Wie einmal ein Bagger auf mich fiel

René Marik

Wie einmal ein Bagger
auf mich fiel

Eine Provinzjugend

Knaur e-books

Inhaltsübersicht

Über René Marik

René Marik, geboren 1970, ist Komiker, Gitarrist, Sänger, Schauspieler und diplomierter Puppenspieler. Anfang der Nullerjahre gelang ihm mit seinem Bühnenprogramm »Autsch’n« rund um die liebenswert-cholerische Figur des Maulwurf’n der Durchbruch. Seitdem lässt er im großen Stil die Puppen tanzen. Der Autor lebt in Berlin.

Impressum

© 2019 der eBook-Ausgabe Droemer eBook

© 2019 René Marik

© 2019 Droemer Verlag

Ein Imprint der Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit

Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

Redaktion: Nadine Lipp

Covergestaltung: Isabella Materne

Coverabbildungen: René Marik/privat;

studio ben wolf fotografie

ISBN 978-3-426-45518-0

Hinweise des Verlags

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.


Noch mehr eBook-Programmhighlights & Aktionen finden Sie auf
www.droemer-knaur.de/ebooks.


Sie wollen über spannende Neuerscheinungen aus Ihrem Lieblingsgenre auf dem Laufenden gehalten werden? Abonnieren Sie hier unseren Newsletter.


Sie wollen selbst Autor werden? Publizieren Sie Ihre eBooks auf unserer Akquise-Plattform www.neobooks.com und werden Sie von Droemer Knaur oder Rowohlt als Verlagsautor entdeckt. Auf eBook-Leser warten viele neue Autorentalente.


Wir freuen uns auf Sie!

Für meine Schwester.

Für meinen Bruder.

Für meine Mutter.

»So you run and you run to catch up with the sun

but it’s sinking

Racing around to come up behind you again.

The sun is the same in a relative way but you’re older,

shorter of breath and one day closer to death.«

Roger Waters

 

 

 

»Fuck you Dad!«

Chris Griffin

Prolog

Dezember 2017

 

Nein, ich konnte nicht bleiben. Brennspiritus gemischt mit Magensäure lag schwer in der Luft, und ich fragte mich, wie zwei Menschen in so kurzer Zeit eine ganze Wohnung mit dem reinen, bitteren Gestank nach Alkohol ausfüllen können.

Während der Autofahrt musste ich das Fenster einen Spalt öffnen, trotz der eisigen Temperaturen, die jetzt, kurz vor Weihnachten, draußen herrschten. Neben mir saß meine Mutter mit Steingesicht, und hinten quetschten sich meine Schwester und ihr neuer Freund auf die Rückbank. Er ist ein lieber Kerl. Endlich. Endlich einer, der nicht die Hand gegen sie erheben wird. Das Problem ist nur, dass die beiden sich in solch atemberaubender Geschwindigkeit kaputt saufen, dass ich einen furchtbaren Schrecken bekam, als ich meine Schwester heute das erste Mal nach knapp einem Jahr wiedersah. Sie kann kaum noch laufen, zittert unentwegt, und ihre Augen blicken so müde, als habe sie seit hundert Jahren nicht geschlafen. Dabei ist sie erst Mitte fünfzig. Wie also kann das angehen?

