Ilse Aichinger
Auckland
Hörspiele
FISCHER E-Books
Ilse Aichinger, geb. 1921 in Wien, veröffentlichte 1948 ihren Roman über die Kriegszeit in Wien, ›Die größere Hoffnung‹, und ihre ersten berühmten Geschichten. Für ihren Roman, ihre Gedichte, Hörspiele und Prosastücke, die in viele Sprachen übersetzt wurden, erhielt sie zahlreiche literarische Auszeichnungen, u. a. 1952 den Preis der Gruppe 47, 1982 den Petrarca-Preis, 1983 den Franz-Kafka-Preis, 1995 den Österreichischen Staatspreis für Literatur. Ilse Aichinger lebt in Wien.
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Schon lange vor dem Entstehen des »Neuen Hörspiels« hatte Ilse Aichinger in ihrem Hörspiel ›Besuch im Pfarrhaus‹ (1961) ein fließendes Spiel aus Stimmen komponiert, ein Spiel, das die Gespräche eines Nachmittags, das Einsamkeit, Trauer und Tod in schwebender Polyphonie gegenwärtig macht. Ernst Jandl gehört zu den frühen Bewunderern dieser »Folge von Wörtern und Sätzen ... die Beziehungen aufnahm zu Dingen außerhalb, zur Welt, zum Leben«. Rosalie in ›Die Schwestern Jouet‹ (1967) findet dieses »Außerhalb« aber nicht mehr erträglich. Sie erfindet sich die Welt einfach neu: Giraffen mit kurzen Hälsen, päpstliche Gesandte, die ständig erkältet sind, Jäger ohne Jagdlust. Von ihrer keifenden Schwester Josefa läßt sie sich dabei kaum bremsen: Ein Gespräch über das Schreiben, als würde es geführt im Haushalt der Schwestern Bronte. Nach dem radikalen Stück aus Stimmen ›Auckland‹ (1969) treibt ›Gare maritime‹ die Kritik an bestehender Wirklichkeit ins Extrem: Joan und Joe, ein durchaus unnützes Liebespaar, versuchen gemeinsam das Atmen zu verlernen, um in einem Milieu der »Blockschließer« noch unnützer zu werden: »Diese Welt und diese Gesellschaft, in der die Wertmaßstäbe der Effektivität, der ungeduldigen Nützlichkeit ausschließlich zu werden drohen, könnte die Chance ihrer Erneuerung bei denen haben, die sie unnütz nennt«, heißt es in Ilse Aichingers Vorbemerkung zu ›Gare maritime‹.
»Gerade die Reden, die am rätselhaftesten erscheinen, bewältigen das Konkrete, die konkrete Verstörung und Zerstörung, die Verzweiflung, den Tod.«
(Helmut Heißenbüttel)
Erschienen bei FISCHER E-Books
© 2015 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main
Covergestaltung: Büro Aicher, Rotis
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ISBN 978-3-10-403447-8
Für Jutta Lampe und Otto Sander
Personen
JOHN
ANN
ROSIE
JEAN
BILL
JACK
STIMME
VERKÄUFER
Straße, starker Regen
JOHN
Hast du es heute wieder gehört, Ann?
ANN
Ja. Wie immer. Kurz bevor ich wegging.
JOHN
Und die andern? Hören die es auch?
ANN
Jean sagt, man gewöhnte sich so daran, daß man es zuletzt nicht mehr hört. Sie ist schon zwei Jahre in der Abteilung und hört es fast nicht mehr. Und auch Rosie sagt, sie hätte zuerst Angst davor gehabt.
Jetzt hat sie keine mehr.
JOHN
Und du?
ANN
Mir wird es auch so gehen. Zuerst werde ich keine Angst mehr haben und zuletzt höre ich es gar nicht mehr. Und dann ist alles gut.
JOHN
Ja, meinst du?
ANN
Jean sagt, wir sollten uns hüten, uns darüber zu beschweren. Die Mädchen in den andern Abteilungen werden immerfort entlassen, und wenn wir die Zwirn- oder Elfenbeinknöpfe hätten, wären wirs auch schon. Nur weil wir bei den schönen Knöpfen sind, werden wir noch gehalten. Als John nichts antwortet, eifriger Jean sagt auch, wenn es auf die Zwirnknöpfe oder auf die Elfenbeinknöpfe oder auf sonst etwas ankäme, müßten wir längst schließen. Nur wegen der schönen Knöpfe läuft der Laden weiter.
JOHN
Und deshalb dürft ihr nicht fragen, weshalb die Wand abbröckelt?
ANN
Es ist nicht die Wand, es ist hinter der Wand, John. Rosie meint, es hinge vielleicht mit der Herstellung zusammen. Aber es ist besser, nicht zu fragen, sonst denkt der Alte, wir wollten dahinterkommen.
