Johann Wolfgang Goethe | Friedrich Schiller
Der Briefwechsel
Eine Auswahl
Herausgegeben von Rüdiger Safranski
Fischer e-books
Originalausgabe
Covergestaltung: bilekjaeger, Stuttgart
Coverabbildung: Ernst Friedrich August Rietschel, »Goethe-Schiller-Monument«, 1857
© Bildarchiv Steffens/Bridgeman Art Library, Berlin
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2011
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ISBN 978-3-10-401605-4
Handschriftliche Notiz Goethes: *aus Franckfurt.
Die Horen. Einladung zur Mitarbeit
Über die ästhetische Erziehung des Menschen
Römische Elegien
Venezianische Epigramme
J. H. Meyer. Kunstsachverständiger. Lebte in Goethes Haus.
Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten
Goethes alter Freund Friedrich Heinrich Jacobi hatte die Römischen Elegien als unsittlich kritisiert.
Johann Gottlieb Fichte hatte Jena wegen studentischer Ausschreitungen gegen ihn vorübergehend verlassen.
Auf die Geburt des Apollo
Märchen. Abschluß der Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten
Goethes Übersetzung von Madame de Staëls Aufsatz Versuch über die Dichtungen für die Horen
Schillers Abhandlung Über naive und sentimentalische Dichtung
Schillers Gedicht für die Horen
Tod von Goethes neugeborenem Sohn am 16. 11. 1795
Über naive und sentimentalische Dichtung
Über naive und sentimentalische Dichtung
August von Sachsen-Gotha-Altenburg
Charlotte von Kalb
Idee zu den Xenien, die Goethe und Schiller im Musenalmanach für das Jahr 1797 veröffentlichen.
Xenien
Carl Ludwig von Woltmann. Historiker und Autor.
Goethe übersetzte die Autobiographie des ital. Goldschmieds Benvenuto Cellini (1500–1571) für die Horen.
Landaufenthalt
Eine Statuette
Xenien
Roman von Jean Paul
Goethe plante eine neuerliche Italienreise, die nicht zustande kam.
Die unpolemischen Distichen
Reaktionen auf die Xenien
Das Epos Hermann und Dorothea
Arbeit an Hermann und Dorothea
Hermann und Dorothea
Die Jagd
Schillers Sohn Ernst
Agnes von Lilien, ein Roman von Schillers Schwägerin Caroline von Wolzogen
Goethe plante eine dritte Italienreise, die dann nur bis in die Schweiz führte (vom 30. Juli bis 20. November 1797).
Ballade Die Kraniche des Ibycus
Geplante Ballade Die Jagd
Hölderlins Hymne An den Aether und seine Elegie Der Wanderer
Schillers Ballade Der Ring des Polykrates
Sophie Mereau
August Wilhelm Schlegel
Die ästhetischen Erörterungen der vorausgegangenen Briefe werden fortgesetzt.
Amyntas
Über epische und dramatische Dichtung
Die Horen werden 1798 eingestellt.
Goethes Farbenlehre
Die Urkunde zu Schillers französischem Bürgerrecht war bereits 1792 unterzeichnet worden von Männern (u.a. von Danton), die inzwischen getötet oder in den Selbstmord getrieben worden waren.
Es war zwischen Schiller und den Gebrüdern Schlegel zu einem Zerwürfnis gekommen.
Die Zeitschrift Athenäum. Darin Fragmente von Friedrich und August Wilhelm Schlegel.
August Wilhelm Schlegel
Umbau des Weimarer Theaters. Eröffnung am 12. Oktober 1798 mit Wallensteins Lager.
Goethe hatte unmittelbar vor der Premiere noch einige kleinere Texteingriffe vorgenommen.
Die Frage lautet: Soll Astrologie für Wallenstein eine Rolle spielen?
Die Piccolomini
Gemeint ist die Probe für die Aufführung der Piccolomini in Weimar.
Der Plan zu einem lehrhaften Gedicht über die Natur
Goethe plante ein Epos mit dem Titel Achilleis, das unvollendet blieb.
Schiller arbeitet an Maria Stuart.
Roman von Friedrich Schlegel
Schiller erwägt die Übersiedlung nach Weimar. Sie erfolgt dann im Dezember 1799.
Gemeint sind die Proben zur Aufführung von Mahomet. Ein Stück von Voltaire in der Bearbeitung Goethes.
Die Jungfrau von Orleans
Erster Brief nach der lebensbedrohlichen Krankheit Anfang Januar 1801
Iphigenie auf Tauris
Schillers Umarbeitungen der Iphigenie
F. W. J. Schelling
Kotzebue hatte, um einen Keil zwischen Goethe und Schiller zu treiben, eine theatralische Feier zum Namenstag von Schiller initiiert, die dann doch nicht zustande kam.
Dem neu errichteten Theater in Lauchstädt mangelte es an Einnahmen. Es mußten daher publikumswirksame Stücke auf die Bühne gebracht werden.
Geburt der Tochter Kathinka. Das Kind starb drei Tage später.
Besuch von Madame de Staël in Weimar
Wilhelm Tell
Man hatte Schiller bei seinem Besuch in Berlin das Angebot einer königlichen Jahrespension von 3000 Talern in Aussicht gestellt. Schiller erwog eine Umsiedlung nach Berlin. Goethe wollte den Freund in Weimar halten und empfahl Bleibeverhandlungen mit dem Herzog in Weimar. Der Herzog erfüllte Schillers Forderungen.
Goethes Monographie Winckelmann und sein Jahrhundert
Dieser letzte Brief Schillers beschäftigt sich mit Goethes Anmerkungen zu Rameaus Neffe von Denis Diderot. Goethe hatte auf Schillers Empfehlung den Text erstmals übersetzt.
Wahrscheinlich ein Nachtrag zu den Anmerkungen zu Rameaus Neffe
War es wirklich Freundschaft, was Goethe und Schiller vom Sommer 1794 an bis zu Schillers Tod am 9. Mai 1805 miteinander verband?
