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Stephan Serin

Ziemlich schlechteste Freunde

Der eine hat's, der andere nicht

Roman

Rowohlt E-Book

Inhaltsübersicht

Über Stephan Serin

Stephan Serin wurde 1978 in Ostberlin geboren. Nach seinem Abitur studierte er Französisch und Politische Bildung auf Lehramt in Potsdam – und war auch für ein Jahr als Erasmus-Austauschstudent in Pau, Frankreich. Heute ist er Lehrer an einer Brandenburger Schule und lebt mit seiner Familie in Berlin.

Seit 2000 gehört Serin der Berliner Lesebühne «Chaussee der Enthusiasten» an, wo er jede Woche mit seinen Texten auftritt. Sein erstes Buch «Föhn mich nicht zu» war ein großer Erfolg und eroberte Platz 1 der Bestsellerliste. Nun folgt sein erster Roman.

 

Weitere Veröffentlichungen

Föhn mich nicht zu

Musstu wissen, weißdu!

Über dieses Buch

Auf der Suche nach der Liebe am Pau der Welt

 

Zwei Erasmusstudenten, gestrandet in der französischen Provinz: Sebastian will Land und Leute kennenlernen, Markus ist eher an hübschen Französinnen interessiert. So unterschiedlich die beiden sind, schmieden sie doch eine Notallianz. Und erleben als «ziemlich schlechteste Freunde» ein unvergessliches Jahr mit Kakerlaken im Wohnheim, einer Black-Islamic-Metal-Band, Marijo aus der dritten Etage, dem depressiven Guillaume und – natürlich – Eva aus Hamburg …

Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, Juni 2014

Copyright © 2014 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages

Umschlaggestaltung ZERO Werbeagentur, München

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ISBN Printausgabe 978-3-499-26781-9 (1. Auflage 2014)

ISBN E-Book 978-3-644-50951-1

www.rowohlt.de

ISBN 978-3-644-50951-1

«Für Florian, Roger, Guillaume und Marijo.»

Prolog

Seit dem Ende meines Studiums hatte ich nichts mehr von Sebastian gehört. Sieben geschlagene Jahre. Oder war es noch länger gewesen? So genau erinnerte ich mich nicht mehr. Erst nimmt man sich vor, den Kontakt zu halten. Aber bald holt einen der Alltag wieder ein. Eine Weile bleibt noch das Vorhaben: Man müsste sich doch mal wieder melden. Aber die Gegenwart ist stärker. Irgendwann bleibt nur noch eine ferne Vergangenheit. Doch dann plötzlich diese Mail:

Lieber Markus,

ich hoffe, du nutzt diese Adresse noch. Unter deiner Telefonnummer habe ich dich nicht erreicht. Und bei Facebook auch nicht gefunden. Wohnst du noch in Berlin? Ich schreibe dir, weil ich dieses Jahr (am 1. Juli) heiraten werde und zwar, du wirst es nicht glauben, in Pau. Und natürlich habe ich dabei sofort an dich gedacht, auch wenn wir uns ja aus den Augen verloren haben. Ist sicherlich für dich nicht um die Ecke, aber vielleicht kannst du es ja einrichten und kommen. Ich hab Céline, die von hier ist, schon viel von dir erzählt. Natürlich nur die guten Sachen, nicht unser nächtliches Abenteuer im Parc Beaumont :-).

Meld dich doch mal, ob du dir vorstellen kannst, zu unserer Hochzeit zu kommen. Das wäre fein.

Liebe Grüße

Sebastian

PS: Auf der Hochzeit wartet übrigens eine Überraschung auf dich!

Ich rechnete in meinem Leben grundsätzlich nicht mehr mit positiven Überraschungen, sondern nur noch mit schlimmen Krankheiten. Und dass Sebastian mir nach so langer Zeit schrieb, war noch nicht mal das Verwunderlichste. Sondern dass er in der kleinen Stadt im Südwesten Frankreichs heiratete, in der wir gemeinsam 2001/2002 zehn Monate verbracht hatten. Und dann sogar eine Paloiserin, eine von dort. Wie hatte er das fertiggebracht? Hatte er mir damals etwas verschwiegen? War er aus Pau nicht als Single abgereist?

Sofort hatte ich sie wieder vor Augen: die Orte, die Erfahrungen und die Menschen, die für ein knappes Jahr der Mittelpunkt meines Lebens gewesen waren und an die ich schon seit einer Ewigkeit nicht mehr gedacht hatte: das heruntergekommene, baufällige Studentenwohnheim Cité Corisande d’Andoins, in denen es vor Kakerlaken nur so wimmelte; das Computerkabinett der Uni, Asyl der ausländischen Studenten, die sich nach der Heimat sehnten; mein gespanntes Verhältnis zu den anderen Erasmus-Studenten; mein Engagement in der kommunistischen Studentengewerkschaft; mein Gastspiel als Sänger in der Black-Islamic-Metal-Band von Roger, dem libertär-revolutionären Anarchisten; die für Allah missionierenden Marokkaner; meine Bemühungen, mit einer Französin auszugehen; Claire aus dem Zimmer nebenan; Marijo aus der dritten Etage; der manisch-depressive Guillaume; und natürlich: Eva aus Hamburg. Weshalb hatte ich die Erinnerungen über so viele Jahre verdrängt? Wieso befanden wir uns schon im Jahr 2012? Warum spielte all das, was mir damals so bedeutsam erschienen war, in meinem heutigen Leben keine Rolle mehr? Und warum wühlte mich die Einladung meines ehemaligen Kommilitonen trotzdem so auf? Wo doch mit ihm alles so anders, so wenig verheißungsvoll begonnen hatte. Gerade Sebastian! Wenn ich an unsere erste Begegnung dachte. Es war plötzlich wieder wie gestern.

September 2001

Das erste Mal begegnete ich Sebastian am 24. September 2001 in der Schlange vorm Check-in-Schalter 21A am Flughafen Tegel. Ich wusste natürlich damals noch nicht, wie er hieß. Ich hatte ihn nie vorher gesehen. Er studierte nicht an der Humboldt-Uni. Aber er sprang mir sofort ins Auge, denn er stand mit seiner Freundin eng umschlungen ein paar Leute vor mir in der Abfertigungsreihe. Die Innigkeit ihrer Umarmung ließ eine sehr lange Trennungszeit erahnen. Die beiden ließen mich an ein schiffbrüchiges Pärchen denken, das sich in der todbringenden Strömung des kalten Atlantiks verzweifelt aneinanderklammert, um, wenn schon zu ertrinken, wenigstens, anders als Romeo und Julia, synchron das Zeitliche zu segnen. Sebastian überragte seine Freundin um anderthalb Köpfe. Ihre symbiotische Vermählung gestattete ihnen nur ein sehr ungelenkes Vorwärtsrücken. Er musste seine beiden Outdoor-Rucksäcke mit den Füßen in Richtung Gepäckannahme schieben, denn er hatte sich offenbar geschworen, die Frau in seinen Armen bis zur endgültigen Trennung keine Sekunde loszulassen.

