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Die Texte in diesem Band erschienen in gekürzter Form unter dem Titel «Mein Leben als Mensch» in der Welt am Sonntag sowie in Originallänge unter www.janweiler.de. Das Nachwort erschien unter dem Titel «Pubertät ist ein Arschloch» am 30.3.2014 in der Welt am Sonntag.

 

 

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, Februar 2016

Copyright © 2016 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages

Umschlaggestaltung any.way, Barbara Hanke/Cordula Schmidt

Umschlag- und Innenillustrationen Till Hafenbrak

Schrift DejaVu Copyright © 2003 by Bitstream, Inc. All Rights Reserved.

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ISBN Printausgabe 978-3-463-40661-9 (1. Auflage 2016)

ISBN E-Book 978-3-644-31431-3

www.rowohlt.de

ISBN 978-3-644-31431-3

Die Tyrannentheorie

Die meisten Schriftsteller befinden sich auf irgendeiner Suche. Sie suchen die verlorene Zeit, das vergangene Glück, sie suchen nach irgendwelchen Antworten, nach dem richtigen Leben oder wenigstens der Liebe des Lebens. Das sind die ganz großen literarischen Aufträge. Ich suche auch. Aber meine Suche findet auf einem etwas anderen Erregungslevel statt. Ich suche die Batterien aus der Fernbedienung meines Fernsehers.

Früher war das anders. Da hatte ich auch noch Zeit für philosophische Grundsatzfragen. Da dachte ich noch über das große Ganze nach. Jetzt denke ich nur noch darüber nach, warum ich durchs ganze Haus irren muss, um die verdammten Batterien schließlich aus dem Ladegerät eines ferngesteuerten Hubschraubers zu fummeln.

Früher war ich auch mal Tänzer. Dann wurde ich Wipper, inzwischen bin ich Nicker. Ein entrechteter Nicker, ganz kurz vor der letzten Stufe, dem Steher. Ich tanze nur noch selten, dann jedoch spektakulär. Aber meistens nicke ich nur noch. Das alles liegt an meiner Funktion als Vater von zwei Pubertieren. Da hat man irgendwann nichts mehr zu melden. Die beiden sausen links und rechts an mir vorbei, nicht einmal ihre Schnürsenkel muss ich noch binden. Als Berater tauge ich nicht mehr, als Autorität bin ich ein Witz, gelte jedoch immerhin als astreiner Chauffeur, besonders nachts gegen vier Uhr, wenn kein anderer Vater mehr ans Telefon geht. Ich transportiere dann angeheiterte Nasskämmer bis in entlegene Teile des Bundesgebietes, weil meine Tochter Carla ihnen das so versprochen hat. Sie ist sechzehn Jahre alt und hat mich fest im Griff.

Unser Sohn Nick ist dreizehn. Er klingt momentan wie ein Dudelsack, wächst wie ein Schnittlauchhalm und futtert wie ein Maurer nach der Doppelschicht. Wenn Carla und er gleichzeitig zu Hause sind, entschleunigen sie in dramatischem Tempo und verbringen große Teile des Tages auf der Wohnzimmercouch. Sie erinnern dann sehr an Bradypus variegatus, ein Dreifingerfaultier, das eigentlich in Südamerika wohnt und seinen Baum nur ein Mal pro Woche verlässt, um im Erdgeschoss aufs Klo zu gehen. Die Ähnlichkeiten im Habitus sind frappant, die Unterschiede aber auch. Die Nahrung des Faultiers besteht nämlich zu fast hundert Prozent aus Blättern, während das Pubertier einen Lebensmittelmix bevorzugt, welcher zu vierzig Prozent aus Chips, zu dreißig Prozent aus Sahnejoghurt, zu zwanzig Prozent aus Speiseeis und zu zehn Prozent aus bunter Antimaterie in Pfandflaschen besteht.

Oft stehe ich staunend vor ihnen, ratlos wie ein Schwein, das in ein Uhrwerk glotzt. Ebenso häufig erfasst mich aber auch Verzweiflung, denn ich bin mit den Jahren meines Vaterseins nicht nur entrechtet, sondern auch enteignet worden. Im Grunde habe ich gar nichts mehr. CDs? Weg. DVDs? Alle weg. Geld? Auch weg. Rasierschaum? Weg. Ja, sogar der Rasierschaum. Manchmal ist er einfach leer. Ich habe lange gebraucht, bis ich herausfand, dass meine Tochter eine halbe Dose Rasierschaum pro Pubertierbeinchen verbraucht. Sie liegt dann in der Badewanne, hört Musik und tut so, als sei sie Cleopatra im Mäusemilchbad. Klar, dass man dafür viel, sehr viel Rasierschaum benötigt. Viel öfter als leer ist die Dose allerdings ganz einfach: weg.