Bereits die Zeitgenossen haben es bisweilen bezweifelt. Handelt es sich vielleicht nur um ein taktisches Bündnis, geschlossen zu dem Zweck, eine Suprematie auf geistigem Gebiet zu befestigen? Dieser Eindruck mochte sich aufdrängen bei den 1797 gemeinsam verfaßten Xenien, diesem Strafgericht gegen die literarischen Sitten und Unsitten der Zeit, das viel Staub aufwirbelte und Ärger sowie gekränkte Eitelkeiten zur Folge hatte. Man nannte Goethe und Schiller schon damals die »Dioskuren« und empörte sich über ihr anmaßendes Auftreten. Die Bannsprüche vom Olymp wurden nicht ohne Widerspruch hingenommen. Man wollte sich nicht schulmeistern lassen. Doch es blieb, sogar bei den Kritikern, Bewunderung im Spiel, wenn auch oft eine verhohlene. Die Autorität der beiden war unbestritten. Man war heimlich sogar stolz auf sie: die macht uns so schnell keiner nach! Schon damals fragte man, wer von den beiden wohl der größere sei, und begann, sie gegeneinander auszuspielen. Dabei tat sich besonders Kotzebue hervor, der erfolgreichste Theaterautor der Zeit. Er plante 1802, um Goethe zu ärgern, eine pompöse Ehrung Schillers in Weimar, im Rahmen einer Feierstunde mit Lorbeerkränzen, einer Gipsbüste und tanzenden Blumenmädchen. Der Bürgermeister von Weimar verhinderte im letzten Augenblick das Spektakel, womöglich hatte Goethe im Hintergrund die Fäden gezogen. Schiller jedenfalls war erleichtert. Es gab einen neuen Anlaß für Satiren und Spötteleien.
Doch gleichwohl behauptete sich auch im Handgemenge der Zeit das Bild der Freundschaft. Später wurde es geradezu zum Mythos verklärt. Und so stehen die beiden noch heute, gemeinsam den Lorbeerkranz haltend, als Dichterfürsten vor dem Theater in Weimar.
Solche Überlebensgröße mußte immer wieder die Kritiker auf den Plan rufen. Das geschah auch, als Goethe 1829, ein Vierteljahrhundert nach Schillers Tod, den Briefwechsel herausbrachte. Die nachrückende literarische Generation wollte sich von den Idolen der Vätergeneration emanzipieren. Es war die Stunde des Vatermordes. Grabbe erklärte, der Briefwechsel sei wenig mehr als eine »Sammlung billetmäßiger Lappalien«, allenfalls könne man daraus ablesen, wie Schiller seinen Partner Goethe allmählich »überflügelt« habe. Börne urteilt noch schärfer: »Aber daß unsere zwei größten Geister in ihrem Hause, dem Vaterlande des Genies, so nichts sind – nein, weniger als nichts, so wenig – das ist ein Wunder, und jedes Wunder erfreut, und wäre es auch eine Verwandlung des Goldes in Blei.«
Die Chancen stehen nicht schlecht, daß sich heute das Blei wieder in Gold verwandeln könnte, denn tatsächlich ist dieser Briefwechsel das beredte Zeugnis einer erstaunlichen Freundschaft. Man wird in der Geschichte des Geistes lange suchen müssen, um etwas Vergleichbares zu finden – daß zwei schöpferische Menschen höchsten Ranges sich über Gegensätze hinweg verbinden zu wechselseitiger Anregung und gemeinsamem Werk. Sie waren selbst darüber erstaunt und beglückt, daß das Unwahrscheinliche gelang. Schiller schrieb am 5. Januar 1798 an Goethe: Ich finde augenscheinlich, daß ich über mich selbst hinausgegangen bin, welches die Frucht unseres Umgangs ist. Goethe antwortet anderntags: Sie haben mir eine zweite Jugend verschafft und mich wieder zum Dichter gemacht, welches zu sein ich so gut als aufgehört hatte.
Ungefähr zur selben Zeit formulierte Goethe in einem Brief an Herders Sohn seinen Grundsatz für gelingende Freundschaft. Es wäre besser, schreibt er, wenn man sich mit Freunden nur von einer Seite verbände, von der sie wirklich mit uns harmonieren, und ihr übriges Wesen weiter nicht in Anspruch nähmen. So würde die Freundschaft dauerhaft und ersprießlich. Man müsse sich also von dem Wunsch verabschieden, der Freund solle gleichsam ein anderes Ich sein.
Diesem Grundsatz sind Goethe und Schiller gefolgt. Sie haben sich nur von einer Seite verbunden und waren vorsichtig genug, die Verbindung nicht zu sehr zu belasten. Was sie aber verband, war bedeutend genug, nämlich das für sie Wichtigste: die Arbeit am eigenen Werk, die in der Freundschaft zu einer gemeinsamen Arbeit wurde. Auf der Basis eines wachsenden Vertrauens und tiefen Verständnisses beförderten sie sich wechselseitig, im deutlichen Bewußtsein ihrer sonstigen Verschiedenheiten, die sie produktiv nutzen. Sie halfen sich dabei, die jeweils eigenen Möglichkeiten zu entfalten. Man wollte sich nicht einander angleichen, sondern jeweils das Eigene in Bestform bringen. Schiller definierte diese Freundschaft als ein auf wechselseitige Perfektibilität gebautes Verhältnis. Man war nicht ein Herz und eine Seele und strebte auch nicht danach, es zu werden. Im Mittelpunkt stand die gemeinsame Sache der Literatur, aber von dort aus strahlte die Freundschaft auch auf das übrige Leben aus, wie der Briefwechsel zeigt, wo nicht nur die großen geistigen Themen erörtert wurden, sondern man sich auch das Alltägliche mitteilte, Sorgen teilte und Zuspruch gab.
Merkwürdig allerdings verhält es sich mit den Frauen am Rande dieser Männerfreundschaft. Goethe behandelt Schillers Frau Charlotte, geborene von Lengefeld, zuvorkommend, fast zärtlich. Kein Brief ohne einen herzlichen Gruß an sie. Wenn er zu Besuch war im Hause Schillers, brachte er meistens ein kleines Geschenk für die Küche mit, einen Hecht, Erdbeeren, einen Hasen; auch Spielsachen für die Kinder. Einmal sogar eine Spielzeugguillotine. Er suchte Charlotte in ihren Räumen auf. Er kannte sie schließlich länger als Schiller. Sie war die Patentochter der Frau von Stein und soll bei ihm als kleines Mädchen auf dem Schoß gesessen haben. Schiller aber nahm umgekehrt von Christiane Vulpius, Goethes Lebensgefährtin, kaum Notiz. Kein Gruß, keine Einladung, auch keinen Dank, wenn er wieder einmal in Goethes Hause zu Gast war und sie ihn versorgt hatte. Seine Freundschaft mit Goethe ging über sie hinweg, obwohl Christiane sich hilfsbereit zeigte, wenn sie während Charlottes Schwangerschaften oder bei Krankheit Schillers Kinder in ihre Obhut nahm und versorgte.
