindern oder dessen Folgen zu vermindern. Es ist ja erheblich wahrscheinlicher, dass es nicht gelingen wird, die Klimaerwärmung bei 2 Grad plus einzubremsen, als dass es gelingen wird[5] – was aber dann? Ist dann die Welt zu Ende? Oder nur die Klimapolitik? Macht es dann keinen Sinn mehr, menschliches Handeln so zu modernisieren, dass die große Zerstörung der Lebensgrundlagen aufhört oder wenigstens zurückgefahren wird? Und dass wir ruinierte Wälder, Gewässer, Moore, Böden wieder restaurieren?

Also schien mir die Frage »What if we fail?« gerade für eine Konferenz zum Klimawandel höchst naheliegend zu sein, und im Übrigen interessierte mich die Antwort auf diese Frage selbst brennend. Schließlich ist sie als Überlebensfrage alles andere als trivial, besonders wenn sie unbeantwortet bleibt. Aber außer mir gab es nur einen einzigen anderen Teilnehmer, der dieses Thema interessant fand, also plauderten wir ein bisschen, verpassten alles andere und hatten zum abschließenden Plenum nicht ernsthaft etwas beizutragen. Die Abstimmung mit den Füßen hatte ja die Relevanz der Frage nach dem Scheitern empirisch schon hinreichend dementiert. »What if we fail?« war als Thema abgewählt worden.

Inzwischen ist bekanntlich das 2-Grad-Ziel auf das 1,5-Grad-Ziel erhöht worden, ganz unbeschadet der Tatsache, dass die Emissionen zwischenzeitlich in einem Ausmaß weiter angewachsen sind, dass bereits die 2 Grad noch unrealistischer geworden sind als zum Zeitpunkt ihres ersten Ausrufens. Aber solche sozialen Tatsachen stören eine naturwissenschaftliche Vernunft nicht, die auf der Grundlage höchst komplexer Mess- und Berechnungsverfahren einfach die Notwendigkeit einer solchen Begrenzung festlegt.[6] Wenn es 1,5 Grad sein müssen, müssen es 1,5 Grad sein, fertig. Leider jedoch nimmt das Klimasystem eine solche wissenschaftlich unbestechliche Festlegung nicht zur Kenntnis, sondern verarbeitet die ganz ungebrochen wachsende Emissionsmenge von Treibhausgasen, indem es sich munter weiter erwärmt.

Dass das Ganze noch an einem historischen Ort der Huldigung der modernen Wissenschaft stattfand, erschien mir durchaus symbolisch. Denn der riesige Raum, in dem der große Refraktor stand, war ja ausschließlich dafür geschaffen, aus ihm hinauszublicken, in die unendlichen Weiten des Universums. Um in sich und in das eigene Tun hineinzublicken, dafür war er nicht gedacht. Deshalb heißt er ja auch Refraktor und nicht Reflektor.

Seit diesem Erlebnis denke ich darüber nach, was es bedeutet, dass es innerhalb der wissenschaftlichen Vernunft nicht möglich zu sein scheint, für denkbar zu halten, dass die ganze Sache schlecht ausgehen könnte. Einfacher gesagt: Innerhalb dieser an die Geschichte der Aufklärung gebundenen Vernunft gibt es einfach keine Kategorie der Endlichkeit und keine Strategie des Aufhörens mit irgendetwas, das man mal begonnen hat. Soweit ich sehe, gibt es auch keine wissenschaftliche Disziplin, die sich mit der Endlichkeit menschlicher Bemühungen befasst. Zwar gibt es Regalmeter apokalyptischer Schriften, nicht nur aus der esoterischen Abteilung, sondern vor allem aus der öko- und klimatologischen, aber die enden dann alle nicht mit einem »Lasst fahren dahin«, sondern mit dem unvermeidlichen »Es ist noch nicht zu spät.« Und dann folgen ebenso unvermeidlich »die gemütlichen kleinen Gesten des Fahrradfahrens, Energiesparlampen-Benutzens, Kurzduschens und Elektrogeräte-Reparierens«, wie Eva Horn angemessen wütend formuliert.[7]

