Gerhard Roth
Der Berg
Roman
Fischer e-books
Gerhard Roth, 1942 in Graz geboren, lebt als freier Schriftsteller in Wien und der Südsteiermark. Er veröffentlichte zahlreiche Romane, Erzählungen, Essays und Theaterstücke, darunter den 1991 abgeschlossenen siebenbändigen Zyklus »Die Archive des Schweigens«. Anschließend erschienen die Bände des »Orkus«-Zyklus: die Romane »Der See«, »Der Plan«, »Der Berg«, »Der Strom« und »Das Labyrinth«, die literarischen Essays über Wien »Die Stadt« sowie die beiden Erinnerungsbände »Das Alphabet der Zeit« und »Orkus – Reise zu den Toten«. Für sein Werk wurde Gerhard Roth mit zahlreichen Literaturpreisen ausgezeichnet.
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Der Journalist Viktor Gartner reist zu den griechisch-orthodoxen Klöstern auf dem Berg Athos – angeblich, um darüber einen Reisebericht zu verfassen, tatsächlich aber, um nach dem serbischen Dichter Goran R. zu fahnden, der Anfang der 90er Jahre Zeuge eines Massakers in Bosnien geworden sein soll und sich nun auf Athos versteckt. Gartners Suche nach Goran R. wird von erschreckenden und verwirrenden Zwischenfällen begleitet: Seinen ersten Informanten findet er ermordet vor, zwei weitere brechen den Kontakt ab, als sie vom Zweck seiner Reise erfahren. Auch sein Begleiter, ein Arzt und Kenner der geheimnisumwitterten alten Klöster auf Athos, scheint ihn eher von der Spur abbringen zu wollen. Nichts ist so, wie es zu sein scheint. Eine gespenstische Atmosphäre der Irritation und Bedrohung liegt über allem, was geschieht. Victor Gartners festgefügtes Bild von sich selbst und der historischen Realität löst sich allmählich auf wie die uralten Fresken an den Decken der baufälligen Klöster...
Gerhard Roths spannender Reiseroman in das ›Herz der Finsternis‹ Südosteuropas verwebt politische, historische und mystische Motive zu einem Buch über die Grenzen des Journalismus wie unserer gesamten Wahrnehmung.
»Ein poetischer Thriller«
›Focus‹
Covergestaltung: Buchholz / Hinsch / Hensinger
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2011
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ISBN 978-3-10-401317-6
Jakob Philipp Fallmerayer: »Der heilige Berg Athos«, München und Leipzig 1913
Ein Geschichtsschreiber, auch der bloße Liebhaber dieser Kunst, besitzt natürlich immer Dokumente. So hat denn auch der Erzähler dieser Geschichte die seinen: zunächst sein eigenes Zeugnis, dann dasjenige der anderen, und schließlich die Schriftstücke, die ihm in die Hände fielen. Er hat die Absicht, sie zu verwenden, wenn es ihm gut dünkt und wie es ihm gefällt.
Albert Camus, Die Pest
Der Wagen setzte ihn an der Ecke vor dem Haupteingang zur Aristoteles-Universität in der Panepistimiou ab. Es war fünf Minuten vor zehn, am 1. Mai 199.. In der Nacht zuvor hatte Gartner von einem Film geträumt, den er vor vielen Jahren gesehen hatte. Vielleicht musterte er deshalb das Areal durch die Windschutzscheibe wie eine Kinoleinwand. Das von Betongebäuden umgebene Gelände lag verlassen da, und der kalte Regen und die Windstöße draußen ließen ihn schon jetzt frösteln.
Er bat den Fahrer, auf ihn zu warten, bis er zurückkehren würde. Erst dann stieg er aus. Der Platz, über den er schritt, ähnelte mit seinen Haufen Mörtelresten und verrosteten Eisengittern einer Baustelle. Er suchte die Wegbeschreibung in seiner Hosentasche. Dabei berührte er das Medaillon, das er am Tag seiner Ankunft in Thessaloniki von einem Straßenhändler gekauft hatte, ein Stück Bernstein mit einer darin eingeschlossenen Heuschrecke. Aber das Medaillon war natürlich aus Kunststoff, und nur das Insekt war echt. Er wäre bestimmt nicht darauf hereingefallen, wenn er nicht betrunken gewesen wäre. Gartner vergewisserte sich, daß er das Paläontologische Institut vor sich hatte. Plötzlich wurde er von jemandem angesprochen. Er blickte sich irritiert um: Hinter einem Holzverschlag stand ein Mann, der ihn, eine Zigarette in der Hand, um Feuer bat. Gartner ging mit einer bedauernden Geste weiter, aber er war beunruhigt. Er hatte es doch vermeiden wollen, gesehen zu werden, dachte er, als er auf das mit Bildern und Sprüchen besprayte Haus zuschritt. In der Vorhalle war es vollkommen still. Die schmalen, verschmutzten Gänge waren leer, im ersten Stock wies ein Pfeil zum Institut, in dem Dr. Bosič arbeitete. Vor der unversperrten Tür hingen Schaukästen mit Fossilien, Muscheln, Steinen und kleinen Tierplastiken: ein Elefant, ein Nashorn, ein Gürteltier. Gartner fiel jetzt wieder die Heuschrecke in seiner Hosentasche ein.
Noch vor einer Woche hatte er zu den angesehensten Redakteuren seiner Zeitung gehört, aber ein Artikel, in dem er einen Politiker beschuldigt hatte, von einem illegalen Waffengeschäft gewußt zu haben, ohne dies aber juristisch beweisen zu können, hatte nicht nur seinem, sondern auch dem Ruf der Zeitung geschadet, weshalb man ihn kurzfristig zum Wochenend-Journal strafversetzte, einem Tummelplatz für freie Mitarbeiter, gescheiterte und vor der Pensionierung stehende Kollegen. Der Chefredakteur, der ihm eine Reisereportage zur Mönchsrepublik Athos zuteilte, ahnte allerdings nicht, daß Gartner mit diesem Auftrag eigene Absichten verband, für die er die Hilfe von Dr. Bosič benötigte. Er wollte den serbischen Dichter Goran R. im Kloster Chilandar auf dem Berg Athos ausfindig machen. R. hielt sich dort angeblich versteckt, weil er im Jugoslawienkrieg Augenzeuge des Massakers von S. geworden war, bei dem sechstausend bosnische Moslems ermordet worden waren. Dr. Bosič war vor zwanzig Jahren Novize im Kloster Chilandar gewesen. Der gebürtige Serbe war Assistent am Paläontologischen Institut Thessaloniki, in dem sich der älteste, nahezu vollständig erhaltene Schädel eines Europäers befindet. Also konnte Gartner ihn treffen, ohne Verdacht zu erregen. Natürlich hatte er Dr. Bosič über einen Mittelsmann, einen Literaturprofessor und Übersetzer, von seinen wirklichen Absichten informiert und sich mit ihm geeinigt, aber Dr. Bosič, von dem Gartner nur eine Fotografie gesehen hatte, war bei aller Höflichkeit ein mißtrauischer Mann und behandelte Gartner mit größter Vorsicht.