JOHN
Ich würde gern einmal einen von diesen Knöpfen sehen.
ANN
Schön sind sie. Sie glänzen auch, wie andere Knöpfe nicht glänzen. Wenn ich sie angreife, denke ich manchmal, ich könnte sie wie Früchte zwischen meinen Fingern pressen, aber sie sind ganz hart. Wenn ein Knopf eine Farbe hat, so hat er doch die andern Farben alle auch. Und einer von ihnen kostet mehr als mein Wochenlohn. Nach einem Augenblick Aber ich kann keinen nach Hause nehmen, auch wenn ich ihn am nächsten Tag zurückbrächte. Sie würden es merken.
JOHN
Dann will ich einen kaufen und dir schenken, Ann.
ANN
Nein, ich will keinen haben. Ich hätte immer das Gefühl, ich trüge etwas Fremdes auf mir.
JOHN
Etwas Fremdes?
ANN
Und für soviel Geld! Ein ganzer Wochenlohn.
JOHN
Ich wollte, du brauchtest keinen Wochenlohn mehr, Ann, und du müßtest nie mehr dorthin gehen.
ANN
nachdenklich Ja, das möchte ich auch.
JOHN
Aber der Regen läßt jetzt nach, komm weiter!
ANN
Was ich sagen wollte, John: dieses Geräusch im Laden, es klingt doch nicht ganz wie Regen. Eher wie Hagel. Oder wie das Prasseln von Feuer.
Raum in der Fabrik. Das Geräusch hinter der Wand
ANN
Schon wieder.
ROSIE
Das höre ich gar nicht mehr. Und wenn du einige Zeit hier bist –
ANN
Und wenn ich zehn Jahre hier wäre, ich würde immer neu erschrecken.
ROSIE
Das denken alle zu Beginn. Ich hätte mir noch vor sechs Wochen nicht denken können, daß ich nicht erschrecke.
JEAN
Wenn ihr einmal zwei Jahre in einer Abteilung seid. Ich glaube, ich würde erschrecken, wenn ich es nicht mehr hörte.
ANN
Und zu Beginn?
JEAN
Ich weiß nicht mehr, wie es da mit mir war. Gähnt
ANN
Aber das muß doch – verwirrt es muß doch möglich sein, daß man zu irgend jemandem geht und ihn fragt. Vielleicht ist alles ganz einfach.
JEAN
Möglich.
ANN
Vielleicht wissen es sogar Bill oder Jack. Wenn jemand Vertreter ist –
JEAN
Ja, sicher wissen sie’s. Vermutlich hängt es mit der Herstellung zusammen.
ANN
Und du hast nicht gefragt, Jean? Die ganzen zwei Jahre hast du nicht gefragt?
JEAN
Weil es mich nichts angeht. Die Herstellung ist geheim. Ich will nicht entlassen werden.
ANN
Du bist doch gut mit Bill?
JEAN
Und ich will es auch bleiben.
ROSIE
Vielleicht werden die Knöpfe gebrannt.
ANN
Vielleicht.
ROSIE
Oder gedreht. Aber wir haben schon lange kein neues Modell gehabt, Jean.
JEAN
Das letzte war gerade neu, als ich kam.
ROSIE
Elisabeth.
ANN
Ist das der blaue Knopf?
JEAN
Kurz vorher waren auch Silvia und Vernon entstanden.
ANN
Und du warst hier allein?
JEAN
Bis Rosie kam.
ANN
Und hattest keine Angst? Ich meine, als du es zum erstenmal hörtest, Jean?
JEAN
Bill hat mir gleich Gesellschaft geleistet, und auch Jack. Nein, ich glaube, ich hatte keine Angst.
ANN
Auch nicht ganz zu Beginn?
JEAN
nachdenklich Ganz zu Beginn?
Anderer Raum
BILL
Sie sind das neue Fräulein?
JEAN
Ich – ich glaube, ja.
BILL
Glück gehabt.
JEAN
Ich bin auch glücklich.
BILL
In den andern Abteilungen werden alle entlassen, nur hier –
JEAN
Ist diese Abteilung hier eine besondere?
BILL
Für Schmuckknöpfe, ja. Meiner Meinung nach die einzige, die zuletzt bleiben wird. Aber Sie haben gar nichts Besonderes zu tun. Nur Knöpfe zu sortieren und dann zu zählen.
JEAN
Schöne Knöpfe.
BILL
Sie haben alle Namen. Dies ist Vernon. Und das ist Elisabeth. Und hier sind die Fächer, wo sie hineinkommen.
JEAN
Ich glaube, ich finde mich bald zurecht.
BILL
Um so besser. Ich heiße Bill und bin Vertreter.
