Der Fallmeister

Christoph Ransmayr

Der Fallmeister

Eine kurze Geschichte vom Töten

Roman

FISCHER E-Books

Inhalt

Über Christoph Ransmayr

Christoph Ransmayr hat die entlegensten Gegenden der Erde bereist und lebt heute in Wien. Er verfasste die weltweit übersetzten und mit internationalen Auszeichnungen geehrten Romane »Die Schrecken des Eises und der Finsternis«, »Die letzte Welt«, »Morbus Kitahara«, »Der fliegende Berg«, »Cox oder Der Lauf der Zeit« sowie den »Atlas eines ängstlichen Mannes«. Daneben erscheinen Spielformen des Erzählens,»Damen & Herren unter Wasser«, »Der Wolfsjäger« und »Arznei gegen die Sterblichkeit« und andere. In seinen Reden und Vorträgen bezieht Christoph Ransmayr immer wieder Stellung gegen Barbarei und Unmenschlichkeit. Zu seinem Werk erschien der Band »Bericht am Feuer«.

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Über dieses Buch

Ein Langboot stürzt im Wildwasser des Weißen Flusses den Großen Fall hinab.

Fünf Menschen ertrinken. Der Schleusenwärter, als 'Fallmeister' ein Herr über Leben Tod, hätte dieses Unglück verhindern müssen. Sein Sohn glaubt nicht an einen Unfall: Ist sein jähzorniger, von der Vergangenheit besessener Vater zum Mörder geworden? Wie der Fallmeister ist auch sein Sohn mit der Macht des Wassers vertraut. Er arbeitet als Hydrotechniker an den großen Strömen dieser Erde, um die Wasserkriege geführt werden, und durchquert auf der Suche nach der Wahrheit und seinem nach dem Unglück verschollenen Vater ein in größenwahnsinnige Kleinstaaten zerfallenes Europa.

Virtuos und packend erzählt Christoph Ransmayr von einer bedrohten Welt, von menschlicher Schuld und Vergebung.

Impressum

Originalausgabe

Erschienen bei FISCHER E-Books

 

© 2021 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main

 

Covergestaltung: Andreas Heilmann und Gundula Hissmann, Hamburg, nach einer Idee von Magdalena Weyrer

Coverabbildung: JLB Photograpy, Alkmaar

 

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.

ISBN 978-3-10-403347-1

1 Der Große Fall

Mein Vater hat fünf Menschen getötet. Wie die meisten Mörder, die bloß Tastaturen, Hebel oder Kippschalter bedienen, wenn sie für einen maßlosen Augenblick die Herrschaft über Leben und Tod an sich reißen, berührte er dabei kein einziges seiner Opfer oder sah ihm auch nur in die Augen, sondern flutete über eine Reihe blanker Stahlwinden eine der Flußschiffahrt dienende Bootsgasse.

Der durch die geöffneten Schleusentore freigesetzte Wasserschwall verwandelte diese Gasse, einen schmalen, aus Lärchenbalken gezimmerten Kanal, in einen reißenden Abfluß. Ein darin eben noch driftendes, mit zwölf Menschen besetztes Langboot glitt dadurch nicht wie vorgesehen in ruhiger Fahrt vom Ober- in den Unterlauf des Weißen Flusses, sondern schoß in jäher Beschleunigung zwischen bemoosten Felswänden talwärts. Dort, wo die Bootsgasse wieder in das alte Flußbett einmündete, ließ der Schwall das Langboot wie von einer Riesenfaust getroffen umschlagen und kieloben durch brodelnde Kehrwasserwirbel davontaumeln.

Im Donnern des Großen Falls, jenes mehr als vierzig Meter hohen Wasserfalls, der durch ein von meinem Vater fast dreißig Jahre lang reguliertes, ja beherrschtes Kanalsystem sicher umfahren werden konnte, wurden sowohl die Entsetzensschreie der an den felsigen Ufern versammelten Zeugen des Untergangs als auch die Schreie und Hilferufe der Gekenterten und Ertrinkenden unhörbar. Der Weiße Fluß und sein von Flößern und Bootsleuten über Jahrhunderte gefürchteter Fall schluckten jeden Laut, der nicht zu den Wirbeln, nicht zur Gischt, nicht zum Widerhall des gegen die Felsen tobenden Wildwassers gehörte.