Der Flur führte zu einem kleinen Studienmuseum mit verschiedenen Skelettfunden. Die meisten anthropologischen Präparate in der Vitrine waren aus Knochensplittern zusammengesetzt – Beweise für die akribische Forschungsarbeit von Dr. Bosič. Gartner lauschte und beschloß, an Ort und Stelle Notizen für seine Geschichte zu machen. Er holte seine Pocketkamera heraus und fotografierte die braunen altmodischen Vitrinen, aus denen ihn die leeren Augenhöhlen der Tierschädel anstarrten. In Kisten lagen verschiedene in Packpapier eingewickelte Schachteln, Gartner vermutete darin weitere Knochenstücke. Er widmete sich dann den schwarzgerahmten Fossilien an den Wänden, den versteinerten Fischen und Vögeln, die ihn zusammen mit den farbigen Drucken von Sauriern und Urtieren an Bücher seiner Kindheit erinnerten.
Gartner öffnete die Tür zu einem weiteren Raum. Dr. Bosič hatte offenbar schon alles vorbereitet: Auf dem abgenutzten Metallschreibtisch stand ein Aluminiumkoffer, daneben, in eine Schaumgummimanschette gebettet, der pergamentgelbe Skelettkopf des Archäanthropus, dessen Alter beinahe 800 000 Jahre betrug. Gartner hätte ihn für einen Affenschädel gehalten, wegen der starken Überaugenwülste, der fliehenden Stirn und der großen Nasenöffnung, doch hatte er gehört, daß diese Merkmale auch beim Neandertaler und beim stammesgeschichtlich älteren Homo erectus zu finden sind. Er hatte sich vom Wiener Anthropologen Professor Seidler in die komplexe Materie einführen lassen, denn die Reiseschilderung, sofern er sie wirklich verfassen würde, sollte mit diesem Kopf beginnen. Er schob den Schädel gegen das Fensterlicht, fotografierte ihn, und wunderte sich insgeheim, weshalb Dr. Bosič nicht erschien. Gleichzeitig registrierte er, daß die Tür zum Nebenraum durch einen Keil am Zufallen gehindert war. An der Wand gegenüber hing eine geologische Landkarte von Griechenland in zarten Abendwolkenfarben, die Gartner, wie es seine Gewohnheit war, ebenfalls aufnahm. Er wollte gerade seine Kamera einstecken, als er hastige Schritte und hierauf eine Tür in das Schloß fallen hörte. Instinktiv wußte er, daß etwas Ungewöhnliches passierte.
Er bewegte sich nicht. Leise klatschten Regentropfen gegen die Fensterscheibe, es kam Gartner wie eine Entdeckung vor, daß sie, unbeeindruckt von dem, was geschah, durchsichtige Rinnspuren auf dem Glas hinterließen. Der automatische Objektivschutz seiner Kamera schloß sich mit einem kaum vernehmbaren Surren, während er den Namen von Dr. Bosič in die Stille rief. Seine Stimme versickerte ohne Echo. Noch einmal rief er den Namen, aber tatsächlich schien ihn niemand zu hören. Er trat in den Flur und erschrak: im Glas einer Vitrine sah er jemanden auf sich zukommen. Die Bewegung der Gestalt hielt inne, und erst jetzt erkannte er sie als seine eigene. Er atmete leise zischend die Luft ein. Hinter der Scheibe des Schaukastens lagen asselhafte Trilobiten und Querschnitte großer Gehäuse von Ammoniten, die ihm wie Modelle von turbinenförmigen Maschinen vorkamen.
Seit seiner Kindheit war ihm klar, daß ihn ein Universum der Gleichgültigkeit umgab, in dem alles nur vorläufig existierte. Ihm fielen die nebensächlichsten Details besonders dann auf, wenn eine Nachricht ihn niederschmetterte, er in Gefahr war oder wenn er vor einer schweren Entscheidung stand. Die Einzelheiten erinnerten ihn immer an den Tod, der ihn häufig beschäftigte wie auch an diesem Morgen, als er beim Erwachen nicht gewußt hatte, wo er sich befand.
Am Ende des Flures entdeckte Gartner eine halboffene Tür, dahinter ein kleines Büro. Er näherte sich vorsichtig und sah an einem Schreibtisch eine massige Gestalt, deren Kopf auf die Brust gefallen war. Der korpulente Mann mit schütterem Haar und brauner Hornbrille schien zu schlafen. Sein Hemd, soweit es nicht durch ein Jackett verdeckt war, war von Blut tiefrot gefärbt. Es hatte auch auf der eleganten, eierschalenfarbenen Sommerjacke dunkle Flecken hinterlassen. Ein Ohr war verstümmelt, und von dort lief ein dünner Blutfaden in den Kragen. Dr. Bosič rührte sich nicht. Gartner bückte sich, blickte in sein Gesicht und schaute in große, braune Augen, die über eine andere Welt staunten. Quer über den Hals verlief ein klaffender, blutiger Schnitt. Nachdem Dr. Bosič durch einen Schlag, der offenbar ein Ohr getroffen hatte, betäubt worden war, hatte man ihm die Kehle durchgeschnitten, dachte Gartner. Er blieb stehen und bemühte sich, nichts zu übersehen. Neben dem Löschpapier lag ein Militärmesser mit einem grünen Kunststoffgriff und einer scharfen, blutigen Klinge. Der Mörder hatte den Wissenschaftler möglicherweise in dem Moment getötet, als Gartner den Schädel fotografierte, überlegte er weiter. Jedenfalls hatte er hierauf die Schritte und das Geräusch der ins Schloß fallenden Türe gehört.