Solcher Gefühlsexhibitionismus jagte mir einen kalten Schauer über den Rücken. Wie konnte man sich bloß von seiner Freundin zum Flughafen bringen lassen und dann auch noch eine derartige Show abziehen? So etwas Intimes wie Verabschiedungen erledigte ich prinzipiell in den eigenen vier Wänden. Umstehende sollten sich kein Bild davon machen können, wie es um meine Beziehung bestellt war. Und niemand sollte zugegen sein, wenn mir eine Frau eine Szene machte, weil ich sie allein in Berlin zurückließ. Im Herbst 2001 war diese Prinzipienfestigkeit für mich natürlich blanke Theorie, denn ich stürzte mich als Junggeselle in das Abenteuer Frankreich. Ich konnte keine Frau in Deutschland gebrauchen, die mir als Über-Ich vor jedem Abenteuer mit einer Französin Treue und sexuelle Enthaltsamkeit predigte.

Selbst im Moment des Check-in hatte Sebastians Begleitung von hinten ihre Arme um ihn geschlungen. Es war, als wollte sie ihn daran hindern, in sein Verderben zu rennen. Fürchtete sie, ihn ein letztes Mal zu sehen, weil soeben auch zwei Araber hatten einchecken dürfen, obgleich aus den Trümmern des World Trade Centers noch Rauchwolken aufstiegen? Nun konnte ich endlich ihr Gesicht erkennen. Die beiden spielten nicht in derselben Attraktivitätsliga. Während er sportlich und groß gewachsen war und ein ebenmäßiges Gesicht hatte, dem man sofort ansah, dass er viel Zeit an der frischen Luft verbrachte und in einem Milieu aufgewachsen sein musste, das die Widrigkeiten des Lebens erfolgreich von ihm abgeschirmt hatte, fiel sie bestenfalls nicht negativ auf. Weshalb hatte er keine hübschere Freundin? Achtete er nur auf innere Werte? Hatten die Eltern die Beziehung arrangiert? Waren sie schon in der Kita ein Paar gewesen, und er traute sich nicht, sich nach so vielen Jahren von ihr zu trennen? Möglicherweise war einfach gerade keine Bessere zur Stelle gewesen.

Viele Menschen taten sich ja mit dem Alleinsein schwer. Um nicht einsam zu sein, gaben sie sich mit Überbrückungspartnern zufrieden. Wenn die leckeren Äpfel am Baum zu hoch hingen, musste man sich eben mit ihren matschigen Artgenossen am Boden begnügen. Und ehe man sich versah, wurde aus einem Überbrückungspartner der Begleiter fürs Leben. Ich hielt nichts von solchen Kompromissen. Entweder eine Frau war die Richtige oder nicht. Darum war ich seit Melanie auch allein geblieben. Es hatte mich an jedem Mädchen irgendetwas gestört. Keines hatte Melanie das Wasser reichen können. Mit keinem hatte ich mehr Zeit verbringen wollen. Aber jetzt würde sich das ändern. Während meines Erasmus-Jahres würde es leichter für mich sein, mich auf Frauen einzulassen. Da ich in Frankreich vor allen Dingen an sexuellen Abenteuern und der Verbesserung meiner Sprachkenntnisse interessiert war, konnte ich in den nächsten zehn Monaten darauf verzichten, zu hohe Anforderungen an den Charakter und die Persönlichkeit der Frauen zu stellen. Wenn man ohnehin nur kurz blieb, brauchte man nicht nach der Liebe fürs Leben zu suchen. Es genügte, wenn eine Frau gut aussah und Französin war. Zudem war es leichter, gegenüber einer Französin tolerant zu sein, da man Meinungsverschiedenheiten immer auf sprachliche Missverständnisse schieben konnte.

Sebastian und seine Freundin küssten einander nun. Nie wäre es mir in den Sinn gekommen, mit einer Überbrückungsfreundin in der Öffentlichkeit Zärtlichkeiten auszutauschen. Angefasst hätte ich sie nur zu Hause, wo uns keiner sah. Umso unbegreiflicher war mir das Verhalten von Sebastian. Ich an seiner Stelle hätte mich von ihr bestenfalls mit einem kameradschaftlichen Klaps auf die Schulter verabschiedet oder mit einem Hau rein!

Nicht nur ich wunderte mich.

«Schau mal! Jetzt knutscht der die sogar», lästerte der Mann hinter mir in der Schlange zu seiner Frau.

«Wieso? Die ist doch süß.»

«Wie bitte? Süß? Hast du mal ihr Gesicht gesehen?»

«Was denn? Die ist doch hübsch. Außerdem kann man doch auch auf den Charakter achten.»

«Das sollte aber nicht das Entscheidungskriterium sein. Die strengt sich doch charakterlich sowieso nur an, weil sie weiß, dass sie über ihr Aussehen nichts reißen kann. Für dieses falsche Spiel sollte man sie nicht noch belohnen.»

«Sei doch nicht so fies! Soll das heißen, dass dir mein Charakter egal ist? Dass du nur wegen meines Aussehens mit mir zusammen bist?»

«Ich will’s mal so sagen: Dein Aussehen lässt mich über Defizite in anderen Bereichen hinwegsehen. Man kann nicht alles haben.»

Mir war der Mann sofort sympathisch. Er erhielt von seiner Frau einen vorwurfsvollen Ellenbogenstoß in die Rippen.

«Au! Du willst mir doch nicht ernsthaft erzählen, dass du möchtest, dass ein Typ mit dir wegen deines Charakters zusammen ist!», verteidigte sich der großgewachsene, sportliche Mann.

«Natürlich! Ich möchte als Persönlichkeit geliebt werden. Und nicht auf mein Aussehen reduziert.»

«Aber für den Charakter hat man doch Freunde.»

«Haha.»

«War nur ein Scherz. Natürlich ist mir dein Charakter wichtiger.»

«Wie jetzt? Findest du mich hässlich?»

«Hässlich nicht.»

«Okay. Bin ich hübscher oder hässlicher als die da?» Sie deutete auf Sebastians Freundin.

«Ihr nehmt euch nicht viel.» Das war gelogen. Sie sah besser aus, stellte ich fest, als ich mich unauffällig umdrehte und sie musterte.

«Was? Du findest mich also hässlich? Das ist so gemein!»

«Wieso denn? Du hast doch selber gesagt, dass sie eigentlich hübsch ist.»

«Ja, aber nicht für dich. Du findest sie doch hässlich.»

So erfrischend der Streit der beiden war, ich konnte mich nicht länger auf die Fortsetzung konzentrieren. Die Vorführung der Liebenden vom Flughafen Tegel war zu packend.

Nachdem Sebastians Rucksäcke aufgegeben waren, setzten er und seine Freundin ihre Abschiedszeremonie fort. Sämtliche Rituale ungebrochener gegenseitiger Hingabe wurden von ihnen in aller Öffentlichkeit ungeniert durchexerziert: tiefer, lang anhaltender, schmachtender Blick in die Augen des anderen; Haare aus dem Gesicht streichen; laute Schmatzer auf den Mund; innige Zungenküsse; Reiben der Körper aneinander; festes Aneinanderklammern; mit den Händen spielen; Arme parallel immer vom Körper weg- und wieder zu diesem hinführen, wobei sich die Handflächen beider berührten; verliebte Worte ins Ohr flüstern, sodass es alle Umstehenden im Umkreis von acht Metern verstanden.