Dabei brauche ich meinen Rasierschaum ungefähr zweimal in der Woche. Und ich mag es, wenn er dann einfach dort steht, wo er zu stehen hat. Stand er aber nicht. Zum Glück wusste ich genau, wo ich danach zu suchen hatte, nämlich im Kinderbad, das eigentlich kein Kinderbad mehr ist, sondern aussieht wie das Kosmetik-Testlabor von der BRAVO. Wobei ich nicht weiß, ob die dort überhaupt ein Kosmetik-Testlabor haben. Aber ich stelle es mir so vor. Jedenfalls fand ich dort nicht nur meinen Rasierschaum, sondern auch alle drei Nagelscheren, die ich besitze. Und mein Haarwachs. Und meine Kopfhörer. Und mein Bürotelefon. Ich nahm alles mit und ärgerte mich über die Tyrannei der Jugend, der ich mich ausgesetzt sehe. Aber die kann nicht mehr lange dauern. Ich habe nämlich die Theorie entwickelt, dass Diktaturen, die auf Diebstahl setzen, keine Zukunft haben. Die Geschichte hat dies schon oft bewiesen.

Ich kann mich zum Beispiel an eine BASF-C-90-Musikkassette erinnern, die ich im Frühjahr 1983 für Cousine Ines aus Ilmenau aufnahm. Auf der A-Seite befand sich Musik von The Cure, Bauhaus und den Dead Kennedys, auf der anderen Seite David Bowie. Außerdem enthielt das Westpaket eine gut erhaltene rote Fiorucci-Jeans. Die Hose ist in Thüringen angekommen, die Kassette hingegen nicht. Jahre später habe ich gelesen, dass die Stasi wegen andauernder Materialknappheit die Bänder aus den Westsendungen stahl, um die Gespräche ihrer Landsleute damit aufzeichnen zu können. In einigen DDR-Gefängnissen mussten die Häftlinge auch Blut abgeben, das dann nach Bayern verschachert wurde. Es ist daher nicht auszuschließen, dass in den Adern eines niederbayerischen CSU-Landrates seit einem Verkehrsunfall im Jahr 1986 real existierendes Sozialistenblut zirkuliert, geklaut vom DDR-Regime. Und was hat das DDR-Regime davon gehabt? Nichts, denn wenige Jahre später war die empörende und in jeder Hinsicht räuberische Regierung am Ende.

Dieses Schicksal blüht meiner Meinung nach langfristig auch der Führung von Tadschikistan. Seit kurzem ist bekannt, dass sogar die Präsidentenfamilie des zentralasiatischen Landes in gestohlenen Autos aus Deutschland unterwegs ist. In einigen der vornehmlich in Berlin geklauten Fahrzeuge befinden sich noch CDs von Frank Zander und Sido.

Ebenfalls schwer unter Verdacht: der nordkoreanische Universaldiktator Kim Jong-un, der den Goldstandard verbrecherischer Regime kürzlich mit der illegalen Anschaffung von Schneeraupen neu definiert hat. Es ist nämlich so, dass niemand im Westen technische Geräte nach Nordkorea verkaufen darf. Und dennoch wurden neulich Fahrzeuge zur Präparierung von Skipisten dort entdeckt und fotografiert. Und da stellt sich doch mal die Frage, wie diese Spezialgeräte da hingekommen sind! Die Hersteller schwören, dass sie nicht an die kommunistische Regierung geliefert haben.

Somit gibt es keinen Zweifel daran, dass Kim Jong-un nachts die Fahrzeuge in Sölden, Sankt Anton und Berchtesgaden entwendet und nach Hause gefahren hat. Die über 8000 Kilometer weite Strecke nach Pjöngjang kann man auf einer Pistenraupe in fünf Wochen bewältigen, es sei denn, man macht einen Schlenker über Tadschikistan und steigt dort in einen 7er-BMW aus Berlin-Wedding um.