Bekanntlich empfand die sogenannte bessere Gesellschaft in Weimar Goethes Lebensgefährtin als nicht standesgemäß. Solcher Standesdünkel lag Schiller fern. Der Grund für sein Verhalten war ein anderer. Er befand sich nämlich in einem Loyalitätskonflikt. Charlotte hielt zu ihrer Patentante, die ihre Kränkung durch Goethes Abwendung nie überwinden konnte. Sie nannte ihre Nachfolgerin Christiane Vulpius stets nur die »Mätresse«. Sie ließ kein gutes Haar an ihr und beeinflußte Schillers Charlotte in diesem Sinne. So geriet Schiller zwischen die Fronten. Sein Verhältnis zu Christiane war verkrampft. Später erst gewann er seine Unbefangenheit zurück. Dann konnte es auch geschehen, daß er bei einem Treffen in Lauchstädt Christiane über einen See ruderte. Seiner Charlotte gegenüber hat er das allerdings verschwiegen, während Christiane es Goethe sogleich mit einigem Stolz in einem Brief mitteilte.
Es waren einige Widerstände zu überwinden, ehe es zu der Freundschaft zwischen Goethe und Schiller kam.
Man war sich zum ersten Mal 1779 begegnet. Der zehn Jahre ältere Goethe war schon ein berühmter Autor, ein Idol der jungen Generation. Es war ein Festakt an der Hohen Karlsschule in Stuttgart. Schiller erhielt aus den Händen seines Herzogs einen Preis. Auf der Bühne standen noch zwei andere Herren auf der Durchreise, der Weimarer Herzog und sein Minister Goethe. Da stand nun der bewunderte Mann vor Schiller, diesem noch unbekannten Studenten, der sich aber schon als kommender großer Autor fühlte. Sein Schauspiel Die Räuber lag noch in der Schublade. Ähnlich wie Goethe mit seinem Werther, so erlebte Schiller mit seinen Räubern wenig später, 1782, einen jähen Durchbruch zum literarischen Ruhm, und mit seinen nächsten Stücken festigte er diesen Ruhm. Er wurde, nach Goethe, der neue Stern am Literaturhimmel. Goethe verfolgte Schillers Aufstieg zunächst mit Unbehagen. Nicht daß er ihm die Prominenz neidete – Goethe hatte kein Talent zum Neid. Er fühlte sich aber bei dem Autor der Räuber zu sehr an seinen eigenen »Sturm und Drang« erinnert, an eine Epoche, die er für sich selbst überwunden zu haben glaubte. Ein kraftvolles, aber unreifes Talent, nannte er ihn, das die ethischen und theatralischen Paradoxe von denen ich mich zu reinigen gestrebt, recht in vollem hinreißenden Strome über das Vaterland ausgegossen hatte.
Das war 1788 gewesen, nach der Rückkehr aus Italien. Charlotte von Lengefeld, inzwischen Schillers Braut, hatte ihre Beziehungen genutzt, um Schiller endlich mit Goethe zusammenzubringen. Dieses Treffen im Rahmen einer Geselligkeit im Hause der Lengefelds mißriet. Goethe zeigte sich Schiller gegenüber abweisend. Schiller schrieb seinem Freund Körner über diese mißlungene Begegnung am 7. September 1788: Ich zweifle, ob wir einander sehr nahe rücken werden. Vieles, was mir jetzt noch interessant ist, was ich noch zu wünschen und zu hoffen habe, hat seine Epoche bei ihm durchlebt; er ist mir (an Jahren weniger, als an Lebenserfahrung und Selbstentwicklung) so weit voraus, daß wir unterwegs nie mehr zusammenkommen werden; und sein ganzes Wesen ist schon von Anfang her anders angelegt, als das meinige, seine Welt ist nicht die meinige, unsere Vorstellungsarten scheinen wesentlich verschieden …
Schiller zwingt sich zur Gelassenheit. Da er aber in Nachbarschaft zum Haus am Frauenplan wohnt, bemerkt er, wie die literarische Welt bei Goethe ein und aus geht. Nur er wird nicht eingeladen. Das kränkt, es wächst der Groll, der endlich aus ihm herausbricht in einem Brief an Körner: Öfters um Goethe zu sein, würde mich unglücklich machen: er hat auch gegen seine nächsten Freunde kein Moment der Ergießung, er ist an nichts zu fassen; ich glaube in der Tat, er ist ein Egoist in ungewöhnlichem Grade. Er besitzt das Talent, die Menschen zu fesseln … aber sich selbst weiß er immer frei zu behalten. Er macht seine Existenz wohltätig kund, aber nur wie ein Gott, ohne sich selbst zu geben … Ein solches Wesen sollten die Menschen nicht um sich herum aufkommen lassen. Mir ist er dadurch verhaßt, ob ich gleich seinen Geist von ganzem Herzen liebe und groß von ihm denke. Ich betrachte ihn wie eine stolze Prüde, der man ein Kind machen muß, um sie vor der Welt zu demütigen.
Bei dieser sonderbaren Mischung von Haß und Liebe, die er hier eingesteht, ist die Rollenaufteilung bemerkenswert. Schiller sieht sich als werbenden Mann mit Penetrationsgelüsten, Goethe als Frau. Kaum hat er diese Sätze an Körner geschrieben, sind sie ihm auch schon peinlich. In einem Brief, den er hinterherschickt, heißt es: Ich muß lachen, wenn ich nachdenke, was ich Dir von und über Goethen geschrieben haben mag. Du wirst mich wohl recht in meiner Schwäche gesehen, und im Herzen über mich gelacht haben, aber mag es immer. Ich will mich gerne von Dir kennen lassen, wie ich bin. Und wie ist er? Er fühlt sich als ein vom Schicksal Benachteiligter, der gelernt hat zu kämpfen und aus sich das Beste zu machen. Und hat er nicht das Beste daraus gemacht? Und darum empfindet er es als ungerecht, daß er im Vergleich zu Goethe so sehr kämpfen mußte. Goethe hingegen scheint ihm vom Schicksal begünstigt zu sein. Er kann nicht daran denken, ohne daß sich sogleich wieder Zorn und Eifersucht rührt. Dieser Mensch, dieser Goethe ist mir einmal im Wege, und er erinnert mich so oft, daß das Schicksal mich hart behandelt hat. Wie leicht ward sein Genie von seinem Schicksal getragen, und wie muß ich bis auf diese Minute noch kämpfen! …
Solche ambivalenten Gefühle machen ihn befangen, unfrei. Die Freiheit aber ist für ihn das Wichtigste. Ohne sie fühlt er sich von seiner schöpferischen Kraft abgeschnitten. Um von seinen ambivalenten Gefühlen nicht belästigt zu werden, meidet er nun seinerseits den Umgang mit Goethe. Als Künstler mißt er sich auch weiterhin an ihm, aber doch so, daß nicht Lähmung, sondern Ansporn die Folge ist. Er beschließt, energisch den eigenen Weg zu verfolgen, ohne ständig zum Konkurrenten hinüberzuschielen. Sein Lebensrezept für die folgenden Jahre formuliert er in einem Brief an Karoline, seine Schwägerin: Es ist eine Sprache, die alle Menschen verstehen, diese ist, gebrauche deine Kräfte. Wenn jeder mit seiner ganzen Kraft wirkt, so kann er dem andern nicht verborgen bleiben. Dies ist mein Plan. Wenn einmal meine Lage so ist, daß ich alle meine Kräfte wirken lassen kann, so wird er und andre mich kennen, wie ich seinen Geist jetzt kenne.