Ich rechnete jeden Moment damit, dass ihre Choreographie in einen Lambada oder erotischen Booty Dance münden würde. Auch andere Schaulustige spekulierten offensichtlich darauf. Einige in der Schlange unterbrachen ihre Zeitungslektüre. Mehrere Frauen hörten auf, ihre die Reise antretenden männlichen Partner zu küssen, weil sie die Verabschiedung von Sebastian und seiner Freundin mehr fesselte. Leute, die gerade zu einem anderen Abfertigungsschalter rannten, blieben gebannt stehen und verpassten ihr Flugzeug. Die Ersten zückten ihre Fotoapparate. Aufgrund der Größendifferenz zwischen den beiden hatte man bisweilen den Eindruck, ein Vater liebkose seine minderjährige, sich schutzsuchend an seinen Bauch kuschelnde Tochter. Selbst das Check-in geriet zeitweilig ins Stocken, weil das Air-France-Personal immer wieder abgelenkt wurde.

Nachdem Sebastian überraschenderweise doch in den Warte-Bereich gewechselt war und sich die Automatiktür zwischen beiden geschlossen hatte, war die Abschiedsliturgie noch längst nicht beendet. Umgehend nach dem Passieren des Sicherheitschecks raffte er seine Sachen zusammen – dabei fiel sein Portemonnaie zu Boden – und eilte durch die Bänke, vorbei an den Fluggästen und der Snackbar, im 180-Grad-Bogen zur Scheibe, die die Reisenden von den Zurückbleibenden trennte, um seine rechte Hand gegen das Glas zu drücken. Von draußen presste bereits seine Liebste. Und dann führten sie ihre Lippen ans Glas, um sich ewige Treue zu schwören. Nun unterbrachen auch die letzten Umstehenden ihre Gespräche, um an dieser peinlichen Aufführung ihre Fremdschämtoleranz einem extremen Belastungstest zu unterziehen. An diesem Tag wurden die ersten YouTube-Videos gedreht. Trat ich jetzt an Sebastian heran, um ihm sein Portemonnaie zurückzugeben, das ich aufgehoben hatte, würde ich alles kaputt machen und wäre für die Zuschauer der Buhmann. Ich entschied mich, zunächst noch abzuwarten. Während sich die beiden durch die Scheibe küssten, rief jemand: «Das macht ihr aber wieder sauber!»

Sebastian überhörte die Bemerkung.

Selbst die beiden Moslems stellten nun ihr Gebet ein. Falls sie bisher noch gezögert hatten, ob sie das Flugzeug wirklich entführen und in ein Hochhaus fliegen lassen sollten – die Anwesenheit von Sebastian an Bord würde ihnen die letzten Skrupel rauben.

Aber vielleicht würde sich dieser auch gleich gegen die Scheibe werfen und sie zum Bersten bringen, um mit seiner Angebeteten, die er nun seit mindestens zwei Minuten nicht mehr in seinen Armen hielt, wieder vereint zu sein und Hand in Hand Richtung Sonnenuntergang zu schreiten. Bedauerlicherweise ließ er es an dieser Konsequenz missen. Er fügte sich schließlich in die Trennung. Brav stellte er sich mit gesenktem Haupt zum Boarding an, die Pfiffe, das Klatschen und die Zugabe-Rufe mehrerer Fluggäste überhörend. Der Ausgang war für alle Zuschauer ziemlich enttäuschend.

«’tschuldigung. Ich glaub, das ist dein Portemonnaie», tippte ich ihm von hinten auf die Schulter.

«Ah. Danke! Oh Gott. Das ist fein von dir. Ich bin so aufgeregt. Danke! Wirklich!»

«Kein Problem. Ich stand direkt daneben. Ist noch alles drin. Ich hab nichts rausgenommen. Bis auf das Geld.»

Er guckte irritiert.

«War ein Scherz.»

Seine mimische Anspannung löste sich.

«Möchtest du, dass ich dich vorlasse?», bot er mir an.

«Nein. Ich muss noch mal auf Toilette», log ich, denn ich wollte nicht, dass er sich aus Dankbarkeit mit mir unterhielt. Ich entfernte mich. Trotzdem. Von da an hatte er mich auf dem Kieker. Ich sollte meine gute Tat im Laufe des Tages noch bereuen.

 

Mehrere Stunden war ich ihm aus dem Weg gegangen. Und nun, gegen 21 Uhr, saß ich mit ihm im Taxi. Sebastian hatte ein Zimmer im selben Wohnheim. Ich hatte den Fehler gemacht, nicht neben dem Taxifahrer, sondern auf der Rückbank Platz zu nehmen. Übertrieben neugierig starrte ich aus dem Fenster, obwohl es draußen schon dämmerte und man nicht mehr weit sehen konnte. Aber die Dämmerung war mir trotzdem lieber als eine Unterhaltung mit meinem Kommilitonen. Ich wollte mich nicht gleich zu Beginn mit einem Deutschen anfreunden. Ich hatte schon den Fehler gemacht, meinen Namen preiszugeben.

Und mein linkes Ohr war bereits unter verbalem Dauerbeschuss:

«Ich find das ja toll, dass ich gleich jemanden kennengelernt habe.» Im Halbdunkel erahnte ich einen Gewerbepark und hier und dort ein Restaurant zwischen viel Wiese.

«Findest du das nicht auch besser, wenn man nicht allein ist?»

«Weiß nicht.»

«Ich war noch nie ein Jahr weg.»

«Mhm.»

«Warst du schon mal ein Jahr weg?» Der zweite Kreisverkehr.

«Nein.»

«Meine Eltern wollten mal, dass ich ein Jahr während der elften Klasse in die USA gehe. Aber das habe ich dann doch nicht gemacht.»

«Mhm.» Noch ein Kreisverkehr. Und ein Wald.

«War auch wegen meiner Freundin. Damit die nicht traurig ist.»

«Mhm.» Ein eingeschossiges Einfamilienhaus hinter einer Hecke.

«Bin eigentlich immer nur mit Josepha verreist.»

«Mhm.» Und ganz viel Bäume.

«Aber jetzt musste ich einfach mal. Weil das Reisebüro von meinem Papa jetzt auch Reisen nach Frankreich anbieten möchte.» Und ein Feld.

«Und weil ich das Geschäftsfeld mit aufbauen soll und mein Französisch noch verbessern will. Ich war ein bisschen spät dran. Paris war schon weg. Und Toulouse auch und Lyon. Da war nur noch Pau übrig.»

«Mhm.»

«Aber ist ja auch gut. Mir ist das lieber, wenn das kleiner ist. Da verliert man nicht so schnell die Orientierung.» Noch ein Kreisverkehr. Auf Sebastians Seite Gewerbehallen.

«Deswegen fahr ich auch nicht gerne nach Berlin rein. Mir ist das immer viel zu laut.»

Wir würden uns blendend verstehen.

«Warum bist du eigentlich nach Pau gegangen?», wollte er wissen.

Weil ich darauf spekulierte, mit meiner Herkunft aus Ostberlin bei Frauen in einer südfranzösischen Kleinstadt leichter punkten zu können als in einer Metropole. Und weil die Tour de France fast jedes Jahr in Pau Station machte, auf dem Weg in die Pyrenäen oder nach deren Durchquerung. Als Jan-Ullrich-Fan wollte ich mir das nicht entgehen lassen. «Wegen Sex!»

