Katrin Behr / Peter Hartl

Entrissen

Der Tag, als die DDR mir meine Mutter nahm

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Inhaltsübersicht

Über Katrin Behr / Peter Hartl

Katrin Behr wurde 1967 in Gera geboren und lebt heute in Berlin. 2007 gründete sie den Verein »Hilfe für die Opfer von DDR-Zwangsadoptionen«. Seit 2010 engagiert sie sich hauptamtlich für die Opfer kommunistischer Gewaltherrschaft.

Peter Hartl, Jahrgang 1961, ist seit 1991 als Filmautor und Redakteur an den großen Dokumentarreihen der ZDF-Redaktion Zeitgeschichte beteiligt. Neben seiner Fernsehtätigkeit schreibt er über zeithistorische Themen.

Impressum

© 2011 der eBook-Ausgabe Knaur eBook

Ein Imprint der Verlagsgruppe
Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München.

© 2011 by Droemer Verlag

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise –

nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

Redaktion: Angela Troni

Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München

Coverabbildung: plainpicture/Thomas Grimm

ISBN 978-3-426-41076-9

Hinweise des Verlags

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Für meine Mama und für meine Kinder sowie für alle Menschen, die das gleiche Schicksal mit mir teilen

1.

Wumm, bum. Hämmernd wie ein Herzschlag. Wie Trommeln und Pauken. Was ist das bloß für ein Krach an der Tür? Wieso haben sie mich aus dem Schlaf gerissen? Was ist denn nur los?

Es ist Februar und stockduster. Noch nicht einmal die Vögel vorm Fenster zwitschern. Mir ist kalt. Am liebsten möchte ich mich wieder in meine warme Federdecke einmummeln, meinen Traum weiterträumen.

Aber jemand lärmt vom Hausflur her, immer lauter. In einem fort wummert es gegen unsere Wohnungstür. Ich höre, wie Mama aufgeregt durch die Wohnstube rennt.

»Machen Sie sofort auf!«, brüllt draußen eine Männerstimme. »Sonst treten wir die Tür ein!«

Auf einen Schlag bin ich hellwach. Auch mein älterer Bruder Mirko ist in seinem Bett an der Wand gegenüber hochgeschreckt. Er starrt mich mit großen Augen an, und ähnlich ratlos schaue ich wohl zurück. Mama reißt die Tür zu unserem Zimmer auf, ganz anders als sonst, wenn sie erst durch einen schmalen Spalt das sanfte Licht der Wohnstubenlampe schimmern lässt, damit wir uns an den neuen Tag gewöhnen können. Noch halb im Traum dürfen wir üblicherweise im nachtwarmen Bett abwarten, bis der kleine Bollerofen nebenan die klamme Kälte im Zimmer verjagt hat.

Doch heute dreht Mama gnadenlos den Lichtschalter herum, was unser Schlafzimmer in geradezu gleißendes Licht taucht, und herrscht uns an, uns ganz schnell anzuziehen. »Gleich«, ruft sie dann in Richtung Tür. »Ich muss mich nur noch fertig machen!« Dabei rupft sie hektisch Anziehsachen für mich aus unserem Resopalschrank, dessen Türen leise jammern, wenn man sie öffnet. Während sie mir die Klamotten auf den Stuhl vor meinem Bett legt, drängt sie mich noch mal, ja nicht zu bummeln. Sie weiß doch, dass ich mir in der Früh gern Zeit lasse, nie treibt sie mich morgens an. Und nun liegt da ausgerechnet die grüne Strickhose, die ich so sehr hasse und die mich an den Beinen pikst!

Doch Mama ist heute unerbittlich, ich erkenne sie kaum wieder. Sie ist so anders als sonst. Das macht mir Angst, aber viel mehr noch tut es der Lärm an der Tür.

»Was machen die da?«, murmele ich vor mich hin, weil Fragen vielleicht die Furcht verscheuchen.

Mein Bruder fängt meinen eingeschüchterten Blick auf und flüstert mir zu: »Keine Bange. Ich bin doch bei dir und pass auf dich auf!«

Ich sehe Mirko dankbar an und lächle zum ersten Mal an diesem Morgen. Mein großer Bruder hat mich immer behütet, auf ihn ist sicher auch jetzt Verlass. Mit seiner Hilfe quäle ich mich in die dicke Strumpfhose. Aber nun auch noch dieses kratzende grüne Ungetüm – nein, da streike ich. »Ich zieh das nicht an«, jammere ich.

Kein guter Moment für eine Verweigerung. Es hämmert noch lauter an die Tür, die Stimmen klingen wütender. Klatsch, Mamas Hand knallt so fest gegen meine Wange, dass die Haut glüht. Aua! Das hat gesessen. Und tut richtig weh. Noch nie hat meine Mutter mir eine Ohrfeige verpasst. So kenne ich sie nicht.

»Mach schon«, schreit sie ungeduldig, spürbar nervös, »beeil dich!«

Bin ich schuld, dass Mama heute so anders ist? Eingeschüchtert ziehe ich die Strickhose hoch und fange an zu heulen, weil meine Backe so weh tut und Mama mir so fremd vorkommt. Sie sieht mein Gesicht, und schon bereut sie, was sie getan hat. Hastig kommt sie auf mich zu und drückt mich an sich. Ach, halt mich doch, denke ich, fester, für immer. Lass mich nie wieder los. Ich will nicht, dass du da rausgehst! Diese Störenfriede vor der Tür, die sind böse, die machen alles kaputt, das spüre ich.

Die Männer tragen lange, dunkle Wintermäntel. Fünf oder sechs mögen es sein, die sich vor meiner Mutter aufbauen, als sie endlich vorsichtig die Tür öffnet. Neben ihnen steht eine kleine, eher zierliche Frau, die ein Amtsschreiben in der Hand hält. Sie erklärt Mama etwas, das ich nicht verstehe. Aber so viel bekomme ich mit, dass wir irgendwie mitkommen sollen, und zwar sofort.

Der Abrisskalender an unserer Blümchentapete zeigt seit gestern immer noch die Sechs, darunter stehen Februar und das Jahr: 1972. An diesem Morgen ist für meine Familie die Zeit stehengeblieben. Mirkos bevorstehenden siebten Geburtstag werden wir hier nicht mehr feiern, auch nicht meinen fünften im Sommer und schon gar nicht Mamas fünfundzwanzigsten. Nie mehr wird sie strahlend feststellen, wie groß wir doch schon geworden sind.