Das Ende und die Endlichkeit kommen nur unwissenschaftlich vor, in der Lebenserfahrung, in der Literatur oder in der Kunst. Und, natürlich, in der Religion und damit in der Apokalypse. In der wissenschaftlich-technischen Welt gibt es dafür keinen Platz, was ungünstig für den Fall ist, in dem man es tatsächlich mit einem Endlichkeitsproblem zu tun hat. Und damit zurück zum Refraktor: In dem blickt man nach draußen, weil man entdecken möchte, was es außerhalb der Welt gibt. Außerhalb der Welt gibt es erfreulicherweise die Unendlichkeit, das Universum, und damit nichts, was eine Grenze bilden würde. Und tatsächlich ist ja die Unbegrenztheit des Fortschritts, das Überschreiten von Grenzen des für möglich Gehaltenen, die mythische Voraussetzung der modernen Wissenschaft – mit Nobelpreisen ausgezeichnet wird ja niemand, der festgestellt hat, dass etwas nicht geht. Nobelpreise bekommt man, wenn man es geschafft hat, eine Grenze der Erkenntnis oder des für machbar Gehaltenen zu überschreiten. Nicht zufällig datiert man ja den Beginn der modernen Wissenschaft auf die Dezentrierung des Weltbildes, die mit Kopernikus die Erde aus dem Zentrum des Sonnensystems rückte und zu der Galilei das Teleskop lieferte. Seit wir nicht mehr das Zentrum sind, schauen wir lieber nach draußen. Dafür steht der Große Refraktor: für den grenzenlosen Blick.

Würde man dagegen nach innen blicken, also auf sich selbst und das eigene Tun, Hoffen und Streben, käme man am Sichten zumindest einer Grenze definitiv nicht vorbei. Denn man würde unausweichlich mit einer simplen Tatsache konfrontiert werden: dass es auf jeden Fall eine Sache gibt, die endlich ist, und das ist leider ausgerechnet das eigene Leben. Wir alle wissen, dass wir sterblich sind, und das ist eine höchst unangenehme Tatsache. Der Tod passt nicht ins Leben, weil er sein Gegenteil ist, und ich werde noch ausführen, weshalb er besonders in der Moderne nicht ins Leben passt und gerade hier, in unserer Epoche, als so ausgesprochen fehl am Platze, furchterregend und als Antithese zu allem, was man versucht, empfunden wird. Aber ja, das Leben ist endlich, und die grotesken Ideen, dass man es verewigen könne, indem man seinen Geist, oder was man dafür hält, auf eine Festplatte lädt, sprechen ja nur Bände darüber, wie furchterregend der Tod gerade für diejenigen ist, die ihn technisch zu überwinden hoffen und sich notfalls dafür zu Lebzeiten kryokonservieren lassen möchten, um wieder aufgetaut zu werden, wenn die Wissenschaft dann schon mal ein Stückchen weiter ist.

Bevor in unserem Kulturmodell eine Endlichkeitskrise auch nur in Sicht kommt, werden technische Phantasien mobilisiert: Die Digitalisierung wird ein Wunder der Energieeinsparung vollbringen, Wasserstoff wird die Rettung sein, das E-Auto wird den Klimawandel abwenden, und so wird es grüner Treibstoff für die Flugzeuge tun. Statt es für möglich zu halten, dass in Zukunft weniger Energie erzeugt und verbraucht wird, weil es zum Beispiel keine Autos und Flugzeuge mehr gibt, werden um zwei Generationen zu spät gekommene Techno-Helden wie Elon Musk glühend verehrt, hofiert und mit Geld zugeschissen, obwohl sie nichts anderes zu bieten haben als die Mobilitätsutopien der 1950er Jahre: Raketen, Autos und Hyperloops, alles Dinge, mit deren Hilfe man rasend schnell irgendwo hinkommen soll, ohne dass auch nur einmal die Frage gestellt wurde, was man da denn soll. Diese Zukunft ist höchst antiquiert und erzählt eigentlich nur eine Geschichte vom Verlust der sozialen und moralischen Intelligenz im 21. Jahrhundert.