JEAN
Ich heiße Jean.
BILL
Dann – auf gutes Einvernehmen, Jean!
JEAN
Das hoffe ich.
BILL
Wir werden oft miteinander zu tun haben.
Raum wie vorher. Das Geräusch hinter der Wand
JEAN
Was war das eben?
ANN
Jetzt bist du erschrocken, Jean!
JEAN
Ich führte nur in Gedanken ein Gespräch mit Bill. Mein erstes Gespräch noch einmal.
ROSIE
Als ich kam, empfing mich Jack.
JEAN
Und wahrscheinlich sagte er dasselbe.
ANN
Ich möchte wissen, weshalb es hier so heiß ist. Manchmal dreht sich mir alles.
ROSIE
Von den elektrischen Öfen, es ist diese trockene Hitze.
JEAN
Ihr könnt froh sein, daß ihr’s warm habt.
ANN
Und was mit den vielen Knöpfen geschieht, die wir täglich ordnen; was der Alte damit macht.
JEAN
Wenn er einen verkauft, lebt er lange davon. Bill sagt, allein die Provision –
ANN
Aber die andern?
JEAN
Darum mach dir keine Sorgen, Ann!
ANN
Ich frage mich: woher kommen die Knöpfe?
Auf der Straße
JOHN
Und woraus werden sie gemacht, Ann?
ANN
Aus Zwirn und Schildpatt und Elfenbein.
JOHN
Ich meine die in eurer Abteilung.
ANN
Wenn ich das wüßte!
JOHN
Und wenn du sie anrührst, wenn du sie zwischen den Fingern hältst, tausendmal jeden Tag?
ANN
Dann weiß ich auch nur, woraus sie nicht sind, John.
JOHN
Aber es muß doch etwas geben, mit dem du sie vergleichen kannst. Wie aus Holz oder Glas –
ANN
Als nähme ich Kirschen vom Baum und sie wären alle rot und steinhart. Und ich möchte sie zwischen Zunge und Gaumen wärmen und wieder Früchte werden lassen und kann es doch nicht, weil ich sie zählen muß. Aber ich rede Unsinn. Jean war heute sehr müde, und ich bin’s jetzt auch. Sie muß mich angesteckt haben.
JOHN
Wenn es kein Unsinn wäre?
ANN
Wir müssen froh sein –
JOHN
Wenn ich froh bin, Ann, bin ich’s lieber freiwillig.
ANN
Ach Gott, John!
JOHN
Du bist anders heute. Auch dein Gesicht.
ANN
Es ist nur dunkler geworden. Das wenige Licht von vorhin ist auch verschwunden.
JOHN
Wir wollen gehen. Aber bring morgen einen Knopf mit, Ann, bring einen mit!
Raum in der Fabrik
ROSIE
June – Margaret – Vernon – June – June – June –
ANN
Hör auf, Rosie.
ROSIE
Ich zähle nur laut.
ANN
Zähl leise.
ROSIE
Weshalb?
ANN
Weil es immer klingt, als riefst du nach jemandem. Du könntest ebensogut sagen Ann – Ann – Ann.
ROSIE
Ann – Ann – Ann –
JEAN
Weshalb auch nicht?
ANN
Oder Jean.
ROSIE
Jean – Jean –
ANN
So sag doch etwas, Jean, wehr dich doch!
JEAN
Jean – klingt wirklich gut.
ROSIE
Fünf vor sechs.
JEAN
Kannst du mir den Spiegel herüberreichen, Ann?
ROSIE
Hübsch bist du, Jean.
JEAN
Laß mich in Frieden, Rosie.
ROSIE
Ich meine es ernst. Findest du nicht auch, Ann, daß Jean heute ihren hübschen Tag hat?
ANN
Ich finde, daß Jean verändert aussieht.
JEAN
Das ist nicht besonders nett von dir, Ann. Das hieße, daß ich sonst –
ANN
Das wollte ich nicht sagen. Aber du siehst so glatt heute aus.
JEAN
Glatt?
ANN
Dir steht kein Haar zu Berge!
JEAN
Weshalb sollte mir denn ein Haar zu Berge stehn?
ANN
Ich meine: dir fliegt nichts im Wind.
JEAN
Wie soll etwas im Wind fliegen, wo kein Wind ist?
ROSIE
Ann brächte es fertig. Der flögen auch noch im luftleeren Raum die Haare.
ANN
ängstlich Im luftleeren Raum, jetzt weiß ich’s, Jean. So siehst du aus.
ROSIE
Jean, du bist ganz in Ordnung.
ANN
Als wärst du im luftleeren Raum. Als bliebst du so.
JEAN
Ich wäre ganz zufrieden, wenn ich so bliebe.
ROSIE
Hast du etwas gesagt, Ann?