Sobald die Männer meine Mutter zu fassen bekommen, zerren sie sie grob nach draußen und drehen sie an die Wand, während sie auf sie einschimpfen. Ich schmiege mich an sie, verstecke mein Gesicht in ihrem blauen Wintermantel und klammere mich an ihrer Hand fest. »Nehmen Sie doch wenigstens auf die Kinder Rücksicht!«, fleht Mama. Ich will sie nicht mehr loslassen. Auch Mirko hängt sich fest ein. Zu beiden Seiten unserer Mutter schieben wir uns am Geländer entlang die ausgetretene Stiege vom ersten Stock nach unten. Das ist nicht leicht, weil die fremden Männer das Treppenhaus belagern. Ständig sind sie uns im Weg, bedrängen uns unangenehm. Tapfer mahnt Mama unsere Begleiter noch einmal: »Schubsen Sie mich doch nicht! Sehen Sie denn nicht, die Kinder …«

Draußen bilden sie einen Ring um uns, als wollten sie uns beschützen – dabei sind sie es, die uns bedrohen. Der Wind bläst mir kalt ins Gesicht. Es ist ein grauer Montagmorgen. Auf der Straße sind nur wenige Menschen unterwegs. Durch ein schmales Gässchen biegen wir auf den Marktplatz von Gera ein, wo zwei Dienstwagen warten.

Meine Gedanken überschlagen sich. Warum hier, mitten in der Stadt, vor aller Augen – und nicht unauffällig direkt vor unserem Haus? Wohin wollen sie uns denn bringen? Ist überhaupt noch Platz für uns im Auto, bei den vielen Leuten?

Da fordert einer der Männer uns auf: »So, jetzt verabschiedet euch mal von eurer Mutter.« Er ist richtig ungeduldig. »Kommt jetzt, macht schon!«

Mir wird angst und bange. Mein Herz rast, zugleich fühle ich mich wie erstarrt. Was soll das heißen: Auf Wiedersehen? Wo bringen sie meine Mama bloß hin? Ich sehe sie an. Auch in ihren Augen ist Angst, und ihr Blick lügt nie. In diesem Moment weiß ich genau, dass ich sie nicht ziehen lassen darf. Wohin sie auch geht, ich will dabei sein. Einer der Männer packt mich an den Schultern, um mich aus Mamas Griff zu lösen. Ich schreie, so laut ich kann: »Mama, Mama!« Mir ist jetzt alles egal. Ich habe nur Angst, tiefe Angst. Um nichts auf der Welt will ich meine Mutter verlieren.

Auch die Leute um uns herum merken nun, dass etwas nicht stimmt. Ein Passant mischt sich sogar ein.

»Was soll das?«, fragt er. »Das könnt ihr doch nicht machen!«

Er wird sofort zum Schweigen gebracht. »Wenn Sie noch ein Wort sagen, nehmen wir Sie auch gleich mit.«

Mein Bruder aber, mein Beschützer, kommt mir zu Hilfe. Mit Wucht tritt er dem Mann, der mich bedrängt, gegen das Schienbein und schreit ihn tapfer an: »Lass sie los!«

Der Überraschungsmoment genügt, um mich aus dem Klammergriff zu befreien. Ich stürze meiner Mutter hinterher, als sie gerade in das hintere Fahrzeug geschoben wird. Mit meinem ganzen Körper umschlinge ich ihr rechtes Bein, das durch die halb geöffnete Tür aus dem beigefarbenen Auto ragt. Heute habe ich, anders als sonst, keinen Blick dafür, wie das Spiegelbild in den chromverzierten Stoßstangen meinem Gesicht groteske Züge verleiht. Ich will mich nicht wieder von Mama trennen lassen. Das schwöre ich mir.

Da erst bemerke ich, dass sie um die Handgelenke seltsame Metallringe trägt. Mit den aneinandergeketteten Händen streicht sie mir übers Haar. Auch das fühlt sich fremd an. Immer stärker kriecht die Angst in mir hoch, dass Mama weggehen könnte, ohne uns, ohne mich. Das darf nicht sein! Die Tränen laufen mir über die Wangen, die Kälte und die Beklemmung nehmen mir den Atem, und meine Haut brennt.

»Mama, fahr nicht fort! Bleib doch bitte bei uns!«, stoße ich hervor, von Schluchzern unterbrochen. »Ich werde auch immer artig sein. Das verspreche ich dir.« In meiner Not versichere ich ihr sogar, die scheußliche Strickhose in Zukunft immer ganz schnell anzuziehen.

Von der Rückbank des Fahrzeugs aus beugt sie sich zu meiner bebenden Gestalt hinunter und zieht mich, so gut es geht, zu sich heran. Wegen der Handschellen kann sie mein Gesicht nicht in ihre Hände nehmen. »Komm her, mein Schatz«, flüstert sie. »Du bist doch schon ein großes Mädchen. Du musst jetzt tapfer sein und mich bitte loslassen. Ich verspreche dir auch, dass ich heute Abend wieder zu Hause bin. Lauf mit Mirko zur Oma!«

Durch den Tränenschleier hindurch blicke ich sie an und will von ihren Augen bestätigt sehen, dass sie auch wirklich die Wahrheit sagt. Sie beteuert noch einmal: »Wir sehen uns heute Abend wieder, versprochen!« Ihr Blick kommt mir aufrichtig vor. Ich vertraue ihr, warum auch nicht? Ob wir im Kindergarten waren oder bei unserer Oma: So weit ich zurückdenken kann, hat Mama uns jedes Mal wieder abgeholt. Bisher.

Ich höre zwar nicht auf zu weinen, bin aber etwas beruhigt. Zögernd löse ich mich von ihr. Plötzlich fühle ich mich ganz kraftlos, haltlos – wie eine Marionette, der man die Fäden abgeschnitten hat. Mamas Hände berühren mein Gesicht, sie haucht mir noch einen Kuss auf die Stirn. Dann zieht sie das Bein in den Innenraum des Fahrzeugs. Auch die wartenden Beamten steigen allesamt in die Autos.

Nur die Frau vom Amt bleibt bei uns und hält uns an der Hand. Eigentlich wirkt sie jetzt ganz lieb. Die Türen schlagen zu. Die Motoren knattern. Die Reifen rattern über das Pflaster. Meine Mutter löst während der Abfahrt den Blick nicht von mir. Sie hat sich uns zugewandt und winkt uns zu, so gut sie das kann – mit den Handfesseln wirkt sie so unbeholfen, so entsetzlich hilflos. Es sticht mir ins Herz, sie davonfahren zu sehen, mit ihrem tapferen Lächeln, immer kleiner wird sie. Wie erstarrt bleiben mein Bruder und ich stehen, bis die Autos hinter dem großen Altbau an der Ecke verschwinden.

Unsere Betreuerin eröffnet uns knapp: »Ich bringe euch jetzt zu eurer Oma.«

Mir ist ganz flau. Ach Mama, wärst du doch noch hier! Was wollen diese bösen Männer bloß von dir? Ich kann die Tränen nicht länger aufhalten. Nur Mirko wirkt völlig unbewegt. Ich kann mich nicht erinnern, ihn weinen gesehen zu haben.

Der Marktplatz, auf dem wir jetzt verloren zurückbleiben, ist unser Zuhause, der Raum zwischen den Bretterbuden, die für den Marktbetrieb aufgestellt werden, unser Spielplatz. Während Mirko mit geschlossenen Augen bis dreißig zählte, habe ich mich versteckt und verborgen gehalten. Aber wenn er sich dann auf die Suche machte, hat er mich noch jedes Mal auf Anhieb entdeckt. Mein Bruder und ich, wir kennen hier jeden Winkel. Mit Vorliebe klettern wir im Sommer auf den Rand des Simsonbrunnens und lassen uns von der Wasserfontäne aus dem weit aufgerissenen Maul des Löwen berieseln, der gerade von einem starken Steinmann besiegt wird.