Er kann Goethe nicht ignorieren, wie sollte er auch, aber er will nur wie von Ferne zu ihm hinüberblicken, dabei fest die eigenen Ziele im Auge behaltend, und unbeirrt daran arbeiten, das zu werden, was er sein kann. Dann, so hofft er, kann es vielleicht geschehen, daß man sich irgendwie auf einer gemeinsamen Bühne findet. Man trifft am besten, wenn man nicht zielt, absichtliche Absichtslosigkeit also.
Goethe setzte sich Anfang 1789 für eine Berufung Schillers auf eine Professur in Jena ein. Das würde er nicht getan haben, wenn inzwischen sein Bild von Schiller sich nicht zum besseren gewandelt hätte. Schillers Annäherung an die Kunstideale der Antike hatten ihn beeindruckt, besonders gefiel ihm dessen großes Gedicht Die Götter Griechenlands. Der dort mit elegischem Pathos gefeierte Polytheismus und die scharfe Wendung gegen einen sinnenfeindlichen Monotheismus hatten ihm dermaßen aus der Seele gesprochen, daß er einigen weiblichen Verehrerinnen stundenlang damit in den Ohren gelegen hatte – wovon Schiller Kunde erhielt, was ihm natürlich sehr schmeichelte. Goethe hatte sich dann auch die späteren Theaterstücke Schillers vorgenommen, besonders den Don Karlos, den er seiner dramatischen Effekte wegen schätzte. Den Historiker Schiller aber begann er unverhohlen zu bewundern. Der Abfall der Niederlande galt ihm als ein herausragendes Ereignis der Geschichtsschreibung.
Man hätte sich also schon jetzt näherkommen können. Aber da gab es ein neues Ärgernis.
Im Frühjahr 1793 erschien Schillers große Abhandlung Über Anmut und Würde. Hier geht es um die unterschiedliche Art, wie der Mensch im Umgang mit seiner Natur die Freiheit nutzen kann, wie er die Natur veredelt oder sich von ihr veredeln läßt. Gegen Kant gewendet, der vom Dualismus zwischen sinnlichem Verlangen und moralischer Freiheit nicht losgekommen war, definiert Schiller Anmut als Versöhnung von Trieb und Freiheit, Natur und sittlicher Vernunft. Wenn diese Versöhnung gelingt – und für Schiller kann sie gelingen –, wird der Mensch zur schönen Seele, die er so definiert: Eine schöne Seele nennt man es, wenn sich das sittliche Gefühl aller Empfindungen des Menschen endlich bis zu dem Grad versichert hat, daß es dem Affekt die Leitung des Willens ohne Scheu überlassen darf und nie Gefahr läuft, mit den Entscheidungen desselben in Widerspruch zu stehen … Mit einer Leichtigkeit, als wenn bloß der Instinkt aus ihr handelte, übt sie der Menschheit peinlichste Pflichten aus, und das heldenmutigste Opfer, das sie dem Naturtriebe abgewinnt, fällt, wie eine freiwillige Wirkung eben dieses Triebes in die Augen.
Was Schiller über die schöne Seele, über Anmut, also über das Zusammenstimmen von Natur und Freiheit schreibt, hätte Goethe, der den Dualismus zwischen Natur und Freiheit stets zurückgewiesen hatte, eigentlich gefallen können – wenn jene Schrift nicht auch für ihn ärgerliche Aspekte enthalten hätte. Im Rückblick schreibt er dazu: Gewisse harte Stellen sogar konnte ich direkt auf mich deuten, sie zeigten mein Glaubensbekenntnis in einem falschen Lichte.
Bei den gewissen Stellen handelt es sich um jene Passagen, in denen Schiller die sogenannten Natur-Genies schildert. Was soll man mehr bewundern, fragt Schiller, die Kraft eines Geistes, der mit einer widerstrebenden Natur ringt, oder das geborene Genie, das seine Werke keinem Widerstande abringen mußte? Für Schiller ist bewundernswerter der Geist, der sich seinen Körper baut. Es sollte, wie auch sonst in der Gesellschaft, das Verdienst mehr zählen als das angeborene Privileg und die Gunst der Natur. Diese Bemerkung konnte Goethe, dieser Günstling der Natur, auf sich beziehen, und wenn man an jene frühere Briefäußerung Schillers denkt – wie leicht wird sein Genie von seinem Schicksal getragen –, wird Schiller dabei wohl auch tatsächlich an Goethe gedacht haben. Besonders ärgerlich mußte für Goethe die Bemerkung sein, wonach das Naturgenie oft in den mittleren Jahren zu erschlaffen drohe und nicht mehr das halte, was die genialische Jugend versprochen habe. Und dann gab es da noch jene Anspielung auf die Fettleibigkeit, die Goethe, der inzwischen infolge starken Weinkonsums etwas rund geworden war, durchaus auch auf sich beziehen konnte. Es kann geschehen, schreibt Schiller, daß der einst bildende Geist wieder einer wuchernden Materie anheimfällt. Ob diese despektierliche Bemerkung wirklich auf Goethe gemünzt war, bleibt ungewiß. Goethe jedenfalls hat sie so verstanden. Und darum lag die Abhandlung Über Anmut und Würde einer Annäherung noch im Wege. Doch nur noch für ein Jahr.
