[1]
John Harris, The Somme. Death of a Generation (London, New York u.a.: White Lion Publishers: 1966), S. 68. Zu Ford und dem 1. Weltkrieg siehe das Nachwort zu Ford Madox Ford, Manche tun es nicht (Berlin: Galiani Berlin, 2018), wo das Thema in erweitertem biografischen und zeitgeschichtlichen Rahmen erörtert wird.
[2]
Vgl. Alan Judd, Ford Madox Ford (London: Collins, 1990), S. 257; Max Saunders, Ford Madox Ford. A Dual Life. 2 Bde. (Oxford/New York, 1996), Bd. I, S. 480–81. Im Folgenden: Saunders I oder II.
[3]
Ford Madox Ford, War Prose, ed. with an introduction by Max Saunders (Manchester: Carcanet, 1999), S. 37.
[4]
Vgl. Joachim Utz, »Verzweiflung und Metamorphose: Rupert Brooke, The Soldier«, in: Antike Tradition und Neuere Philologien. Symposium zu Ehren des 75. Geburtstages von Rudolf Sühnel. Hrsg. von Hans-Joachim Zimmermann (Heidelberg: Carl Winter Universitätsverlag, 1984), S. 197–220.
[5]
Ford Madox Ford, »Pon… ti… pri… ith«, in: War Prose. Ed. with an introduction by Max Saunders (Manchester: Carcanet, 1999), S. 34–35. »The sight of Flaubert’s house meant so much to him because Flaubert had always been one of the writers he admired most. Yet Ford describes his method of composition here in more modern terms: as an exercise in cubism. It was a combination of impressionism and hallucinatory collage that would become the stylistic principle of his post-war writing«, op. cit., S. 30. Die Sammlung War Prose gibt einen vollständigen Überblick über die während und nach dem Krieg entstandenen Schriften Fords über den 1. Weltkrieg. Vgl. Wilfred Owens Gedicht Hospital Barge.
[6]
Max Saunders, Ford Madox Ford. A Dual Life. 2 Bde. (Oxford/New York, 1996), Bd. II, S. 1.
[7]
Vgl. etwa Siegfried Sassoons bitteres Gedicht »The General« von 1917.
[8]
A.J.P. Taylor, The First World War. An Illustrated History (London: Hamish Hamilton, 1976), S. 101f.
[9]
Jörn Leonhard, Die Büchse der Pandora. Geschichte des Ersten Weltkriegs (München: Verlag C.H. Beck, ²2014), S. 278. Zum »Gegensatz der Waffenwirkungen« im 1. Weltkrieg Kap. IV.1, S. 265–282.
[10]
Vgl. A.J.P. Taylor, The First World War. An Illustrated History (London: Hamish Hamilton, 1976), S. 100f.
[11]
Vgl. Alan Judd, Ford Madox Ford (London: Collins, 1990), S. 278–281.
[12]
Alan Judd, Ford Madox Ford (London: Collins, 1990), S. 280f.
[13]
A.d.Ü.: David Lloyd George
[14]
Zitiert nach Alan Judd, Ford Madox Ford (London: Collins, 1990), 282f.
[15]
John Harris, op. cit., 36f. Douglas Haigs Souverän, König George V., besuchte in den vier Kriegsjahren über vierhundertmal die Truppen in Frankreich, über dreihundertmal Lazarette und einmal einen eroberten deutschen Graben. Bei einer Parade in Hesdin Ende Oktober 1915 scheute beim Überflug einer Ehrenschwadron der Royal Air Force das Pferd des Königs. Von den Folgen dieses Unfalls erholte er sich nie mehr. Hierzu: Kenneth Rose, King George V (London: Weidenfeld & Nicolson, 1983), S. 179–181.
[16]
Max Saunders, Ford Madox Ford. A Dual Life. 2 Bde. (Oxford/New York, 1996), Bd. II, S. 21.
[17]
Max Saunders, Ford Madox Ford. A Dual Life. 2 Bde. (Oxford/New York, 1996), Bd. II, S. 1f.
[18]
Ford Madox Ford, On Heaven and Poems Written on Active Service (London: John Lane, 1918).
[19]
Ford Madox Ford, Der Mann, der aufrecht blieb (Berlin: Galiani Berlin, 2018), Teil Zwei, Kapitel II
[20]
Alan Judd, Ford Madox Ford (London: Collins, 1990), S. 284. Siehe das Nachwort zu Manche tun es nicht (Berlin: Galiani Berlin, 2018).
[21]
Max Saunders, Ford Madox Ford. A Dual Life. 2 Bde. (Oxford/New York, 1996), Bd. II, S. 13.
[22]
Siehe das Nachwort zu Ford Madox Ford, Manche tun es nicht sowie Joachim Utz, »Der Erste Weltkrieg im Spiegel des deutschen und englischen Hassgedichts«, in: Kultur und Konflikt. Hrsg. v. Jan Assmann und Dietrich Harth (Frankfurt: Suhrkamp, 1990), S. 373–413. Hier seien nur zwei Beispiele zitiert: Heinrich Vierordt schreibt in der Welt am Sonntag vom 20.11.1915: »O du Deutschland, jetzt hasse; mit eisigem Blut,/Hinschlachte Millionen der teuflischen Brut,/Und türmten sich berghoch in Wolken hinein/Das rauchende Fleisch und das Menschengebein!//O du Deutschland, jetzt hasse geharnischt in Erz:/Jedem Feind einen Bayonettstich ins Herz!/Nimm keinen gefangen!, mach jeden gleich stumm,/Schaff zur Wüste den Gürtel der Länder ringsum.« Und der Tötungsaufruf des Dean of Durham, Herbert Hensley Henson, vom 8.12.1915: »Um die Freiheit der Welt zu verteidigen, um unsere politische Freiheit zu bewahren, um die Ehre der Frauen und Kinder zu schützen, ist jeder, der die Freiheit liebt und die Ehre, jeder, der Prinzipien höher als sein Wohlergehen hält, das Leben höher als bloß zu leben; alle diese sind in einem gewaltigen Kreuzzug vereint, um – es lässt sich nicht leugnen – Deutsche zu töten, nicht um des Tötens willen, sondern um die Welt zu erretten, den guten wie den schlechten Deutschen, die jungen wie die alten und auch jene, die zu unseren Verwundeten freundlich waren ebenso wie jene Teufel, die den kanadischen Soldaten kreuzigten, jene, die die Massaker an den Armeniern überwachten, jene, die die Lusitania versenkten und jene, die ihre Maschinengewehre auf die Zivilisten von Aerschot und Louvain richteten; sie allesamt zu töten, auf dass nicht die menschliche Zivilisation selbst getötet werde.«
[23]
Max Saunders, Ford Madox Ford. A Dual Life. 2 Bde. (Oxford/New York, 1996), Bd. II, S. 22.