Vor zwei Jahren war der Kim Jong-un ja einmal richtig lange verschwunden. Über einen Monat hörte man nichts von ihm. Es gab kein Foto, keine Pressetermine, keine aktuellen Nachrichtenfilme, nichts. Man munkelte bereits von schweren Operationen, sogar über einen Putsch und die Ermordung des Diktators wurde spekuliert. Tatsächlich hat er da aber wohl einfach einen Mähdrescher in Frankreich abgeholt.

Egal. Jedenfalls scheinen die Tage solcher Schurkenstaaten gezählt. Wie bei der DDR werden die bösen Taten der Mächtigen eines Tages zu ihrem Niedergang führen. Und dasselbe gilt für die Pubertier-Diktatur bei uns zu Hause.

Diese Theorie erklärte ich meiner Tochter ausführlich in einem längeren Monolog, den sie nur deshalb über sich ergehen ließ, weil sie darauf warten musste, dass der Toast aus dem Toaster sprang. Aber immerhin hat meine Drohung irgendwas in ihr ausgelöst. Heute Morgen stand eine frische Dose Rasierschaum vor meinem Spiegel. Gut, es ist natürlich kein richtiger Rasierschaum, sondern Beinchenschaum für Sechzehnjährige. Aber die Geste finde ich rührend. Und ich rieche jetzt wie eine frisch rasierte, achtundvierzig Jahre alte Mango.

Ein dringender Notfall

Nicht nur, dass ich nichts mehr besitze, ich muss auch ständig erreichbar sein. Für Notfälle. Das ist manchmal schwierig, denn ich bin berufsbedingt viel unterwegs. Meistens sitze ich in Flugzeugen, Taxis, Garderoben, auf Bühnen oder in Restaurants.

Mein Beruf besteht tatsächlich hauptsächlich darin, irgendwo zu sitzen. Ganz besonders viel sitze ich in Zügen. Und dort telefoniere ich äußerst ungern. In Zügen telefonieren nur Idioten, Volltrottel und ich. Mit Carla. Sie ruft mich mehrmals täglich an, und ich gehe immer dran, denn es könnte wie gesagt ein Notfall sein.

So wie neulich. Ich saß im Zug zwischen Stuttgart und München. 20 Uhr, das Abteil komplett belegt mit stummen Menschen, die auf Laptops vor sich hin arbeiteten. Ruhezone, Handys verboten. Es war vollkommen still. Dann klingelte mein Handy. Ich sagte, dass ich da kurz ranmüsse, meine Tochter, das müsse ich annehmen. Ich fügte hinzu, dass ich es kurz machen würde. Ehrenwort. Dann nahm ich das Gespräch an, und fünf Menschen hörten mich Folgendes sagen:

 

«Ja. Carla. Im Moment ist es gerade ganz schlecht …

Im Zug …

IM ZUG …

Hier sind überall Leute …

Nein, die sind nicht wichtiger als du …

Na gut, schieß los, aber bitte schnell …

Und wie soll ich dir bitte bei diesem Referat helfen? …

Ja, Moment, das kannst du doch alles im Internet recherchieren. Oder hast du Hausverbot bei Google? …

So. Und worum geht es in dem Referat? …

Was ist denn das bitte für ein Thema? Ich wette, du hast dich wieder nicht darum gekümmert, und dann war Belgien das letzte Thema, das noch frei war. Richtig? …

Ach, Mahatma Gandhi war auch noch frei …

Und warum nimmst du dann nicht Mahatma Gandhi? …

Du entscheidest über das Referatsthema je nachdem, welcher Wikipedia-Eintrag länger ist? Und Gandhi ist länger als Belgien? …

Na ja. Gut. Jedenfalls kann ich dir da jetzt im Moment leider gar nicht helfen …

Okay. Kein Grund zur Panik. Pass auf, ich sage dir, was du jetzt machst: Du kopierst jetzt einfach den Belgien-Eintrag von Wikipedia, und fertig ist das Referat …

Ja, ich habe schon mal von Guttenberg gehört …

Ach! Die Lehrer überprüfen das, und man muss selber nachdenken? Carla, Mensch. Das ist ja wirklich die Höhe. Das sind ja seelische Grausamkeiten. Gleich morgen verklage ich die Schule …

Nein, das war Ironie. Sag mal, und wann musst du denn überhaupt dieses Referat halten? …

Wie morgen? …

Und da fängst du heute Abend um 20 Uhr damit an? Carla, bist du eigentlich noch ganz bei Trost? …