Dann stand ich in der Wohnung, die mein Bruder über dieses Internetportal für uns organisiert hat, damit wir, vielleicht ein letztes Mal, gemeinsam Weihnachten feiern können. Selbst hier in der tiefsten schwäbischen Provinz gibt es Menschen, die ein Zimmer oder gleich ihre gesamte Wohnung anbieten. Das Problem war nur, dass diese Wohnung ein Zimmer zu wenig hatte. Es gab ein Schlafzimmer, das sofort meine Schwester und ihr Freund in Beschlag nahmen, und ein Wohnzimmer mit zwei Schlafcouchs, die an zwei gegenüberliegenden Wänden aufgestellt waren. Und ich merkte, dass ich es nicht schaffte, dass mir alles zu viel wurde und ich dort rausmusste. Nein, ich werde mir nicht für eine ganze Woche ein Zimmer mit meiner Mutter teilen. Und schon suchte ich auf meinem Handy nach einem Hotel in der Nähe und fand tatsächlich eines, dessen Rezeption um zehn Uhr abends noch besetzt war und das sogar noch ein Zimmer für mich hatte. Als ich meiner Mutter eröffnete, dass ich mir ein Hotel gesucht habe, nickte sie nur resigniert. Natürlich hätte ich ihr das Zimmer anbieten und mich um meine desolate Schwester und ihren Freund kümmern können, damit sie ihre Ruhe hat, aber ich wusste, dass sie das nicht angenommen hätte. Oder vielleicht doch?

Man sagt, in extremen Situationen merkt man, aus welchem Holz jemand geschnitzt ist. Aus dem Holz meiner Mutter werden Flitzebogen gemacht. Mein Holz dagegen ist spröde und kurz davor zu brechen. Nicht wegen meiner Schwester, nicht wegen der zu kleinen Wohnung, jedenfalls nicht nur, sondern vor allem meines Bruders wegen.

Nachdem wir unsere Sachen in der Wohnung abgestellt hatten, sind wir zu ihm und seiner Familie gefahren, und ich musste mit aller Macht darum kämpfen, den zweiten, noch viel größeren Schrecken des Tages aus meinem Gesicht zu verbannen, und glaube doch nicht, dass es mir gelungen ist.

Er lag auf der Couch im Wohnzimmer – oder das, was von ihm noch übrig war. Ich erkannte ihn kaum wieder. Wie konnte das mein Bruder sein? Er hatte das zweite Gesicht, wie damals mein Vater kurz vor seinem Tod. Das zweite Gesicht, das sich von hinten durch das alte hindurchgeschoben und dabei jedes überflüssige Gramm Fett weggebrannt hatte, unerbittlich wie die Sonne ein Eis am Stiel wegbrennt, bis nur mehr das blanke Holz übrig ist. Das Echsengesicht, oder das eines kranken Vögelchens, das hechelnd um seine letzten Atemzüge ringt. Und wir sprachen über den Tod und das Danach. Und als er von dem zweiten Leben sprach, das dort auf ihn warten würde, brachte ich es nicht über mich, ihm zu widersprechen, konnte ihm nicht sagen, dass für mich da nichts ist als die Würmer und das Nichts, dass alles nur eine Erfindung des schwachen Menschen ist, um irgendwie seine eigene, unfassbare Endlichkeit fassen zu können. Denn ich fand es tröstlich, dass es etwas gab, das ihm die Angst ein wenig nahm, und zum ersten Mal seit sehr langer Zeit war ich fast versöhnt mit der Religion und dem ganzen Glaubensunsinn.

Und nun liege ich allein in diesem anonymen Hotelzimmer und frage mich, wie nur alles so kaputt sein kann und wann es so geworden ist.

Teil I
Soldatenkind

1

Sommer 1979

 

Schepperdängeldängel … Ich fahre auf der blanken Felge. Schlauch und Mantel habe ich abmontiert, ebenso wie die Kette, Bremsen, Schutzbleche und Lichter. Mein Kinderfahrrad ist ein Skelett. Der helle Beton der Panzerstraße scheppert unter mir hinweg. Kein Mensch, kein Auto. Nur die immer gleichen, dunkel gebeizten, einstöckigen Holzbaracken. Die kurze, etwas abschüssige Auffahrt hinunter auf den immer leeren Platz. Rechts ein paar Hallen im gleichen Stil, davor diese seltsamen Betongebilde, schwarz-gelb bemalt, die aussehen wie umgedrehte Schiffsrümpfe mit flachen Böden. Nur viel kleiner. Ich kann gut vom Felgenrad auf sie draufsteigen und Reiten spielen. Stehen da, vor jedem Hallentor eines, und wer weiß, warum. Die Farbe haben sie, damit man nicht mit dem Auto dagegenfährt. Aber dann hätte man sie ja auch gleich weglassen können! Wäre allerdings schade ums Reiten, worauf ich heute jedoch keine Lust habe.