Gartner ging zurück in den Flur und sah schon von weitem, daß die Institutstür innen keine Klinke, sondern nur einen Knopf aufwies – er war mit dem Ermordeten eingeschlossen. Er versuchte die Tür trotzdem durch das Drehen des Knopfes zu öffnen, was, erwartungsgemäß, vergeblich war. Resigniert kehrte er in das Büro zurück. Gartner kannte den Anblick von Leichen aus der kurzen Zeit seines Journaldienstes im Lokalteil und später vom Jugoslawienkrieg, deshalb wohl blieb er gefaßt.
Dr. Bosič war vermutlich vom Geheimdienst ermordet worden, um zu verhindern, daß er mit ihm, Gartner, zusammenarbeitete, dachte er weiter. Er hatte immer damit gerechnet und in seinem tiefsten Inneren sogar gehofft, eines Tages in einen schwierigen, gefährlichen Fall verwickelt zu werden. Nun aber befürchtete er insgeheim, der Situation nicht gewachsen zu sein. Dr. Bosič hockte da. Das Blut tropfte von seiner Hemdbrust langsam auf die Schreibtischplatte. An der Wand hinter seinem Kopf hing ein Farbdruck mit Delphinen und Sauropoden im blauen Gewässer, ein behäbiger, tonnenschwerer Iguanodon fraß Laub von Bäumen, während ein Rudel räuberischer Deinonychi gerade hinter einem Hügel zum Vorschein kam. Das Bild wirkte wie ein ironischer Kommentar zu dem Verbrechen, das in diesem Raum begangen worden war. Ein anderes gerahmtes Bild zeigte Fossilien von Meeresschnecken, die ihn durch die Windungen ihrer versteinerten Gehäuse an eine Lehrtafel für Daktyloskopie erinnerten. Er stellte fest, daß die schwarze Halogen-Leselampe über dem Schreibtisch abgebrochen war, der kleine Schirm lag zu Füßen des Toten. Es waren vielleicht sogar zwei Mörder gewesen, überlegte Gartner. Der eine hatte den Wissenschaftler festgehalten, während der andere zuschlug. Er bemerkte auch, daß eine Kunststoffflasche mit Wasser in der Blutpfütze stand, daneben zwei Trinkbecher und eine Schachtel mit Kleenex-Taschentüchern.
Gartner hörte ein dumpfes Prasseln. Er trat ans Fenster und sah, daß der Regen stärker geworden war. Er machte von Dr. Bosič mehrere Bilder – aus der Nähe und mit dem Büro als Hintergrund. Dann zog er ein Buch aus der Jackentasche des Toten, das ihm beim Fotografieren aufgefallen war und das er sofort erkannt hatte. Es war der Lyrikband Ikonen von Goran R.
Gartner hatte den gleichen Gedichtband vom Schriftsteller erhalten, als er ihn während des Jugoslawienkrieges kennenlernte, und hatte sich die Gedichte bei seiner Recherche von einem Dolmetscher aus dem Serbischen übersetzen lassen, da er vorhatte, R. im Kloster Chilandar mit seinen Kenntnissen zu beeindrucken. Er wußte aus langjähriger Erfahrung, daß nichts so sicher die Lippen eines Menschen, der zum Schweigen entschlossen ist, öffnete wie das unverblümte Interesse an seiner Person. Die Ikone auf dem Umschlag stellte einen bärtigen König dar mit samtroter, edelsteingeschmückter Krone, in einem schwarz und golden verzierten Königsmantel, dessen roter Kragen und dessen Schärpen mit Perlen bestickt waren. Die Abbildung war von zahlreichen kleinen Bildern eingerahmt, die Stationen aus dem Leben des Monarchen zeigten. Der Umschlag verwies auf Goran R.’s Gedicht »Der Geblendete«, das die Verbindung von Legendenbildung und Geschichtsschreibung zum Thema hatte und einem serbischen König aus dem 14. Jahrhundert, Stephan III. Decansky, gewidmet war. Gartner wischte seine Fingerabdrücke sorgfältig vom Umschlag des Buches, bevor er es in das oberste Regal mit den wissenschaftlichen Werken stellte.
Eine Minute lang stand er gedankenlos im Raum. Die rote Pfütze unter Dr. Bosič dehnte sich weiter aus. Voller Schrecken bemerkte Gartner, daß auch aus einem Ärmel des Sakkos Blut auf den Boden floß. Mit seiner Wunde am Ohr und dem Schnitt durch den Hals ähnelte der tote Dr. Bosič selbst dem serbischen König Stephan III. Decansky, der zum Märtyrer geworden war. Gartner leistete sich nur selten einen Anflug von Zynismus, wie er sonst den Gesprächston seiner Kollegen bestimmte. Er entwickelte seine Hartnäckigkeit, Ausdauer und Unerbittlichkeit auch nicht wie die meisten aus beruflichem Ehrgeiz, sondern aus einer detektivischen Obsession, die sich immer verstärkte, wenn er sich unter Druck gesetzt fühlte oder sein Gerechtigkeitsgefühl beleidigt sah.
Er suchte in seinem amerikanischen Armeeparka, den er sich für sein Vorhaben gekauft hatte, das Mobiltelefon, verließ den Raum und setzte sich auf einen gepolsterten Stuhl im Flur. Er wußte, wie deprimierend das Warten zwischen den Skelettabdrücken und Kieferknochen sein würde. Er blickte auf die Uhr, ohne die Zeit zu registrieren. Aber sogar an einem Feiertag wie diesem erreichte er den Chefredakteur problemlos. Den langen, abgebrochenen Stoßzahn eines Mammuts betrachtend, der ihn an die alten, geschnitzten Billardkugeln auf dem grünen Filz eines Spieltisches denken ließ, berichtete er ihm, was vorgefallen war, ohne den wahren Hintergrund zu erwähnen. Der Chefredakteur erfaßte instinktiv, daß an der Sache etwas nicht stimmte, allerdings fehlten ihm eindeutige Anhaltspunkte. Er löcherte Gartner mit Fragen, bis der ungeduldig wurde und ihn anherrschte, er möge zusehen, daß er den Anwalt der Botschaft erreiche, bevor die Polizei eintreffe.