Es war ein frühsommerlich warmer, leicht bewölkter Tag, ein Freitag im Mai, an dem nach einem damals wie heute gültigen Kalender der Märtyrer in vielen Dörfern und Städten entlang des fast dreitausend Kilometer langen Stromverlaufs das Fest des heiligen Nepomuk gefeiert wurde – des Schutzpatrons der Flößer, der Brückenbauer und Schleusenwärter, aber vor allem: des Hüters der Verschwiegenheit. Nepomuk, Bischof und kaiserlicher Beichtvater im mittelalterlichen Prag, so überlieferte es eine Legende, die in handtellergroßen, vergoldeten Buchstaben in einen Felsen am Großen Fall geschlagen worden war, hatte sich geweigert, die ihm von einem Kaiser eingestandenen Verbrechen preiszugeben, sei dafür gefoltert und mit einem Schleifstein um den Hals in die Hochwasser führende Moldau gestürzt worden.

Auch wenn in den Tagen seines Festes die meisten Fährverbindungen bereits eingestellt und viele Brükken zerstört waren, die den bis ans Schwarze Meer strömenden Weißen Fluß einmal überspannt hatten, schien der Geist des Brückenheiligen immer noch selbst über gesprengten und überspülten Pfeilern und geborstenen Stahlbögen zu schweben – zu schweben über rostgebräunten oder unter Moospelzen zerfallenden Resten, die in den Sommermonaten in tiefgrünem Dickicht versanken, während sie sich im Winter wie die Gespenster einer in Schande untergegangenen Welt kalt und schwarz aus den Wasserstaubwolken erhoben.

Mehr als vierzig Sprachen wurden am Weißen Fluß gesprochen, aber die Zahl der Brücken, die seine Ufer einmal miteinander vernäht hatten, schrumpfte mit jedem Jahr weiter und verwies mit dramatischer Deutlichkeit auf ein Zeitalter der Trennungen und Grenzen. Denn mit den Brücken waren auch die meisten Allianzen und staatlichen Verbindungen auf dem europäischen Kontinent verschwunden und zu einem Hagel aus Zwergstaaten, Kleinfürstentümern, Grafschaften und von Flaggen und Wappen geschmückten Stammesgebieten zersprungen. Ruhig und unaufhaltsam wie je zog der Weiße Fluß einer Zukunft entgegen, in der nur noch einige morsche Kähne und Rollfähren zwischen jenen glucksenden und schäumenden Wirbeln verkehren sollten, die aus der Strömung ragende Trümmer umrauschten.

 

Fünf Tote. Ob mein Vater diese oder eine ähnlich erschreckende Zahl tatsächlich gewollt oder vielleicht sogar den Tod aller zwölf Passagiere des Langbootes zumindest in Kauf genommen hatte, wird vermutlich ein Geheimnis bleiben, solange nicht ein an Schleusentore genageltes Bekenntnis von ihm oder irgendwo zwischen Schwemmholz und Treibgut auf den Schotterbänken ein anderer Beweis auftaucht, der meine Vermutungen bestätigt oder widerlegt. Alle Fragen an ihn verhallen im Leeren. Denn als hätte er sich nach dem genau bemessenen Ablauf eines Sühnejahres dazu entschlossen, Buße zu tun, trieb mein Vater am ersten Jahrestag seiner Tat unter den Augen eines entsetzten, Warnungen schreienden Fliegenfischers in einer mit Steinsalz beladenen Zille von der Bauart jenes Langbootes, in dem auch seine Opfer gekentert waren, aus dem Oberlauf des Weißen Flusses auf die Wasserstaubwolken des Großen Falls zu.

Er wandte dem panisch winkenden Fliegenfischer kein einziges Mal auch nur den Kopf zu und tat nach den Aussagen des Mannes keinen einzigen Ruderschlag, um zu verhindern, was folgen mußte. Und stürzte mitsamt seiner Fracht in die donnernde Tiefe.

Geborstene Planken seiner Zille wurden an drei verschiedenen Sand- und Schotterbänken gefunden, sein Leichnam dagegen trotz des Einsatzes von Rettungstauchern, die an diesem Stromabschnitt stets nur Tote geborgen hatten, niemals. Und mittlerweile ist wohl auch zu viel Zeit vergangen, um in den Tiefen oder an einer unter Dickicht verborgenen Uferstelle auch nur einen Knochenrest zu finden, der dem Verschwundenen zugeordnet werden könnte.