ANN
Nichts. Aber ich – ich möchte nie für immer so bleiben, wie ich gerade bin.
Es schlägt sechs
ANN
Könnt ihr nicht die Türe öffnen? Man bekommt keine Luft hier.
ROSIE
Du kannst gehen, wenn du Luft willst, Ann. Es schlägt sechs.
ANN
Ich gehe auch.
JEAN
Haltet Frieden, Kinder! Ich fühle mich sehr wohl heute.
ROSIE
Und Bill gefällst du, Jean!
ANN
Ganz sicher.
ROSIE
Schließ die Tür hinter dir zu, Ann!
Die Tür geht
JEAN
Ich fühle mich müde, Rosie. Und ich hätte nichts dagegen, wenn meine Augen nicht immer kleiner davon würden.
ROSIE
Solange du noch heraussiehst –
JEAN
Bis Bill kommt, sehe ich nicht mehr heraus.
ROSIE
Wenn Bill kommt, gehen dir die Augen auf.
JEAN
Ich wollte, er käme schon. Dann dürften sie mir ruhig zufallen.
ROSIE
Ich gehe jetzt auch, Jean.
JEAN
Rosie!
ROSIE
Wolltest du noch etwas?
JEAN
Alles wird kleiner, wenn man so müde ist.
ROSIE
Schlaf ruhig, bis Bill kommt.
JEAN
Mir scheint, daß auch mein Mund kleiner wird, Mund und Augen –
ROSIE
Schlaf ruhig. Es ist kein Mensch im Haus.
Sie öffnet die Tür
JEAN
Mund und Augen, Rosie, aber ich kann sie nicht schließen. Wenn ich so müde bin, werden mir die Augen klein, ohne daß ich sie schließen könnte. Nur du wirst groß, Rosie, du wirst riesengroß –
ROSIE
Ich lasse die Tür auf, Jean.
Ihre Schritte, die sich entfernen
JEAN
– so groß wie die Tür, wie die offene Tür, hörst du mich, Rosie? Ich kann die Augen nicht mehr schließen. Als blieben sie immer so, klein und halboffen, als hätte ich zwei Lücken im Kopf, sonst nichts.
Schritte auf der Treppe
JEAN
Bist du’s, Bill?
ANN
Nein, nur ich.
JEAN
Weshalb kommst du zurück?
ANN
Ich hatte mein Halstuch vergessen, es ist windig draußen.
JEAN
Mir werden die Augen hier immer kleiner.
ANN
Kannst du mich nicht ein Stück begleiten, Jean? Der Wind wird dir guttun.
JEAN
Ich warte noch auf Bill.
ANN
Dann gute Nacht.
JEAN
Jetzt bist du auch so groß wie die offene Tür, Ann.
Anns Schritte entfernen sich. – Das Geräusch hinter der Wand setzt ein und bricht plötzlich ab
JEAN
als träume sie Da bist du.
BILL
Hübsch kühler Tag heute.
JEAN
Und? Wie war der Verkauf?
BILL
Immer dasselbe. Die schönen gehen und die andern bleiben liegen.
JEAN
Solltest eben nur schöne haben, Bill.
BILL
Sollte nur schöne haben, Jean! Wo sind die andern?
JEAN
Rosie trifft sich mit Jack, und Ann – ich glaube, Ann ist auch gegangen.
BILL
Und wir?
JEAN
Ich fühle mich sonderbar heute.
BILL
Krank?
JEAN
Nicht krank, nur etwas müde. Ich fühle mich sonderbar wohl, Bill. Ganz sonderbar wohl. So glatt und rund.
BILL
vergnügt Das ist aber gut, Jean. Das ist gut, wenn du dich so fühlst!
JEAN
Es ist ganz beruhigend.
BILL
Und was wollen wir tun?
JEAN
Alles. Was du willst.
BILL
Die Galerien?
JEAN
Nichts, wo ich schauen muß.
BILL
Oder etwas Musik?
JEAN
Nichts, was ich hören muß.
BILL
Dann bleibt nur eines, Jean.
JEAN
Das wäre möglich.
BILL
Dann bist du wohl so weit?
JEAN
Dann bin ich so weit.
BILL
Dann hätten wir dich, Jean.
JEAN
Noch kleiner als ich dachte.
Das Geräusch hinter der Wand, sehr stark
Im Freien
ROSIE
Ich freue mich, daß du endlich mitkommst, Jack. Meine Mutter hat schon zweimal umsonst den Tee für dich gerichtet.
JACK
Heute wird es nicht umsonst sein, Rosie.
ROSIE
Und du mußt auch keine Angst vor meinen Eltern haben, sie freuen sich. Sie sagen, sie wollten endlich den kennenlernen, der mich so verändert hat.
JACK
spöttisch Verändert?