Ein kurzer Slalom muss genügen. Der Schwung der Auffahrt reicht nicht ganz, und mein Felgenrad wird zum Laufrad. Gut, dass meine Beine im Sitzen bis zum Boden reichen. Nur die Pedale stören. Keine Ahnung, wie man die abkriegt. Weiter geht’s. Ein kurzes Stück Barackenstraße und schon ist da der große Platz. Groß wie ein Fußballfeld, oder fast. Wiese, vielleicht ein paar Sträucher. Auf der einen Seite das Kino. Dort läuft nur ein Film, jedenfalls nur einer, den ich sehen darf: »Die glorreichen Sieben« mit Yul Brynner. An den kann ich mich am besten erinnern wegen der Glatze. Mehr Filme braucht’s auch nicht. Kommen ja immer wieder neue Grüne. Auf der anderen Platzseite die Kantine. Holzbaracke, nur größer als die meisten anderen. Dort arbeiten meine Eltern. Oder besser gesagt meine Mutter und manchmal mein Vater. Vom Platz aus blickt man auf den Haupteingang. Zwei große Türen mit Speichenglas. Dahinter links die Klos. Nur für Männer. In den 70ern gibt’s keine grünen Frauen. Auf die Klos geht nur, wer wirklich muss. Der Gestank ist kaum auszuhalten. Der aggressive Klostein kann sich nur mühsam behaupten, denn wo viel gesoffen wird, wird viel gepisst. Die grauen Scheißhaustüren sind vollgekrakelt mit ejakulierenden Penissen, Mösen und Frauen, die nur aus Geschlechtsteilen zu bestehen scheinen. Außerdem Weisheiten wie: »Scheiße an der Sackbehaarung zeugt von schwuler Männerpaarung!« Offensichtlich gehört der schwarze Edding zur Grundausstattung der Grünen.

Vorbei an den Klos geht’s in einen breiten Korridor. Zwei Kippenautomaten. Hinten rechts das Casino für die Unteroffiziere. Billard und zwei Flipper. Geradezu der riesige Mannschaftsraum. Fest installierte, dunkelbraune Holzbänke und Tische auf rotbraunen Tonfliesen. Alles leicht abwaschbar, denn wo viel gesoffen wird, wird auch viel gekotzt. Und natürlich das Wichtigste: die Spielautomaten! Der älteste ist so ein Westernding: schwarz-weiß mit Pixelgrafik. Über einen Pistolengriff steuert man einen Cowboy rauf und runter. Ihm gegenüber, ein weiterer Cowboy, dazwischen Kakteen als Deckung. Dieser Automat ist schon nicht schlecht. Besser aber ist der daneben. Panzerkrieg. Man schaut durch eine kleine Luke auf eine schwarze, kubistische Landschaft, die nur mit grünen Linien dargestellt wird, durch die man seinen Panzer steuert. Ziel ist es, andere Panzer aufzuspüren und abzuballern.

Im Saal sind manchmal tausend Grüne und versuchen herauszufinden, wer den größten Kümmerlingkranz legen kann. Tolle Erfindung, diese Fläschchen, die dem Trinker eine ganze Reihe Spiele bieten.

Da ist erst mal das Ritual des Öffnens. Du musst das kleine Verschlusskäppchen möglichst lautstark auf die Tischplatte hämmern. Wenn du das vergisst, kannst du gleich die nächste Runde holen. Dann gibt es Hochtief. Auf der Unterseite der Fläschchen sind winzige Zahlen eingeprägt. Einer brüllt »hoch« beziehungsweise »tief«, und der mit der höchsten beziehungsweise der niedrigsten Zahl muss die nächste Runde holen.