Das gelöste Steinsalz seiner Fracht, so stelle ich mir vor, mußte damals gewiß auch einen ganzen Schwarm von Süßwasserfischen getötet haben – Regenbogenforellen, Schwerthechte und Saiblinge, die dem in den Wirbeln gelösten Salz, das ihre Kiemen verätzte, panisch zu entkommen versuchten, dabei alle ihre Kräfte mit rasenden Flossenschlägen verpraßten und so ein Beispiel gaben für den Wassertod der Opfer meines Vaters.

Die mehr als neun Meter lange, an eine venezianische Gondel erinnernde Lärchenholzzille, in der mein Vater wie ein unter seiner Schuld erstarrter Bootsmann lautlos im Großen Fall verschwunden war, stammte aus den Beständen jenes der Flußschiffahrt gewidmeten Freilichtmuseums, das er über Jahrzehnte mit einem unstillbaren Haß auf die Gegenwart verwaltet hatte. Denn wenn sich überhaupt etwas Unbezweifelbares über diesen begeisterungsfähigen, manchmal liebevollen, dann wieder über Tage schweigsamen und oft jähzornigen Mann sagen ließ, der mein Vater war, dann, daß er nicht nur als Verwalter einer weitläufigen Museumsanlage, sondern bis in die Abgründe seines Daseins ein Mann der Vergangenheit war.

Spätestens seit er mit seiner Ernennung zum Fallmeister in der Grafschaft Bandon, unserem Heimatdistrikt, sein Amt als Kurator des Museums am Großen Fall angetreten hatte, schien seine Lebenszeit ihre Fließrichtung umgekehrt zu haben und nicht in eine bedrohliche Zukunft zu verlaufen, sondern aus dem Nebel dieser Zukunft zurück in eine Vergangenheit, in der alles vertraut, alles absehbar, alles lenkbar erschien.

 

Fallmeister war in einer Jahrhunderte zurückliegenden, nur für meinen Vater noch lebendigen Zeit der Berufs- und Ehrentitel jener Schleusenwärter gewesen, die den Weißen Fluß im Bereich des Großen Falls in Bootsgassen gelenkt hatten, die wie wasserführende Balkone an die Felswände gebaut worden waren. So konnten die Salzschiffer in ihren Langbooten den Großen Fall in treppenförmig angeordneten Kanälen umfahren.

Ein Fallmeister mußte dabei durch das Öffnen und Schließen eines Systems von Schleusen gerade genug Wasser in diese Gassen lenken, um selbst schwer beladene Salzzillen auf einem seichten, mit jedem Laufmeter schwächer werdenden Schwall am Tosen des Falls vorüber in den Unterlauf des Weißes Flusses zu führen. Denn am Ende der Umfahrung mußte sich dieser Schwall durch seriell geöffnete Ablaufventile verlieren und eine Zille, nur von nassen Lärchenbohlen gebremst, sanft in den Fluß zurückgleiten.

Ein Meister, ein Fallmeister, wer die Abfolge der Öffnung und Schließung von Schleusentoren, Ventilen, Flutungen und Abflüssen so virtuos beherrschte, daß die Bootsmänner in ihren Zillen wie in einer Wiege oder in der Gondel eines Ballons im Sinkflug am Großen Fall vorüberschwebten. Aber wehe!, wenn in dieser Sinkfahrt auch nur ein Fehler geschah. Dann konnte ein Langboot wie der Pfeil einer Harpune talwärts schießen und am Ende der Fahrt im Weißwasser kentern und versinken. Erinnerungen an die in den Jahrhunderten des Salztransports ertrunkenen Bootsleute waren zu Dutzenden als Gedenktafeln an eine blanke Felswand am Großen Fall geschraubt oder dort wie die Legende vom ertränkten Nepomuk als kunstvolle, nun moosüberwachsene Ornamente in den Stein geschlagen worden.

Aber auch wenn die Zeiten der Fallmeister längst vorüber waren, die Mundlöcher der Salzbergwerke im Toten Gebirge, das den südlichen Horizont der Grafschaft als eine bis in die Wolken aufragende Mauer begrenzte, nur noch überwucherte oder zugemauerte Portale waren und die über dem Fluß schwebenden Bootsgassen nur noch gegen mäßigen Eintritt bewunderte Museumsobjekte, legte mein Vater auch als Kurator verbissen darauf Wert, Fallmeister genannt zu werden.