»Sie haben recht«, antwortete der Chefredakteur und legte auf.
Gartner hörte das Rauschen des Regens, obwohl der Flur kein Fenster hatte. Er war unentschlossen, zurück in das Büro des Toten zu gehen. Er stieß ihn ab und zog ihn gleichzeitig an, wie er bleich und massig, halb kniend dasaß, in stummem Aufruhr.
Erneut trat Gartner an das Fenster und sah eine Gestalt in einem beigen Overall aus dem Institut über den Platz schlendern. In einer Hand trug der Mann einen Schraubenschlüssel, mit dem er gegen seinen Oberschenkel schlug. Plötzlich drehte sich der Fremde um und starrte hinauf zum Institutsfenster, er schien ihn hinter der Scheibe zu erkennen, lachte und hob kurz die Hand. Gartner war so überrascht, daß er nicht reagieren konnte. Die sichtbare Schadenfreude und der unverhohlene Hohn des Unbekannten erschreckten ihn. Daß der Mann der Mörder von Dr. Bosič war, daran zweifelte Gartner keinen Augenblick. Die Distanz zwischen ihnen war viel zu groß, als daß Gartner seine Augen hätte erkennen können, aber er hatte den Blick körperlich gespürt, wie eine unangenehme, aufdringlich-intime Berührung, die ihn mit ihrer Unverschämtheit erniedrigte. Wo war sein Komplize? Vielleicht war er vorausgeeilt, weil er Angst gehabt hatte, entdeckt zu werden, während der Mann im Overall sich offenbar nur schwer von der Stätte seines Triumphes trennte.
Der Platz lag nun leer und trostlos im Regen, eine nüchterne Bühne nach der Vorstellung. Eine Zeitlang beobachtete er den Bretterzaun, hinter dem der Mörder verschwunden war, dann drehte er sich um. Die Saurier auf den Farbdrucken schwammen noch immer im Gewässer und fraßen Laub von den Bäumen, und der tote Dr. Bosič war noch weiter in sich zusammengesunken. Gartner wählte die Telefonnummer seines Wiener Anwalts und verspürte plötzlich das dringende Verlangen nach seinem Hotelzimmer, auch fiel ihm ein, daß der Taxifahrer noch immer auf ihn wartete.
Offenbar war Dr. Jenner schon auf den Beinen, denn sein Anschluß war besetzt, und es dauerte geraume Zeit, bis er sich meldete. In den letzten Jahren hatte Gartner die einzelnen Schritte und Ziele aller Recherchen zuvor schriftlich bei seinem Rechtsanwalt hinterlegt, als Rückversicherung bei unvorhergesehenen Schwierigkeiten. Selbstverständlich unterlag der Anwalt der Schweigepflicht. Jenner galt als gerissen, und er haßte es, im Unterschied zu seinen Kollegen, in der Tagespresse erwähnt zu werden. Er war im selben Alter wie Gartner, sein Haar war schütter, und seinen langsam sichtbar werdenden Bauch verdeckte ein geschickter Schneider hinter weiten Sakkos. Jenner war ein wendiger Mann, von zynischer Höflichkeit und witzelnder Grausamkeit des Wortes. Eigentlich mochte ihn Gartner nur wegen seines bösartigen Scharfsinns, den er unter einer schläfrigen Maske versteckte.
»Sind Sie’s, Gartner?« fragte er ohne Umschweife, »ich habe gerade mit Ihrem Chef telefoniert.«
»Ja.«
Gartner stierte in eine Vitrine mit Elefanten-, Hyänen-, Nashorn-, Bären- und Giraffenkiefern, einer wahren Zahnstation für Urtiere.
»Ich habe ihm nichts gesagt«, fuhr Jenner fort, »Sie wissen, wie hinterlistig er fragt.« Er lachte. »Ich bestätigte ihm nur, daß Sie Ihrem Reiseauftrag nachgehen; im übrigen hätten Sie zuerst mich anrufen sollen, nicht ihn.« Gartner ärgerte sich, daß er die Neugierde des Chefredakteurs nicht genügend bedacht hatte.
»Ich halte Sie auf dem laufenden«, antwortete er Jenner, und bevor der noch etwas fragen konnte, beendete Gartner das Gespräch, denn er hörte vom Gang her Schritte.