[24]
Zitiert nach Max Saunders, Ford Madox Ford. A Dual Life. 2 Bde. (Oxford/New York, 1996), Bd. II, S. 24.
[25]
Zitiert nach Alan Judd, Ford Madox Ford (London: Collins, 1990), S. 287.
[26]
Ford Madox Ford, War Prose, ed. with an introduction by Max Saunders (Manchester: Carcanet, 1999), S. 37; S. 41.
[27]
Vgl. Max Saunders, Ford Madox Ford. A Dual Life. 2 Bde. (Oxford/New York, 1996), Bd. II, S. 197.
[28]
Max Saunders, Ford Madox Ford. A Dual Life. 2 Bde. (Oxford/New York, 1996), Bd. II, S. 198.
[29]
Ford Madox Ford, »A Day of Battle«, in: War Prose, ed. with an introduction by Max Saunders (Manchester: Carcanet, 1999), S. 36f.
[30]
Ford Madox Ford, »A Day of Battle«, in: War Prose, ed. with an introduction by Max Saunders (Manchester: Carcanet, 1999), S. 37.
[31]
Henri Barbusse, Under Fire. Translated by W. Fitzwater Wray; Introduction by Brian Rhys (London: Dent, 1974), S. 1–4; und Kapitel 20, »Under Fire«, S. 255. Vgl. Wilfred Owen, Gedichte. Zweisprachig. Übersetzt, mit einer Einleitung und Anmerkungen von Joachim Utz (Heidelberg: Mattes Verlag, ²2014), S. 120; S. 179f.
[32]
Ford Madox Ford, »A Day of Battle«, in: War Prose, ed. with an introduction by Max Saunders (Manchester: Carcanet, 1999), S. 38.
[33]
Ford Madox Ford, »Epilogue«, in: War Prose, ed. with an introduction by Max Saunders (Manchester: Carcanet, 1999), S. 59f.
[34]
Jens Malte Fischer, »Die letzten Tage der Vernunft. Der Erste Weltkrieg und die Intellektuellen«, in: Die letzten Tage der Menschheit. Bilder des Ersten Weltkrieges. Hrsg. v. Rainer Rother (Deutsches Historisches Museum; Berlin: Ars Nicolai, 1994), S. 53f.
[35]
Cora Stephan, »Der große Krieg und das kurze Jahrhundert«, in: Die letzten Tage der Menschheit, S. 29.
[36]
Zur Entstehungsgeschichte von No Enemy siehe: No Enemy: A Tale of Reconstruction. Ed. with an Introduction by Paul Skinner (Manchester: Carcanet, 2002), S. XI–XIV.
[37]
Auch in Siegfried Sassoons Memoirs of a Fox-Hunting Man (1928) wird sehr wirkungsvoll die Regelhaftigkeit und pastorale Einbettung eines Cricket-Spiels mit dem aus Nordfrankreich über den Ärmelkanal bis nach Kent dringenden Donner der Kanonen kontrastiert.
[38]
Ford Madox Ford, No Enemy: A Tale of Reconstruction. Ed. with an Introduction by Paul Skinner (Manchester: Carcanet, 2002), S. 101.
[39]
Ford Madox Ford, No Enemy: A Tale of Reconstruction. Ed. with an Introduction by Paul Skinner (Manchester: Carcanet, 2002), S. 45. Zum Thema der Desensibilisierung vgl. Wilfred Owens Gedicht Insensibility.
[40]
Ford Madox Ford, No Enemy: A Tale of Reconstruction. Ed. with an Introduction by Paul Skinner (Manchester: Carcanet, 2002), S. 131.
[41]
Max Saunders, Ford Madox Ford. A Dual Life. 2 Bde. (Oxford/New York, 1996), Bd. II, S. 199f.
[42]
Ford Madox Ford, No More Parades (London: Duckworth, 1925), S. 7f.
[43]
Ford Madox Ford, War Prose, ed. with an introduction by Max Saunders (Manchester: Carcanet, 1999), S. 199f.
Das englische Original erschien unter dem Titel »A Man Could Stand Up« im Jahr 1926 bei Duckworth & Co in London.
Im Sinne der Originaltreue wurden bei der Übersetzung gewisse systematische und grammatikalische Inkonsistenzen in Kauf genommen.
Langsam, unter unerträglichem Lärm teils von der Straße, teils aus dem großen, mächtig widerhallenden Schulhof, begann in Valentines Wahrnehmung das Innere des Telefons sich in etwas zu verwandeln, wofür sie es schon vor Jahren gehalten hatte – in ein Teil des übernatürlichen Zubehörs des unerforschlichen Schicksals.
Es war auf subtile Weise beunruhigend, dass das Telefon völlig frei in einer Ecke des großen Schulraums stand, an das sie, in einem Augenblick großer Anspannung, mit höchster Dringlichkeit vom asphaltierten Schulhof gerufen worden war – wo die unter ihrer Anleitung in Reihen aufgestellten und wie unter elektrischer Hochspannung stehenden Mädchen gerade noch hatten im Zaum gehalten werden können. Und kaum hatte Valentine den Hörer am Ohr, wurde sie von einer Stimme, die ihr halbwegs bekannt vorkam, mit unverständlichen Mitteilungen überschwemmt. Mitten in einem Satz versetzte es ihr einen Stoß: »… dass er voraussichtlich unter Aufsicht gestellt werden müsse, was Ihnen nicht gefallen dürfte!« Danach explodierte der Lärm wieder und die Stimme ging darin unter.