Um uns hat sich nie jemand groß gekümmert, Mama hat uns immer freien Lauf gelassen. Stundenlang haben wir auf den niedrigen Fensteröffnungen der alten Häuser um den Marktbrunnen gehockt und zugeguckt, wie die Brautpaare aus dem Standesamt gegenüber kamen. Manchmal sind wir auch hingelaufen, um ein paar Münzen einzufangen. Fröhliche Hochzeitsgäste in einem Regen aus Reis: So ist das wohl, wenn Mann und Frau noch zusammen sind – anders als bei uns, von meinem Papa weiß ich schlichtweg nichts.

Der gepflasterte Weg von hier bis zur Wohnung unserer Oma oberhalb des Marktplatzes ist nicht weit, zu Fuß gerade einmal zwei Minuten. Unzählige Male sind wir ihn schon gelaufen. Diesmal jedoch kommt er mir elend lang vor. Ich fühle mich, als würden wir abgeführt.

Sobald wir angekommen sind, verkrieche ich mich auf die vertraute Couch in Omas Stube. Keine Ahnung, was die Frau, die sich als Mitarbeiterin der Jugendhilfe vorstellt, meiner Großmutter so alles erzählt. Ich bin derart durcheinander, dass ich nichts mehr wahrnehme, meine Ohren verschließe. Stundenlang wippe ich auf dem Sofa vor und zurück, zusammengekauert, die Arme um die Beine geschlungen. Zum ersten Mal in meinem Leben. Ich bringe kein Wort heraus und weine die meiste Zeit. Panik breitet sich langsam in mir aus. Panik vor dem, was kommen wird. Die Angst tut jetzt körperlich weh. Ich versuche meine Sinne taub zu stellen. Es geht nicht.

Nachdem sich die Behördenfrau verabschiedet hat, kommt die Großmutter zu mir. »Das ist alles nicht so schlimm. Ihr seid doch bei mir, bis die Mama euch wieder abholt«, redet sie beruhigend auf mich ein, während sie mir mit der Hand sachte übers Haar streicht.

Aber ich will nur eines erfahren: »Wann kommt denn Mama nun endlich nach Hause?«

»Das dauert nicht lange.« Eine richtig beruhigende Antwort hat Oma auch nicht zu bieten. »Wirst sehen, die kommt schon bald wieder«, sagt sie, doch überzeugt klingt sie nicht dabei.

Eine düstere Ahnung steigt in mir hoch, verdrängt meinen Vorrat an Zuversicht. Als die Dunkelheit hereinbricht, lausche ich auf jedes Geräusch. Hat es geklopft, höre ich Schritte? Ruft da nicht jemand »Hallo, meine Süßen, da bin ich wieder!«? Nein, es bleibt beklemmend still.

Ich verstehe die Welt nicht mehr, und niemand hilft mir, sie zu verstehen. Mama kommt nicht. Sie hat mich, entgegen ihrer Zusage, alleingelassen. Sonst hat sie ihre Versprechen immer eingehalten. Zum ersten Mal in meinem Leben ist mein Urvertrauen erschüttert. Die ganze Zeit sehe ich diese bösen Männer vor mir. Was werden sie wohl mit meiner Mama anstellen? Wohin haben sie sie gebracht? Warum kommt sie nicht zurück? Ich bin so von meinem Kummer beherrscht, dass ich Mirko vollkommen aus den Augen verliere. Mir ist nicht einmal bewusst, ob er überhaupt noch in der Wohnung steckt. Ich halte mir die Ohren zu und wimmere vor Verzweiflung. Ich kann nicht mehr klar denken. Ich will nichts essen, nichts wissen, mit niemandem reden. Irgendwann muss ich vor Erschöpfung eingeschlafen sein.

Gera, Dezember 2009

Wenn ich heute am Fenster meiner Dachwohnung stehe und den Blick über meine in die Hügel eingebettete Heimatstadt schweifen lasse, dann muss ich über eine kahle Befestigungsanlage hinwegsehen. Unmittelbar zu meinen Füßen, welch denkwürdiger Ausblick, liegt die Justizvollzugsanstalt von Gera. Der gelbe Klinkerbau aus einem anderen Jahrhundert verschanzt sich hinter hohen Betonmauern, die eine Borte aus Stacheldraht tragen. Mit den vielen kleinen Türmchen erinnert er an eine abweisende Märchenburg. Manchmal kann ich den Häftlingen beim Hofgang zusehen, gelegentlich auch beim Tischtennisspiel. Grüne Gefangenentransporter passieren regelmäßig mein Haus, verschwinden hinter den schweren Eisenschleusen und entlassen ihre Insassen in die Unfreiheit.

Auch in diesen Bunker hat inzwischen der Rechtsstaat Einzug gehalten. Während ich von meiner Dachschräge aus hinuntersehe, wandern meine Gedanken zurück in die Zeit davor. Ich stelle mir vor, wie meine Mutter vor beinahe vier Jahrzehnten hinter einem der vergitterten Fenster auf der Pritsche gekauert hat. Für kurze Zeit hat ihre Odyssee durch diverse Strafarbeitslager und Zellen sie damals, im Jahr 1972, auch in dieses Gefängnis geführt. Was ist ihr wohl durch den Kopf gegangen, als sie damals an die Decke stierte? Ist sie verzweifelt an ihrem zerbrochenen Lebensglück? Hat sie sich ungerecht behandelt und beraubt gefühlt? Oder hat sie mehr mit sich selbst gehadert?

Ganz sicher hat sie viel an Mirko und mich gedacht, ihre verlorenen Kinder. Sie wird uns schmerzlich vermisst haben, heute bin ich mir dessen ganz sicher. Jetzt, da ich selbst eine Tochter und einen Sohn habe, die im Begriff sind, mein Haus zu verlassen, beginne ich zu begreifen, was meine Mutter damals durchgemacht haben muss. Als kleines Mädchen dagegen hatte ich keinen blassen Schimmer, wohin die Männer sie abtransportierten. Ich konnte nicht ermessen, dass es gar nicht in ihrer Macht lag, ihre Versprechen einzuhalten. Nicht in meiner kühnsten Fantasie wäre ich auf den Gedanken gekommen, dass wir unser überstürzt verlassenes Heim nie wieder betreten würden. Erst recht ahnte ich nicht, welche Hintergründe die beängstigenden Vorkommnisse hatten und welche Rolle der Staat spielte, in den ich so arglos hineinwuchs.

Damals hatte ich noch nicht einmal eine Vorstellung davon, was ein Gefängnis war. Als viereinhalbjähriges Mädchen, das sich bis dahin bei seiner Mutter geborgen gefühlt hatte, war ich einfach nur sauer auf sie. Ich war verletzt und panisch vor Angst, weil sie offenbar ihr Wort nicht hielt. Ich fühlte mich im Stich gelassen. Natürlich suchte ich die Schuld auch bei mir, wie jedes Kind in solch einer Situation. Was hatte ich nur falsch gemacht, dass meine Mama nicht mehr zu mir zurückkam?