Sebastian verstummte.

«War nur ein Scherz.»

«Ah. Ich hab echt gedacht, du meinst das ernst.» Meinte ich auch.

«Ich hab immer in einer Großstadt gelebt, jetzt möchte ich mal etwas anderes sehen», erklärte ich.

«Das ist fein.» Schon seine Ausdrucksweise verursachte bei mir Gänsehaut. Rechts von uns ein Intermarché mit vorgelagertem Parkplatz. Weitere Shopping-Einrichtungen. Zunehmend Einfamilienhäuser.

«Und was studierst du?»

«Französisch und Politische Bildung.»

«Ah, schön.»

Wir nahmen aus einem weiteren Kreisverkehr die Abfahrt nach Süden. Im Radio liefen französische Chansons.

«Willst du mal meine Freundin sehen?»

«Was?»

«Ob du mal meine Freundin sehen willst? Ich habe Fotos in meinem Portemonnaie.» Ich wollte nicht. Schließlich hatte ich seine Freundin schon heute Morgen ausgiebig begutachten können.

«Vielleicht später.» Ich blickte wieder aus dem Fenster.

«Hier, guck mal!» Sebastian hatte seine Brieftasche geöffnet. Eine ausklappbare Fotoreihe fiel heraus. Offenbar für jedes Jahr ihrer Beziehung ein Porträt. Rechts ging es nach Bayonne. Links nach Toulouse und seltsamerweise ebenfalls nach Bayonne. Geradeaus ins Zentrum. Eingeschossige Häuser mit weißen Mauern. Dann wieder graue, unverputzte Gebäude aus Kieselsteinen.

«Guck mal, das ist Josepha!»

Was, bitte schön, sollte ich dazu sagen? Bei einem Neugeborenen wäre ein Ach, wie niedlich! erwartet worden. Aber Josepha war kein Neugeborenes. Wie kommentierte man das Foto einer erwachsenen Frau? Geht doch. Oder: Die würde ich ja gerne mal vernaschen. Wir erreichten Pau. Links von uns eine Pferderennbahn.

«Aha. Das ist also deine Freundin.»

Erneut eine Total-Tankstelle. Genau. Elf Aquitaine hatte in der Region seinen Firmensitz. «Wir sind schon seit sechs Jahren zusammen.» Einfamilienhäuser hinter mannshohen Mauern. Autohäuser.

«Na, da wird ja dieses Jahr euer letztes sein.»

«Was? Wieso?» Sebastian stutzte. Auf meiner Seite sah ich die ersten HLM – Sozialbauten mit sechs Etagen. Wir bogen rechts in den Boulevard de Paix ab.

«Wieso wird das unser letztes Jahr sein?»

«Ich sag das nur so. Weil Erasmus-Aufenthalte Beziehungskiller sind. Aber dafür wirst du am Ende mit einer anderen Frau zusammen sein.» Die meisten Häuser auf meiner Seite hatten jetzt zwei Etagen.

«Aber ich möchte nicht mit einer anderen Frau zusammen sein. Wir lieben uns. Wir haben uns geschworen, wenn ich zurückkomme, dann heiraten wir. Und sie kommt mich auch mehrmals besuchen.»

«Meinetwegen. War nur ein bisschen zugespitzt formuliert. Jedes Paar ist natürlich anders.»

Ich vertiefte mich wieder in den Anblick der abendlichen Stadt. Wir kamen an ein paar Palmen vorbei. Häuser mit Garten. Das erste Gebäude mit elf Geschossen.

«Hast du denn so was schon erlebt?»

«Was?»

«Eine Trennung.»

Darüber wollte ich jetzt nicht sprechen. Melanie ging ihn nichts an.

«Weiß ich nicht.»

«Wie, du weißt es nicht?» Wieder Elfgeschosser. Und dazwischen flachere Bauten.

«Was weiß ich nicht?»

«Na, ob du schon mal eine Trennung hattest?»

«Das weiß ich schon, aber ich möchte jetzt nicht darüber reden.»

Sebastian schwieg. An einem mit Palmen bestandenen Kreisverkehr bogen wir nach rechts ab: Allée Cathérine de Bourbon. Laternen warfen Licht. Auf dem grünen Mittelstreifen Bäume. Die Gebäude am Straßenrand wichen auf beiden Seiten zurück. Sebastian schwieg weiter.

«Ich will einfach nur aufpassen, dass uns der Taxifahrer nicht bescheißt.»

«Meinst du, der würde so etwas machen?»

«Ja.»

Ich konnte natürlich gar nicht aufpassen, denn ich kannte den Weg nicht. Rechts von uns ein Parkplatz. Dahinter eine Ansammlung von Bauten. War das die Uni? Nach dem nächsten Kreisverkehr rückten die Häuser wieder näher. Die Bäume auf dem Mittelstreifen wuchsen.

«Noch wenige Meter», erklärte uns der Chauffeur, der die ganze Fahrt über kein Wort von sich gegeben hatte. Wir bogen links ab. Auf beiden Seiten immer mehr Sozialbauten. Lag unser Wohnheim etwa in einer gefährlichen Banlieue? Nach fünfhundert Metern durch – zumindest im Dunkeln – wenig anheimelnde Plattenbauästhetik fuhr der Wagen rechts auf einen Parkplatz, obwohl ein rotes Schild verkündete: Zufahrt nur für Feuerwehr und Krankenwagen.

Auf rissigem, buckligem Asphalt kam unser Fahrzeug schließlich zum Stehen. Auf meiner Seite führten fünf Stufen zum Eingang eines fünfgeschossigen, länglichen Plattenbaus, der sich am offensichtlichen Wohnheim-Parkplatz entlang bis zur Straße zog. Gegenüber von diesem Eingang lag der Zugang zum anderen Gebäudeflügel, der parallel zum ersten verlief, aber nach hinten verschoben war. Beide Teile waren durch einen flachen Arm verbunden, vor dem ein verwaister Fahrradständer auf Aufgaben wartete. Ungepflegte Grünflächen mit dichten Sträuchern säumten die Gebäude. Wild wuchernde Bäume zwischen den Wagen auf dem Parkplatz verliehen der Anlage – zumindest bei diesen Lichtverhältnissen – etwas von einem Urwald. Im rechten Trakt neben der Tür befand sich die Rezeption. Auf dem Mauervorsprung neben der Treppe lümmelten zwei Araber. Clichy-sous-Bois in Miniaturformat.

Vielleicht stammten sie aus einer französischen Vorstadt mit hoher Kriminalitätsrate. Der Größere von beiden trug eine weiße Jogginghose, der kleinere ein Basecap. Außerdem kifften sie. Aber ich wollte mich nicht von meinen Vorurteilen leiten lassen. Mein Rucksack und mein brauner Lederkoffer blieben als Zeugnis meiner Ressentimentfreiheit unten, während Sebastian seine zwei Rucksäcke mit hoch zum Empfang nahm. Oben angekommen, öffnete sich die Automatiktür nicht.

«47256», rief der Typ in der weißen Jogginghose auf Französisch.

Weil wir nicht reagierten, ergänzte er: «Das ist der Code.»