Im kalten Weiß der Neonlampen lagen die Gegenstände, die man ihm abgenommen oder eilig aus dem Hotelzimmer herbeigeholt hatte. Eine Sonnenbrille, das Mobiltelefon, die schwarze Pocketkamera »Olympia«, unbelichtete Filme, die in Kunststoff-Bernstein eingeschlossene Heuschrecke, ein Plastikfeuerzeug und ein rotes Schweizer Armeemesser mit Klinge, Korkenzieher und Flaschenöffner. Außerdem sein IBM-Laptop »Thinkpad«, der Pocketcomputer »Psion«, das Sony-UKW-Radio-Shortwaver, mit dem er zu jeder Stunde hören konnte, was zu Hause geschah, und der Sony-Kassettenrekorder mit Tonbändern, sein Paß, der Presseausweis, 850 Dollar, die er »für alle Fälle« in der Gesäßtasche bei sich trug, die Breitling-Armbanduhr für drei Zeitzonen, eine Spezialanfertigung anläßlich der 21. Segelflugweltmeisterschaften, und zwei verchromte Kugelschreiber Marke »Fisher Space-Pen«, deren Minen auch schrieben, wenn man sie vertikal nach oben hielt, das Flugticket und seine Geldbörse mit verschiedenen Scheckkarten. Natürlich hatte man den belichteten Film gefunden und ihn Gartner abgenommen, die gespeicherten Daten des Laptops ausgedruckt und von einem Beamten untersuchen lassen. Gartner hatte Notizen zu mehr als hundert Geschichten auf der Festplatte, dazu Entwürfe von Stories und deren endgültige Fassung, ein Telefonbuch mit Adressen, (nicht aber die geheimen) Satzgefüge, Artikelanfänge und zwei Computerspiele, für den Fall, daß ihm die Zeit lang wurde. Alles, was geheim und wichtig war, pflegte Gartner unauffällig zu tarnen. Telefonnummern schrieb er von hinten nach vorne und gab ihnen eine irreführende Bezeichnung als Datum mit Uhrzeit, Flugnummer oder Gepäckschein, oder er schrieb sie wie beiläufig an den Rand einer Serviette. Immer versteckte er die vertraulichsten Daten zwischen harmlosen Papieren, so daß sie einen zufälligen Eindruck hinterließen. Wichtige Notizen machte er auf lose Papierstückchen, dabei verwendete er selbsterfundene Kurzschriftkürzel, die auch ein Spezialist nur mühsam würde entziffern können. Er stellte befriedigt fest, daß keines dieser Papiere auf dem Tisch lag. Dr. Hatzaridis, sein Anwalt, und ein übergewichtiger Dolmetscher übersetzten und kommentierten die Fragen des Kommissars, ein schweigsamer Polizist führte Protokoll. Das Verhörzimmer lag irgendwo in dem verwinkelten, alten Polizeigebäude, das zum Großteil mit Baugerüsten umgeben war, an denen man grüne Netze befestigt hatte. In den Gängen war der Verputz bis zur Decke heruntergeschlagen, so daß die nackten Ziegelwände zum Vorschein kamen. Die Lampen hingen an langen Kabeln, überall waren Wasser- und Gasleitungen sichtbar, Fensterscheiben waren zersprungen, durch Löcher in den Mauern knapp über dem Fußboden konnte man einen Blick ins Freie werfen. Es roch erstickend nach Feuchtigkeit, Schimmel und Schutt, der bei jedem Schritt unter den Sohlen knirschte. Im Hof standen Polizeiwagen neben Baugeräten, die Stämme der Bäume waren zum Schutz mit einem Mantel aus Holzplanken umgeben.
Der Kommissar hatte sich Zeit gelassen, mit Gartner auf das Revier zu fahren. Ausführlich mußte Gartner, unterstützt vom mühsam dolmetschenden Dr. Hatzaridis, zuerst demonstrieren, wie er in das Paläontologische Institut gekommen und was er dort Handgriff für Handgriff getan hatte. Der Geruch des Blutes von Dr. Bosič breitete sich allmählich im Institut aus. Das Gesicht des Kommissars mit dem Filouschnurrbärtchen erinnerte Gartner an die Karikatur eines Friseurs oder das Flair eines Slapstick-Komikers der dreißiger Jahre. Seine Finger und Handrücken waren behaart, und die tiefen braunen Ringe unter den Augen gaben ihm das Aussehen eines Leberkranken.
In dem wie durch eine Explosion zerstört wirkenden Polizeigebäude begegnete Gartner auf dem Gang dem Taxifahrer, der sich zerstreut auf seine Einvernahme vorbereitete. Er blickte Gartner vorwurfsvoll an. Gartner bat Dr. Hatzaridis, einen eleganten, angegrauten Mittfünfziger mit Wellen im Haar und einem Diamantring am kleinen Finger, den Fahrer zu entlohnen. Dann wurde Gartner in einen giftiggrünen Laborraum gebracht, wo ihm ein glatzköpfiger Beamter in Hosenträgern die Fingerabdrücke abnahm. Er beobachtete aufmerksam, wie Gartner seine Kleidung bis auf die Unterwäsche ablegte. Dann rieb er seine Finger mit Waschbenzin ab, rollte sie einzeln über die teerschwarze Farbschicht und wiederholte den Vorgang auf den angegebenen Feldern des Fingerabdruckblattes. Gartner hatte sich im Zusammenhang mit einer Recherche, es ging um den Diebstahl von Regierungspapieren, über die Grundlagen der Daktyloskopie unterrichten lassen: Es gab im Fachjargon Inseln, Augen, Gabeln, hatte er sich gemerkt, Häkchen, Punkt- und Strichfragmente, Verästelungen und Kreuzungen, die von den feinen Papillarleisten gebildet wurden. Verwundert betrachtete er die Linien, Wellen, Spiralen und Schleifen, die seine Finger auf dem weißen Papier hinterließen. Der glatzköpfige Beamte legte das Fingerabdruckformular zur Seite und forderte Gartner auf, ihm in einen unbeleuchteten Raum zu folgen. Das Neonlicht wurde eingeschaltet und gab den Blick auf einen Drehstuhl vor einem grauen Leinenvorhang frei. Gartner nahm Platz und ließ sich von vorne und im Profil fotografieren, außerdem mußte er an sich einen Mundhöhlenabstrich vornehmen lassen. Der Teil mit der Speichelprobe wurde in eine durchsichtige Kunststoffkappe gesteckt, das Filzstäbchen vor ihm auf den Tisch gelegt. Inzwischen waren seine Kleider, Hemd, Schuhe, Hose, Sakko, die man ihm im Laborraum abgenommen hatte, um sie auf Blutspuren zu untersuchen, gegen einen grauen Drillich ausgetauscht worden. Als Gartner ihn anzog, stellte er fest, daß er ihm zu klein war, aber niemand achtete darauf. Er sah sich in einem Wandspiegel an, die Ärmel zu kurz, die Jacke so eng, daß er sie nicht zuknöpfen konnte, die Hose knöchellang. Dr. Hatzaridis, den Blick zur Decke gerichtet, versuchte ihn damit zu beruhigen, daß der Botschafter ohnedies verständigt sei, sonst unternahm er nichts, außer daß er Zigaretten rauchte oder seine Fingernägel betrachtete.
Kommissar Poulianos war anfangs überrascht, daß Gartner zwei Namen hatte: Sofort war sein Gesicht mit dem Filouschnurrbärtchen abweisend geworden, die zur Schau getragene gelangweilte Gleichgültigkeit einer argwöhnischen Aufmerksamkeit gewichen. Weshalb war ihm der Festgenommene als Gartner angekündigt worden, während die Papiere auf den Namen Jakob Morawa ausgestellt waren? Gartner erklärte mühsam, daß er neben seinem Kunstgeschichtsstudium unter Pseudonym begonnen hatte, für eine Wiener Tageszeitung Filmkritiken zu schreiben. Und allmählich war er unter diesem Pseudonym »Gartner« bekannt geworden, war er in sein Pseudonym hineingewachsen, so daß ihm zuletzt sein wirklicher Name fremd wurde.