Es gab niemanden, der auch nur den Versuch unternahm, meinem Bruder und mir zu erklären, was da vor sich ging. Wir waren umgeben von einer Wand des Schweigens, der Lügen und Beschwichtigungen. Ohne Trost und ohne Sicherheit. Es blieben nur Zweifel, Fragen und immer neue Verwirrungen. Um uns war ein undurchdringliches Geheimnis. Wie ein Sturm rissen uns die Ereignisse mit sich und nahmen uns jeglichen Halt.

Doch eines hatte ich schon damals instinktiv gespürt: Dies ist der Tag, jener 7. Februar 1972, der mein Leben umwälzt, alles verändert. Er war die Wegscheide zwischen dem, was vorher war, und dem, was nachher kam. Ein Einschnitt, ein Riss durch meine Seele. Alles, was nach diesem Tag mein Leben bestimmte, besaß keine Festigkeit mehr, erwies sich später als Fassade, die irgendwann einstürzen musste. Ein Zwiespalt, der immer wieder – bis heute – dazu führt, dass ich mich hin- und hergerissen fühle, selbst wenn vordergründig mein Dasein beständig scheint.

Im Grunde sind es meine Kinder, die mir die Kraft und den Mut geben, mich meiner eigenen schmerzhaften Geschichte noch einmal auszusetzen. Sie sollen nachfühlen können, wie ich zu dem Menschen wurde, der ich geworden bin. Auch für sie will ich herausfinden, wo ich herkomme, wer ich wirklich bin, welche Lasten der Vergangenheit ich mit mir trage und unbewusst an andere weiterreiche. Sie helfen mir, meinen versprengten Lebensweg selbst zu begreifen und nachzuforschen, welche äußeren Kräfte unsere scheinbar intakte Dreisamkeit damals zersprengen konnten.

Wie häufig bei Kindern von Alleinerziehenden hingen Mirko und ich ganz besonders eng an unserer Mama. Meinen Vater habe ich nie kennengelernt. Er war wohl während seiner Wehrdienstzeit bei der Nationalen Volksarmee in Gera stationiert, als die flüchtige Beziehung entbrannte, deren Frucht ich bin. Meine Mutter hat mir nichts von ihm erzählt. Ich könnte nicht einmal mit Gewissheit sagen, ob er auch der leibliche Vater meines Bruders ist.

Das Leben hat es von Beginn an nicht gut mit Mama gemeint. Ursprünglich einer ländlichen Großfamilie entstammend, hat sie schon als Vierzehnjährige nach einem Streit ihr Elternhaus verlassen, mit nichts als einem Koffer und ihren Jugendweihegeschenken in der Hand. Kurz darauf bekam sie ihr erstes Kind, das mit elf Monaten an einem Fieberkrampf starb. Mit siebzehn Jahren war sie erneut schwanger und musste sich ganz allein in dieser schwierigen Situation zurechtfinden. Sie musste ihren Lebensunterhalt verdienen, ohne je einen Beruf erlernt zu haben. Zur Zeit meiner Geburt war sie knapp zwanzig Jahre alt, aber sie hatte es offenbar leidlich gut gelernt, sich selbst zu behelfen. Selbst der schlechte Leumund, der partnerlos lebenden Müttern in jenen Jahren anhing, schien sie nicht weiter zu beirren. Sie kümmerte sich hingebungsvoll um uns zwei Kinder (so jedenfalls sagt es mir mein Erinnerungsgefühl) und ging wechselnden Jobs nach. Eine Weile war sie als Wäscherin und als Reinigungskraft in einem Jugendheim tätig.

Zu DDR-Zeiten wurde diese Doppelbelastung durch ein gut ausgebautes Betreuungswesen aufgefangen. Es war der Normalfall, dass Mütter berufstätig waren, daher konnten sie ihre Kinder von klein auf in einer Krippe oder Kindertagesstätte abgeben. Schichtarbeiterinnen standen werktags sogar Wochenkrippen zur Verfügung, bei Bedarf rund um die Uhr.

Und davon gab es eine Reihe in Gera. Viele der mehr als hunderttausend Einwohner waren bei der nahe gelegenen Wismut beschäftigt, einem der größten Kombinate der DDR. Mit insgesamt über zweihunderttausend Tonnen Erz aus Europas größter Urangrube wurden die Atomanlagen des »Großen Bruder«-Staates, der Sowjetunion, beliefert. Unsere Region erfuhr dadurch einen immensen Aufschwung, Arbeitskräfte waren gesucht. Kinder durften dabei kein Hindernis sein, also übernahm der Staat bereitwillig deren Erziehung.

Wohnraum war damals ein knappes Gut, denn für die Heerscharen der Werktätigen musste ausreichend Quartier geschaffen werden. So veränderte Gera in den siebziger Jahren grundlegend sein Gesicht. Raum vertrieb die Enge. Besonders der marode Altbaubestand galt in der Musterstadt des Fortschritts als nicht mehr zeitgemäß. Ganze Straßenzüge fielen der Abrissbirne zum Opfer.

Wenn ich jetzt aus meinem Dachfenster sehe, bleibt mein Blick an Plattenbauten und Hochhäusern hängen, die großräumig einige Kahlflächen umrahmen. Das mochte in den siebziger Jahren als Ausdruck des Fortschritts gegolten haben. Heute sieht das alles reichlich planlos, halbherzig, willkürlich aus. Die gesamte historische Neustadt Geras aus der Rokokozeit wurde 1973 für das neue »sozialistische Stadtzentrum« einfach aus dem Weg geräumt, die Straßenbahntrasse sogar umgebettet. Praktische Nutzbauten in Fertigbauweise ersetzten viele heruntergekommene Altstadthäuser, die seit dem Zweiten Weltkrieg dem Verfall preisgegeben waren.

Wenn ich heute über die Schauplätze meiner frühen Kindheit schlendere, habe ich immer noch Schwierigkeiten, mich zurechtzufinden. Als ich nach der Wende wieder in meine Heimatstadt zurückgekehrt bin, hat es eine ganze Weile gedauert, bis mir dämmerte, dass der neu errichtete Straßenzug unweit des Marktplatzes einstmals unsere kleine Familie beherbergt hat. Nur das Kopfsteinpflaster der Gasse erinnert heute noch an die Stätten meiner Kindheit. Wo ich damals aus dem Treppenhaus auf die Straße rannte, begrenzen heute rötlich schimmernde Plattenmauern das Blickfeld. Damit gibt es so gut wie keine Anhaltspunkte für die Bilder in meinem Gedächtnis. Wie ein Sinnbild erscheint es mir, dass die meisten Stätten meiner ersten Lebensjahre heute nicht mehr existieren. Als wäre dieser Teil meines Lebens auch in der Wirklichkeit ausgelöscht.

