Philippe J. Dubois / Élise Rousseau

Kleine Philosophie der Vögel

22 federleichte Lektionen
für uns Menschen

Aus dem Französischen von Elisabeth Liebl

Knaur e-books

Inhaltsübersicht

Über Philippe J. Dubois / Élise Rousseau

Philippe J. Dubois ist Ornithologe und Autor. Er hat mehrere Bücher zur Biodiversität und zum Klimawandel verfasst und leitet den ältesten Verlag für Tier- und Pflanzenwelten in Frankreich, den Verlag Delachaux et Niestlé.

Élise Rousseau studierte Literatur und Philosophie. Sie engagiert sich seit Langem im Naturschutz und berichtet als Journalistin über Natur- und Tierthemen.

Impressum

Die französische Originalausgabe erschien 2018 unter dem Titel

Petite philosophie des oiseauxbei Éditions de La Martinière.

Der darin enthaltene Text »Philosophie de la poule au bain«

(Die Philosophie des Huhns im Sandbad) wurde Élise Rousseaus Buch

Tout pour ma poule,erschienen bei Delachaux et Niestlé, entnommen.

 

 

© 2019 der eBook-Ausgabe Droemer eBook

© 2018 Éditions de La Martinière,

ein Label der Gesellschaft EDLM, Paris

© 2019 der deutschsprachigen Ausgabe Droemer Verlag

Ein Imprint der Verlagsgruppe

Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit

Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

Veröffentlicht in besonderer Vereinbarung mit EDLM und

ihrer ordnungsgemäß beauftragten Agentur 2 Seas Literary Agency

Redaktion: Birthe Vogelmann

Covergestaltung: Geviert, Grafik & Typografie, Andrea Hollerieth

Coverabbildungen: Gettyimages/Robert Trevis-Smith;

Shutterstock/Olga Korneeva, Charunee Yodbun

ISBN 978-3-426-45599-9

Hinweise des Verlags

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.


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Fußnoten

Michel de Montaigne, Essais, I, 28, München 2011, S. 293.

Ein Weibchen paart sich während der Fortpflanzungszeit mit mehreren Männchen.

Claude Lévi-Strauss, Tristes Tropiques, Paris 1955, S. 81f.

Für Pierre und Anne

Einführung

Eine Amsel sitzt mit funkelnden Augen auf einem Mäuerchen, ganz schwarz bis auf den gelben Schnabel. Schauen Sie ruhig hin. Sie ist glücklich und zufrieden damit, eine Amsel zu sein, oder? Froh und munter hüpft sie über die Wiese auf der Jagd nach einem Regenwurm. Sie scheint ganz und gar von ihrem Dasein ausgefüllt zu sein. Wenn wir so zufrieden mit uns selbst und unserem Leben wären, wie sie es ist, ginge uns unser Alltag bestimmt leichter von der Hand.

In den Märchen und Sagen der Welt spielen Vögel häufig die Rolle des Lehrers, der den Helden einweiht oder ihm eine wichtige Botschaft überbringt. Der blaue Vogel von Maurice Maeterlinck steht schlichtweg für das Glück. Die Konferenz der Vögel, ein mittelalterliches Epos aus Persien, beschreibt die Initiationsreise von 30 Vögeln, die ihren König suchen. In diesem Werk verkörpert jede Vogelart eine menschliche Verhaltensweise. Selma Lagerlöfs Wildgänse nehmen den jungen Nils Holgersson mit auf eine märchenhafte Reise, nach der für ihn nichts mehr so ist wie vorher.

Das Wahrzeichen Athenes, der griechischen Göttin der Weisheit, ist ein Vogel: der Steinkauz, eine kleine, rundliche Eule mit goldfarbenen Augen. Die graziösen Störche sind die Freunde aller Eltern, weil sie Kindersegen bedeuten. Und was ist mit der weißen Taube, die in ihrem Schnabel den Olivenzweig trägt, das biblische Symbol für den Frieden? Oder mit den wendigen Schwalben, die uns Europäern den Frühling verkünden?