Während er seine Erklärung abgab, betrachtete er den Fußboden aus schwarzem Kunststoffbelag mit zahllosen Schuhabdrücken. Die Stuhllehne, die Türklinke, alles fühlte sich abstoßend schmierig an. Staub lag auf den mit Schnüren zugebundenen Protokollen in den Eisenregalen, den verschmutzten Fenstern, den Lampenschirmen.
Später, als es dunkel geworden war und Kommissar Poulianos die Fenster öffnen ließ, da die stickige Luft den Schweiß aus den Poren trieb, taumelten gelbbraune Nachtfalter aus der Schwärze des Hofes herein und stießen mit einem fast unhörbaren Klingen gegen die Glühbirne.
Dr. Hatzaridis’ nikotinfarbene Finger legten Gartner schließlich das Protokoll zur Unterschrift vor, aber er weigerte sich, seinen Namen darunter zu setzen. Im Licht fingen die aufgewirbelten Staubteilchen des Zimmers zu glimmen an, wie Sand in einem sonnendurchschienenen Teich, wenn man die Augen unter Wasser öffnet, und die flatternden Nachtfalter schienen sich mit ihren Schattenfiguren zu verdoppeln und zu verdreifachen. Kommissar Poulianos sprang auf, wütend drohte er, daß Gartner, wenn er das Protokoll nicht unterzeichne, in eine Zelle gebracht würde. Der dickleibige Übersetzer erklärte es stockend, furchtsam, mit einem Blick, der Gartner zum Einlenken bewegen sollte, auch Dr. Hatzaridis hob die Augenbrauen und senkte sie nicht mehr.
Gartner hatte seit dem Frühstück nichts mehr gegessen, nichts getrunken, nicht einmal ein Glas Wasser hatte man ihm angeboten. Die Hemden von Dr. Hatzaridis und dem Kommissar wiesen große Schweißflecken auf. Am Nachmittag hatte es zu regnen aufgehört, und die kühle Luft war einer drückenden Schwüle gewichen. Gartner sah eine rote Ader im Weiß des Augapfels von Kommissar Poulianos, die ihn an die Linien seiner Fingerabdrücke erinnerte. Dr. Hatzaridis war inzwischen dazu übergegangen, ihm das Protokoll stockend zu übersetzen. Er wiederholte Gartners Antwort, er habe den Archäanthropus für einen Reisebericht fotografieren wollen und sei Dr. Bosič nie zuvor begegnet. Den Auftritt des Mörders, der ihm mit dem Schraubenschlüssel zugewunken hatte, verschwieg Gartner.
Noch immer rätselte der Kommissar über das Motiv der Tat. Wollte man den Schädel stehlen, und hatte Gartner zufällig den Dieb überrascht, der Dr. Bosič hierauf umgebracht hatte? Kommissar Poulianos schien das nicht sehr plausibel zu sein, deshalb bohrte er weiter. Inzwischen trat ein Beamter ein, der den entwickelten Film und die Fotografien vor dem Kommissar auf den Tisch legte. Poulianos zuckte zusammen, als er den toten Dr. Bosič sah, und unterbrach Dr. Hatzaridis mit der Frage, weshalb Gartner den Ermordeten aufgenommen habe.
»Ich bin Journalist«, antwortete Gartner gereizt.
»Und?« fragte Poulianos ungehalten.
Der diplomatische Dolmetscher übersetzte die Frage mit: »Glauben Sie, daß Ihre Antwort ausreicht?«
Gartner bejahte die Frage und verstand nicht, weshalb Poulianos ihn anfuhr: »Ich werde Ihnen Ihre Arroganz abkaufen!«
Der Dolmetscher übersetzte mit: »Ich werde Ihnen das abkaufen.«
»Was regen Sie sich auf?« fragte Gartner, »ich habe mit der Sache nichts zu tun.«
»Herr Gartner beteuert, daß er mit der Sache nichts zu tun hat«, beschwichtigte der Übersetzer den Kommissar.
Dr. Hatzaridis’ Fremdsprachenkenntnisse waren eher dürftig, aber er verstand, daß der Dolmetscher Gartner, aus welchen Gründen auch immer, in Schutz nahm.
»Herr Gartner ist mit den Nerven am Ende«, wandte Dr. Hatzaridis sich an den Kommissar im Wunsch, sich in Szene zu setzen, »er hat jedoch Verständnis für Ihre Arbeit und will Ihnen mit seiner Aussage behilflich sein.«
Der Dolmetscher nickte zustimmend.
»Das ist sehr klug von Herrn Gartner, sagen Sie ihm das«, gab Poulianos sarkastisch zurück.
»Der Herr Kommissar hält Sie für sehr klug und ersucht Sie, ihm mit Ihrer Aussage behilflich zu sein«, erklärte der Dolmetscher.
Eine kurze Pause entstand. Kommissar Poulianos musterte Gartner, der den Blick erwiderte.
Dr. Hatzaridis setzte die stockende Verlesung des Protokolls fort, unterstützt und ausgebessert vom Dolmetscher. Als er geendet hatte, verlangte Gartner, ohne auf das Protokoll einzugehen, sich die Hände waschen zu dürfen, was ihm gestattet wurde.
Er stieg, begleitet von einem Polizisten, über Haufen von Ziegelstaub und abgeschlagenem Verputz, seine Schuhe waren mit einem grauen Puder aus Schmutz bedeckt, und der Gang aus nackten alten, roten Ziegeln erinnerte ihn an einen Schlachthof oder eine Hinrichtungsstätte.