Von der dusteren Erdgeschosswohnung meiner Großmutter oberhalb des Marktplatzes ist ebenfalls kein Stein übrig geblieben. Ihre Stube war damals unser zweites Wohnzimmer. An ihrem Tisch haben wir viele Runden »Mensch ärgere dich nicht« gespielt, während auf der Couch daneben der alte Kohlenhändler lag, mit dem sie damals ihr Leben teilte. Die aufeinandergestapelten Kohlensäcke im Hof waren unser Reich der Abenteuer. Wenn meine Mutter außer der Reihe zur Arbeit oder etwas erledigen musste, nahm Oma uns bei sich auf, solange ich zurückdenken kann.

2.

Es war also keine außergewöhnliche Begebenheit, dass wir an diesem 7. Februar 1972 einmal wieder bei unserer Großmutter Unterschlupf fanden. Aber diesmal verging eine um die andere Stunde, und Mama blieb verschwunden. Mirko und ich schliefen ohne ihren Gutenachtkuss ein und erwachten ohne ihren Morgengruß.

Mit jedem neuen Tag ließ sich weniger übersehen: Wir waren hier nicht beherbergt, sondern ausquartiert.

Ich muss sonst ein eher lebhaftes Mädchen gewesen sein. Doch seit Mamas Verschwinden starrte ich die meiste Zeit teilnahmslos vor mich hin. Tagelang saß ich einfach da und fühlte nichts mehr. Meine Empfindungen kamen mir wie erloschen vor. Ich spürte nur Taubheit und stellte mich taub. Den Ablauf unserer Abschiebung hierher habe ich inzwischen so anschaulich vor Augen, als wäre es gestern gewesen. Doch meine Erinnerung an jenen Zwischenaufenthalt bei meiner Großmutter ist weitgehend gelöscht. Ich könnte nicht einmal sagen, womit mein Bruder sich die Zeit vertrieb, die ich apathisch auf dem Sofa verbrachte.

Aus meinem Dämmerzustand löste ich mich erst wieder, als Oma uns nach knapp einer Woche eines Morgens mit den Worten »Los Kinder, jetzt zieht euch schick an! Wir gehen in die Stadt« aus dem Bett holte. Diese Aufforderung klang verheißungsvoll in unseren Ohren, denn in die Stadt gehen hieß immer bummeln, einkaufen, Eis essen. Vielleicht würden wir ja sogar Mama wiedersehen! Selten war ich so schnell angezogen wie an diesem Morgen.

Auf dem Weg eröffnete Oma uns: »So, jetzt kommt ihr zu anderen Kindern. Mit denen könnt ihr schön spielen.« Kein Eis, keine Leckereien und vor allem kein Wiedersehen mit Mama. Stattdessen waren wir mehr als eine halbe Stunde lang unterwegs, und zwar hügelabwärts in den vornehmeren Stadtteil von Gera jenseits der Bahnunterführung. Schließlich erreichten wir eine gediegene Altbauvilla, die mich an meinen Kindergarten erinnerte. In Gera gab es noch eine Reihe stattlicher Gründerzeitbauten, und in der neuen sozialistischen Zeit beherbergten viele davon öffentliche Einrichtungen.

Komme ich jetzt in eine neue Kindergartengruppe?, fragte ich mich, als wir das Gebäude betraten. In diesem Backsteinbau herrschte jedoch kein Kommen und Gehen. Es gab auch keine Pausenbrottäschchen am Haken und keine Straßenschuhe einstiegsbereit neben der Haustür. Diese Kinder schienen hier ein Zuhause zu haben, wie in einer überaus kinderreichen Großfamilie.

An Omas Hand standen wir auf dem Linoleumboden der Eingangshalle, die mir damals riesig vorkam. Nach drei Seiten ging es von hier aus in die angrenzenden Räume. Die breite Flügeltür gegenüber vom Eingang ließ dahinter größere Säle vermuten. Der Blick reichte über zwei Etagen bis zur nussbaumfarben getäfelten Decke, an der ein Kronleuchter hing. Zur Rechten führte eine Holztreppe zu einer Balustrade um die obere Etage, die weitere Zimmer beherbergte. Die verblichene Eleganz der Villa wurde vom vielstimmigen Geräuschpegel belebt.

Kaum hatten wir die Empfangshalle betreten, entführten die anderen Kinder meinen Bruder und mich in den Garten hinter dem Haus, der für mich den Eindruck bestätigte, dass es sich bei der Villa um ein Märchenschloss handelte. Durch eine lichtdurchflutete Glastür führte der Weg über geschwungene Treppenstufen auf eine Wiese, die von Hecken umsäumt war und aus der ein pilzförmiges Klettergerüst ragte. Zur Begrüßung zeigten die Kinder uns einen echten Igel, der sich offenbar noch im Winterschlaf befand. Ein solches Prachtexemplar hatte ich nie zuvor gesehen. Vorsichtig strichen wir über sein Stachelfell.

Als wir aus dem Garten zurückkehrten, war Oma nicht mehr da. Ich solle immer schön artig sein, hatte sie mir zuvor noch eingeschärft. Ich hatte es ihr versprochen, daher vermied ich es, meinen inneren Aufruhr zu zeigen. Am Abend wird sie schon wiederkommen, beruhigte ich mich. Bis dahin ließ es sich hier wohl ganz gut aushalten. Mein Bruder war ja bei mir. Die Kinder waren zugänglich und die Betreuerinnen uns wohlgesinnt. Die Leiterin des Staatlichen Vorschulheims der Stadt Gera, Frau Heinze, nahm uns freundlich auf.

Ich fasste bald Vertrauen und fragte sie forsch: »Tante, wann kommt denn unsere Mama wieder? Holt sie uns hier ab?«

Vertraulich beugte sie sich zu mir, strich mir über die Wange und sah mich dabei mit einem Blick an, der besagte: Du musst jetzt schön tapfer sein. Ihre Worte wollten aber so gar nicht dazu passen: »Weiß nicht. Wirst sehen. Wart’s ab.«

So klein ich noch war, merkte ich doch, dass sie mehr wusste, als sie uns sagen wollte. Dann unternahm ich einen letzten Versuch. »Dürfen wir morgen wieder nach Hause?«

Statt einer Antwort dirigierte die Heimleiterin meinen Bruder und mich liebevoll, aber bestimmt in den Raum, wo die anderen Kinder spielten. Mir war aber nicht nach Spielen zumute. Ich wollte so schnell wie möglich heim. Ein Seitenblick auf Mirko bestätigte mir, dass es ihm nicht anders erging.

Zum Glück nahmen sich die anderen Kinder, alle im Alter zwischen drei und sieben Jahren, unser an. Es war auffällig, dass sie ziemlich einheitlich gekleidet waren. Selbst Jungen trugen drinnen Strumpfhosen und Pullover, und die Mädchen hatten Kunstfaserschürzchen an, die sie ähnlich aussehen ließen. Sie zeigten uns den ungewöhnlich umfangreichen Spielzeugbestand, den es hier gab: Rutsche, Roller, Bälle, Springseile, Bastelsachen. Von solchen Schätzen konnten wir zu Hause nur träumen, denn über einen Bollerwagen reichte der Fuhrpark in den Familien, die ich kannte, nicht hinaus. Ein Tretroller war für die meisten Eltern unerschwinglich. So gesehen hatten wir hier ein kleines Schlaraffenland aufgetan.