Im Sommer 1794 ist es endlich soweit. Es ergibt sich jene Situation, von der Schiller geträumt hat: daß man sich wie selbstverständlich auf einer gemeinsamen Bühne findet.
Schiller ist jetzt ein hochangesehener Publizist in Deutschland, nicht nur ein Dichter, sondern ein weithin wirkender Intellektueller, Philosoph, Ästhetiker, Historiker und Journalist. Und als solcher soll er, im Auftrag des Verlegers Cotta, eine führende Kulturzeitschrift, Die Horen, aufbauen. Und da hier alle mitwirken sollen, die im geistigen Leben Deutschlands Rang und Namen haben, muß selbstverständlich auch Goethe zur Mitarbeit eingeladen werden.
Diese Einladung erreichte Goethe in einem Augenblick des persönlichen Umbruchs. Die Kriegszüge mit seinem Herzog gegen das revolutionäre Frankreich lagen hinter ihm, die Mißbilligungen der Weimarer Gesellschaft über seine Mesalliance hatte er fürs erste überstanden, aus dem Jägerhaus am Rande der Stadt war er zurück ins Haus am Frauenplan gezogen. Es war wieder die Zeit gekommen für eine seiner Häutungen, wie er das nannte.
Er ist beunruhigt darüber, daß ihm nun schon einige Zeit nichts Poetisches mehr gelungen ist: Es scheint nach und nach diese Ader bei mir ganz auszutrocknen. Er befürchtet, daß man ihn in der literarischen Welt bereits zu vergessen beginnt. Die achtbändige Werkausgabe, vor der Italienischen Reise mit dem Verleger Göschen vereinbart und 1790 vorerst abgeschlossen, hatte sich als Mißerfolg erwiesen. Kein einziger Raubdruck war erschienen – das untrügliche Kriterium für mangelndes Interesse beim Publikum. Gewiß, man verehrt ihn, aber doch wie einen abgeschiedenen Geist ohne gegenwärtige Wirkung. Immer noch lebt er vom Ruhm seiner Jugendwerke, des Götz von Berlichingen und des Werther. Die neueren Produktionen finden längst nicht so viel Anklang. Egmont war nur ein einziges Mal aufgeführt worden. Als Goethe einmal aus Iphigenie vorlas, waren die Zuhörer eingeschlafen. Die beiden Stücke Die Aufgeregten und Der Bürgergeneral, die Goethe 1792 fürs Weimarer Theater als Satire auf den Revolutionseifer geschrieben hatte, beurteilte er selbst als Werke für den Tag, von denen man weiter kein Aufhebens machen sollte. Er hatte die Stücke schnell verfertigt, als müßte er beweisen, daß er sein Metier noch beherrschte. Hatte er doch 1791 bei der Übernahme der Leitung des Weimarer Theaters erklärt, er wolle von nun an für jede Spielzeit ein oder zwei Stücke aus seiner Feder beisteuern. Die Stücke waren in Weimar lau aufgenommen worden, und kritische Zeitgenossen wunderten sich über diese leichte Kost. Kurz, man glaubte, daß Goethe seine beste Zeit als Schriftsteller hinter sich habe. Man kann sich keinen isoliertern Menschen denken als ich damals war und lange Zeit blieb, schreibt Goethe im Rückblick. Auf eine der Klagen des Verlegers Göschen antwortete Goethe: Da, wie Sie selbst sagen, meine Sachen nicht so kurrent sind als andere an denen ein größer Publikum Geschmack findet, so muß ich denn freilich nach den Umständen zu Werke gehen und sehe leider voraus daß sich der Verlag meiner künftigen Schriften gänzlich zerstreuen wird.
Goethe begriff, daß sich inzwischen ein neuer Literaturmarkt herausgebildet hatte. Die Belletristik expandierte und war dabei, zur Massenware und zum Verkaufsartikel zu werden. Noch im Torquato Tasso läßt Goethe einen Dichter auftreten, der für den Ruhm schreibt, im übrigen aber von seinem Mäzen ausgehalten wird. Der Ruhm ist der Lohn des Dichters. Jetzt aber gilt der Verkaufserfolg, und es stellt sich für den Schriftsteller die Frage, ob er bereit ist, dieses Erfolgskriterium anzuerkennen und sich daran zu orientieren.
Schiller, der Berufsschriftsteller ohne Vermögen, war früher als Goethe in die unangenehme Situation geraten, von seinem Publikum leben zu müssen. Eigentlich eine bittere Einsicht, aus der man das Beste machen musste. Nach dem Erfolg der Räuber und der Flucht vor seinem Herzog hatte er sich dem Publikum in die Arme geworfen: Das Publikum ist mir jetzt alles, schrieb er, mein Studium, mein Souverän, mein Vertrauter. Ihm allein gehör ich jetzt an. Vor diesem und keinem andern Tribunal werde ich mich stellen.
Auch Schiller blieben Enttäuschungen nicht erspart, denn der literarische Geschmack hatte sich mit der Ausweitung des Marktes durchaus nicht verbessert. Ein anspruchsvoller Autor steht vor der schwierigen Entscheidung, ob er sich dem Publikum anpassen oder es zu sich emporheben soll. Der Markt ist eine Macht und wirkt verführerisch auch auf Autoren, die eine hohe Meinung von sich haben. Mit diesem Problem haben es Schiller wie auch Goethe zu tun.
Im Wilhelm Meister findet sich die Bemerkung, daß die Welt sehr leicht zu befriedigen ist, und selbst nur einen leichten, gefälligen, behaglichen Schein begehrt; so wäre es zu verwundern, wenn nicht Bequemlichkeit und Eigenliebe ihn bei dem Mittelmäßigen fest hielten, es wäre seltsam, wenn er nicht lieber für Modewaren Geld und Lob eintauschen, als den rechten Weg wählen sollte, der ihn mehr oder weniger zu einem kümmerlichen Märtyrertum führt.
Was Goethe selbst betrifft, so ist er entschlossen, den rechten Weg zu gehen, aber doch nicht zum Märtyrer zu werden. Er hält an seinem künstlerischen Eigensinn fest, aber will auch den Markt benutzen. Er verlangte und bekam von seinen Verlegern Honorare, um die ihn Kollegen beneideten.