ROSIE
Alle finden es, ich bin hübscher geworden. Meine Mutter sagt auch, sie hätte sich früher nicht mit mir sehen lassen können, aber jetzt – jetzt sehe ich endlich so aus wie alle andern. Seit ich dich kenne.
JACK
Das ist gut so, Rosie.
ROSIE
Jetzt könnte man endlich mit mir unter die Leute gehen. Wirklich, daß du nicht schon längst mitgekommen bist, Jack!
JACK
ungeduldig Ihr wohnt sehr weit draußen.
ROSIE
Mir scheint es immer weiter, oft ist mir jeder Schritt zuviel, den ich vom Laden entfernt wohne. Am liebsten bliebe ich gleich darinnen.
JACK
Ja?
ROSIE
Und ginge nie mehr weg. Und müßte mich nie mehr von dir trennen. Täglich frage ich mich, weshalb ich noch nach Hause soll.
JACK
Ja, weshalb eigentlich?
ROSIE
Ich meine es ernst, Jack. Die Füße werden mir jeden Abend schwerer. Es beginnt schon, wenn ich durch die Stadt zur Untergrundbahn gehe, und auch während der Fahrt, und erst, wenn ich hier aussteige und die Eisenbahnbrücke überquere. Und wenn ich dann den Weg hinaufgehe –
STIMME
Abend, Fräulein Rosie!
ROSIE
Ich weiß auch nicht, was ich mit den Leuten hier anfangen soll, Jack. Ich grüße nie mehr zurück. Ich will mit niemandem mehr zu tun haben als mit dir.
JACK
Das ist schön, Rosie.
ROSIE
außer Atem Und wenn ich dann hier hinaufgehe, geht mir der Atem aus. Dann reicht meine Kraft nie weiter als – hier sind wir, Jack!
JACK
Zu Hause?
ROSIE
Nein, am ersten Briefkasten. Hier muß ich immer ausruhen, schneller hier lehn ich mich daran und lege den Kopf auf die Arme –
JACK
Es ist ein hübscher Briefkasten.
ROSIE
Hier muß ich alle Kraft zusammennehmen, damit ich nicht zurücklaufe, zu dir, Jack –
JACK
Ja?
ROSIE
Zu dir und in den Laden. Nach einer Pause Auch heute, obwohl du doch bei mir bist. Ich möchte auch heute in den Laden zurück.
JACK
Weshalb gehen wir dann weiter?
ROSIE
Ja. Weshalb gehen wir weiter?
JACK
Weshalb sollst du denn alle Kraft zusammennehmen, wenn es auch einfacher geht?
ROSIE
Ich weiß im voraus, was meine Mutter sagen wird, und unser Vorgarten sieht genauso aus wie alle andern. Und wir haben auch Strohblumen an den Fenstern.
JACK
Ich kanns mir vorstellen.
ROSIE
Und unsere Vorhänge hängen genau so weiß und lahm herunter wie überall. Es ist kein Unterschied.
JACK
Ich weiß.
ROSIE
Wir wollen umkehren, Jack.
In einem Zimmer
ANN
Ich wollte, es wäre schon morgen um die Zeit und ich hätte ihn zurückgegeben und niemand hätte gesehen, daß ich ihn genommen habe.
JOHN
Laß ihn liegen, Ann!
ANN
Warum?
JOHN
Weil ich nicht will, daß du ihn anrührst.
ANN
Ich rühre jeden Tag viel mehr Knöpfe an.
JOHN
Ich will auch sehen, wie er für sich allein aussieht.
ANN
Es ist ein älterer Knopf, wir haben auch schönere. Aber ich nahm ihn, weil ich dachte, daß es weniger auffällt. Er heißt Vernon.
JOHN
Vernon.
ANN
Von den neuen gibt es immer nur wenige, aber von diesen hier gibt es viel.
Manchmal greife ich mit beiden Händen in die Schachtel und habe nichts als Vernon darinnen; auch von Elisabeth gibt es genug. Nach einem Augenblick Aber er sieht anders aus als in seinem Fach. O John, ich wollte, ich hätte ihn schon zurückgegeben.
JOHN
Wenn ich ein Mädchen wäre, ich würde ihn mir nicht aufs Kleid nähen.
ANN
Du wolltest ihn mir schenken!
JOHN
Ich wollte ihn sehen.
ANN
Soll ich das Licht andrehen?
JOHN
Es ist noch hell genug.
ANN
Es ist ein sonderbares Licht heute, als käme Regen, aber als käme mitten im Zimmer Regen. Alles ist so nahe, dein Gesicht, John, als wärst du dicht neben mir. Noch viel dichter.
JOHN
Weißt du, was es ist, Ann?
ANN
Als hättest du andere Augen und einen anderen Mund.