Eigentlich, dachte sie, müsste in diesen Minuten die ganze Welt unter Aufsicht stehen; das galt, wie ihr bewusst war, auch für sie selbst. Aber einen männlichen Verwandten, auf den speziell dieses Urteil gemünzt sein mochte, hatte sie nicht. Ihr Bruder? Der war auf einem Minenräumboot. Das lag derzeit im Dock. Und jetzt … endgültig in Sicherheit! Es gab da auch einen alten Großonkel, den sie nie gesehen hatte. War irgendwo Domdechant … In Hereford? Oder Exeter? … Irgendwo … Hatte sie eben Sicherheit gesagt? Sie wankte vor Glück!
Sie sagte in die Sprechmuschel:
»Valentine Wannop am Apparat … Leibeserzieherin an dieser Schule, hören Sie?«
Sie musste den Eindruck erwecken, bei gesundem Verstand zu sein … zumindest vernünftig wollte sie klingen!
Die Stimme im Telefon, an die sie sich, zu ihrer Qual, nur vage erinnern konnte, wartete jetzt mit weiteren Unverständlichkeiten auf. Sie klang, als käme sie aus einer Höhle und spräche mit atemloser Schnelligkeit jedes »S« so übertrieben aus, als wollte sie vor Angriffslust spucken.
»Sssein Bruder hat Lungenentzündung; nicht einmal sseine Mätresssse kann ssich um ihn kümmern …«
Dann war die Stimme weg; dann kam sie wieder mit dem Satz:
»Sie sollen jetzt Freunde sein!«
Dann wurde sie eine ganze Weile lang von einem Meer schriller Mädchenstimmen aus dem Schulhof und von einem Ozean heulender Fabriksirenen überflutet, begleitet von unzähligen, dicht aufeinanderfolgenden Explosionen. Woher, in aller Welt, hatten die Bewohner dieser hässlichen Vorstadtstraßen, in deren Mitte die Schule lag, diese Knallkörper? Und wo kriegten sie den Alkohol, dass sie diesen wahnsinnigen Krawall machen konnten? Langweilige Leute! Hausten in leberbraunen Schachteln. Auf den ersten Blick keine imperiale Rasse.
Er habe, stieß die zischende Stimme voller Verachtung aus, nach Aussage des Portiers keinerlei Möbel und scheine den Portier nicht wiederzuerkennen … Unwahrscheinlich klingende, von den Geräuschen von draußen halb überlagerte Mitteilungen, doch in einem Ton, dass zu vermuten war, das Gesagte solle wehtun.
Dennoch war es unmöglich, es nicht von der fröhlichen Seite zu nehmen. Dort drüben, viele Meilen entfernt, schien dieses Ding unterzeichnet worden zu sein – vor wenigen Minuten. In ihrer Vorstellung sah sie eine endlose Reihe böser, übellauniger Kanonen zum letzten Mal feuern.
»Ich habe keine Ahnung«, brüllte Valentine Wannop in die Sprechmuschel, »was Sie wollen oder wer Sie sind.«
Sie bekam einen Titel zurück … Lady Irgendwer … Hätte Blastus sein können. Möglich, überlegte sie, dass eine der Damen des Schulvorstands zur Feier dieses Glückstages eine sportliche Veranstaltung in der Schule anordnen möchte. Die eine oder andere dieser Damen wollten immer etwas von der Schule gefeiert sehen. Zweifellos hatte die Direktorin, der es nicht an Sinn für Humor fehlte – zumindest nicht gänzlich! –, diese titeltragende Dame, der sie eine halbe Stunde lang geduldig zugehört hatte, an Valentine Wannop übergeben. Bestimmt hatte die Direktorin jemanden auf den Schulhof geschickt, wo sie alle den Atem angehalten hatten, und Valentine Wannop mitteilen lassen, dass am Telefon eine Person war, der, wie Miss Wanostrocht, die besagte Direktorin, glaubte, Miss Wannop besser zuhören sollte … Und das hieß: Miss Wanostrocht musste verstanden haben, was die jetzt nicht identifizierbare Dame mit dem Titel gesagt hatte. Das war freilich schon zehn Minuten her … Bevor die Kanonenschläge oder die Sirenen oder sonst was, losgegangen waren … »Der Pförtner sagte, er habe überhaupt keine Möbel … Er schien den Pförtner nicht zu erkennen … Sollte wohl unter Aufsicht gestellt werden!« Valentines Hirn rekapitulierte die Informationen von dieser (einstweiligen) Lady Blastus. Sie vermutete jetzt, dass die Sorgen dieser Lady dem pensionierten Drill-Sergeant galten, den die Schule hatte, bevor man sie, Valentine, als Leibeserzieherin anheuerte. Sie sah den ehrwürdigen, mummelnden Gentleman vor sich, mit den Ordensbändern auf seiner schwarzen Dienstmannsuniform. Lebte vermutlich in einem Altersheim, in dem der Schulvorstand ihn untergebracht hatte. Bestimmt hatte er seine Möbel verpfändet …
Eine fiebrige Hitze erfasste Valentine Wannop. Sie glaubte, dass ihre Augen Blitze schleuderten. War das der Augenblick?