Vielleicht waren sie doch nicht aus der Banlieue.

«Merci», bedankten wir uns.

«Vous êtes d’où?», erkundigte sich der Basecap-Träger nach unserer Herkunft. «Doitschland?» Er hatte ein breites Lächeln.

«Ja», antwortete Sebastian.

«Nein!», antwortete ich, denn es ärgerte mich, dass unsere Nationalität so offensichtlich war.

«Ah. Doitschlaaaand. Iiiisch biiin kaputt!», brüllte er begeistert, und sein Kumpel, der ein längliches Gesicht hatte, fügte freudig hinzu: «Wiiiillst du meeinen Puuuller luuutschän?»

Sebastian war mit dieser Frage sprachlich überfordert. Oder vielleicht einfach nur nicht schlagfertig genug. Darum ergriff ich das Wort und erklärte auf Französisch: «Das mache ich gerne. Am Puller lutschen. Aber erst mal muss ich noch zur Rezeption, meinen Schlüssel holen und auspacken. Danach melde ich mich noch mal bei euch. Ich bringe auch gerne meinen Kumpel mit, damit nicht einer von euch warten muss.»

Sie mussten lachen. Wir verstanden uns prima.

Der Basecap-Träger stellte sich uns als Mehdi vor. Sein Kumpel mit dem länglichen Gesicht hieß Rachid. Er hatte ziemlich schlechte Zähne, vermutlich vom Kiffen. So schnell fand man also Freunde. Obwohl es natürlich eigentlich nur meine Freunde waren, denn ich hatte die richtige Antwort parat gehabt. Aber da es sich um Männer handelte, würde ich sie notfalls auch mit Sebastian teilen.

Am Empfang begrüßte uns eine Frau mit starkem Akzent. Vielleicht kam sie aus Spanien.

«Je vous mets au même étage», entschied sie, ohne mich zu fragen, ob ich wirklich mit Sebastian auf einem Flur untergebracht sein wollte. «Comme ça, ce sera plus facile.» Sebastian freute sich. Mir wäre mehr Abstand lieber gewesen, ich traute mich aber nicht, sie zu bitten, Sebastian ein Zimmer am anderen Ende vom Wohnheim zu geben. Wir erhielten den Code fürs Gebäude, einen Zettel, auf dem état des lieux stand, und unsere Schlüssel: Bâtiment B, Erdgeschoss, Zimmer 5 für mich und Zimmer 9 für meinen neuen Freund.

 

Luxus fühlte sich anders an. Zimmer 5 war etwa viereinhalb Meter lang und gut zwei Meter breit. Gegenüber der Tür war das Fenster. Links neben der Tür ein offener Schrank mit altersmüden Einlegeböden für die Kleidung. Lange würden die nicht mehr durchhalten. Rechts vom Eingang eine abgetrennte Waschecke. Dort ein verkalktes Becken mit zwei Wasserhähnen, blau für kalt und rot auch für kalt. Darüber ein paar blassgelbe Fliesen, eine weiße Keramikkonsole und ein an den Rändern splittriger Spiegel. Hinterm Waschbereich, auf der rechten Seite des Zimmers, stand das Bett. Schwarze Füße, eichenfarbener Bettkasten. Neben dem Kopfende ein zehn mal zehn Zentimeter großes Brett als Ablage. Dort fand allenfalls ein Handy Platz. Über dem Kopfende eine kleine Leselampe. Der ebenfalls eichenfarbene Schreibtisch vor dem Fenster nahm die ganze Breite des Raumes ein und enthielt auf seiner rechten Seite drei Regalböden. Es gab zwei Stühle, einen aus Plaste, einen gepolsterten. Von der Decke blickte eine dritte Lampe, die Hauptlichtquelle, auf mich herab. Sehr viel Mühe mit Leuchten gab sie sich nicht. Vielleicht steckte sie mit dem Raum unter einer Decke, und beide hatten etwas zu verbergen. Ich sah auch so genug. Hier war schon lange nicht mehr renoviert worden. Die gelbe, fleckige Tapete löste sich bereits an mehreren Stellen von den Wänden. Die Gardinen am Fenster waren löchrig und grau. Der Linoleumfußboden fügte sich mit seinem Grau perfekt ins deprimierende Ambiente. Wie sollte das Zimmer auf mich erst morgen früh wirken, wenn es richtig hell war? War es vielleicht doch ein Fehler gewesen, sich für ein Wohnheim statt für eine Wohnung zu entscheiden? Konnte ich überhaupt eine Französin mit in diesen 9-Quadratmeter-Verschlag nehmen? Litt ich bereits an Heimweh?

Draußen, auf dem Gang, knallte eine Tür, ein Schlüssel drehte sich im Schloss. Jemand schlurfte über den Flur. Dann kehrte wieder Stille ein. Mein Blick fiel auf das Blatt, das ich soeben von der Frau am Empfang erhalten hatte. Ich hielt es immer noch in der Hand. Es schien so etwas wie ein Übernahmeprotokoll zu sein. Ich begann zu lesen. Bereits beim vierten Wort musste ich mein Wörterbuch aus dem Rucksack holen. Aha, chêne clair vernis hieß lackiertes, helles Eichenholz, alèze Unterlaken. Ich inspizierte dieses. Neu war es nicht. Ich wollte gar nicht wissen, woher die Flecken stammten. Waschbecken mit heißem und kaltem Wasser. Das konnte ich doch eigentlich nicht unterschreiben. Wenn ich am Ende des Jahres das Zimmer wieder abgab und aus dem roten Wasserhahn nur kaltes Wasser floss, würde man das mir anlasten. Und wie konnte ich die Tapete unbeschädigt hinterlassen, wenn diese bereits jetzt total verschmutzt war und von der Wand kam? Sollte ich sie selbst wieder ankleben? Mir war es doch gar nicht möglich, den Raum, wie im Protokoll gefordert, in gutem Zustand zurückzugeben. Am Ende musste ich noch für Schäden aufkommen, die gar nicht von mir verursacht worden waren. Sah es bei Sebastian genauso aus, oder hatte man mir das schlechtere Zimmer angedreht? Sollte ich mich morgen früh an der Rezeption weigern, das Übernahmeprotokoll zu unterschreiben, bevor nicht alle Mängel behoben oder wenigstens vermerkt waren? Das wirkte sicherlich typisch deutsch. Ich war doch eigentlich nicht typisch deutsch.

Ich musste mal. Auf dem Gang brannte Licht. Hinter den Schwingtüren im Treppenhaus telefonierte jemand:

«Ja, ein paar Zimmer weiter. … Selbe Etage. …» Es war Sebastian. Selbst auf der Toilette konnte ich hören, wie er telefonierte.

«Wir haben uns wirklich richtig gut unterhalten im Auto. Er ist wirklich nett.» Da täuschte er sich.

«… Ich glaub, wir verstehen uns. … Ist echt besser so, wenn man noch jemanden kennt. Ich könnte mir vorstellen, dass wir uns anfreunden.» Auch das noch.

«Und wir haben auch schon zwei Franzosen kennengelernt. Wenn die auch ein bisschen komisch sind.»