Als der Einladungsbrief zu den Horen am 13. Juni 1794 bei ihm eintraf, sah er sich vor die Entscheidung gestellt, ob er sich künftig aktiver als zuvor in den aktuellen Literaturbetrieb einmischen soll. Welchen Nutzen hätte er selbst davon? Er überlegte gründlich. Es gibt mehrere Entwürfe für die Antwort. Im Konzept hieß es zuerst: und ich wünsche mich durch die Tat für das Vertrauen dankbar zu bezeigen, was nochmals geändert wurde in: und die ich mit Danke annehme. Das Danke wurde zu Freuden korrigiert. Schließlich schreibt er am 24. Juni: Ich werde mit Freuden und von ganzem Herzen von der Gesellschaft sein. Goethe vermeidet den gönnerhaften Ton und läßt durchblicken, daß auch für ihn die Mitwirkung von Nutzen sein könnte: gewiß aber wird eine nähere Verbindung mit so wackern Männern, als die Unternehmer sind, manches, das bei mir ins Stocken geraten ist, wieder in einen lebhaften Gang bringen.
Am 20. Juli 1794, einem Sonntag, kam Goethe nach Jena, um mit dem inneren Herausgeberkreis Schiller, Fichte und Humboldt zu konferieren. Bei dieser Gelegenheit wollte er zuvor noch einen Vortrag über Botanik in der kürzlich von ihm mitbegründeten Naturforschenden Gesellschaft besuchen. Schiller, der seit seinem Medizinstudium nur geringen Anteil an den Naturwissenschaften nahm und nur selten das Haus verließ, besuchte ebenfalls diese Veranstaltung, gewiß nur aus dem Grunde, um Goethe dort zu treffen. Draußen ist es heiß, im alten Schloß, wo die Versammlung stattfindet, angenehm kühl. Nach dem Vortrag und einer kurzen Aussprache begibt man sich in plaudernden Gruppen hinaus. Im lauen Sommerabend steht man noch eine Weile beisammen und was dann geschieht, erzählt Goethe zwanzig Jahre später unter dem Titel Glückliches Ereignis: Wir gingen zufällig beide zugleich heraus, ein Gespräch knüpfte sich an, er schien an dem Vorgetragenen Teil zu nehmen, bemerkte aber sehr verständig und einsichtig und mir sehr willkommen, wie eine so zerstückelte Art die Natur zu behandeln, den Laien, der sich gern darauf einließe, keineswegs anmuten könne. Ich erwiderte darauf: daß (…) es doch wohl noch eine andere Weise geben könne die Natur nicht gesondert und vereinzelt vorzunehmen, sondern sie wirkend und lebendig, aus dem Ganzen in die Teile strebend darzustellen. Er wünschte hierüber aufgeklärt zu sein, verbarg aber seine Zweifel nicht, er konnte nicht eingestehen daß ein solches, wie ich behauptete, schon aus der Erfahrung hervorgehe. Wir gelangten zu seinem Hause, das Gespräch lockte mich hinein; da trug ich die Metamorphose der Pflanzen lebhaft vor, und ließ, mit manchen charakteristischen Federstrichen, eine symbolische Pflanze vor seinen Augen entstehen. Er vernahm und schaute das alles mit großer Teilnahme, mit entschiedener Fassungskraft; als ich aber geendet, schüttelte er den Kopf und sagte: das ist keine Erfahrung, das ist eine Idee. Ich stutzte, verdrießlich einigermaßen: denn der Punkt der uns trennte, war dadurch aufs strengste bezeichnet. Die Behauptung aus Anmut und Würde fiel mir wieder ein, der alte Groll wollte sich regen, ich nahm mich aber zusammen und versetzte: das kann mir sehr lieb sein daß ich Ideen habe ohne es zu wissen, und sie sogar mit Augen sehe. Schiller, der viel mehr Lebensklugheit und Lebensart hatte als ich, und mich auch wegen der Horen (…) mehr anzuziehen als abzustoßen gedachte, erwiderte darauf als ein gebildeter Kantianer, und als aus meinem hartnäckigen Realismus mancher Anlaß zu lebhaftem Widerspruch entstand, so ward viel gekämpft und dann Stillstand gemacht (…) Der erste Schritt war jedoch getan, Schillers Anziehungskraft war groß, er hielt alle fest, die sich ihm näherten; (…) seine Gattin, die ich, von ihrer Kindheit auf, zu lieben und zu schätzen gewohnt war, trug das ihrige bei zu dauerndem Verständnis, alle beiderseitigen Freunde waren froh, und so besiegelten wir, durch den größten, vielleicht nie ganz zu schlichtenden Wettkampf zwischen Objekt und Subjekt, einen Bund, der ununterbrochen gedauert, und für uns und andere manches Gute gewirkt hat.
Schiller, so könnte man sagen, ist am Ziel seiner Wünsche. Endlich kommt er wirklich ins Gespräch mit Goethe, auf Augenhöhe. Seinem Freund Körner berichtet er davon am 1. September 1794: Ein jeder konnte dem andern etwas geben, was ihm fehlte, und etwas dafür empfangen. Seit dieser Zeit haben diese ausgestreuten Ideen bei Goethe Wurzel gefaßt, und er fühlt jetzt ein Bedürfnis, sich an mich anzuschließen, und den Weg, den er bisher allein und ohne Aufmunterung betrat, in Gemeinschaft mit mir fortzusetzen. Ich freue mich sehr auf einen für mich so fruchtbaren Ideenwechsel.
Schiller verspricht sich viel von diesem Ideenwechsel, und auch Goethe ist voller Erwartungen. Von jener Begegnung nach Weimar zurückgekehrt, schreibt er an Schiller: Erhalten Sie mir ein freundschaftliches Andenken und sein Sie versichert daß ich mich auf eine öftere Auswechslung der Ideen mit Ihnen recht lebhaft freue.
Da Schiller weiß, daß Goethe die nächsten Wochen in diplomatischer Mission mit dem Herzog unterwegs ist, läßt er einige Zeit verstreichen und schreibt dann am 23. August jenen berühmten ausführlichen Brief, auf den Goethe mit bewegten Worten antwortet: Es hätte ihm kein angenehmeres Geburtstagsgeschenk gemacht werden können als dieses Schreiben, in welchem Sie, mit freundschaftlicher Hand, die Summe meiner Existenz ziehen und mich, durch Ihre Teilnahme, zu einem emsigern und lebhafteren Gebrauch meiner Kräfte aufmuntern.