Sie wusste nicht einmal, ob das, was man da alles losgelassen hatte, Kanonenschläge oder Flugzeuggeschütze oder Sirenen waren. Der Krach – wodurch immer – war ausgebrochen, während sie durch den unterirdischen Gang vom Schulhof zum Schulraum ging, um sich mit diesem heimtückischen Telefon einzulassen. Deshalb hatte sie das Signal nicht gehört. Sie hatte das Signal verpasst, auf das die Ohren einer ganzen Welt seit Jahren gewartet hatten, seit einer Generation. Seit einer Ewigkeit. Kein Signal. Als sie den Schulhof verlassen hatte, war es totenstill gewesen. Alle hatten gewartet: Mädchen, die sich mit der Gummisohle des einen den Knöchel des anderen Fußes rieben …
Demnach würde sie sich für den Rest ihres Lebens nicht daran erinnern können, wie eine ungeahnte Glücksempfindung Millionen erwartungsvoller Menschen jäh durchzuckte. Außer ihr gäbe es niemand, der sich nicht daran würde erinnern können … Vermutlich an ein stichartiges Zucken des Herzens; vermutlich an ein Atemschöpfen, das sich wie das Einatmen einer Flamme anfühlte! Das war jetzt vorbei; inzwischen befand man sich in einer Situation, in einer Verfassung, die gewisse Dinge auf gewisse Weise beeinflussen würden …
Sie erinnerte sich, dass der mutmaßliche ehemalige Drill-Sergeant einen Bruder hatte, der an Lungenentzündung litt, dessen Mätresse aus diesem Grund nicht zur Verfügung stand …
Gerade wollte sie zu sich sagen:
»So geht’s mir immer!«, als sie sich gut gelaunt erinnerte, dass ihr dergleichen gar nicht oft passierte. Im Großen und Ganzen hatte sie Glück gehabt – mit Höhen und Tiefen. Auch viel Angst zu einer bestimmten Zeit – aber wer hatte die nicht gehabt! Aber robuste Gesundheit; eine Mutter von robuster Gesundheit; einen Bruder, der jetzt in Sicherheit war … Sorgen, ja! Aber nichts, was dermaßen schiefgelaufen war …
Es war wirklich außergewöhnliches Pech! Vielleicht war es ein Omen – dafür, dass in Zukunft auch andere Dinge schieflaufen würden: dafür, dass sie auch andere universelle Erfahrungen versäumen würde. Nie heiraten, zum Beispiel; oder nie das Glück erfahren, ein Kind zu gebären, wenn das ein Glück war! Was es ja vielleicht war, vielleicht aber auch nicht. Die Meinungen darüber gingen auseinander. Auf jeden Fall sollte es, bitte, kein Omen dafür sein, dass sie einige universelle und notwendige Erfahrungen versäumen würde! Nie Carcassonne sehen, wie die Franzosen sagten. Vielleicht würde sie nie das Mittelmeer sehen. Man war kein richtiger Mensch, ohne das Mittelmeer gesehen zu haben; das Meer des Tibull, der Anthologisten, sogar Sapphos … Blau: unglaublich blau!
Die Leute könnten jetzt wieder reisen. Es war unglaublich! Unglaublich! Unglaublich! Aber man könnte. Nächste Woche! Man könnte ein Taxi rufen! Und sich nach Charing Cross fahren lassen! Und einen Gepäckträger mieten! Einen ganzen Gepäckträger! … Die Flügel, die Flügel einer Taube; dann würde ich fortfliegen, fortfliegen und Granatäpfel essen neben einer unendlichen Badewanne voller Blau wie in der Waschmittelreklame. Unglaublich, aber das könnte man.
Sie fühlte sich wieder wie achtzehn. Keck! Unter Einsatz ihrer kräftigen, metallisch klingenden Cockneystimme, mit der sie auf Frauendemonstrationen Störer niedergeschrien hatte, bevor … bevor dieser … Laut schrie sie ins Telefon:
»Passen Sie auf, egal wer Sie sind! Vermutlich haben sie es geschafft. Hat man es, wo Sie wohnen, mit Kanonenschlägen oder Sirenen verkündet?« Sie wiederholte es drei Mal, und es war ihr egal, ob Lady Blastus oder sonst eine Lady Blast am anderen Ende war. Sie war entschlossen, diese alte Schule zu verlassen und im Schatten des Felsens, wo Penelope, Gattin des Odysseus, ihre Wäsche wusch, Granatäpfel zu essen. Mit ganz viel Blau im Wasser! Ob in jener Gegend die Unterwäsche durch die Farbe des Meeres einen Blaustich bekam? Könnte sein! Sie könnte! Sie könnte! Dorthin könnte sie gehen, mit ihrer Mutter und ihrem Bruder, dorthin, wo man … Oh ja, neue Kartoffeln essen könnte! Im Dezember, wenn das Meer besonders blau ist … Welche Gesänge die Sirenen sangen und ob …
Keiner Lady würde sie mehr Respekt bezeigen. Obwohl sie eine finanziell unabhängige junge Frau war, war sie bis heute dazu gezwungen gewesen, um der Schule und Miss Wanostrocht mit ihren Vorstandsdamen nicht zu schaden. Jetzt aber … Niemals wieder würde sie irgendjemandem Respekt bezeigen. Sie war durch die Mühle gedreht worden: Die ganze Welt war durch die Mühle gedreht worden! Nie mehr Respekt!
Wie sie sich hätte denken können, bekam sie prompt eins aufs Dach – für ihre Forschheit!
Die zischende, bitterböse Stimme aus dem Telefon nannte genau jene Adresse, die sie nicht hören wollte:
»Lincolnssss … Inn!«
Es klang wie Sünde! … Wie der Teufel!
Es tat weh.
Die grausame Stimme sagte:
»Ich ssspreche von dort!«
Beherzt sagte Valentine:
»Schön; ist ein großer Tag. Vermutlich werden Sie genau wie ich von dem Jubel gestört. Ich versteh nicht, was Sie sagen. Ist auch egal. Sollen sie jubeln!«
Genauso fühlte sie sich. Was nicht hätte sein dürfen.
Die Stimme sagte:
»Sie erinnern sich an Ihren Carlyle …«
Sie hörte es mit Widerwillen. Den Hörer ans Ohr gepresst, schaute sie in dem großen Schulraum umher, der Aula – so gebaut, dass tausend Mädchen schweigend darin sitzen konnten, während die Direktorin ihre Reden hielt, denen diese Schule ihren besonderen Ruf verdankte. Repressiv! … Mit seinen hohen, nackten Wänden und den gotischen Fenstern, die bis unter die mit Pitchpine verkleidete Decke hinaufreichten, glich der Raum einer freikirchlichen Kapelle. Repression suggerierte dieser Ort; genau der Ort, an dem man heute nicht sein durfte … Auf der Straße hätte man sein müssen, Polizisten mit Schweinsblasen was auf die Helme geben. Das war Cockney London: So drückte Cockney London sich aus. Gutmütig Polizisten verkloppen, weil sie steif waren und peinlich berührt von diesen massenhaften Sympathiebezeugungen, hin und her geschoben von jubelnden Massen, über deren Köpfe hinweg sie ihre Blicke schweifen ließen, unnahbar wie von gemeineren Gewächsen bedrängte Pappeln.