Meine Mutter Jana hatte ihm noch kurz vor jenem Tag, an dem sie ihn unter dem Zwang neuester ethnischer Gesetze verlassen und in ihre adriatische Heimat zurückkehren mußte, an die Brusttasche eines seiner Hemden, in denen er stets den Wasserstandskalender bei sich trug, den Titel mit silbernen Fäden gestickt: Fallmeister. Heute weiß ich, daß Jana meinen Vater wohl auch ohne die Maßnahmen zur ethnischen Säuberung verlassen hätte, weil sie den Haß auf alles Fremde, der das Leben in Bandon bestimmte, und auch den Haß nicht mehr ertrug, den mein Vater gegenüber aller Gegenwart empfand.

Fallmeister! Mir und meiner Schwester Mira, die wir die spöttischen Bemerkungen und das Kichern in Bandon über diesen selbstverliehenen Titel des Kurators kannten, war es damals erschienen, als hätte unsere Mutter ihm vor ihrem Abschied einen Spottnamen an die Brust gestickt, mit dem er schließlich in den Untergang fahren sollte.

 

Nach seinen manchmal beschwörend vorgetragenen Erzählungen war er als Kurator des Museums am Großen Fall bloß einer Berufung gefolgt – schließlich sei bereits der Höhepunkt jedes einzelnen Tages seiner Kindheit eine Flußlegende gewesen, die ihm von seiner Mutter erzählt worden war und ihn immer wieder in eine namenlose Vergangenheit entführt hatte: Ihre Geschichten von Flußgeistern, Algenwäldern, Nixen und dahinschwebenden, vielgestaltigen Wesen, die das Dunkel des Stromgrundes bewohnten, Geschichten von der Tiefe, von der Flut … hatten ihn angeblich Abend für Abend in den Schlaf begleitet.

Als Wasserbürgerin überlieferte seine Mutter in öffentlichen Vorträgen und in Schulen, was auch ihr irgendwann erzählt worden war. Als sie fast hundertjährig starb, hatte mein Vater seine Frau Jana gedrängt, diese Beschwörungen der Wasserwelt bis tief in meine und in die Kindheitsjahre meiner Schwester Mira fortzusetzen. Dabei hätte meine Mutter lieber, viel lieber von ihrer Küste erzählt, von den Inseln der Adria und von Meerjungfrauen als von Flußgeistern. Aber das war ihr verboten.

Am Todestag meiner Großmutter standen wir Jahr für Jahr, meine Eltern, Mira und ich, mit Sträußen blauer Lilien an ihrem Grab in einer Fallmeisterhimmel genannten Sektion des Friedhofs von Bandon und starrten, während wir Gebete und Anrufungen halb murmelten, halb sangen auf die drei Worte, die mein Vater in den Grabstein hatte schlagen lassen:

Es war einmal.

 

Von der Katastrophe am Tag des heiligen Nepomuk habe ich durch ein von Bildausfällen und knackenden Störgeräuschen oft unterbrochenes Netzgespräch mit Mira erfahren. Ich arbeitete damals als Hydrotechniker an verschiedenen Stauwerken des brasilianischen Rio Xingu, einem Zustrom des Amazonas, und erfuhr von dem, was in Bandon geschah, ausschließlich durch diese Gespräche mit meiner Schwester, zumeist mit Tagen Verspätung über ein instabiles, nur in drükkend heißen Nachtstunden einigermaßen zuverlässiges Netz.

Die Kayapó, Waldbewohner am Rio Xingu, kämpften in den Monaten meines Aufenthaltes verzweifelt mit Pfeilen, Speeren und Äxten gegen einen Staudamm, der ihre Dörfer, ihre Jagdreviere und heiligen Bezirke und damit ihre ganze Welt unter Wasser setzen sollte. Daß auch meine Arbeit diesem Weltuntergang diente, wurde mir erst auf weit in der tropischen Wildnis verstreuten Baulosen klar. Ich hatte zuvor noch nie von den Kayapó-Indios gehört, die in der zweiten Woche nach meiner Ankunft die Satellitenempfänger und Glasfaserkabel der die drohende Sintflut vorbereitenden Elektrizitätsgesellschaft zerstörten. Der für die Verlegung von Druckrohrleitungen zuständige Vermessungstrupp, dem ich zugeteilt worden war, verließ das Zeltlager von da an nur noch unter dem feuerbereiten Schutz von Pionieren der brasilianischen Armee.