Die Toilette wies Flecken auf, wie Gartner sie noch nie gesehen hatte. Der Verputz hatte sich schwarz und schleimiggrün verfärbt, bildete Blasen, der ganze Raum mit seinen Urinoirs und verschmutzten Fensterscheiben hatte etwas von der Atmosphäre eines üblen Traumes. In Wien kannte Gartner einen Fotografen, der vorzugsweise die Flecken im Gemäuer der Stadt aufnahm und ihr in seinen Bildern so ein eigenes Antlitz gab. Er bildete sich ein, daß die Flecken in den verschiedenen Stadtbezirken jeweils ein anderes Aussehen und eine andere Farbe hatten. Für diesen Fleckensammler waren die gelben Verputzfehler im Schloß Schönbrunn seltsame Landkarten aus der Habsburger Zeit, imaginäre Reiche, phantastische Welten aus dem Kopf des verrückten Kaisers Rudolf II. oder Kinderparadiese verstorbener Erzherzöge. Inseln tauchten da auf, erzählte er Gartner, Kontinente in gelben Meeren, graue Flüsse, schwarze Gebirge, weiße, kreisrunde Städte in chlorophyllgrünen Ländern, und der Fotograf beschwor ihn, daß diese Länder, Meere, Gebirge, Ströme, Städte wirklich existierten. Zumindest aber ergebe seine Sammlung einen Atlas verschwundener Denkwelten. Jeder Gedanke, der einmal in einem Kopf entstehe, sei eine Energieform, und alle diese divergierenden Gedanken bildeten Gedankenmeere, Gedankenkontinente, Gedankengebirgsmassive. Immer erstaunter und angeregter hatte Gartner die zahllosen Farbfotografien und Dias betrachtet, die unbeachtete Fleckenwelt der Stadt, an den Außenwänden, in Stiegenhäusern, Kellern, Badezimmern und Toiletten, in Gängen, Fensternischen, um Eingangstüren, unter Regenrinnen, ein unerschöpfliches Reservoir an Formen und Farben. Gartner begriff, daß alle diese Flecken nichts anderes waren als das wundersame, unerklärbare Universum der Einsamkeit des Fotografen.
Diese Gedanken tauchten blitzartig in Gartners Kopf auf, sie übermittelten ihm vergessen geglaubte Erinnerungen an Gerüche, an Temperaturen, an Berührungen, an Worte, Gesichter, Lichtstimmungen, Farben, Umrisse. Im nächsten Augenblick, im dunklen Toilettenraum der Polizeidirektion, glaubte Gartner, sich selbst in jener Mauerfleckenwelt zu befinden, an die er so lange gedacht hatte. Der Belag des Spiegels an der Wand war vermodert. Er sah sein Gesicht darin durchbrochen von Schwärze, schemenhaft, als sei er selbst in Verwesung übergegangen oder als sei er dabei, eine okkulte Gestalt anzunehmen, eine Geistererscheinung zu werden. Wieviel Lügen, wie viele Verbrechen, dachte er, während er sich die Hände wusch, muß dieses Gebäude gesehen und gehört haben, daß es solche ungeheuren Mauerflecken gebildet hatte, diese Überlagerungen von Klecksen, dieses Aufblühen und Absterben von Verputz.
Das klare Wasser sprudelte zwischen seinen Fingern in den Ausguß, ein kaltes, zerrinnendes Lebewesen, das im Schwarz des Loches verschwand, in das er stürzte wie in einen Schacht …
Man hob Gartner auf einen Diwan, flößte ihm Wasser ein, gab ihm ein Stück Weißbrot und wartete, bis er sich erholt hatte. Kommissar Poulianos rauchte und blickte durch ihn hindurch. Nach einer Viertelstunde fühlte Gartner sich besser. Vermutlich war er aus Erschöpfung ohnmächtig geworden, dachte er. Er befand sich wieder im Aktenarchiv, in dem die Nachtfalter schwirrten. Nach einer Weile bot ihm Dr. Hatzaridis an, ihn zurück in das Hotel zu fahren. Man brachte ihm seine Kleidung und die Uhr, auch das Mobiltelefon händigte man ihm aus. Nachdem er sich umgezogen hatte, führte ihn Dr. Hatzaridis eilig durch das zerstörte Haus, das in der Nacht wie eine düstere Filmkulisse wirkte. Gartner fiel Dr. Bosič’ Leichnam ein, das blutige Hemd, seine glasigen Augen, und er schwor sich, weiterzumachen.
Auf der Straße öffnete Dr. Hatzaridis seinen Wagen, und Gartner nahm neben ihm Platz.
»Sie müssen sich morgen früh wieder im Präsidium einfinden, um zehn Uhr, soll ich Sie abholen?« fragte er. »Dann erhalten Sie auch Ihre anderen Sachen und Ihren Paß zurück.« Er fuhr, ohne eine Antwort abzuwarten, los.
Eine Statue tauchte aus der menschenleeren Dunkelheit auf, Alleebäume, Zeitungskioske.
»Brauchen Sie einen Arzt?« fragte Dr. Hatzaridis.
Gartner schüttelte den Kopf. Ein Arzt, der wieder Fragen stellte, war das letzte, was er jetzt wollte.
»Kommissar Poulianos vermutet nun auch, daß der Mörder hinter dem Schädel her war und Sie ihm in die Quere gekommen sind. Außerdem wird jetzt das Leben von Dr. Bosič durchleuchtet. Ich hoffe aber, Sie morgen freizubekommen. Kann ich etwas für Sie tun? Jemanden anrufen? Übrigens läßt Sie der Botschafter grüßen. Er ist über jeden Schritt informiert. Sie verstehen, daß er sich nicht persönlich eingeschaltet hat, aber einer seiner Beamten kümmert sich um alles. Sie können ihn gerne anrufen, wünschen Sie seine Telefonnummer?«
Gartner schüttelte wieder den Kopf und blickte weiter durch die Windschutzscheibe auf die nächtliche Stadt, die vor ihm lag wie die Großaufnahme eines Filmes.
Das Elektra Palace Hotel ähnelte einem Opernhaus mit seinen roten Marmorsäulen, den großen Buchssträuchern, Palmen und weißen Blumenbottichen aus Zement. Uniformierte Gepäckträger eilten auf die anhaltenden Taxis zu, rissen die Türen auf, und wenn der Gast sich umdrehte, erblickte er am Ende des Aristotelesplatzes das weit zum Horizont sich ausdehnende Meer. Die Dunkelheit hatte von der Schönheit des Platzes nur noch die trübgelb beleuchteten Arkaden und die darunter befindlichen Cafés übriggelassen.
