Michael Tsokos
Schwimmen Tote immer oben?
Noch mehr Irrtümer über die Rechtsmedizin
Mit Illustrationen von
Christoph Kellner
Knaur e-books
Michael Tsokos, geboren 1967, ist Professor für Rechtsmedizin und international anerkannter Experte auf dem Gebiet der Forensik. Seit 2007 leitet er das Institut für Rechtsmedizin der Charité und das Landesinstitut für gerichtliche und soziale Medizin Berlin. Seine Bücher über spektakuläre Fälle aus der Rechtsmedizin sind allesamt Bestseller, wurden zum Teil fürs Fernsehen verfilmt und lieferten Ideen für mehrere True-Crime-Thriller.
Weitere Informationen unter: www.tsokos.de
© 2019 der eBook-Ausgabe Droemer eBook
© 2019 Droemer Verlag
Ein Imprint der Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit
Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.
Redaktion: Dr. Thomas Tilcher
Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München
Coverabbildung: Christoph Kellner, Berlin (animanova.de)
Illustrationen im Innenteil: Christoph Kellner, Berlin
ISBN 978-3-426-45311-7
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
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Wir freuen uns auf Sie!
»Papa, gibt es eigentlich auch Linksmediziner?«
Frage meiner achtjährigen Tochter im Rahmen
eines Gesprächs über meinen Beruf
und was ich so mache.
Michael Tsokos
Der Tod – oder, auf die Rechtsmedizin bezogen: der Umgang mit toten Menschen – übt auf die Lebenden eine merkwürdige Faszination aus. Rechtsmediziner sind seit einigen Jahren wirklich en vogue. Aber worauf gründet sich diese Anziehungskraft eines Berufs, bei dem es um die Untersuchung toter Menschen geht? Diese Frage muss wahrscheinlich jeder für sich selbst beantworten, der sich für Krimis und Thriller interessiert, in denen Tötungsdelikte und mittlerweile auch immer öfter rechtsmedizinische Untersuchungsmethoden eine Rolle spielen. Obwohl wir den Tod aus unserem eigenen Leben gerne ausklammern, schauen wir bei Todesfällen anderer – zumal, wenn sie auch noch gewaltsam herbeigeführt wurden – gerne und bisweilen sogar fast schon aus einem voyeuristischen Impuls zu. Und wir freuen uns, dass wir zwar mittendrin, aber eben nicht dabei sind und jederzeit den Krimi zuklappen oder die Fernsehsendung wegzappen können.
Nach wie vor beherrschen TV-Serien, bei denen die Rechtsmedizin oder forensische Untersuchungsmethoden im Mittelpunkt stehen, das abendliche Fernsehprogramm der Deutschen. In dem Kinofilm Abgeschnitten hielt mit dem Rechtsmediziner Professor Paul Herzfeld, gespielt von Moritz Bleibtreu, im Herbst 2018 sogar erstmals ein Forensiker als zentrale Hauptfigur in einem deutschen Thriller Einzug auf die große Leinwand. Die Darstellung der Sektionssaalszenen in Abgeschnitten sind nicht nur detailgetreu, sondern auch realistisch – kein Wunder, denn die Fachberatung war auch vom Feinsten, und als Komparsen agierten echte Rechtsmedizinerinnen und Rechtsmediziner.
Allerdings ist eine solche realistische Darstellung der Rechtsmedizin im Film immer noch die Ausnahme und nicht die Regel. Was am Tatort beziehungsweise am Leichenfundort, im Sektionssaal oder im Labor der rechtsmedizinischen Institute wirklich passiert, interessiert die Menschen brennend; das zeigt sich unter anderem auch daran, dass der 2016 erschienene Vorgänger dieses Büchleins, Sind Tote immer leichenblass? Die größten Irrtümer über die Rechtsmedizin, bei den Lesern sehr viel Zuspruch gefunden hatte und insgesamt 16 Wochen auf der Spiegel-Bestsellerliste anzutreffen war. Eine Journalistin sagte mir erst kürzlich, dass dieses Buch bei vielen Krimiautoren und Drehbuchautoren mittlerweile sogar Pflichtlektüre sei und quasi als Fachberatung herangezogen würde.
Die vorliegende Fortsetzung beleuchtet nun dreißig weitere Irrtümer über die Rechtsmedizin, die sich in den Köpfen vieler Krimileser und Fernsehzuschauer festgesetzt haben.