Dann das Trinken. Auf jeden Fall freihändig! Also Fläschchen zwischen die Schneidezähne und Kopp in Nacken. Bei Handspiel: Runde. Das Gleiche gilt für den Tölpel, der sein Fläschchen aufrecht auf den Tisch stellt. Immer flach auf die Seite! Und die Königsdisziplin ist der Kranz. Rund achtzig der kleinen Dinger Seite an Seite gelegt ergeben einen perfekten Kreis! Das ist doch ein schönes Ziel! Da wird der klebrige, hochprozentige Inhalt zur Nebensache! Ja, hier wird viel gebrüllt, gesoffen, gepisst, und es werden viele Obszönitäten auf Scheißhauswände gekritzelt. Ich bin nichts, ich kann nichts, gebt mir eine Uniform!

Heute ist der Saal so gut wie leer. Die Grünen sind im Feld und üben Zelten und Rumballern. Es ist Vormittag und keine Ahnung, warum ich nicht in der Schule bin. Vielleicht Ferien. Ich rolle auf meinem Felgenrad über die rotbraunen Tonfliesen. Das Geräusch verändert sich, wird heller. Rechts schaut meine Mutter in weißer Kittelschürze durch das riesige Tresenloch.

»Och, du sollst doch nicht mit dem Rad hier rein.« Sie ist nicht böse. Ich glaube, das kann sie nicht. In Situationen, in denen andere Menschen sauer werden, legt sich bei ihr nur eine tiefe Verzweiflung über die Stimme. Sie ist oft verzweifelt. Nicht meinetwegen, oder nur selten. Sondern weil alles zu viel ist. Sie ist Mutter von drei Kindern und einem Mann, Hausfrau und arbeitet vierzehn Stunden am Tag. Auch am Wochenende. Sie ist die heimliche Chefin der Kantine, weil der eigentliche Chef, mein Vater, lieber feiert und bei seinen Kumpels einen auf dicke Hose macht.

»Außerdem weißt du doch, dass du nicht hier vorne rein sollst.« Sie meint, ich solle den Hintereingang nehmen. Aber ich weiß doch, dass um diese Zeit die Grünen auf der Schießbahn sind, außerdem ist der Umweg um das Gebäude auf meinem Laufrad ziemlich mühselig. Kein Wort über den Zustand meines Rades. Ohne einen weiteren Ton öffnet sie die Tür neben dem Tresenloch, und ich laufrolle in den großen Schankraum. In der Luft Großküche: Bratfett, abgestandenes Bier und kalter Zigarettenrauch, der durch die Tresenöffnung gegenüber hereinweht. Dort, im Unteroffizierscasino, lungern ein paar Ordonnanzen im Blaumann rum, die bei Herrengedeck und Kippen auf den Mittagstisch warten. Was die in den 70ern schon tagsüber wegschlucken! Wie später bei »Dallas«, nur dass es hier anstatt Bourbon aus einer Kristallkaraffe Kornbrand und Bier aus dem Hahn gibt. Ich rolle weiter, vorbei an meiner Mutter in den langen Flur. Links ein Blick in die Großküche. Edelstahlhölle. Fritteusen, Arbeitsflächen, Dunstabzugshauben und Geschirrspülautomaten. Zwei dicke Frauen in Kittelschürzen. Frau Kohl und Frau Hase. Die eine rührt mit einem riesigen Holzlöffel in einem ebenso riesigen Topf. Jägersoße. Die andere kämpft mit feuchten Augen und einem Messer gegen einen Berg Zwiebeln. Ich bleibe kurz stehen und winke ihnen zu. Keine Reaktion. Die sind zu beschäftigt. Früher hätte ich mich jetzt vielleicht auf einen kleinen Hocker in eine Ecke gesetzt und angefangen, meine Kinderhörspielkassetten auswendig aufzusagen. Das ist eine meiner ersten Kindheitserinnerungen: Wie ich es mal wieder geschafft hatte, mich vor meiner Mutter zu verstecken, die mich in den Kindergarten bringen wollte, und mich stattdessen zu den dicken Frauen in die Großküche stahl und »Alice im Wunderland« oder die »Hexe Schrumpeldei« rezitierte. Wort für Wort. Zumindest war ich damals davon überzeugt. Ob das wirklich stimmte, kann ich heute nicht mehr sagen, und die beiden dicken Frauen sicher auch nicht, denn die haben schon damals kaum Notiz von mir genommen. Überhaupt komme ich mir oft vor wie ein unsichtbarer Besucher auf einem fremden Planeten.