Was heißt hier, du hattest keine Zeit? …

Doch, ich kann versuchen, es zu verstehen …

Ich verspreche, mich nicht aufzuregen …

Okay …

Gut …

Verstehe …

Emma hat bitte was? Das kann doch wohl jetzt nicht dein Ernst sein! …

Also nur, dass ich es richtig verstanden habe: Emma hat sich in einen Avatar bei Quizduell verliebt, weil der genau dieselben Sachen nicht weiß wie sie. Und jetzt fühlt sie sich seelenverwandt. Und das Avatarbildchen ist so süß. Habe ich das richtig verstanden? …

Gut. Carla, da muss ich dir jetzt was sagen: Diese Bildchen sehen immer süß aus. Kein Mann auf der Welt nimmt die Frisur mit der Glatze und dem Haarkranz. Und außerdem weiß die doch nicht einmal, wie der Typ heißt und wo er wohnt …

Wie heißt der? …

Der Kerl heißt Pussylover2005? Emma Guntenbach ist verliebt in ein Quizduell-Bildchen mit Namen Pussylover2005? …

Ihr tickt doch nicht mehr ganz sauber! Und außerdem: Wenn der Typ die Zahl 2005 in seinem Nickname hat, dann ist er vermutlich elf Jahre alt. Das erklärt auch, warum er genauso wenig weiß wie Emma Guntenbach …

Doch, ich mag deine Freunde. Auch Emma. Obwohl sie nicht die allerhellste Birne im Leuchter ist. Aber was ist denn jetzt überhaupt das Problem mit Pussylover2005? …

Sie kann ihn ja einfach fragen, wie er richtig heißt …

Ach, sie weiß, wer das ist? …

Matthias Schweighöfer …

Und woher weiß sie das? …

Was heißt, sie spürt das? …

Weil es nur einen Menschen auf der Welt gibt, der so süß ist wie Pussylover2005, und das ist Matthias Schweighöfer. Na klar. Entschuldige bitte, Carla, aber selbst für den Fall, dass Matthias Schweighöfer bei Quizduell ist, wird er sich ganz sicher nicht Pussylover2005 nennen …

Nein …

Ganz sicher nicht. Und was hat das überhaupt mit deinem Referat zu tun? …

Moment. Du musst dich jetzt um Emma kümmern, weil Matthias Schweighöfer nicht auf ihre Chatanfragen reagiert, und deshalb hast du keine Zeit, dein Referat zu machen? …

Also Carla, nein, das ist kein Notfall. Ich lege jetzt auf. Im Ernst …

Drei Stichworte zu Belgien? Jetzt hier so auf die Schnelle? Ja, weiß ich auch nicht, ähhh, Pralinen, Pommes, Kinderschänder …

Wieso ist das nicht hilfreich? …

Gut. Pass auf. Wir machen das jetzt so: Ich bin in zwei Stunden zu Hause, und dann machen wir das gemeinsam. Jaaa, ich helfe dir. Okay? …

Gut …

Ja? Ich leg dann jetzt auf, ja? Bis später. Tschüs, tschüs, tschüs.»

 

Ich habe dann das Gespräch beendet und die verstörten Mitreisenden blöde angelächelt. Anschließend holte ich meinen Laptop raus und fing schon mal mit dem Referat an. Fünf Minuten später beugte sich die Dame von gegenüber nach vorne, guckte über ihren Laptop und sagte: «Meins geht über den Amazonas.»

Krasse Sugillation

Meine Tochter findet mich alt. Frechheit. Ich bin durchaus noch dazu in der Lage, dem Gespräch einer Gruppe Sechzehnjähriger zu folgen. Allerdings mag ich es, wenn dabei die Musik nicht so laut ist. Hallo! Hier gibt es Leute, die sich unterhalten wollen. Danke. Gerne rede ich bei einem kühlen Getränk mit jungen Menschen und lasse mich dabei in die Geheimnisse der Interaktion von männlichen und weiblichen Pubertieren einweihen.

Wobei ich das kühle Getränk übrigens nicht mehr aus der Flasche trinke. Aus Flaschen zu trinken ist ein Privileg von Babys und Maurern. Jenseits der vierzig weiß man, dass Bier aus der Flasche ein großer Irrtum ist. Aber das kann man Jugendlichen nicht beibringen. Die zucken mit den Schultern, sagen «eh schon wurscht» und stürzen sich das Bier in den Schlund.

Aber immerhin darf ich mit meinem Glas zwiSED