Nachdem ich fertig war, huschte ich zurück auf mein Zimmer und schloss leise die Tür. Ich machte mich ans Auspacken. Ich brauchte unbedingt ein Radio, damit hier ein bisschen Leben einzog. Ein paar Poster wären auch nicht schlecht, aber die durfte man wegen der Tapete nicht anbringen, wie im Protokoll stand. Dann putzte ich Zähne. Und legte mich hin, um noch ein bisschen in Le monde zu lesen. Kurz danach klopfte es. Mehdi oder Rachid? Durch den Türspion erkannte ich Sebastian. Ich öffnete trotzdem.

«Hallo, Markus. Hast du schon dieses Blatt ausgefüllt? Ich hab mal versucht, das zu übersetzen. Aber das meiste verstehe ich überhaupt nicht. Ich hab auch vieles in meinem Wörterbuch nicht gefunden.»

«Es geht darum, ob im Zimmer alles vorhanden und alles in Ordnung ist.»

«Also, ich finde, das ist ganz schön runtergekommen. Ist das bei dir auch so?»

Ich ließ ihn rein.

«Sieht genauso aus wie bei mir. Bei mir kommt aus dem roten Hahn nicht mal warmes Wasser.»

«Bei mir auch nicht.»

«Und die Tapete geht bei dir auch schon ab. Wollen wir da nicht noch mal hingehen und mit der Dame von der Rezeption reden? Nicht, dass wir dann am Ende für Schäden bezahlen müssen, die wir gar nicht verursacht haben.»

«Quatsch!», widersprach ich. «Das ist doch nur pro forma. Meinst du, die schauen da wirklich am Ende drauf? Solche Ängste sind doch typisch deutsch.»

«Meinst du?» Er wackelte mit dem Kopf und murmelte gedankenversunken etwas, das ich nicht verstand. «Wollen wir nicht mal sicherheitshalber doch fragen gehen?»

«Also, ich nicht. Ich will jetzt erst mal schlafen.»

«Na gut.» Er verabschiedete sich. Ich legte mich wieder hin. Ein Schlüssel drehte sich in einem Schloss, eine Tür ging auf und zu, und ein Schlüssel drehte sich wieder im Schloss. Sollte ich besser auch abschließen? Wie war das hier mit Einbrüchen? Vielleicht sollte ich mir doch lieber eine WG suchen.

 

Am nächsten Morgen weckten mich die Sonnenstrahlen gegen viertel acht. Das Fenster ging also nach Osten raus. Ich öffnete. Spätsommerliche Luft erfüllte den Raum. Nicht zu warm, nicht zu kalt. Vielleicht war alles halb so schlimm. Das Zimmer sah zwar immer noch wenig einladend aus, aber wenn ich es mir etwas einrichtete, ließ es sich vielleicht aushalten. Heute war journée d’accueil, an dem die Erasmus-Studenten von Einheimischen über den Campus geführt und bei den ersten organisatorischen Schritten unterstützt wurden. Ich würde mir auf dem Weg zur Uni ein Croissant und etwas zu trinken kaufen, statt im Wohnheim zu frühstücken. So konnte ich eher los und Sebastian aus dem Weg gehen. Doch der war ein Frühaufsteher. Als ich gegen acht aus dem Gebäude trat, erblickte ich meinen Kommilitonen bereits diskutierend an der Rezeption. Mein Versuch, mich unbemerkt vorbeizustehlen, misslang.

«Markus, warte! Ich komme mit.»

Wegrennen ging nicht. Dazu war ich nicht schnell genug. Und es war auch albern.

«Und, hast du gut geschlafen?»

«Ja.»

«Du, ich hab übrigens noch mal gefragt, wie das ist mit dem Protokoll. Die meinte, wir sollen uns keine Sorgen machen. Wenn wir das Zimmer nicht total beschädigen, dann bekommen wir auch keine Probleme.» Das klang fast so, als habe er sich in unser beider Namen erkundigt. Dann hatte er bei der Rezeptionistin gleich mal meinen Ruf ruiniert.

«Was aber doof ist, dass man für seine Freundin extra bezahlen muss, wenn die einen besuchen kommt. Man muss Besuch auch immer vorher anmelden.» Das konnte ich nicht glauben.

«Die hat dich verarscht. Wir leben doch nicht mehr in den Sechzigern.»

An der ersten Kreuzung bogen wir rechts in die Avenue du Loup ein.

«Doch! Warum sollte die das tun?» Da hatte er recht. Warum sollte die das tun?

Die Hochhäuser rückten in die zweite Reihe. Eine Apotheke, eine Fleischerei und dazwischen war ja auch schon eine Bäckerei. Das war natürlich scheiße, wenn man Besuch anmelden musste. Konnte ich gar nicht einfach so eine Frau mit auf mein Zimmer nehmen.

Ein Baguette kostete vier Franc. Ich nahm ein Croissant und ein Schokocroissant. Sebastian tat es mir nach. Nach der nächsten Biegung kam ein kleiner Casino-Supermarkt. Dort kaufte ich mir eine Flasche Wasser. Sebastian auch.

«Ich hatte sowieso vor, mir ein Zimmer in einer WG zu suchen. Also, die ganze Zeit wollte ich nicht im Wohnheim bleiben. Und wenn ich Josepha jetzt noch anmelden muss und extra bezahlen, dann mache ich das auf jeden Fall. Was hältst du von der Idee?»

«Die Idee finde ich gut.»

An der Ecke Avenue du Loup/Boulevard Tourasse war eine Lidl-Filiale. Die hätten wir auch in Berlin haben können.

«Dann können wir uns ja vielleicht auch zusammen eine Wohnung nehmen!» Auf keinen Fall.

«Ich bleib lieber im Wohnheim. Das ist billiger.»

Am liebsten hätte ich mir die Strecke vorher eingeprägt, aber mein Gedächtnis war in solchen Dingen bedauerlicherweise unzuverlässig, weshalb ich den Plan aus meinem Rucksack holen musste. Zum Glück war gerade niemand in der Nähe, dem so auffallen würde, dass ich neu in der Stadt war.

«Wir müssen da lang», deutete Sebastian nach links.

«Bist du sicher?»

«Ich kann mir sehr gut Karten merken.» Schnell verstaute ich den Plan wieder in meiner Tasche.

«Ich kann auch den größeren Teil der Miete übernehmen.»

«Nee. Da hätte ich immer ein schlechtes Gewissen und würde mich mies fühlen.» Das war natürlich nur vorgeschoben. Aber ich konnte Sebastian wohl kaum erklären, dass ich nicht mit ihm zusammenwohnen wollte.