Die Summe meiner Existenz – das ist stark und ein wenig schmeichelnd aufgetragen. Tatsächlich hatte Schiller ein prägnantes geistiges Portrait Goethes entworfen und dabei auch die Unterschiede zwischen ihnen angedeutet. Goethe, schreibt Schiller, geht von sinnlichen Eindrücken aus und läßt sich von der Intuition leiten. Selten entfernt er sich allzuweit von der Empirie. Die Spekulation läßt ihn nicht auf Abwege geraten. Wessen Blick so wie der seine still und rein auf den Dingen ruht, dem erschließt sich der Reichtum der erscheinenden Welt. Goethe geht den Weg vom Besonderen zum Allgemeinen, während er, Schiller, umgekehrt vom Allgemeinen, den Ideen und Begriffen, zum Besonderen herabsteigt. Warum sollten sich der Gefühls- und der Begriffsmensch nicht auf der Mitte treffen? Dort wird man voneinander lernen können. Schiller wird Goethe dabei helfen, Gefühle durch Gesetze zu berichtigen ; und Goethe wird Schiller vor den Gefahren der Abstraktion bewahren. Wenn Schiller Goethe als Bewußtseinsspiegel dient, wird er umgekehrt von Goethe das Zutrauen zum Unbewußten erlernen. Es fügen sich zwei Hälften zu einem Kreis. So jedenfalls hat Goethe das wechselseitige Verhältnis gedeutet: Selten ist es aber, schreibt er in einer im Nachlaß aufgefundenen Notiz über die Freundschaft mit Schiller, daß Personen gleichsam die Hälften von einander ausmachen, sich nicht abstoßen, sondern sich anschließen und einander ergänzen.
Goethe hat das Bild, das Schiller von ihm entwarf, bestätigt – war es doch schmeichelhaft genug. Freilich ironisierte er es ein wenig. Über seine Unbewußtheit, die Schiller an ihm rühmte, bemerkte er: Wie groß der Vorteil Ihrer Teilnehmung für mich sein wird werden Sie bald selbst sehen, wenn Sie, bei näherer Bekanntschaft, eine Art Dunkelheit und Zaudern bei mir entdecken werden. Goethe wird Schillers Helligkeit mit dem Vorbehalt nutzen, sich dort wo es nötig ist seine Dunkelheit zu bewahren; er braucht sie, wie eine Pflanze, die ihre Wurzeln in die dunkle Erde senkt.
Nun wollte auch Goethe Schiller besser verstehen. Aber anders als Schiller unternimmt Goethe selbst nicht den Versuch einer Deutung. Er bittet den Bewußtseinsvirtuosen Schiller, sich doch einmal selbst zu analysieren. Er dürfe nunmehr Anspruch machen, schreibt er, durch Sie Selbst mit dem Gange Ihres Geistes (…) bekannt zu werden. Gewiß hätte Schiller es vorgezogen, sich auch einmal im Urteil Goethes gespiegelt zu sehen. Aber darauf muß er noch warten. Und so skizziert er in seiner Antwort vom 31. August 1794 sein geistiges Profil. Wieder sind es Sätze von beispielloser Prägnanz, die jeden Kritiker neidisch machen müssen. Weil mein Gedankenkreis kleiner ist, schreibt er, so durchlaufe ich ihn eben darum schneller und öfter, und kann eben darum meine kleine Barschaft besser nutzen, und eine Mannigfaltigkeit, die dem Inhalte fehlt, durch die Form erzeugen. Sie bestreben sich, Ihre große Ideenwelt zu simplifizieren, ich suche Varietät für meine kleinen Besitzungen. Sie haben ein Königreich zu regieren, ich nur eine etwas zahlreiche Familie von Begriffen, die ich herzlich gern zu einer kleinen Welt erweitern möchte.
Das bleibt von nun an ein Topos zwischen den beiden; der eine ist der König der Empirie, der andere ein Meister des Gedankens; der eine ist in der Welt, der andere sitzt in der Stube und brütet eine Welt aus.
Von ihren verschiedenen Ausgangspunkten aus stacheln sie sich wechselseitig an und bringen das, was in ihnen liegt, zur besten Form.
Am 4. September lädt Goethe Schiller nach Weimar ein. Es sei eine gute Gelegenheit, die neubegründete Freundschaft zu genießen, denn der Hof gehe für einige Zeit nach Eisenach, man habe Ruhe und Zeit füreinander. Mit Freuden nimmt Schiller die Einladung an, konfrontiert aber Goethe sogleich mit Komplikationen, die sich aus seiner Krankheit ergeben. Er wird sich einer gewöhnlichen Hausordnung nicht einfügen können, denn leider nötigen mich meine Krämpfe gewöhnlich, den ganzen Morgen dem Schlaf zu widmen, weil sie mir des Nachts keine Ruhe lassen … Ich bitte bloß um die leidige Freiheit, bei Ihnen krank sein zu dürfen.
Am 14. September kommt Schiller in Weimar an, krank, aber voller Pläne. Er will mit Goethe über seinen Wallenstein konferieren, ihm die ersten Stücke seiner neuen Ästhetik (Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen) vortragen, die ersten Hefte der Horen planen. Auch Goethe hat sich gut vorbereitet. Er wird seinem Gast einiges aus seiner Naturkunde vortragen, die Optik und die Anatomie betreffend, mit dem Hintergedanken, die Horen als Plattform dafür zu gewinnen. Er liest Schiller die bis dahin noch unveröffentlichten Römischen Elegien vor, die, so berichtet Schiller seiner Frau, zwar schlüpfrig und nicht sehr dezent sind, aber zu den besten Sachen gehören, die er gemacht hat. Goethe verspricht sie ihm für die Horen. Goethe behält auch sein Weimarer Theater im Auge. Könnte man nicht wieder einmal Schillers frühe Stücke aufführen? Fiesko und Kabale und Liebe bedürften doch nur geringer Retuschen, um auf der Weimarer Bühne mit Erfolg erscheinen zu können. Man spricht über die möglichen Änderungen. Vielleicht hat Schiller auch Lust, den Egmont zu überarbeiten, um ihn bühnenwirksamer zu machen? So sehr vertiefen sich die beiden in ihre Gespräche, daß ihnen die Stunden dahinfliegen. Vor einigen Tagen, schreibt Schiller an seine Frau, waren wir von halb 12 wo ich angezogen war bis Nachts um 11 Uhr ununterbrochen beisammen.