JOHN
Es ist der Knopf.
ANN
Der Knopf?
JOHN
Es ist das Licht von dem Knopf. Es glänzt, wie ich mir denke, daß Knochen glänzen.
ANN
Weißt du, wie du jetzt aussiehst, John?
Als hättest du Mund und Nase und Ohren und alles für sich. Als wärst du Mund und Nase und Augen und Ohren, aber nicht du, als hielte nichts dich zusammen. Als wärst du’s gar nicht, John, als wärst du’s nie gewesen!
JOHN
Dreh das Licht an, Ann!
Raum in der Fabrik
ANN
June – Susan – Vernon – Gladis – Margaret –
ROSIE
Ob Jean heute noch kommt?
ANN
Ich weiß nicht. Vielleicht ist sie krank.
ROSIE
Dann wäre sie sehr krank. Sie konnte es ohne den Laden hier in letzter Zeit nicht mehr aushalten.
ANN
Ohne Bill.
ROSIE
Bill und die Knöpfe, das ist fast dasselbe.
ANN
Ja, denkst du?
ROSIE
Ich kann es gut verstehen, Ann, weil es mir ähnlich geht. Ich sehne mich sonntags nach den Knöpfen, so wie ich mich nach Jack sehne, wenn er sonntags arbeitet. Jack und die Knöpfe –
ANN
Ich möchte nicht sagen: John und die Knöpfe.
ROSIE
John ist auch nicht Vertreter hier.
ANN
Nein.
ROSIE
Aber wenn er es wäre?
ANN
Er wirds nie werden.
ROSIE
Weshalb nicht? Er könnte froh sein.
ANN
Lieber wartet er, bis er Arbeit in den Docks findet.
ROSIE
Warte nur, bis du länger hier bist, Ann. Dann brennst du sonntags ebenso nach den Knöpfen wie wir.
ANN
Dazu müßte ich eine Ewigkeit hier sein.
ROSIE
lacht Eine Ewigkeit!
ANN
Viertel vor fünf, Rosie. Jetzt kommt Jean nicht mehr.
ROSIE
Ich gehe jetzt, Ann. Ich gehe heute früher weg. Ich wollte – Jack wollte –
ANN
Geh nur!
ROSIE
Bleib du auch nicht zu lange!
ANN
Die Stunde ist bald um.
ROSIE
schon aus dem Vorhaus Und hab keine Angst, Ann! Ihre Schritte entfernen sich
ANN
June – Susan – Vernon – Gladis – Margaret – June – Susan – sie wirft die Knöpfe hin genug. Ich möchte nicht mehr. Ich habe genug davon.
Eine Tür geht draußen
ANN
Bist du es noch, Rosie?
Schritte nähern sich
ANN
Ist jemand hier?
BILL
Nur Sie, wenn ich recht sehe.
ANN
Ich bin erschrocken, Bill, ich dachte –
BILL
Eins hängt eng mit dem andern zusammen. Jean nicht da?
ANN
Nein.
BILL
Den ganzen Tag nicht?
ANN
Nein.
BILL
Krank?
ANN
Ich dachte, Sie wüßten –
BILL
Sie denken immer, Ann! Das ist schlimm mit Ihnen. Gibt es denn keinen, der bereit wäre, es Ihnen abzugewöhnen?
ANN
Ich bin froh, daß ich’s mir angewöhnt habe.
BILL
Schade. Sonst hätte ich mich erboten –
ANN
Wahrscheinlich ist Jean krank.
BILL
Ja. Sehr wahrscheinlich. Er pfeift vor sich hin Hier liegt ein Vernon im Fach von Gladis.
ANN
Ein Vernon?
BILL
Sie müssen besser achtgeben, Ann!
Vorgestern abend fehlte derselbe Vernon, und wir mußten den Laden von oben bis unten durchsuchen.
ANN
Hier lag er ja.
BILL
Nicht zuviel denken, wenn Sie zählen, Ann! Ich bin Vertreter, aber was denken Sie, wenn ich beim Erzählen dächte?
ANN
Ich denke gar nichts.
BILL
Darauf wollen wir trinken!
Es schlägt sechs
ANN
Ich möchte heute nichts trinken, Bill. Ich muß gehen.
BILL
Schade. Es wäre ein Grund gewesen, um zu feiern: einen Augenblick lang dachten Sie gar nichts.
ANN
Ich gehe jetzt.
BILL
Aber vielleicht holen wir’s nach? Vielleicht morgen, Ann?
Im Freien
ANN
Ich war allein mit ihm, John, außer uns beiden war kein Mensch im Haus, aber ich habe ihn nicht gefragt. Nach einer Pause Ich wußte nicht, wie ich beginnen sollte, ich brachte es nicht über die Lippen. Und ich hatte auch Angst, daß er mir kündigen würde.