Mira war enttäuscht, ja wütend gewesen, als ich auch nach der Nachricht vom Verschwinden unseres Vaters mein amazonisches Baulos nicht verlassen konnte, um ihr beizustehen und zu helfen, das Fallmeisterhaus am Großen Fall zu räumen. Unsere Mutter Jana hatte dieses Haus seit ihrem Fortgang weder in ihrer elektronischen Post noch in ihren Netzgesprächen mit Mira je wieder erwähnt und lebte nun nach einer Botschaft, die sie nur meiner Schwester geschickt hatte, mit einem Wasserkrieger auf der Adria-Insel Cres, der in Monatsintervallen als Söldner um Stauzonen am Jordan kämpfte. Sie wollte ihren lange vergeblich geliebten, schließlich gehaßten und an die Vergangenheit geketteten Mann auch auf seinem letzten Weg nicht mehr begleiten. Dabei wußte sie wohl weder damals noch heute, daß dieser Mann nicht nur von der Vergangenheit besessen, sondern ein Mörder gewesen war.

 

Fünf Tote!

Ertrunken waren an jenem Unheilstag im Mai ein Turbinenwärter des Laufkraftwerkes IV am Weißen Fluß, der eine in Bagdad geborene Frau und zwei minderjährige Kinder hinterließ.

Ertrunken war eine Änderungsschneiderin, deren taubstumme Tochter beim Begräbnis ihrer Mutter Kehllaute röchelnd in das offene Grab hinabklettern wollte und vom Totengräber, einem Bürgerkriegsflüchtling, nur mit Gewalt daran gehindert werden konnte.

Ertrunken war ein pensionierter Landmaschinenmechaniker, der sich auch auf den Bau von Holzkähnen verstand und als Amateurastronom in klaren Nächten versuchte, Signale von intelligentem Leben aus den Tiefen des Himmels zu empfangen.

Ertrunken war der Posaunist einer Blechkapelle, die vor dem Ablegen des mit Girlanden geschmückten Langbootes die Hymne der Flößer in das Tosen des Weißwassers geblasen hatte.

Und ertrunken war auch eine kinderlose, an kreisrundem Haarausfall leidende Musiklehrerin, deren verfallendes Fachwerkhaus inmitten eines großen Erdbeerfeldes stand. Das Haus war gerade weit genug von den Ufern des Weißen Flusses entfernt, daß in seinen sonnenhellen Räumen vom Großen Fall nur noch ein dumpfes Brausen zu hören war. In allen Fenstern an der Westseite aber stand zur Zeit der Schneeschmelze und bis tief in den Sommer eine den Auwald turmhoch überragende, manchmal von Regenbögen umflorte Wasserstaubsäule.

Der im Laufkraftwerk IV Am Fall, keine zwei Meilen von meiner Heimatstadt Bandon entfernt, beschäftigte Turbinenwärter war dreiundvierzig Jahre alt, als er gemeinsam mit den vier anderen Opfern des Untergangs am Tag des heiligen Nepomuk ertrank. Die Änderungsschneiderin war sechsundfünfzig Jahre. Die Musiklehrerin, die wegen der gewiß mehr als zwei Dutzend verwilderter Katzen, die sie täglich fütterte, von den Erdbeerpflückern Katzenfrau genannt wurde, siebenunddreißig.

Ihre von Schwerthechten zerfressenen Leichen wurden erst fünf, acht und neun Wochen nach dem vermeintlichen Unglück geborgen. Denn der Weiße Fluß, in dessen Gischt die Ertrinkenden nach dem Umschlagen der mit Blumengirlanden geschmückten Zille davongewirbelt waren, tost in der Grafschaft Bandon durch ein von Nebenarmen, fjordähnlichen Buchten und Kehrwasserkanälen zerrissenes, mehr als einhundert Kilometer langes Gewirr von Schluchten. Und seine Strömungsverhältnisse erscheinen selbst auf den Simulationsprogrammen meiner Computer als heilloses Chaos.