Eine Suite von drei Zimmern an der Frontseite das Hauses am Frauenplan stand Schiller zur Verfügung. In den hinteren Räumen wirtschaftete Christiane. In gesellschaftlicher Hinsicht waren es zwei stille Wochen. Schiller wünschte, Goethe für sich zu haben, und dieser hielt sich daran. Die Herders kamen vorbei, auch Wieland, aber sonst gab es wenig Besuch. Goethe war das auch recht, denn Schiller war ihm fürs erste genug Unterhaltung und Anregung. An schönen Tagen überredete Goethe seinen Gast zu Spaziergängen. Dann konnte man die beiden sehen, den schlanken Hochgewachsenen und den kleineren Korpulenten; der eine gestikulierend, der andere die Arme ruhig auf dem Rücken gekreuzt. Bisweilen blieben sie stehen, der eine zeigte auf einen Baum oder eine Blume, der andere trat beflissen näher. Goethe grüßte höflich, wenn jemand vorbeikam. Er hatte überhaupt stets alles im Auge, was sich begab; Schiller aber ließ sich nicht stören. Nichts geniert ihn, sagte Goethe später zu Eckermann, nichts engt ihn ein, nichts zieht den Flug seiner Gedanken herab; was in ihm von großen Ansichten lebt, geht immer frei heraus ohne Rücksicht und ohne Bedenken.
An diesen ersten Besuch Schillers bei Goethe werden sich die beiden später gerne erinnern. Damals ist der Grund gelegt worden für das Ritual ihres Umgangs und ihrer Gespräche.
Schiller schrieb, als er nach Jena zurückgekehrt war: Es wird mir Zeit kosten, alle die Ideen zu entwirren, die Sie in mir aufgeregt haben, aber keine einzige, hoffe ich, soll verloren sein. Und Goethe antwortete: Wir wissen nun, mein wertester, aus unsrer vierzehntägigen Konferenz: daß wir in Prinzipien einig sind und daß die Kreise unsers Empfindens, Denkens und Wirkens teils koinzidieren, teils sich berühren, daraus wird sich für beide gar mancherlei Gutes ergeben.
Was sich daraus ergibt, läßt sich mit der hier vorgelegten Auswahl des Briefwechsels im einzelnen ganz gut nachvollziehen: Wie zunächst noch die Rollenaufteilung funktioniert, hier der Horen-Herausgeber Schiller, dort der mitwirkende Goethe. Goethe läßt sich gerne anregen, liefert seine Geschichten und Rahmengespräche zu den Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten. Schiller zeigt sich ein wenig ratlos, weil ihm unklar ist, worauf das Ganze hinaussoll. Er bevorzugt die Römischen Elegien, auch wegen der freizügigen erotischen Thematik. Goethe ist vorsichtig, manches ist ihm doch zu kühn. Einiges hält er zurück, zu Schillers Bedauern. Der möchte eine kleine Sensation, ein begrenztes Ärgernis, da ist er ganz Zeitschriftenmacher. Doch auch die bereinigten Elegien erregen gehöriges Aufsehen. Der Absatz der Horen läuft deshalb gut. Schiller muß sich jedoch Kritik von seiten des Herzogs gefallen lassen, dem das alles zu weit geht. Der Herzog liebt erotische Frivolitäten, nicht aber vor großem Publikum. Man hätte, erklärt er, Goethe hindern sollen. Die beiden Freunde jedoch sind sich einig, daß es gut war, die Sache herauszubringen.
Der Ton der Briefe wird vertraulich, diplomatische Vorsicht verschwindet. Schiller läßt in einer Folge von Fortsetzungen seine Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen erscheinen. Goethe schreibt: Ich schlurfte es (das Manuskript) auf Einen Zug hinunter. Er habe von ästhetischen Schriften noch nie so viel Belehrung empfangen, schreibt er. Der zentrale Satz dieser Abhandlung, der Mensch ist nur da ganz Mensch, wo er spielt, ist ihm aus dem Herzen gesprochen, wird er selbst doch später Riemer gegenüber erklären: Ich will alles, was ich kann, spielend treiben …
Schiller hatte sich einen Vorabdruck des Romans Wilhelm Meisters Lehrjahre gewünscht. Goethe ist aber vertraglich an einen anderen Verleger gebunden. Schiller kann seine Enttäuschung nicht verhehlen, und er fühlt sich um so mehr geschmeichelt, als Goethe ihn bittet, die Manuskripte des entstehenden Romans vor dem Druck zu lesen, mit Kritik und Verbesserungsvorschlägen. Einen solchen Einblick in seine Werkstatt hatte Goethe bis dahin noch keinem angeboten, und er wird es später auch nicht mehr tun. So kommt es im Sommer 1796 zu einer Serie ausführlicher Briefe Schillers über den Wilhelm Meister, die zusammen einen eindrucksvollen Essay über den Roman ergeben, wahrscheinlich das Klügste, was darüber überhaupt je geschrieben wurde. Fahren Sie fort mich mit meinem eigenen Werke bekannt zu machen, schrieb Goethe am 7. Juli 1796.
Auf dem Höhepunkt des Briefwechsels über den Roman findet sich jener berühmte Satz, den Goethe zehn Jahre später, nach dem Tod Schillers, in die Wahlverwandtschaften aufnehmen wird, allerdings leicht abgewandelt.
Wie lebhaft, schreibt Schiller am 2. Juli 1796, habe ich bei dieser Gelegenheit erfahren, daß das Vortreffliche eine Macht ist, daß es auf selbstsüchtige Gemüter auch nur als eine Macht wirken kann, daß es, dem Vortrefflichen gegenüber keine Freiheit gibt als die Liebe.
Sieben Jahre zuvor hatte Schiller Körner gegenüber seinen Haß auf Goethe eingestanden. Etwas von diesem Gefühl muß noch im Untergrund rumoren, als Ressentiment oder Neid, denn sonst verlöre die schöne Formel ja ihren Sinn. Denn man muß sich fragen: Welche Freiheit angesichts des Vortrefflichen soll denn bewahrt werden? Doch wohl die Freiheit im Sinne der Überwindung der lähmenden Gefühle von Neid und Mißgunst. Wenn man vermeiden will, von solchen Gefühlen gefesselt zu werden, bleibt einem nichts anderes übrig, als das Vortreffliche – zu lieben. Insofern schafft Liebe zum Vortrefflichen die Freiheit angesichts des Vortrefflichen.
Goethe zitiert diese Formel in den Wahlverwandtschaften, aber, wie gesagt, leicht abgewandelt. Dort, in Ottiliens Tagebuch, lautet sie: Gegen große Vorzüge eines Andern gibt es kein Rettungsmittel als die Liebe. Bei Schiller heißt es: keine Freiheit, bei Goethe: kein Rettungsmittel.