Sie aber war hier, und irgendjemand erinnerte sie an Thomas Carlyles Verdauungsstörungen!
»Oh!«, rief sie in das Gerät. »Edith Ethel, du!« Edith Ethel Duchemin, jetzt natürlich Lady Macmaster! Aber es war ungewohnt, an sie als an eine Lady Soundso zu denken.
Die letzte Person auf der Welt, die absolut letzte! Es war nämlich schon sehr lange her, dass sie ihr Verhältnis zu Edith Ethel als beendet betrachtet hatte. Und es war unbezweifelbar, dass sie von sich aus keinen Schritt auf die in den Adelsstand erhobene Person würde zugehen können, die rachsüchtig alles missbilligte, was, sozusagen, in finsterer Absicht und unter schwarzen Schatten entstanden war. Alles, was nicht von unmittelbarem Nutzen für Edith Ethel war!
Und in ihren feinen Gewändern an dem mageren Körper hatte sie für jede Gelegenheit ganze Listen passender Zitate parat. Rossetti für die Liebe; Browning für Optimismus – was eher selten der Fall war; mit Walter Savage Landor wurde Vertrautheit mit etwas entlegenerer Prosa demonstriert. Und das Carlyle-Zitat, das nie ausblieb, wenn es galt, Ausschweifungen zu unterbinden: zum Neujahrstag, zu Gottesdiensten, Siegesfeiern, Geburtstagen, festlichen Anlässen … Eben kam das Zitat durch die Leitung:
»… Und dann erinnerte ich mich, dass es der Geburtstag ihres Erlösers war!«
Wie gut Valentine es kannte: Wie oft hatte Edith Ethel es mit verächtlicher Selbstgefälligkeit rezitiert. Es war eine Passage aus dem Tagebuch des Weisen von Chelsea, der in der Nähe der großen Kaserne wohnte.
»Heute«, so lautete das Zitat, »fiel mir auf, dass die Soldaten vor dem Wirtshaus an der Ecke betrunkener waren als sonst. Und dann erinnerte ich mich, dass es der Geburtstag ihres Erlösers war!«
Wie vornehm es doch von dem Weisen von Chelsea war, sich bis zu diesem Augenblick nicht zu erinnern, dass Weihnachten war! Auch Edith Ethel versuchte ihre vornehme Überlegenheit zu demonstrieren. Sie wollte beweisen, dass erst Valentine Wannop sie, Lady Macmaster, darauf aufmerksam gemacht hatte, dass dieser Tag etwas Volksfestartiges hatte, was ihr, Lady Mac, bis dahin nicht bewusst geworden war. Wirklich nicht bewusst. Gemeinsam mit Sir Vincent – dem bekannten Kritiker – lebte sie in selbstversunkener Zurückgezogenheit. Und weil beider Sinn auf die höheren Dinge gerichtet war, achteten sie nicht der Kanonenschläge und verfügten inzwischen über eine wirklich bemerkenswerte Sammlung von Erstausgaben, von befreundeten Titelträgern und berühmten Häusern.
Andererseits erinnerte sich Valentine, einst zu Füßen dieser dunkel-geheimnisvollen Edith Ethel Duchemin gesessen zu haben – wohin war alles das entschwunden? –, Anteil an ihrem ehelichen Martyrium genommen und an ihrem beeindruckenden Möbelgeschmack, ihren stattlichen Räumlichkeiten und ihren spirituellen Ehebrüchen Gefallen gefunden zu haben. Deshalb sagte sie gutmütig ins Gerät:
»Wie du dir gleich geblieben bist, Edith Ethel! Was kann ich für dich tun?«
Über die gutmütige Herablassung in ihrer Stimme staunte sie ebenso wie über die Leichtigkeit, mit der sie ihr über die Lippen kam. Dann merkte sie, dass der Lärm sich entfernt hatte, dass Stille eintrat und die Rufe und Schreie weniger wurden, sich zu einer weiter entfernten Menschenansammlung bewegten. Die Stimmen der Mädchen auf dem Schulhof gab es nicht mehr: Die Direktorin musste sie entlassen haben. Man konnte auch verstehen, dass die Bewohner der Nebenstraßen irgendwann keine Knallkörper mehr abfeuern wollten … Sie war allein, fand sich einsam inmitten von etwas völlig Unvorhergesehenem!
Lady Macmaster hatte sie aufgespürt, und sie, Valentine Wannop, sprach mit Lady Macmaster in diesem herablassenden Ton! Warum? Was mochte Lady Macmaster von ihr wollen? Unmöglich – aber natürlich war es nicht unmöglich – konnte sie mit dem Gedanken spielen, Macmaster zu betrügen, und sie, Valentine Wannop, benötigen, den unschuldigen, jungfräulichen, dummen Anstandswauwau oder die Jüngerin zu spielen. Oder Alibi zu sein. Was auch immer. Dumme Gans passte wohl am besten … Zweifellos war Macmaster der Typ, dem jede Lady Macmaster gerne untreu wäre – ja, sein müsste. Ein kleiner, kraftloser, tadelsüchtiger, winselnder Kerl mit dunklem Bart. Der typische Kritiker! Wahrscheinlich betrogen alle Kritikerfrauen ihre Männer. Ihnen fehlte die schöpferische Gabe. Wie sagte man doch dazu? Es war ein Wort, das nicht in den Mund einer jungen Dame gehörte!
Wie ein Cockney-Schulmädchen ließ sie ihren Gedanken freien Lauf. Sie konnte es nicht abstellen. Es geschah zur Ehre dieses TAGES! Einstweilen verhindert, Polizisten was auf den Kopf zu hauen, gab sie sich respektlosen Gedanken über etablierte Autoritäten hin – über Sir Vincent Macmaster, Erster Sekretär im Statistischen Amt seiner Majestät, Autor der Kritischen Monografie über Walter Savage Landor sowie zweiundzwanzig weiterer Kritischer Monografien in der Reihe Die Großen Langweiler … Solcher Bücher! Und entsprechend respektlos und herablassend war sie zu Lady Macmaster, der Muse unzähliger schottischer Schriftsteller! Kein Respekt mehr! Sollte das eine bleibende Nachwirkung des Kataklysmus sein, der die ganze Welt in Mitleidenschaft gezogen hatte? Des letzten Kataklysmus! Gott sei Dank konnte man ihn seit zehn Minuten als den letzten Kataklysmus bezeichnen!