 

Alle Opfer meines Vaters hatten, wenn nicht in Sichtweite, so doch in Hörweite des Großen Falls gelebt. Sein Tosen war das Hintergrundrauschen auch meiner Kindheit und Jugend gewesen, und die Sand- und Schotterbänke in den Schluchten des Weißen Flusses gehörten zu jenen mit Legenden und Mythen verbundenen Spielplätzen, nach deren tiefgrüner, magischer Schönheit ich mich in meinen Arbeitsjahren an den Stauwerken der großen Ströme Afrikas, Südamerikas und Asiens immer wieder zurücksehnte:

Libellen in allen Farben und Größen standen dort vor einem von Schluchträndern eingefaßten Sommerhimmel, als hätte das Glitzern des Wassers sie hypnotisiert und in einen nur im Schwebflug erreichbaren, sirrenden Frieden versetzt. Eisvögel saßen als zerbrechlicher Baumschmuck reglos auf ihren Jagdzweigen, bevor sie sich, wie von einer im Inneren ihres blau leuchtenden Federkleides zündenden Explosion aus der Erstarrung geschleudert, auf dicht unter der Wasseroberfläche lauernde Glasfischchen stürzten, die dort ihrerseits auf Beute warteten.

Jagende Eisvögel erschienen mir damals wie magische Vorführungen der Unausweichlichkeit des Tötens und Getötetwerdens. Immer wieder mußte ich mit Fieberschüben und schweren Erkältungen büßen, wenn ich lange, manchmal stundenlang! bis zum Scheitel unter Wasser im Revier eines Eisvogels stand und, nur mit Schnorchel und Taucherbrille bewehrt, darauf wartete, daß der Jäger sich von seinem Ansitz und aus dem Blau des Himmels lösen und, umwirbelt von einer Wolke aus silbrigen Luftblasen, in die Wassertiefe und auf sein Opfer stürzen würde. Aber ich habe über Jahre vergeblich auf diesen Moment gewartet.

 

Es dauerte lange, bis ich zu begreifen begann, wie ähnlich ich mit meinen Erinnerungen, meinem Heimweh nach diesen Auwäldern und Ufern meinem Vater war, der den Schatten der Wassernebel, die über dem Großen Fall selbst in dürren Sommermonaten aufrauchten, niemals verlassen wollte, niemals die Schluchten, die sein Fluß über die Jahrhunderttausende in die Kalkgebirge am Horizont von Bandon geschliffen hatte.

Ich hatte am Sambesi und am Weißen Nil, in den Quellgebieten des Paraná, des Okavango, Niger, Euphrat, Rio Xingu und Mekong als Söldner in verschiedenen Wasserarmeen die Voraussetzungen dafür zu schaffen versucht, Strömung in Energie zu verwandeln – und hatte wohl erst in den Tagen der Nachricht vom Unheil am Großen Fall zu verstehen begonnen, daß ich den Weißen Fluß in Wahrheit auf meine Weise möglicherweise ebensowenig jemals verlassen würde wie mein Vater.

Wenn ich ihn als Kind in einer von einem brüllenden Außenbordmotor angetriebenen Zille auf seinen Kontrollfahrten durch brodelnde Gischt oder auf seinen Wanderungen über ein System weit gespannter, himmelhoher Seilbrücken begleiten durfte, die uns zu Schleusensystemen, verfallenden Treidelpfaden, Buhnen, überfluteten Entlastungskanälen und morschen Lahnungen führten, hatten wir auf den Flußbänken aus Schwemmlehm manchmal Figuren geformt, deren von der Sonne gebackene Reste den ganzen Sommer lang und manchmal noch bis zum ersten Schneefall zu sehen waren:

Nach den Worten meines Vaters erschufen wir damals nicht anders als der nächstbeste Allmächtige aus dem grauen Lehm Hunde, Ratten und Katzen in wirklichkeitsnahen Größen, einmal sogar einen auf einem umspülten Felsen hockenden Mann in Lebensgröße, den in Kajaks oder Kanus vorüberpaddelnde Flußfahrer zunächst für einen Fischer hielten und später und dann bei jeder neuerlichen Vorüberfahrt mit Steinen aus dem seichten, unter ihnen dahinfliegenden Grund bewarfen, bis er verschwand. Aber ich kann noch heute genau sagen, an welcher Stelle des Felsens unsere Schöpfung, unser Adam, mit seiner Haselnußgerte als Angelrute gesessen und die Paddler getäuscht hatte.

Im Frühling wuchsen auf einem Vorsprung dieses Felsens Teppichprimeln und tiefblauer Enzian, von dem mein Vater stets eine Blüte, niemals mehr, für meine Mutter pflückte, die Wildblumen der Farbe Blau mehr als alle anderen Gewächse liebte, weil Blau die Farbe des Meeres an glücklichen Tagen war, die Farbe ihrer Adria, von deren Felsenküsten sie als Mädchen in einem der endlosen dalmatinischen Kriege geflohen war.