 

Als wir um dreiviertel neun die Présidence der Universität erreichten, einen zweigeschossigen Rundbau mit weißer Fassade und langen Fensterzeilen, warteten bereits an die zwanzig Erasmus-Studenten in Grüppchen darauf, von den Franzosen unter die Fittiche genommen zu werden. Soweit ich es beobachten konnte, hatten sie sich brav nach Herkunft sortiert: am Eingang fünf Engländer, Schotten bzw. Iren; einer von ihnen, groß und schlaksig, hatte rot gefärbte Haare, trug eine Cordhose und erinnerte mich ein bisschen an Dirk von Lowtzow. Ein anderer, ein ziemlich kleiner mit rotem Basecap, schien südeuropäische Vorfahren zu haben. Zur selben Clique gehörten noch ein händchenhaltendes Pärchen, sie klein und etwas pummelig, er groß und schlank, beide sehr blasse Haut. Und eine Rothaarige mit Sommersprossen, großen Lippen, tiefem Ausschnitt, der ihren Vorbau betonte, und extrem kurzen Hosen. Unsere Landsleute bestanden nur aus Studentinnen: einer dunkelhaarigen, zierlichen Person; einer Übergewichtigen mit lockigen Haaren und Brille; einer Rothaarigen, recht großen; sowie fünf Blondinen. Wir waren die einzigen Jungen aus Deutschland. Zudem gab es zwei braunhaarige Mädchen, deren Herkunft ich nicht identifizieren konnte. Spanierinnen waren sie nicht. Und auch nicht aus Italien. Trotzdem eher Südeuropa. Vielleicht Portugal. Schließlich standen noch vier Studenten beisammen, die sich anschwiegen. Das konnten eigentlich nur Skandinavier sein.

Sebastian steuerte zielstrebig auf Kriemhild, Isolde, Ingeborg, Ute, Sieglinde, Heike, Gudrun – oder wie auch immer sie hießen – zu. Ich hielt ihn zurück.

«Lass uns mal hier bleiben!»

«Wieso denn?»

«Ich will mich nicht mit Deutschen anfreunden.»

Er schaute mich verwundert an.

«Dann entstehen soziale Verpflichtungen, die ich nur schwer wieder loswerde. Ich möchte hier Franzosen kennenlernen», erklärte ich etwas vage, denn eigentlich wollte ich vor allen Dingen Französinnen kennenlernen. «Um die Sprache zu verbessern. Jeder Kontakt zur Heimat ist da nur hinderlich.»

Mein Kommilitone nickte: «Das stimmt. Da hast du recht», und blieb bei mir stehen, obwohl er, wenn er den Gedanken zu Ende gedacht hätte, auf Abstand zu mir hätte gehen müssen.

Die Empfangsdelegation bestand aus Madame Lescaud, Marine, Cécile, Aurélie und Marc. Madame Lescaud, eine Frau Anfang vierzig mit kinnlangen, blonden Haaren und weiß gerahmter Brille, hieß uns auf Französisch herzlich willkommen und erklärte, dass wir von unseren Tutoren zunächst über den Campus geführt und diese uns anschließend die schönsten Ecken der Stadt zeigen würden. Die Zuteilung zu den Tutoren erfolgte über Abzählen, damit wir neu gemischt und mit Studenten aus verschiedenen Ländern unseren Rundgang beschreiten konnten. Sebastian durfte zu Marine. Mit ihrem Pony und ihrer blassblauen Bluse sah sie zwar ein bisschen brav aus, war aber alles in allem die Hübscheste aus der Runde. Sie hatte schöne Augen. Ich sollte zu Marc. Da wollte ich aber nicht hin. Denn der unsicher wirkende Kerl, der die ganze Zeit auf den Boden schaute, war unattraktiver als Marine und obendrein ein Junge.

«Je peux changer de groupe? – Kann ich die Gruppe wechseln?», wandte ich mich an Madame Lescaud. Ich war nicht der Einzige, der mit der Zuteilung nicht zufrieden war. Der mediterrane Engländer, der auch bei Marc gelandet war, hatte offenbar ebenfalls bereits ein Auge auf Marine geworfen.

«Pourquoi?», erkundigte sich Madame Lescaud nach dem Grund meines Ansinnens.

«Je veux être avec mon ami Sebastian. Je fais tout avec lui», erhob ich meinen Berliner Kommilitonen kurzerhand zu meinem engsten Freund. Diese Bemerkung kostete mich sehr viel Überwindung. Wahrscheinlich würde ich sie noch bereuen. Er klopfte mir freundschaftlich auf die Schulter. Madame Lescaud verdrehte die Augen. Mein Nebenbuhler kopierte mich einfach.

«Je veux aussi être avec ma petite-copine. C’est celle-là», gab er die pummelige Engländerin aus Marines Gruppe, die soeben noch die Hand ihres schlaksigen Typen gehalten hatte, als seine Freundin aus. Diese schien nicht zu verstehen.

«Die Gruppen sollen aber ungefähr gleich groß sein. Ein paar Stunden werden Sie sich von Ihrer Freundin und Sie von Ihrem Freund doch wohl trennen können!» Galten Sebastian und ich mittlerweile als schwules Pärchen?

Mein Konkurrent und ich schüttelten den Kopf. Der Mezzogiorno-Brite schlug der Engländerin in Marines Gruppe, zu der er eigentlich hatte wechseln wollen, vor, mit ihm zu tauschen, damit sie wieder mit ihrem Freund zusammen war. Sie willigte ein. Eine absurde Aktion. Nun hätte ich gleich noch Sebastian bitten können, mir ebenfalls seinen Platz zu überlassen. Doch Madame Lescaud schüttelte nur entnervt den Kopf. «Meinetwegen!» Sebastian freute sich.

Marine führte uns zunächst zu den verschiedenen Fakultäten. Unsere würde die literatur- und sprachwissenschaftliche sein, ein dreigeschossiger Bau mit dunklen Gängen und einem Innenhof, durch den sich steinerne Sitzgelegenheiten zogen. Dort sollten wir uns in den nächsten Tagen immatrikulieren, um einen Studentenausweis zu erhalten, und zu Beginn der kommenden Woche mit Hilfe unserer pädagogischen Berater unseren Stundenplan zusammenstellen. Die zweite Station war die Bibliothek des Fachbereichs Recht und Literatur, ein flaches Gebäude, das wie meine Fakultät eine Renovierung bitter nötig hatte. Danach ging es zur naturwissenschaftlichen Bibliothek, um die es nicht besser bestellt war. An das Clous, das Studentenwerk am nördlichen Rand vom Campus, wandte man sich in Wohnangelegenheiten. Wir beschlossen unseren Rundgang mit einem Besuch der drei Mensen, die sich großzügig über das weitläufige, mit großen Wiesen durchsetzte Uni-Areal verteilten, der Cafétéria Arlequin in der rechtswissenschaftlichen Fakultät, der Brasserie La Vague gegenüber der literatur- und sprachwissenschaftlichen Fakultät und dem riesigen Restaurant Universitaire am südlichen Ausläufer, gegenüber vom großen Parkplatz. Das Gespräch mit Marine suchte ich nicht. Sie sollte nicht annehmen, ich hätte die Gruppe ihretwegen gewechselt. Mein Gegenspieler – der tatsächlich eine italienische Mutter hatte – war plumper:

«Was kann man hier abends machen?»

«Es gibt das Hoegaarden. Da finden donnerstagabends immer gute Partys statt.»

«Was für Partys?»

«Karaoke-Partys.»

«Ah. Bist du da oft?» Er sprach wirklich ausgesprochen gut Französisch, fast ohne Akzent.

«Recht oft.»

«Und singst du auch?»

«Eigentlich nicht so.»

«Du singst bestimmt wunderschön.» Wie billig. Sie musste lachen. Sicherlich, weil ihr dieses plumpe Kompliment unangenehm war.

«Ich komm mir gerne mal anhören, wie du so singst.»

Sie musste wieder lachen. «Ich singe eigentlich nicht.»