Sie kicherte doch tatsächlich vor dem Telefon, aus dem jetzt drängend, schmeichelnd, die Stimme Lady Macmasters tönte und sagte – als sei ihr bewusst, dass Valentine nicht recht bei der Sache war:
»Valentine! Valentine! Valentine!«
»Ich höre!«, sagte Valentine gleichgültig.
Was nicht wirklich zutraf. In Wirklichkeit überlegte sie, ob in der Lehrerinnenkonferenz, die an diesem Morgen feierlich im Privatzimmer der Direktorin stattgefunden hatte, nicht doch mehr Verstand gewaltet hatte. Zweifellos hatten die Lehrerinnen mit der Direktorin an der Spitze befürchtet, die Welt werde in Scherben fallen, sollte man ihnen, den Direktorinnen, den Lehrerinnen, den Lehrern, den Pastoren – die mich erschufen, und so weiter und so fort! – keinen Respekt mehr entgegenbringen, weil auf einen Kanonenschlag hin Orgien ausbrachen! Eine schreckliche Vorstellung! Mädchen, die nicht mehr stumm in der Nonkonformisten-Kapelle saßen, während die Direktorin eine Rede voller Ermahnungen an sie richtete …
Erst am vergangenen Nachmittag hatte sie in jener Aula eine Rede gehalten, die den Satz »Das Ansehen einer großen Privatschule« enthielt und in der sie, eine blonde, magere Frau mit eckigen Ellbogen, der ein wenig Sonne in ihr zu einem Knoten geschlungenes blondes Haar schien, ernsthaft die Mädchen ersucht hatte, die Freudenbezeigungen des vorausgegangenen Tages nicht zu wiederholen. Am Tag zuvor hatte es nämlich einen falschen Alarm gegeben, und die ganze Schule – wie grässlich – hatte gesungen:
»Hängt Kaiser Willi am Apfelbaum auf
Und bis zum Tee ist’s mit ihm Aus, Aus, Aus!«
In ihrer heutigen Rede gab sich die Direktorin überzeugt, eine geläuterte Schule vor sich zu haben, eine Schule, die sich jedenfalls töricht fühlte, weil das Gerücht vom Vortag sich als Falschmeldung erwiesen hatte. Folglich schärfte sie den Mädchen ein, welche Art von Freude sie zu empfinden hätten, nämlich eine gedämpfte Freude, geeignet, sie still nach Hause gehen zu lassen. Das Blutvergießen sei beendet worden: ein angemessener Grund zu häuslicher Freude – gleichsam eine Hausaufgabe. Es dürfe kein Triumphgeschrei geben. Gerade die Tatsache, dass man die Feindseligkeiten beendet habe, schließe Triumphgeschrei aus.
Valentine überraschte sich bei der Überlegung, wann überhaupt es statthaft sein könnte, Triumph zu empfinden? … Solange nicht, solange noch miteinander gerungen wurde; und nicht, wenn man gesiegt hatte! Wann dann? Die Direktorin erklärte den Mädchen, als zukünftige Mütter Englands – nein, eines wiedervereinten Europa! – sei es ihr Amt, ihre Hausaufgaben zu machen, anstatt mit Karikaturen des Großen Besiegten auf den Straßen herumzulaufen! Sie bezeichnete es als ihre Aufgabe, mehr vom Licht einer weiblichen Kultur – die zu vergessen ihnen hier, dem Himmel sei Dank, nie erlaubt worden sei! – über einen sich wieder erhellenden Kontinent auszugießen … Als könne man jetzt einfach die Lichter wieder anschalten, nachdem nichts mehr von U-Booten oder Luftangriffen zu befürchten war!
Und Valentine hätte gerne verstanden, warum sie einen aufrührerischen Augenblick lang gerne Triumph empfunden hätte … warum sie bei irgendjemanden gerne Triumphgefühle bemerkt hätte. Er … sie alle … hatten es sich doch so heiß gewünscht. Durften sie nicht wenigstens einen Augenblick lang Triumph empfinden – einen Feiertag lang! Auch wenn es falsch war? oder vulgär? Etwas Menschliches, hatte mal jemand gesagt, sei wichtiger als ein ganzer Wald von Gesetzestafeln!
Doch auf der Lehrerinnen-Konferenz an jenem Morgen war Valentine aufgegangen, dass das, wovor sie sich wirklich fürchteten, jener neue Ton war. Die Furcht hatte sehr klare Konturen. Wenn an dieser Wegscheide, an diesem Riss durch die Tafel der Geschichte, die Schule – die Welt, die zukünftigen Mütter Europas – außer Kontrolle gerieten – würden sie sich je wieder führen lassen? Davor hatte die Regierung – hatten alle Regierungen der Welt Angst. Davor fürchteten sie sich mehr als vor irgendetwas sonst. War das Verschwinden von Respekt denn wirklich etwas Unmögliches? Respekt weder für verfasste Autorität noch geheiligten Brauch?
Und während sie sich die Befürchtungen dieser gramgebeugten, unterernährten Damen anhörte, war Valentine Wannop ins Grübeln verfallen.
»Kein Respekt mehr … Für den Äquator! Für das metrische System. Für Sir Walter Scott! Oder George Washington! Oder Abraham Lincoln! Oder das siebente Gebot!«
Sie errötete bei der Vorstellung, wie die blonde scheue Miss Wanostrocht mit ihren eckigen Ellbogen – die Direktorin! – den trügerischen Schmeicheleien eines Verführers erlag! … Genau hier drückte der Schuh! Jetzt kam es darauf an, die Zügel in der Hand zu behalten – bei den Mädchen, der Bevölkerung, bei jedermann! Niemand konnte wissen, wohin dich diese Massen gleich einer riesigen Meereswoge spülen würden, ließe man jetzt locker. Nur der Himmel wusste es! Unvorstellbares könnte sich ereignen – dass Adelsfamilien unter die Händler gingen, dass Gentlemen Geschäftemacher wurden! Das Undenkbare würde eintreten!