Immer wieder tauchen in meiner Erinnerung aber auch die Gärten von Bandon und wie in ihrer Mitte die Erdbeerbeete der Katzenfrau auf, lange, in den Kältemonaten mit Holzwolle vor dem Frost geschützte Zeilenbeete, in denen im Frühsommer jeder Bewohner von Bandon pflücken durfte, so viel er wollte. Wenn geerntet wurde, standen die Fenster des Fachwerkhauses offen, aus denen der Gesang der Katzenfrau ins Freie drang. Und während die Beerenpflücker die Beete mit krummen Rücken nach den süßesten und größten Früchten absuchten, saß sie an einem Steinway-Flügel und verlor sich in Arien des Belcanto, über deren glucksende Koloraturen die Beerenpflücker, ihr Publikum, in aller Heimlichkeit viel lachten.

Der Sängerin blieb der Spott nicht verborgen, aber wenn sie von ihrem Flügel durch das offene Fenster auf gekrümmte, manchmal von unterdrücktem Lachen bebende Rücken zwischen den Beeten sah, schien ihr die bloße Tatsache der Anwesenheit eines, irgendeines! Publikums stets wichtiger zu sein als Bewunderung oder Applaus.

Zu den eifrigsten Pflückerinnen, erinnere ich mich, gehörten auch die von meinem Vater getötete Änderungsschneiderin und ihre taubstumme Tochter. Die beiden trugen ihre Erdbeeren in aus Kunststoffabfällen geflochtenen Körben nach Hause und pflückten niemals mehr, als in diesen Körben Platz fand. Auch die Kinder des ertrunkenen Turbinenwärters und seiner irakischen Frau werden die Arien der Lehrerin wohl gehört haben, aber an sie erinnere ich mich nicht. Als einer der Erdbeerpflücker habe ich mich oft gefragt, ob es irgend etwas gab – eine Schwingung, eine Berührung des Trommelfells –, einen Rest von Gesang, den die taubstumme Tochter der Änderungsschneiderin von den gellenden Arien hören oder spüren konnte. Jetzt träume ich vom Tosen des Wassers in den Gehörgängen und in den vom Erstickungstod aufgesprengten Mundhöhlen der Ertrinkenden, das mich in manchen Nächten hochschrecken und dann nicht mehr schlafen läßt.

 

Auch wenn die an jenem Nepomukstag im Mai versammelten, ahnungslosen Zeugen der Tat meines Vaters niemals Verdacht geschöpft hatten und wohl immer noch an ein bloßes Unglück glauben, an eine Verkettung verhängnisvoller Umstände, ja an eine Tragödie, der mein Vater als bemitleidenswerter, vom Schicksal geschlagener Mann ein Jahr nach dem Unheil am Großen Fall schließlich selbst zum Opfer gefallen war, lassen die Ergebnisse meiner bisherigen Nachforschungen kaum Zweifel an seiner Schuld zu.

Ich habe über die störanfälligen Satellitenverbindungen aus meinem Camp am Rio Xingu über den Atlantik hinweg eine Unzahl von Fragen nach Bandon gesendet – an Mira, an die Festgäste vom Großen Fall, an die Wartungstechniker der Schleusensysteme und Bootsgassen und selbst an einige Blechbläser der Flößerkapelle, die ihre Instrumente fassungslos absetzten, während die Opfer meines Vaters im Wildwasser versanken. Und ich bin stets zu dem Schluß gekommen: Das war keine Tragödie, das war kein Unglück, sondern ein Verbrechen.

Seit ich am vorläufig letzten meiner Baulose an der Einmündung des Tonle Sap in den Mekong im kambodschanischen Phnom Penh gesehen habe, wie selbst mächtige Ströme unter dem Wasserdruck der Regenzeit ihre Laufrichtung umkehren und wieder in ihr Quellgebiet zurückzufließen scheinen, habe ich mir vorgenommen, mir nicht allein über die Beweggründe der Tat meines Vaters Klarheit zu verschaffen, sondern Klarheit vor allem über die rätselhafte Geschichte der Verwandlung eines von der Vergangenheit geradezu besessenen Mannes in einen von seinen Nächsten und Liebsten und allen guten Geistern verlassenen Menschen, der am Ende bereit war, zu töten.

2 Im Wasserstaub