Auch die acht Erzieherinnen, die meisten von ihnen noch ziemlich jung, behandelten uns freundlich, und die Versorgung war gesichert. Die Küchenfrauen, die mich gleich bei der ersten Begegnung in ihr Herz schlossen und an ihren wallenden Busen drückten, gaben mir unter der Hand einen kleinen Schluck Brause oder Kakao zu trinken – viel leckerer als der obligatorische Früchtetee. Wir aßen zu Mittag, wir schliefen, wir spielten, wir aßen zu Abend. Die Portionen waren dabei streng rationiert. Wenn die aufgetischte Stulle aufgezehrt war, gab es zu meiner Verwunderung keinen Nachschlag.

Irgendwann wurde es dunkel, und Oma war immer noch nicht da. Als wir die Treppe hochgeführt wurden und jeder im Schlafsaal ein Gitterbettchen zugewiesen bekam, war ich endgültig verwirrt. Von Übernachten war bei unserer Ankunft aber nicht die Rede gewesen. Doch jetzt gab es auf meine Fragen gar keine Auskunft mehr. Ich war froh, bei meinem Bruder bleiben zu können, und wich ihm den ganzen Abend nicht von der Seite.

Rund zwanzig Kinder – Mädchen und Jungen zusammen – teilten sich den Schlafsaal. Zum Einschlafen gab es für alle ein Märchen als Gutenachtgeschichte. Ich liebte Geschichten, aber dieser Erzählung vermochte ich, in Tränen aufgelöst, nicht zu folgen. Ich verkroch mich unter der blau-weiß karierten Einheitsdecke und fand nur schwer in den Schlaf. Erneut ein fremdes Bett. Ich wusste allmählich nicht mehr, wo ich eigentlich zu Hause war.

Am nächsten Morgen dauerte es eine Weile, bis mir einfiel, an welchem Ort ich mich befand – beiläufig abgeliefert, aber nicht wieder abgeholt. Welchen Versprechungen konnte ich noch Glauben schenken? Steckte womöglich doch ein wenig Wahrheit in dem, was die anderen Kinder später im Garten erzählten? »Deine Mama kommt nicht mehr!«, riefen sie wie zum Hohn. Neugierig, wie sie waren, hatten sie wohl von den Erzieherinnen aufgeschnappt, dass meine Mutter ihrer Freiheit beraubt worden war. Ein Drittel der Kinder hatte selbst keine Eltern mehr, die sie hier herausholen konnten. Waren sie eifersüchtig, dass mir noch eine Mutter geblieben war?

Meine aufgestaute Verzweiflung brach aus mir heraus. »Ihr lügt!«, schrie ich, laut und trotzig. »Sie hat gesagt, sie kommt wieder!« Von neuem liefen mir die Tränen übers Gesicht, ich konnte sie einfach nicht aufhalten.

Gottlob stand mir mein Bruder bei. »Lasst sie in Ruhe!«, sagte er in Beschützerpose. Mirko bewahrte mich mehr als einmal vor Angriffen und Nachstellungen. Er hat, seit ich zurückdenken kann, auf mich aufgepasst und freche Nachbarsjungen in ihre Schranken verwiesen, wenn sie mich ärgern wollten. Aber auch er konnte nicht verhindern, dass die anderen Heimkinder sich bald von meinen Heulattacken genervt fühlten. Irgendwann riefen sie mir keine Gemeinheiten mehr nach, sie wandten sich einfach ab und überließen mich mir selbst. Das war noch schlimmer. Jetzt fühlte ich mich erst richtig verlassen.

Da war ich beinahe dankbar, als ich – nach meinem Empfinden war das nur wenige Tage später – nach dem Mittagessen in das Büro der Heimleiterin gerufen wurde. Ihr Zimmer befand sich gleich links neben dem Eingang und machte einen ausgesprochen vornehmen Eindruck. Nur das Konterfei des Generalsekretärs Erich Honecker an der Wand wirkte in der großbürgerlichen Einrichtung etwas aus der Zeit gefallen. Frau Heinze stand vor ihrem Schreibtisch und forderte mich auf, das ältere Ehepaar artig zu begrüßen, das in ihrem Büro schon auf mich zu warten schien. Irgendwie hatte ich sofort das unangenehme Gefühl, zu spät zu kommen. Ich erkannte an ihren Mienen, dass die Erwachsenen längst schon alles untereinander geklärt hatten. Ich wurde überhaupt nicht gefragt und schwieg daher verstockt. Auch die beiden Besucher, die einen eher biederen Eindruck erweckten, sagten kein Wort.

Dafür redete die Heimleiterin umso mehr, und die Frau, die ihr gegenüberstand, hörte überhaupt nicht mehr auf, heftig dazu zu nicken. »Pack deine Siebensachen«, belehrte Frau Heinze mich, »deine Zahnbürste, deine Kleidchen, deinen Schlafanzug, und dann gehst du mit deinen neuen Gasteltern nach Hause.«

So viel hatte ich in der kurzen Zeit meines Aufenthalts hier bereits erfahren: Wenn fremde Leute, oft Paare, das Heim aufsuchten, wurde meistens kurz darauf eines der Kinder in das Chefzimmer gerufen. Diesmal war also die Reihe an mir.

Reflexartig fragte ich zurück: »Kommt Mirko denn nicht mit?«

Die Pädagogin sprach beruhigend auf mich ein, während die fremde Frau wieder jedes Wort nickend bestätigte. »Der bleibt erst einmal hier. Geh du doch mal gucken, wie dir dein neues Zuhause gefällt. Dort hast du deine Ruhe, und es gibt keine Kinder, die dich ärgern. Wenn es dir nicht gefällt, kannst ja wiederkommen.«

Jetzt begannen bei mir doch die Alarmglocken zu läuten: Niemals zuvor hatte ich etwas ohne meinen großen Bruder unternommen. Es gab uns gar nicht anders als im Zweierpack. Mirko war neben meiner Mutter mein engster Vertrauter, mein Schutzengel. Außerdem: Wie sollte meine Mama mich denn jetzt noch finden, wenn sie ins Heim kam, um mich abzuholen? Dieser Umzug war mir alles andere als geheuer. Aber angeblich fand er ja erst einmal zur Probe statt. Alles, was hier vor sich ging, so redete ich mir ein, war ohnehin vorübergehend, ein Provisorium – bis unser Dreierbund, mit dem ich bis heute nur glückselige Kindheitsbilder verbinde, wieder zusammenfinden würde.

3.

Meine neue Unterkunft schien alle finsteren Vorahnungen zu bestätigen. Das Ehepaar steuerte mit mir auf ein Schulgebäude zu und führte mich dort in seine Souterrainwohnung hinab. Die beiden waren alles andere als redselig, ein Gespräch kam daher nicht in Gang. Wegen der winterlichen Kälte waren Türen und Fenster verhängt, was die unterirdische Behausung noch dunkler machte, als sie es ohnehin schon war.