Mit ein wenig verstohlener Freude wurde Valentine klar, dass diese Konferenz im Begriff war zu beschließen, dass die Mädchen an diesem Morgen auf dem Schulhof beschäftigt werden sollten – mit Leibesübungen. Sie hatte sich nie viel Herablassung von dem humanistisch orientierten Zweig des Establishments mit den nachlässigen Frisuren gefallen lassen. Doch als die perfekte Klassizistin, die sie einmal gewesen war, hatte sie anerkennen müssen, dass von den an der Schule unterrichteten Fächern die humanistischen das waren, was unter den Waffengattungen die Kriegsmarine war. Sie war dort nur, um ihren Beitrag zu leisten – weil ihr berühmter Vater besonderen Wert auf die Ertüchtigung ihres Körpers gelegt hatte, der kraftvoll und bewunderungswürdig war. Nur um ihren Beitrag zu leisten war sie eine Zeit lang dort gewesen – wie die Arbeiterinnen in der Rüstungsindustrie und dergleichen –, war aber dennoch immer bescheiden geblieben und hatte bis jetzt noch nie auf einer Lehrerinnenkonferenz die Stimme erhoben. Die Welt war wirklich auf den Kopf gestellt – schon jetzt! –, als Miss Wanostrocht hinter ihrem von zwei blassrosa Nelken geschmückten Schreibtisch hervor hoffnungsvoll sagte:
»Der Plan, Miss Wannop, ist der, sie – also dass Sie sie, bitte, – so gut es geht in – kann man so sagen? – Grundstellung halten, bis die – äh – Geräusche … den … na, Sie wissen schon, verkünden. Wir stellen uns vor, dass sie daraufhin, sagen wir, dreimal »Hurra« rufen. Dann könnten Sie sie vielleicht – in geordneter Weise – zurück in ihre Klassenzimmer führen …«
Valentine war sich keineswegs sicher, ob sie es könnte. In Wirklichkeit war es nicht möglich, jedes einzelne von sechshundert in Reihen aufgestellten Mädchen im Auge zu behalten. Gleichwohl war sie bereit, es zu probieren. Sie war bereit einzuräumen, dass es vielleicht nicht gänzlich – nun ja – ratsam! wäre, sechshundert vor Aufregung völlig verrückte Mädchen auf die Straßen zu lassen, die bereits voller Leute waren, die zweifelsohne ebenfalls völlig verrückt vor Aufregung sein würden. Wenn die Möglichkeit dazu bestand, war es besser, sie auf dem Schulgelände zu halten. Sie würde es probieren. Und sie fand Gefallen an der Idee. Sie fühlte sich in guter Form: in erstaunlich guter Form! In einer Form, um die Viertelmeile in … oh, in jeder beliebigen Zeit zu laufen? Und jedem groß gewachsenen schwierigen Mädchen jüdischen – oder auch angloteutonischen – Typs eins auf die Backe zu geben, das versuchen sollte auszuscheren. Was mehr war als alles, wozu die Direktorin oder irgendeine der anderen bedenkentragenden und unterernährten Damen in der Lage gewesen wären. Es freute sie, dass sie das erkannten. Und großzügigerweise sah sie ein, dass die Welt besser nicht auf den Kopf gestellt werden sollte, wenigstens so lange nicht, bis keine Kanonenschläge mehr krachten; deshalb sagte sie:
»Natürlich will ich es probieren. Aber was die Aufrechterhaltung der Ordnung betrifft, so würde es eine Verstärkung bedeuten, wenn die Direktorin – Sie, Miss Wanostrocht – und vielleicht ein oder zwei andere Lehrerinnen auf Streife gehen würden. In Staffeln, natürlich; nicht der ganze Lehrkörper den ganzen Vormittag lang …«
Das war vor etwa zweieinhalb Stunden gewesen: bevor die Welt sich verwandelt hatte, denn die Konferenz hatte um acht Uhr dreißig stattgefunden. Jetzt, nachdem sie in der Zwischenzeit die Mädchen fast pausenlos und bis an den Rand der Erschöpfung hatte herumhüpfen lassen – jetzt begegnete sie einer in ihr Amt eingesetzten Autorität mit Respektlosigkeit. Denn wem sonst hätte man Respekt entgegenbringen müssen, wenn nicht der Gattin eines Ministerialdirektors mit Titel, Landsitz und einem von den höchsten Kreisen besuchten Donnerstagnachmittag?
Sie hörte nur mit halbem Ohr ins Telefon, weil Edith Ethel ihr von Sir Vincents Befinden erzählte: so überarbeitet mit seinen Statistiken, der arme Mann, dass jederzeit ein Nervenzusammenbruch befürchtet werden müsse. Geldsorgen obendrein. Diese schrecklichen Steuern wegen dieser üblen Affäre …
Valentine benutzte die Gelegenheit zu überlegen, warum – warum, in aller Welt! – Miss Wanostrocht, die Edith Ethels Geschichte in groben Zügen kennen musste, sie hatte rufen lassen, um sich dieses ganze Durcheinander anzuhören? Miss Wanostrocht musste im Bilde sein: Edith Ethel hatte offenkundig lange genug mit ihr geredet, dass sie sich ein Urteil bilden konnte. Dann jedoch musste es sich um etwas Wichtiges handeln. Sogar etwas Dringendes, wo doch die Aufrechterhaltung der Schuldisziplin von höchster Bedeutung für Miss Wanostrocht gewesen war; ein geradezu entscheidender Augenblick in der Geschichte der Schule und der Mütter Europas.
Für wen dann mochten Lady Macmasters Mitteilungen von über Leben und Tod entscheidender Bedeutung sein? Für sie selbst, Valentine Wannop? Das war unwahrscheinlich: Außerhalb des Schulhofs gab es keine wichtigen Ereignisse, die von Bedeutung für ihr Leben hätten sein können, waren doch ihre Mutter und ihr Bruder beide in Sicherheit – sie in ihrem Haus, er auf einem Minenräumboot im Pembroke Dock …
Und sonst? … wichtig für Lady Macmaster? Inwiefern? Was hätte sie tun können für Lady Macmaster? Wurde sie gebraucht, um Sir Vincent Körperübungen beizubringen, die vielleicht seinen Nervenzusammenbruch verhindern und ihn so weit wiederherstellen mochten, dass er die Hypothek für seinen Landsitz abzahlen konnte, die, wie sie sich dachte, erdrückend sein musste wegen der schandbar hohen Steuern infolge eines Krieges, den man nie hätte führen dürfen?