«Aber was würdest du denn gerne singen? Liebeslieder? Romantische Lieder? Französische Lieder?»

«Meistens kommen Hits.»

«‹I can’t get you out of my mind› von Kylie Minogue?»

«Nee. Eher französische Hits.» Sie schüttelte verlegen den Kopf.

«Ich liebe französische Hits.» Wann würde er seine Arme um sie legen? Am liebsten hätte ich sie aus ihrer misslichen Lage befreit. Aber ich blieb besser im Hintergrund.

«Und wo gehst du sonst so hin?»

«Boulevard des Pyrénées und ins Durango. Das ist eine Disco. Aber ich gehe auch nicht ständig weg.»

«Wohnst du auch im Wohnheim?»

«Nein. Ich habe eine Einzimmerwohnung.»

Wenn sie uns anderen nicht immer wieder auch etwas über die Uni und die Stadt erzählt hätte, dann hätte sie vermutlich die ganze Zeit mit ihm reden müssen.

«Also, ich führe euch jetzt ins Zentrum und zeige euch noch ein paar Ecken, wo man abends ausgehen kann.» Wir verließen die Uni in Richtung Süden.

«Hier ist das Hoegaarden. Da kann man feiern.» Das Café hatte den Charme einer Autobahnraststätte. Südöstlich vom Hoegaarden standen Plattenbauten, auf der anderen Straßenseite ummauerte oder von riesigen Hecken geschützte Villen. Weiter südlich, auf dem Weg zum Zentrum, überwogen dreistöckige Bauten. Kein Haus war wie das andere. Offenbar hatten die Stadtplaner für jedes Bauwerk einen anderen Architekten gewählt und jeden darüber im Unklaren gelassen, was die Kollegen verzapft hatten. Die Bürgersteige waren schmaler als in Deutschland und oftmals zur Straße hin abfallend. Immer wieder sah man eine Pferdewettbar, einen Kiosk mit Kneipe, Restaurants, die tagsüber schlossen, kleine Supermärkte. Wir passierten eine Autowerkstatt, Waschcenter, Boulangerien. Dann ging es hinunter ins Quartier Hédas, dem in einer schmalen und länglichen Senke gelegenen Ausgehviertel für Studenten. Hier wurde Pau das erste Mal hübsch. Hier lag auch das Durango. Dann wieder bergan.

Der Halbitaliener wich nicht von Marines Seite.

«Was läuft im Durango für Musik?»

«Rock und Pop.»

«Cool. Ich mag Rock und Pop. Ich bin ein großer Rock- und Pop-Fan. Magst du auch Rock und Pop?»

«Ja.» Was hätte sie auch sonst antworten sollen? Sie war unsere Tutorin, sie musste nett zu uns sein.

Ich lief neben Sebastian, der unentwegt jeden Stein fotografierte, aber mich deswegen zumindest nicht zwang, mit ihm Gespräche zu führen. Im Centre Bosquet, einem Einkaufszentrum, gab es eine Fnac-Filiale. Hier in der Innenstadt häuften sich teurere Geschäfte, Versicherungen, Banken. Nach einem Abstecher zum burgähnlichen Schloss Heinrich IV. mündete unsere Tour bei einem Café crème im Café Russe auf dem Boulevard des Pyrénées. Vor uns lag das Gebirge, das Frankreich von Spanien trennte. Natürlich nahm mein Konkurrent neben Marine Platz. Ich erwischte den Platz auf ihrer anderen Seite.

«Es ist wirklich ein toller Blick hier. Wirklich toll.» Im Grunde hatte er recht. Aber musste man über so etwas mit einer Frau reden? Wie einfallslos!

«Find ich auch», stimmte ihm Marine pflichtschuldig zu.

«Da hast du wirklich was Tolles ausgesucht.» Man konnte auch übertreiben. Den Boulevard steuerte doch jeder Tourist gleich am ersten Tag an.

«Mich erinnert das ein bisschen an Neapel, wo meine Mutter herkommt. Kennst du Neapel?» Er fing an, ihr von Italien vorzuschwärmen. Ich kam gar nicht zu Wort. Dafür interessierte sich Sebastian nun wieder für mich:

«Findest du das nicht auch herrlich? Da kann man das Wohnheim gleich vergessen. Das ist Frankreich. C’est la vie.»

Der italobritische Flirtkönig wurde immer zudringlicher:

«Hast du italienische Vorfahren?»

«Nein, wieso?»

«Du siehst ein bisschen italienisch aus.»

«Wirklich? Echt?»

«So der Hauttyp. Und wegen deiner braunen Augen.»

«Meine Augen sind aber grün.» Sie schaute verwundert.

«Aber sie sehen ziemlich braun aus.» Sie hatte wirklich hübsche Augen. Und er ein hässliches T-Shirt: Cicieta Sportiva Calvio Napoli. Ich kam ja auch nicht mit einem Shirt von Hertha BSC.

Erst bei der Verabschiedung gelang es mir, mich bei Marine nach ihrer Handynummer zu erkundigen. «Falls ich noch Fragen zur Uni hab. Ich hab nämlich nicht alles verstanden vorhin», log ich. Ich würde mich natürlich nicht sofort bei ihr melden, sondern ein paar Tage verstreichen lassen. Diese Zurückhaltung würde sich wohltuend abheben von der aufdringlichen Art meines Rivalen, der sich die Nummer ebenfalls notierte. Ich konnte mir wirklich nicht vorstellen, dass er bei ihr Chancen hatte.

 

Zwei Tage später hatte ich Marine noch nicht angerufen, dafür aber mein Zimmer halbwegs eingerichtet. Ich besaß nun einen Teller, eine Tasse, Besteck, einen Topf, ein paar Lebensmittel und Toilettenpapier. Und ich hatte mir bei E. Leclerc, einem riesigen Supermarkt gegenüber vom Campus, einen CD-Player mit Radio besorgt, um so lange, wie ich noch keine Französin datete, zumindest mein passives Französisch zu trainieren. Dazu kam noch die Ausgabe für die tägliche Lektüre der L’équipe und von Le monde. Frankreich war teuer. Ich musste Geld abheben. Natürlich nicht allein. Sebastian war mir seit unserer Ankunft kaum von der Seite gewichen, abgesehen von den Momenten, in denen er mit Josepha telefonierte. Nun begleitete er mich auch zur Caisse-d’Epargne-Filiale ins Zentrum. Mir war keine Erklärung eingefallen, wieso er nicht hätte mitdürfen sollen. Außerdem mangelte es momentan an Alternativen. Die fette Schwarze im Zimmer 6 war keine Französin. Sie kam aus einem englischsprachigen Land. Der stille und freundlich grüßende Brillenträger mit der Carlos-Brille und der Gebetsmütze schräg gegenüber von Sebastian musste aus dem Maghreb sein. Die Gespräche mit Mehdi und Rachid, die oft vor der Treppe vom Bâtiment A abhingen, waren bisher nicht über die Fragen hinausgekommen, ob alle Deutschen schwul seien und ob ich ihren Puller lutschen wollte.

Bevor wir unsere Karten in den Automaten der Bank-Filiale gegenüber vom Centre Bosquet schoben, schlug ich vor: «Lass uns mal erst erkundigen, wie teuer hier die Gebühren sind!»