Dazu schlug mir aus diesem Kellerloch ein muffiger Gestank entgegen, der mir fast den Atem nahm. Hauptverursacher dieser Ausdünstungen waren offensichtlich zwei Pudelmischlinge, die erbärmlich aus dem Maul stanken. Auch wenn sie freudig erregt mit dem Schwanz wedelten, als sie mich sahen, ekelte ich mich vor diesen Tieren. Fauliger Mief beherrschte das gesamte Quartier, das aus einem Wohnraum mit Herd und einem Schlafzimmer bestand. Selbst die Decken und Kissen auf der Couch, die mir meine Pflegeeltern als Schlafstätte zuwiesen, verströmten einen atemraubenden Geruch. Die Liege diente sonst wohl als Hundeschlafplatz. Dass dies ihr Revier war, gaben mir die beiden Tiere auch sofort knurrend zu verstehen.

Der enge Raum war komplett mit Möbeln zugestellt, auf einem vorsintflutlichen Spültisch stapelte sich das Geschirr. Eine dunkelbraune Kommode, auf der ein Fernseher stand, schien vor Zeitungsstapeln schier überzuquellen. Um die stickige Wärme, die von dem Holz- und Kohlenherd kam, im Raum zu halten, war die Eingangstür mit einem schweren schwarzen Vorhang verdeckt, was das Quartier erst recht duster machte. Wenn man hereinkam, musste man sich erst einmal durch diese massige Schleuse kämpfen. Das ließ mir den Aufenthalt noch unheimlicher erscheinen.

Meine Pflegeeltern aber waren rührend um mich besorgt.

»Du musst furchtbaren Hunger haben«, sagte die Frau zu mir und gab mir auf mein schüchternes Nicken hin gleich eine heiße Schokolade zu trinken.

Dankbar sog ich das wohlige Wärmegefühl in mich ein.

»Komm«, schlug ihr Mann mir vor, »ich zeig dir mal unsere Schule.«

Da erst wurde mir klar, dass er wohl der zuständige Hausmeister der Polytechnischen Oberschule war. Was eine Schule ist, wusste ich bereits, weil mein Bruder ja seit kurzem Schüler war. Aber ein solches Gebäude von innen hatte ich noch nie gesehen. Mein Entdeckerdrang war geweckt, und ich ging neugierig mit.

So gruselig hatte ich mir das Ganze allerdings nicht vorgestellt. Überall in den Gängen hingen ausgestopfte Tiere. Ich kannte sie bis dahin nur in lebendiger Form, aber die seltsamen Kreaturen an den Wänden waren mausetot, und trotzdem glotzten sie mich mit ihren Glasaugen an. Im Licht der Taschenlampe des Hausmeisters verzerrten sie sich zu hohngrinsenden Fratzen. Ich zitterte, vor Kälte und Angst. Unsere Schritte hallten hohl durch die leeren Gänge, das einzige Geräusch in der Stille. In jeder dusteren Ecke konnte Unheil lauern. Der Hausmeister ging vor mir her und sperrte mit seinem dicken Schlüsselbund jede Tür auf, um einen Blick in die Klassenräume zu werfen. Dabei redete er die meiste Zeit mit sich selbst. Von meinem eigenen Bangen gepeinigt, hörte sich dieser Singsang für mich an, als müsse er sich Mut zusprechen. »Ich muss in jedem Raum nachsehen, ob alles ordentlich ist und die Fenster zu sind«, lieferte er als Erklärung für unsere Expedition nach.

Irgendwann merkte er, dass mir der Rundgang nicht ganz geheuer war, und nahm mich an die Hand. Obwohl dieser Mann mir fremd war, fühlte ich mich in seinem Griff notdürftig beschützt und ermutigt. Nickend gab ich ihm zu verstehen, dass ich ihm zuhörte. Was sollte ich sonst auch sagen? Ich kannte den Mann ja nicht.

»Gehen wir jetzt wieder zurück?«, wisperte ich schließlich zaghaft und war heilfroh, dass die schauerliche Führung endlich vorüber war.

Zurück in der heimischen Höhle, bemerkte ich erst meine Erschöpfung, die die vielfältigen Eindrücke hinterlassen hatten. Es war inzwischen früher Abend, und ich wollte mich nur noch hinlegen und schlafen, alles vergessen, mich in meine frühere Geborgenheit zurückträumen. Nicht einmal das feindselige Knurren der Hunde und ihr Gestank hielten mich mehr vom Einschlafen ab. In meiner Müdigkeit bemerkte ich gar nicht, dass sie sich irgendwann zu mir gesellten. Vertrauter wurden sie mir dadurch allerdings nicht. Dieses Verlies soll mir künftig mein heimisches Nest ersetzen?, war mein letzter Gedanke, bevor mir die Augen zufielen.

Als ich am nächsten Morgen erwachte, eingebettet zwischen zwei schwer atmenden Hundeleibern, war es immer noch dunkel. In diesem Kellerloch schien es nie richtig hell zu werden. Dennoch durfte ich nicht ins Freie, wie mir meine Pflegeeltern eingeschärft hatten. Andere Kinder waren weit und breit nicht zu sehen, nicht einmal Schüler, denn es war Winterferienzeit und zudem Wochenende. Zum Gefühl der Verlorenheit gesellte sich bald die Langeweile. Geduldig wartete ich ab, bis sich im Schlafzimmer nebenan allmählich Leben regte. Die Hausmeisterfrau murmelte einen verschlafenen Morgengruß, während sie sich mit routinierten Handbewegungen am Küchenherd zu schaffen machte. Bei all ihrer Warmherzigkeit konnte sie mir die Spielgefährten nicht ersetzen, das war nicht zu übersehen. Inzwischen tauchte auch der frisch angezogene Hausmeister auf und begann, mit den Holzresten aus einem Weidenkorb ein Herdfeuer zu entfachen. Beißender Qualm überlagerte kurzzeitig den Hundegestank, aber bald knisterte das Feuer und machte das Raumklima behaglich.

Ich hatte gehofft, dass der neue Tag mein dusteres Domizil in einem anderen Licht erscheinen lassen würde. Aber mir war nur noch schwerer ums Herz. Wie nie zuvor vermisste ich Mama, Mirko und Oma. Meine fürsorgliche Pflegemutter legte mir zwei dicke Brotscheiben auf den Teller, die sie mit einem langen Messer abgesäbelt hatte, und stellte einen Pott Schokolade vor mir auf den Tisch. Meine Traurigkeit war ihr natürlich nicht entgangen.

»Du willst bestimmt wieder zurück, oder?«, fragte sie in die Stille hinein.