Die Vorstellung, sie könnte zu diesem Zweck gebraucht werden, war abwegig! Was für eine absurde Geschichte … Hier stand sie jetzt, strotzend vor Gesundheit, Kraft, guter Laune und absolut sprühend vor Leben – da stand sie also, bereit, für die Sache der Ordnung Leah Heldenstamm, dem großen Mädchen, ordentlich was auf die Backe zu geben, oder alternativ dem allgemeinen Allotria in der Welt zuliebe dabei zu helfen, die Polizei auf nette Weise außer Gefecht zu setzen. Hier stand sie also in einer Art nonkonformistischem Kloster. Wie eine Nonne! Absolut wie eine Nonne! Am Scheideweg des Universums!
Sie pfiff leise vor sich hin.
»Beim Jupiter«, rief sie kühl, »hoffentlich ist das kein Omen, dass ich in der wiederaufgebauten Welt den Rest meiner Tage wie eine Nonne fristen muss!«
Sie begann, sich ernsthaft Rechenschaft über ihre Situation abzulegen – über ihren Stand im Leben allgemein. Bisher war er dem einer Nonne sehr ähnlich gewesen. Sie war dreiundzwanzig, ging auf die vierundzwanzig zu, war kerngesund und völlig unberührt. Körpergröße fünf Fuß in Turnschuhen. Und bis jetzt hatte sie keiner heiraten wollen. Bestimmt, weil sie so unberührt und munter war. Keiner hatte je versucht, sie zu verführen. Bestimmt deshalb, weil sie so keusch war. Offenbar bot sie den Gentlemen mit den hufeisengroßen Sergeant-Major-Schnurrbärten und gurgelnden Stimmen keine verlockende Aussicht – wie drückte der Bursche sich aus? – polsterweiche Wonnen! Würde sie auch nie. Vielleicht würde sie deshalb nie heiraten. Und nie verführt werden!
Wie eine Nonne! Ihr ganzes Leben lang würde sie neben einem Telefon stehen müssen und warten; in einem leeren Schulraum, in den vom Sportplatz das Geschrei einer ganzen Welt dringt. Die vielleicht gar nicht mehr auf dem Sportplatz schreit, sondern zum Piccadilly weitergezogen ist!
Aber zum Henker, sie wollte ihren Spaß haben! Jetzt!
Jahrelang hatte sie sich – wie eine Nonne, stimmt! – um die Lungen und Gliedmaßen der Mädchen in dieser asthmatisch-bronchitischen, nonkonformistischen – in Wirklichkeit freikirchlichen (oder so wenig staatskirchlichen, dass es nicht ins Gewicht fiel) – Großen Privaten Mädchenschule gekümmert. Sie hatte sich mit den Atemproblemen schwieriger, aber nicht abstoßender kleiner Cockney-Kreaturen herumschlagen müssen, wenn sie die Arme streckten … Ihr dürft nicht im selben Rhythmus atmen, in dem ihr euch bewegt. Nein. Nein. Nein! … Nicht zur ersten Bewegung aus- und mit der zweiten einatmen! Atmet natürlich! Schaut her zu mir! … Sie atmete richtig!
Ja, jahrelang hatte das gedauert! Der Kriegsbeitrag einer ver---ten Prodeutschen. Oder Pazifistin. Ja, auch das war sie jahrelang gewesen. Was sie nicht hatte sein wollen, weil es die Einstellung der besseren Leute war und sie nichts Besseres sein wollte. Jemand wie Edith Ethel!
Doch jetzt! War es nicht offenkundig? Sie konnte von ganzem Herzen ihre Hand in die irgendeines Tom, Dick oder Harry legen. Und ihm Glück wünschen! Von ganzem Herzen! Glück für ihn und seine Pläne. Sie kehrte zurück, in die Herde, ja, in die Nation. Sie konnte den Mund aufmachen! Sie konnte die hübschen kleinen Schreie der Cockneys ausstoßen, die ihr Geburtsrecht waren. Sie konnte frei sein, unabhängig!
Selbst ihre liebe, viel gepriesene, konfuse, hochberühmte Mutter hatte inzwischen eine Sekretärin, die niedergedrückt wirkte. Sie, Valentine Wannop, musste nicht mehr nächtelang aufbleiben und tippen, nachdem sie bereits einen ganzen Tag lang auf dem Schulhof richtiges Atmen eingepaukt hatte … Und beim Jupiter, sie könnten sich jetzt alle, Bruder und Mutter, in schlampiges Schwarz werfen, mit etwas Mauve, die Sekretärin in schlampiges Schwarz ohne Mauve, und sie, Valentine, dürfte ihre einer Pfadfinderinnen-Kluft nachempfundene Uniform ausziehen und in – oh, ja, weißem Musselin oder Harris Tweed unter den Pinien von Amalfi in Cockneylauten übers Essen reden. Am Mittelmeer … Dann könnte keiner mehr behaupten, sie habe nie das Meer der Penelope, der Mutter der Gracchen, der Delia, Lesbia, Nausikaa, Sappho gesehen …
»Saepe te in somnis vidi!«
»Du guter … Gott!«, sagte sie, ohne den geringsten Anflug von Cockney, sondern im Englisch eines Gentleman der alten Schule, der sich mit einem unsäglichen Antrag konfrontiert sieht. Nun, es war ein unsäglicher Antrag. In ihre Abgelenktheit hinein hatte die Stimme aus dem Telefon nämlich ziemlich kriecherisch, nach endlosen Einzelheiten bezüglich der finanziellen Situation des Hauses Macmaster, gesagt:
»Deshalb dachte ich mir, meine liebe Val, in Erinnerung an alte Zeiten, dass … Kurz und gut, wenn ich das Mittel wäre, euch wieder zusammenzubringen … Ich glaube nämlich, ihr habt euch nicht geschrieben … Du könntest dann als Gegenleistung … Du kannst dir ja selbst vorstellen, dass die Summe derzeit absolut niederschmetternd wäre …«