JOHN
Ich wünschte, er hätte es schon.
ANN
Und was soll aus uns werden? Jean sagt auch, sie hätte deshalb nie gefragt.
JOHN
Wolltest du sie nicht heute besuchen?
ANN
Ich habe mirs überlegt, sie wohnt bei fremden Leuten und ich weiß die Hausnummer nicht. Wer weiß, ob es ihr angenehm wäre? Und dann – ich möchte nicht auch noch krank werden, ich kann es mir nicht leisten, immer aus der trockenen Hitze in den nassen Wind hinaus. Es liegt auch ganz aus unserer Richtung.
JOHN
Ich habe heute etwas erfahren, Ann, es wäre möglich, daß es Arbeit gäbe. Nach sieben soll ich in die Lagerverwaltung kommen.
ANN
Nur um zu hören, daß es wieder nichts gibt. Und du sagst, ich sollte von den Knöpfen weg.
JOHN
Ich höre nicht auf, es zu sagen. Jean ist schon krank geworden.
ANN
Von diesem elenden Nebel, von der Kälte und von dem Schnee, der keiner ist.
JOHN
Von der trockenen Hitze und dem künstlichen Licht.
ANN
Vielleicht von beidem, John. Aber wenn ich uns hier sehe, auf diesem schmutzigen Weg und in dem nassen Wind, dann bin ich froh, wenn ich an die trockene Hitze und das künstliche Licht denke. Und daß wenigstens ich – mir fällt eben etwas ein, John! Ich könnte Bill bitten, daß er dich auch nimmt. Ich meine, nicht ich sollte weggehen, sondern du solltest hinkommen, als Packer oder sonst was. Und später könnten wir dann beide weg.
JOHN
Warte noch, laß mich noch einmal zur Lagerverwaltung gehen!
ANN
Geh nur, aber ich gehe nicht mehr mit, ich möchte nicht mehr auf unsichere Arbeit warten. Bill sagt, unsere Knöpfe sind das einzige, das sich immer halten wird, immer wird es Leute geben, die sie kaufen, selbst wenn alles andere –
JOHN
Selbst wenn alle andern zugrunde gehen sollten. Immer wird es Leute geben, die sich eure lächerlichen Zierknöpfe dorthin nähen, wo sie nicht hingehören, und nicht fragen, was sie bezahlen. Und solche wie dich, die sichs gefallen lassen, daß es hinter den Wänden kracht und täglich später wird.
ANN
Nur bis Jean wieder gesund ist. Bill sagt, sie würden nicht mehr lange zuwarten. Noch drei Tage, und wenn sie bis dahin nicht wiederkommt, müßten sie eine andere nehmen.
JOHN
Noch drei Tage, das gibt eine Woche und einen Wochenlohn –
ANN
Gibt einen Knopf.
JOHN
Keinen Knopf seid ihr ihnen wert, Ann.
ANN
lacht Doch, John, einen. Gerade einen!
Raum in der Fabrik
BILL
Tut mir leid, Kinder, aber wenn es so weitergeht, müßt ihr sonntags hierbleiben.
ANN
Sonntags?
BILL
Es hilft nichts. Was hier ist, muß ausgezählt werden. Der Berg muß weg.
ROSIE
Mir macht es weiter nichts aus.
BILL
Aber Ann, nicht wahr? Ann ist nicht ganz einverstanden?
ANN
Ich bleibe schon hier.
BILL
Keine Verabredung, Ann?
ANN
zögernd Nein.
BILL
Das ist gut so, das macht die Sache für alle leichter.
ROSIE
Ich bin froh, wenn ich sonntags nicht zu Hause sein muß.
BILL
Wir werden alles tun, um euch die Zeit zu vertreiben. Vielleicht gibt es auch einen neuen Knopf.
ROSIE
O ja, darauf freue ich mich! Es wäre der erste, seit ich hier bin.
ANN
Und wenn Jean vor Sonntag noch käme?
BILL
Das würde natürlich alles ändern, aber offen gesagt, ich glaube es nicht. Wer bis Freitag nicht kommt, kommt auch sonntags nicht mehr.
Im Freien
JOHN
Sonntags, Ann?
ANN
Ja. Weil Jean fehlt.
JOHN
Aber wir hatten doch verabredet –
ANN
Ich konnte doch nicht anders, John, wenn alle andern –
JOHN
Alle andern? Rosie.
ANN
Und Bill.
JOHN
Bill, richtig. Weshalb ich den nur immer wieder vergesse.
ANN
Wärst du Vertreter bei uns, du könntest den ganzen Sonntag bei mir bleiben.
JOHN
Wie schade, daß ichs nicht bin.
ANN
Ja, sehr schade.