Die Antwort war klar. Ich nickte und fügte dann, wie zur Entschuldigung, hinzu: »Außerdem muss ich im Kinderheim sein, wenn meine Mama kommt, um mich abzuholen. Sonst denkt sie, ich wäre nicht artig gewesen und ausgerissen.«

Vermutlich war es weniger diese Überlegung, sondern wohl eher mein banger Gemütszustand, der den Ausschlag dafür gab, dass mich das Hausmeisterehepaar noch am selben Tag wieder im Kinderheim ablieferte. Ich fühlte mich befreit und war zudem froh, meinen Bruder wiedersehen zu dürfen. Ihm wollte ich als Erstes von meinem Ausflug in das Gruselkabinett berichten, auch um den Schrecken, der mir noch in den Knochen saß, zu vertreiben. Ich lief vor dem Hausmeisterehepaar durch den Vorgarten die kleine Treppe zum Kinderheim hoch und wartete, bis eine der Erzieherinnen die schwere Eingangstür endlich öffnete. Ungeduldig drängte ich mich durch den Spalt und rief gleich nach meinem Bruder.

Alles andere war mir in diesem Moment egal. Ich achtete nicht auf die anderen Kinder, es war mir gleichgültig, was sie sagten. Meine Kurzzeitpflegeeltern, die im Büro der Heimleiterin verschwanden, hatte ich schon beinahe aus meinem Bewusstsein getilgt. Ich wollte jetzt nur Mirko sehen: »Hallo, ich bin wieder da!«, rief ich probehalber. Keine Reaktion. Vom Atrium aus stürmte ich durch die zweiflüglige Glastür in die Aufenthaltsräume. Aber auch hier konnte ich meinen Bruder nicht finden, genauso wenig wie im gesamten Erdgeschoss und im Hof. Ich rannte die abgewinkelte Holztreppe zur oberen Etage hinauf, wo sich der Schlaf- und die Waschräume befanden, durchsuchte alle Zimmer. Vergeblich. Mirko war nicht aufzufinden.

Enttäuscht stieg ich die Treppe langsam wieder hinunter. Die erstbeste Erzieherin, die mir über den Weg lief, fragte ich nach dem Vermissten, dann nach und nach das ganze Personal. Wieder schlug mir diese merkwürdig beklommene Stimmung entgegen. Wieder gab es Ausflüchte statt Antworten: »Weiß ich nicht«, »Hab ich gerade nicht gesehen«, »Der taucht schon wieder auf«. Niemand hatte eine eindeutige Auskunft für mich. Das konnte nichts Gutes bedeuten. Bald war es nicht mehr zu übersehen: Mein Bruder war weg!

Nun also auch er. Verschwunden, heimlich aus dem Staub gemacht. Ich hatte noch seine Worte im Ohr: »Hab keine Angst, ich bin immer bei dir!« Und schon ließ er mich ohne Abschied im Stich. Nirgends und bei niemandem konnte ich in Erfahrung bringen, wo Mirko sich momentan befand. Ich wusste nur, dass er nicht mehr da war – und ich somit allein.

Hatte ich mir bis dahin noch einen Rest an Zuversicht bewahrt, so war diese jetzt aufgebraucht. Meine Mutter hatte versprochen, bald wiederzukommen, meine Oma, bei mir zu bleiben, mein Bruder, auf mich aufzupassen. Nun hatten sie mich allesamt verlassen – die einzigen Menschen auf der Welt, zu denen ich Zutrauen empfand. Ich fühlte mich so allein wie nie zuvor in meinem Leben. Es war niemand mehr da, der mir zu erklären vermochte, was hier vor sich ging, der mir Mut zusprechen und mir Antworten auf meine vielen Fragen geben konnte.

Ich zermarterte mir den Kopf. War ich böse gewesen? Warum mieden mich alle, die mich einst liebgehabt hatten? Das passte alles nicht zusammen. Ich verstand diese Welt nicht, sie war für mich vollkommen aus den Fugen geraten. Es war nicht mehr das geborgene Zuhause meiner Kindertage, ich hatte es verloren. Jetzt war ich auch noch auf meinen Bruder böse, weil er mich im Stich gelassen hatte.

Lange hat es damals gedauert, bis mir dämmerte, dass Mirko ohne sein Einverständnis gehen musste. Es ist sogar anzunehmen, dass sein Verschwinden während meines Aufenthalts bei dem Hausmeisterpaar kein Zufall war. Im Rückblick betrachtet, wirkt mein kurzer Ausflug in das Schulgebäude wie ein gezieltes Manöver. Möglicherweise hatten die Behörden meine Pflegeeltern lediglich benutzt, um mich ohne Aufsehen von meinem Bruder trennen zu können. Bei meinen späteren Nachforschungen in den amtlichen Unterlagen fand ich nichts weiter als einen knappen Vermerk: Der erste Versuch, mich zur Pflege zu geben, sei »nicht geglückt«. Aber keinerlei Hinweis darauf, wer diese anonymen Gasteltern waren und was sie mit mir vorgehabt hatten.

4.

Während die meisten Heimkinder sich rege am täglichen Freizeitprogramm beteiligten, puppte ich mich immer weiter ein. Mein kindlicher Ehrgeiz lag komplett brach. Ich wollte nicht mehr reden, nicht mehr spielen, am besten gar niemanden mehr sehen. Sportliche Wettkämpfe mied ich besonders, denn jede kleine Niederlage hätte meinen wunden Punkt getroffen. Lieber riskierte ich, als Spielverderberin zu gelten, statt mich vor den anderen bloßzustellen und meinen Selbstzweifeln auszuliefern.

Einmal konnte ich mich jedoch nicht entziehen und musste der Aufforderung nachkommen, im Foyer über eine umgedrehte Turnbank zu balancieren. Vor lauter Versagensangst rutschte ich prompt vom Sockel ab und schürfte mir den Knöchel auf. Viel schlimmer als die Wunde schmerzte mich das Gelächter der anderen Kinder. Eine Erzieherin mit blonden Haaren ermunterte sie geradezu, indem sie sagte: »Seht mal, wie kann man nur so dumm sein! Nicht einmal diese Babyübung kriegt sie hin!«

Erst durch spätere Nachforschungen fand ich heraus, dass dieser Balanceakt Teil eines Testprogramms war, mit dem mein Entwicklungsstand eingestuft werden sollte. Ich entsinne mich auch, dass ich damals Bauklötzchen in ein Loch bugsieren, Linien auf einem Papier nachzeichnen und Kreise ausmalen sollte. Allerdings war ich so verstört und unkonzentriert, dass ich in den Augen der Betreuer auf ganzer Linie versagte. Meine Feinmotorik sei nicht altersgemäß, fanden sie heraus, in meiner Entwicklung hinke ich den Gefährten deutlich hinterher. Sollte diese Untersuchung etwa die Notwendigkeit meines Heimaufenthalts begründen und beweisen, dass ich vorher vernachlässigt worden war? War ich erzieherischer Nachhilfe bedürftig, um mich zur erwünschten »gesunden und lebensfrohen« sozialistischen Persönlichkeit zu entfalten, wie es das Familiengesetz der DDR verlangte? Ein zweiter Test nach einem Jahr jedenfalls zeigte keine besonderen Auffälligkeiten mehr. Allerdings weigerte ich mich dieses Mal, den Balanceakt auf der umgedrehten Sitzbank zu wiederholen.

Im Verlauf des Jahres 1972