Gartner nahm den Lift, schloß das Zimmer auf und sah, was er ohnedies erwartet hatte: daß es durchsucht worden war. Der Koffer mit dem aufgerissenen Deckel und die verstreute Wäsche ließen ihn an den Kadaver eines Riesenvogels denken, dem ein Flügel abgerissen war und dessen Federn über den Boden verstreut lagen. Das Telefon läutete, und der Portier wollte scheinheilig wissen, ob alles in Ordnung sei. Gartner sank erschöpft auf das Bett; sein Blick fiel auf das Nachtkästchen, wo der Gedichtband Ikonen mit der Widmung von Goran R. lag. Nachträglich beglückwünschte er sich, daß er das andere Exemplar aus der Tasche von Dr. Bosič genommen und in die Institutsbibliothek eingereiht hatte. Vielleicht wäre sonst den Beamten, als sie sein Hotelzimmer durchsuchten, aufgefallen, daß sie das gleiche Buch auf seinem Nachtkästchen wie bei dem Toten gesehen hatten. Er nahm es in die Hand und betrachtete das Umschlagbild. Er wußte, daß die Ikone Stephan III. Decanskys vom gelehrtesten serbischen Maler aus dem 16. Jahrhundert, dem leprakranken Mönch Longin aus Pec, stammte. Longin war auch Dichter gewesen und hatte seine Ikonen und Fresken, literarischen Werke und Paramente signiert. Goran R. hatte Longins Leben und die von ihm geschaffenen Bilder voller Anspielungen auf kulturgeschichtliche und mythologische Begebenheiten zu einem surrealistischen, religiösen Epos verarbeitet, weshalb Gartner sich die Reproduktionen von Longins Christus Pantokratoros mit Aposteln besorgt hatte, von seiner thronenden Madonna mit Kind und Propheten und seiner erweiterten Deesis, außerdem noch von zehn beidseitig bemalten Ikonen, die früher an den entsprechenden Festtagen im Kirchenschiff ausgestellt wurden. Sie zeichneten sich durch eine ungewöhnliche Kombination von Ocker, Olivgrün und Blau aus.
Gartner hatte bald vergessen, daß er sich auf ein Gespräch mit Goran R. vorbereiten wollte, so sehr hatte ihn Longins Kunst beeindruckt. Am meisten faszinierte ihn der Wunsch des Malermönchs, Stephan III. Decanskys Martyrium durch Schönheit zu verherrlichen, eine Absicht, die auch in Goran R.’s Werk spürbar wurde. Außerdem studierte er Longins Schilderung der Schlacht von Velbuzd.
Im Halbschlaf gingen Gartner die Bilder durch den Kopf, und der Anblick des blutigen Dr. Bosič vermischte sich mit der Erinnerung an die Wandflecken im Polizeipräsidium. Er schlug die Augen auf, setzte sich in ein Fauteuil und dachte in der Dunkelheit nach. Auch in der Redaktion seiner Zeitung, wenn ein Artikel wegen neuer Informationen knapp vor Mitternacht rasch umgeschrieben werden mußte, drehte er zunächst das Licht ab, um sich besser konzentrieren zu können, bevor er zu arbeiten begann. Nach Redaktionsschluß streifte er dann durch Nachtlokale, Cafés, Bars und Amüsierbetriebe, denn sein Schlaf wollte sich immer erst in den frühen Morgenstunden einstellen, wenn es hell wurde.
Etwas später knipste er das Licht der Stehlampe an. Er bückte sich zur Börsenseite der Frankfurter Allgemeinen Zeitung hinunter, die neben dem Koffer lag und an deren Rand er sich eine unscheinbare Notiz gemacht hatte. In flüchtigen Buchstaben stand dort: Abb HiFE BICo Coo. Die Notiz mußte von hinten nach vorne gelesen werden, jeder Buchstabe stand für eine Ziffer, nämlich für die Stelle, die er in der Reihenfolge des Alphabets einnahm. Also bedeutete die Notiz, 122 8965 2930 300. Von hinten nach vorne gelesen war es die Telefonnummer seines Mittelsmannes Joannis Avramis. Der Literaturprofessor und Übersetzer von Goran R.’s Lyrik hatte eine Adresse in Nea Michaniona, außerhalb von Thessaloniki, angegeben und Gartner angewiesen, nur im äußersten Notfall, wenn sein Unternehmen zu scheitern drohte, Kontakt mit ihm aufzunehmen. Gartner, der Avramis als UNO-Dolmetscher in Bosnien kennengelernt hatte, wußte, daß der Professor nach erfolglosen Aktienspekulationen vor einem Berg von Schulden stand. Gartner hatte ihm versichern müssen, daß er das Versteck Goran R.’s nicht preisgeben würde, ebensowenig wie den Namen Dr. Bosič’, der ihn zu Goran R. bringen sollte. Er übertrug eilig die Abkürzung Abb HiFE BICo Coo auf einen Geldschein, steckte diesen zu den Scheckkarten, nahm das Mobiltelefon aus der Jackentasche und wählte Avramis’ Nummer. Es war drei Uhr früh. Während er darauf wartete, daß der Literaturprofessor sich meldete, stellte er fest, daß sein Herz unrhythmisch schlug, was er der Anstrengung der letzten Stunden zuschrieb.
Gartner hatte gewußt, daß er bei seiner Suche nach Goran R. mit Schwierigkeiten rechnen mußte. Als das UNO-Kriegsverbrechertribunal für das ehemalige Jugoslawien Goran R. in Den Haag als Zeugen vorlud, um General M., der das Massaker an den bosnischen Moslems befohlen hatte, des Kriegsverbrechens zu überführen, verloren sich die Spuren des Dichters in Belgrad. Avramis hatte Gartner mehrfach gewarnt, daß er es, wenn er hinter Goran R. her war, mit dem serbischen Geheimdienst zu tun bekäme, der für seine »Effizienz«, wie Avramis sich ausdrückte, bekannt sei. Avramis war es auch gewesen, der Goran R. im Kloster Chilandar auf dem Berg Athos versteckt glaubte.
»Ja?« Die Stimme am anderen Ende der Leitung klang unwirsch.
»Wie geht es Ihnen?« fragte Gartner auf englisch.