 

Aber welche Erkenntnisse können uns die Vögel im 21. Jahrhundert bieten?

Die hier versammelten kurzen vogelkundlichen Betrachtungen werden uns zeigen, dass diese wunderbaren Geschöpfe uns wahrhaftig zu denken lehren können: Wenn wir uns nur die Mühe machen, sie eingehend zu beobachten, regen sie uns an, uns selbst zu hinterfragen – uns, die wir uns für die Krone der Schöpfung halten, uns, die selbst ernannten »Herren der Welt«! Die Vögel werfen dem Homo sapiens sein Spiegelbild im Maßstab 1:1 zurück, wenn wir sie vor dem Hintergrund naturwissenschaftlicher, verhaltenskundlicher und soziologischer Studien betrachten. Oder sie im Licht der literarischen und mythologischen Rollenbilder betrachten, die sie seit Anbeginn der Zeit verkörpern. Wie wäre es also, wenn wir uns ein bisschen Zeit nähmen, um darüber nachzudenken, was unsere geflügelten Freunde uns zu verraten haben? Über ihr Sozialleben, ihre Balzrituale, über die Art und Weise, wie sie ihre Jungen großziehen oder ihre Morgentoilette machen?

Wie lebt ein Vogel die Liebe? Treu oder polyamor? Unaufgeregt oder hemmungslos? Warum hält es die einen nicht am Fleck, während die anderen unverbesserliche Stubenhocker sind? Ist es besser, seine Jungen möglichst lange zu versorgen, oder sollte man ihnen lieber so schnell wie möglich beibringen, auf eigenen Beinen zu stehen? Warum ist die Turteltaube Meisterin im Teilen von Haushaltspflichten, während sich der Kampfläufer als übler Macho entpuppt? Wie bewältigen die Vögel ihren Alltag? Was tun sie bei Regen, bei Wind, in der Nacht, wenn der Mond aufgeht und die Sterne am Abendhimmel erscheinen? Und stimmt es, dass sie sich verkriechen, wenn sie sterben müssen?

Unsere Überlegungen stützen sich auf neueste wissenschaftliche Erkenntnisse ebenso wie auf unsere eigenen Vogelbeobachtungen, die wir an heimischen Flussufern, im tropischen Regenwald und auf den windgepeitschten Dünen in den Wüsten der Welt machen konnten. Sie haben uns überzeugt, dass die geflügelte Welt uns einiges zu sagen hat. Die Vögel, die ihren Alltag mit Spontaneität und Leichtigkeit meistern, können uns vieles lehren, wenn wir ihnen nur zuhören.

Die eigene Verwundbarkeit akzeptieren

Der kleine Tod der Stockente

Das Leben der Vögel ist wie das unsere von Ereignissen durchzogen, die jeweils wie ein kleiner Tod sind, auf den sogleich die Wiedergeburt folgt. Die Mauser zum Beispiel. Sein Federkleid zu verlieren, um ein noch schöneres zu bekommen, ist, als müssten wir lernen, uns Jahr für Jahr neu zu definieren. Dabei müssen wir erst eine Krise durchlaufen, um neue Ufer zu erreichen. Obwohl auch uns Menschen immer wieder Haare ausfallen, können wir das einschneidende Erlebnis der Mauser nicht nachvollziehen. Dabei wäre es auch für uns ganz praktisch, wenn wir uns gelegentlich mausern könnten. Und in bestimmten Momenten unseres Lebens – wenn wir Liebeskummer haben, umziehen, unseren Job oder tragischerweise einen geliebten Menschen verloren haben – müssen auch wir uns im neuen Gewand zeigen. Wir ändern unsere Frisur, vielleicht sogar unser Leben. Aber das geschieht doch eher selten.