JOHN
Und auch nicht werden will. Wie traurig, daß ich nicht Vertreter bei euch werden will, um bei dir sein zu können.
ANN
Nimm es nicht zu ernst, John, es ist doch nur ein Sonntag. Und alles nur, weil Jean nicht gekommen ist.
JOHN
Und abends? Ich meine, wie ist es mit heute abend?
ANN
Da wollten wir – sie wollten alle miteinander etwas trinken gehen.
JOHN
Auch nur, weil Jean nicht gekommen ist?
ANN
Laß mich in Frieden, John.
In einem Gasthaus
BILL
Nun sind Sie doch gekommen, Ann.
ANN
Ja.
BILL
Ich freue mich.
ANN
Aber ich bin gekommen, Bill, weil ich dachte, daß alle andern mitkämen.
BILL
Ja? Und ich hoffte fast, Sie wären gekommen, weil Sie dachten, daß nicht alle mitkämen.
ANN
Wir hatten vereinbart –
BILL
Ich hoffe es immer noch, aber wie auch sonst: Sie sind gekommen. Wollen wir darauf trinken?
ANN
Wir wollten heute den neuen Knopf feiern.
BILL
Den neuen Knopf? Der kommt erst Sonntag.
ANN
Dann frage ich mich –
BILL
Heute feiern wir Sie.
ANN
Ich wüßte nicht, weshalb.
BILL
Nicht?
ANN
Ich wüßte nicht, was an mir wert zu feiern wäre.
BILL
Einen neuen Knopf sind Sie mir immer noch wert. Ihr Wohl, Ann!
ANN
Bill –
BILL
Aber Sie trinken nicht.
ANN
zögernd Und morgen –
BILL
Feiern wir den neuen Knopf.
ANN
Und später?
BILL
Es wird jetzt immer etwas zu feiern geben.
ANN
Immer? Viele Knöpfe?
BILL
Viele Knöpfe.
ANN
Und viele Male, Ann.
BILL
So viele wie Sie wollen.
ANN
Ich bin froh. Wenn ich mir vorstelle –
BILL
Sie sollen sich jetzt nichts vorstellen.
ANN
Wenn ich mir denke –
BILL
Und auch nichts denken.
ANN
Wenn ich mich erinnere –
BILL
Sie sollen sich nicht erinnern.
ANN
Es wäre mir auch allmählich zuviel geworden, ich war nahe daran –
BILL
Es wird jetzt alles ganz einfach.
ANN
Ich wünschte es. Manchmal möchte ich ganz klein sein, Bill, so klein –
BILL
Daß ich Sie gerade noch in der Hand halten könnte?
ANN
Das möchte ich.
BILL
Ja?
ANN
Aber der Wein ist mir in alle Glieder gegangen.
BILL
Und Sie sind klein, Ann.
ANN
Ich muß gehen.
BILL
Ganz klein, so klein, daß Sie keinen Schritt mehr machen können!
Schritte
JOHN
Ist es so weit?
ANN
John?
JOHN
Feiert ihr hier den neuen Knopf?
BILL
Wir haben ihn noch nicht.
JOHN
Ich möchte ihn gern mitfeiern. Ja, ich hätte ihn so gerne ein einziges Mal in meiner Hand gehalten.
BILL
Zu früh!
JOHN
Wie schade.
ANN
Bleib hier, John!
JOHN
Lieber nicht. Ich bin noch groß genug, um einige Schritte zu machen, Ann. Und das möchte ich ausnützen.
Im Freien
ANN
Und wohin willst du?
JOHN
Wo du nicht hin willst, zu allem, was jetzt etwas aus deinem Weg liegt.
Vielleicht zu Jean, nur um zu hören, was ihr fehlt und weshalb es seit acht Tagen niemand der Mühe wert findet, danach zu fragen – ich weiß schon, ich nehme alles viel zu ernst und ihr wolltet hier nur etwas trinken und es prasselt nur ganz wenig in euerm Laden und was kümmert mich das?
ANN
Du findest keine Arbeit, John. Aber du beunruhigst mich täglich, du fragst mich täglich nach diesem lächerlichen Geräusch im Laden, du verlangst von mir, daß ich zu Jean gehe und mich vielleicht krank mache, und dann auch noch, daß ich mich ausschließe, wenn alle andern etwas trinken wollen. Finde doch endlich eine Arbeit und dann komm wieder und sag mir alles noch einmal. Geh doch an deine Docks und laß deinen Schatten von den Laternen hochziehen, wenn du nichts Besseres weißt, geh doch zu Jean!
JOHN
Das will ich, Ann, da kannst du sicher sein.
BILL
Lassen Sie ihn gehen, Ann.
ANN
Ach, Bill.
BILL
Es wird jetzt alles ganz einfach.