Kommen Sie, liebe Leserin und lieber Leser, mit auf eine kleine Reise in die Welt der Rechtsmedizin und schauen Sie uns über die Schulter, was wir so machen – und was wir eben nicht machen beziehungsweise ganz anders handhaben, als Sie es sich vielleicht jetzt noch vorstellen. Und auch dieses Mal gilt wieder: Lassen Sie sich nicht den Spaß an all den rechtsmedizinisch angehauchten Serien, Filmen und Büchern nehmen, auch wenn das, was Sie dort sehen und lesen, in den meisten Fällen nur wenig bis gar nichts mit der Realität zu tun hat.
Michael Tsokos,
Berlin im Juni 2019
Dem Großteil aller Sektionen liegen
Tötungsdelikte zugrunde
Das könnte der geneigte Krimileser oder Fernsehzuschauer in der Tat denken. Denn wann obduziert in einem Thriller ein Rechtsmediziner schon mal einen Menschen, der an einem fortgeschrittenen Krebsleiden oder einem Schlaganfall gestorben ist? Dass wir Rechtsmediziner nur Mordopfer oder zumindest nur Menschen obduzieren, die gewaltsam aus dem Leben geschieden sind, ist allerdings ein großer Irrtum. Vielmehr ist das Gegenteil der Fall. Von den etwa 2100 Obduktionen, die wir in Berlin im Landesinstitut für gerichtliche und soziale Medizin und im Institut für Rechtsmedizin der Charité durchführen, handelt es sich bei »nur« knapp 100 Fällen um Tötungsdelikte (Mord, Totschlag, Körperverletzung mit Todesfolge) – das sind also nur etwa 5 Prozent aller Obduktionen in Berlin. Suizide machen einen Anteil von etwa 25 Prozent aller unserer gerichtlichen Obduktionen aus; weitere 20 Prozent sind tödliche Unfälle – hauptsächlich Verkehrsunfälle und Arbeitsunfälle, aber auch tödliche Drogenintoxikationen werden in dieser Kategorie subsumiert. Bei fünf Prozent der Obduktionen geht es um den Nachweis ärztlicher Kunstfehler, und bei dem großen Rest (immerhin 45 Prozent) untersuchen wir natürliche Todesfälle. In diesem Bereich dominieren die Herzerkrankungen (Herzinfarkt, Herzmuskelentzündung, nicht traumatische Einreißungen der Körperhauptschlagader etc.), gefolgt von Hirnmassenblutungen, Schlaganfällen und weit fortgeschrittenen (und meist unbehandelten) Krebsleiden.
Wieso ist aber der Anteil der Obduktionen echter Tötungsdelikte fast verschwindend gering im Vergleich zu den übrigen Obduktionsfällen – zumindest in Berlin? Der Grund dafür ist, dass wir trotz einer noch so gründlichen Leichenschau und obwohl die Computertomografie uns in der Rechtsmedizin ganz neue Möglichkeiten eröffnet hat (vgl. Irrtum Nr. 5), eben ohne Obduktion niemals sicher sagen können, dass es sich tatsächlich um einen Tod aus innerer Ursache und nicht um ein Tötungsdelikt handelt.
Nur eine Obduktion kann in solchen Fällen die entscheidenden Hinweise geben, ob es sich bei einem Menschen, der von einem Zug oder einer S-Bahn überfahren wurde, um einen Suizidenten oder ein Unfallopfer handelt. Denn nur durch die Obduktion inklusive Präparation der Körperrückseite und der Extremitäten lässt sich die Position des Betreffenden zum Zeitpunkt der Kollision mit dem Schienenfahrzeug rekonstruieren, und allein auf dieser Grundlage können Aussagen gemacht werden, ob jemand an einem fortgeschrittenen Krebsleiden litt – und damit ein mögliches Suizidmotiv hatte – oder ob die betreffende Person dermaßen alkoholisiert war, dass ein Unfallgeschehen angenommen werden kann (Suizidenten sind zwar häufig leicht alkoholisiert und damit zum Zeitpunkt der Suizidbegehung enthemmt, aber nie so stark, dass man ihnen aufgrund ihrer Blutalkoholkonzentration unterstellen würde, dass sie nicht mehr wussten, was sie taten). Auch eine tödliche Vergiftung ist nur über entsprechende Asservate wie zum Beispiel Herzblut, Lebergewebe, Venenblut oder Mageninhalt nachzuweisen, und dafür bedarf es eben der entsprechenden Schnittführung, um an die betreffenden Organe zu gelangen.