Um neu geboren zu werden, müssen wir zuerst in uns etwas sterben lassen. Genau das macht der Vogel, wenn er sein abgetragenes Federkleid gegen ein strahlend neues eintauscht. Für ihn ist das lebensnotwendig: Ohne ein gesundes Gefieder kann der Vogel nicht fliegen. Das gilt auch für uns: Wenn wir uns nicht mausern, uns nicht von der Vergangenheit lösen, treten wir auf der Stelle.

Beim Vogel ist die Zeit der Mauser eine Phase der Verwundbarkeit. Manchmal ist er in dieser Zeit sogar flugunfähig, was vor allem für bestimmte Entenarten gilt. Man sagt, sie befänden sich in der »Schwingenmauser«. Das ist ein schöner Ausdruck für die Tatsache, dass der Vogel sich für eine gewisse Zeit aus dem Leben herausnimmt, bis die wichtigen Steuerfedern nachgewachsen sind. In dieser Zeit verhält er sich möglichst unauffällig, eben weil er sich verwundbar fühlt. Er nimmt sich nichts Wichtiges vor und wartet geduldig. Darauf, dass die Erneuerung sich vollzieht, dass er seine Kraft und seine alte Schönheit wiedererlangt.

Stockente

Genau das sollten wir mitunter auch tun.

In einer Gesellschaft, die uns pausenlos zu neuen Leistungen antreibt, haben wir es verlernt, uns für einen Augenblick zurückzuziehen, uns in schwierigen Momenten die nötige Zeit zu nehmen, um unsere Kräfte zu sammeln und neue Kraftquellen zu erschließen. Wir trauern, und doch hören wir von unserer Umwelt nur: »Das Leben geht weiter!« Unser Herz ist gebrochen, und doch heißt es bloß: »Andere Mütter haben auch schöne Kinder!« Stirbt unser Hund oder unsere Katze, müssen wir uns Sprüche anhören wie: »Ach, das war doch bloß ein Tier!« Als hätten wir kein Recht auf Rückzug, auf unsere Trauer.

Ja, das Leben mag schon weitergehen, aber für uns ist alles anders geworden. Diese Liebe kehrt nie mehr zurück. Das Leben mag uns wieder Glück bringen, mag neue Bekanntschaften bereithalten, aber ist das ein Grund, unseren tiefen Verlust nicht zu betrauern? Man gesteht uns das Recht auf mehr Zeit nicht zu, auf die Zeit, die es braucht, um vom Kummer zu genesen – die Zeit der Mauser.

Kein Wunder also, dass wir darüber auch verlernt haben zu fliegen, so häufig wie man uns die Flügel stutzt. Sofern wir sie nicht selbst beschneiden …

Gestehen wir uns doch die Zeit der Mauser zu, in der unsere Schwungfedern nachwachsen, nach großen und kleinen Verlusten. Denn danach werden wir stärker und schöner zurückkehren – mit der Leichtigkeit eines Vogels.

Kleine Lektion in Gleichberechtigung

Die Mühen der Turteltaube

Was die Vogelweibchen angeht, hat der männliche Teil der Bevölkerung sich im Übrigen ein Klischeebild zurechtgezimmert, das zwar anrührend ist, aber nicht einmal ansatzweise der Realität entspricht. Die Rede ist vom Weibchen, das im vom Männchen gebauten Nest stundenlang und aufopfernd seine Eier bebrütet, während das Männchen in den Baumwipfeln sein Liedchen schmettert oder vor aller Welt sein Gefieder aufplustert. Und wenn der Nachwuchs dann geschlüpft ist, versorgt das mausgrau gefiederte Weibchen eifrig die Küken, während das Männchen sich längst zu neuen Abenteuern aufgemacht hat.

Diese Karikatur der Arbeitsteilung im Vogelleben geht nicht völlig an den Tatsachen vorbei. Zum Beispiel bei den Enten. Das Gefieder des Erpels ist meist bunt, besonders im Frühjahr zur Zeit der Balz. Das Federkleid der Weibchen hingegen bleibt braun, schwarz und weiß und bietet so besten Schutz, denn die künftige Mama verschmilzt auf diese Weise vollkommen mit dem Untergrund – der Erde, den Zweigen, dem Röhricht und den Gräsern –, wo sie ihren Nistplatz hat und ihre Eier ausbrütet. Sie baut ihr Nest selbst und rupft sich dabei häufig sogar die weichen Daunen vom Bauch, um es gemütlicher zu machen. Dann bleibt sie drei lange Wochen auf ihren Eiern sitzen, vor Blicken geschützt. Sie verlässt die kostbare Brut nur für einige Augenblicke, um kurz die Federn aufzuschütteln oder ein bisschen was zu futtern. Das Männchen aber schließt sich den anderen Erpeln an und beginnt schon am Ende des Frühjahrs mit der Mauser. Es legt sein Prachtkleid ab, bis es für einige Zeit beinahe aussieht wie ein Weibchen. Da der Erpel während dieser heiklen Zeit flugunfähig ist, ist er eine leichte Beute, und so mausert er sich an einem versteckten Ort. Was die Mithilfe bei der Kindererziehung angeht: Kein Drandenken! Das erledigt alles das Weibchen mit seinem bescheidenen Outfit. Es führt die frisch geschlüpften Entchen ans Wasser und weicht, solange sie nicht fliegen können, keinen Moment von ihrer Seite. Es hält Wache, und beim kleinsten Anzeichen von Gefahr wird es sofort aktiv. Dabei schafft das Weibchen auch noch ausreichend Essen herbei, um gut zwölf Schnäbelchen füttern zu können. Doch allen Bemühungen der Entenmutter zum Trotz wird die erste Brut aus zehn bis zwölf Entchen von Raubtieren meist erheblich dezimiert. Erreichen die Jungenten das Alter, in dem sie flügge werden, haben gewöhnlich nur zwei bis drei Jungvögel eines Geleges überlebt, manchmal auch gar keiner … Sind die Jungvögel selbstständig geworden, muss die Mutter sich schleunigst mausern, denn für viele Arten steht nun der Zug ins Winterquartier an. All das muss innerhalb weniger Wochen passieren. Die Belastungen, denen weibliche Stockenten ausgesetzt sind, sind so groß, dass ihre Überlebenschancen weit geringer sind als die der Erpel. Kein Wunder also, dass es bei bestimmten Entenarten einen Männerüberschuss gibt!

 

Im Gegensatz zu den hingebungsvollen Stockentenweibchen gibt es auch die weniger bekannten (und, um der Wahrheit die Ehre zu geben, auch weniger häufigen) Vogelarten, bei denen das Weibchen den Ton angibt – und das Männchen die Befehle seiner Herzensdame ausführt. Das ist zum Beispiel bei den Watvögeln der Fall, zu denen die Schnepfenvögel (Strandläufer, Wasserläufer) und die Regenpfeifer bzw. Säbelschnäbler gehören, all die »Stelzvögel« eben, die wir an unseren felsigen oder sandigen Küsten beobachten können. Zu den Arten, bei denen das Männchen die Arbeit erledigt, gehören zum Beispiel auch die Wassertreter und die Mornellregenpfeifer. Erstere sind wenig bekannt: Sie nisten in der arktischen Tundra und verbringen, sobald sie ihre Fortpflanzungspflichten erfüllt haben, den Rest ihres Lebens auf dem Meer, was für Landvögel doch recht bemerkenswert ist. Der Mornellregenpfeifer (der mit den Regenpfeifern verwandt ist) ist ein ausgesprochen schöner Vogel, der ebenfalls im hohen Norden lebt. Wobei er den Winter in Nordafrika und im Nahen Osten verbringt. Das Mornellregenpfeiferweibchen ist dafür bekannt, dass es recht forsch ist, wenn es dem Männchen Avancen macht. (Warum auch nicht? Die Tundra ist schließlich von nahezu grenzenloser Weite.)

Mornellregenpfeifer