Also lasse ich die dicken Frauen hinter mir und will gerade links abbiegen, wo ein weiterer Gang zum Hintereingang der Kantine führt, um mein Rad draußen abzustellen, als ganz hinten ein großer Grüner, gefolgt von meinem Vater, aus dem Büro in den Flur tritt. Bei meinem Anblick bleibt er so abrupt stehen, dass mein Vater fast in ihn reinläuft. Auch ich halte inne und blicke zu den beiden hoch. Der Grüne mit Schnauzbart, mein Vater mit rötlich blonden Locken. Beide mit imposanten Bierbäuchen. »Ein Mann ohne Bauch ist ein Krüppel!« Das Gesicht meines Vaters, insbesondere die Nase, ist noch nicht vollständig vom Alkohol entstellt, weist aber schon eine verräterische Rötung und hier und da ein paar Wucherungen auf. Beide blicken auf mich runter, dann auf mein Rad, dann wieder zu mir. Der Grüne erlangt als Erster seine Fassung wieder.

»AH! DANN IST DAS WOHL DER KLEINE MAREK!« Die schreien immer, auch wenn man direkt vor ihnen steht. Entweder weil sie so konditioniert sind oder weil das viele Herumballern ihre Ohren geschrottet hat. Oder beides. Kurzes Kopfwuscheln seitens des Grünen, dann sind sie auch schon an mir vorbei, weiter ins Unteroffizierscasino, wo der Geschäftsabschluss mit ein paar Herrengedecken begossen wird. Der Grüne ist ein »Spieß«. Das ist die Mutti der Kompanie, die unter anderem dafür zuständig ist, die anderen Grünen beim Zelten und Rumballern mit ausreichend Mars, Snickers, Raider und Schlüpferstürmern zu versorgen. Ich gucke ihnen hinterher. Kurz bevor sie durch die Tür sind, schaut sich mein Vater noch mal zu mir um, doch ich kann seinen Blick nicht lesen.

Also weiter. Links den kurzen Gang hinunter bis zur Hintertür. Draußen führt eine Betontreppe mit Eisengeländer ein paar Stufen hinab auf den Parkplatz. Unten lehne ich mein Rad gegen die Rückwand der Kantine und blicke über den Platz, auf dem heute nur eine Handvoll Autos steht, rüber zum Heizkraftwerk und überlege, ob ich eine kurze Expedition zum Koksberg unternehmen soll, der sich hinter dem Kraftwerk fünf Meter hoch auftürmt. Dafür spricht das schöne metallische Klirren, das ertönt, wenn die Koksbrocken übereinanderkullern, dagegen, dass ich nach der Besteigung aussehen werde wie ein Schornsteinfeger, was den Verzweiflungsgrad meiner Mutter noch weiter in die Höhe treiben würde. Gerade als ich mich für den Koks und gegen meine Mutter entscheiden will, taucht sie oben in der Tür auf und fragt, ob ich mit auf die Schießbahnen fahren möchte. Ich möchte, denn manchmal lässt sie mich ein paar Meter über die mit Schlaglöchern übersäten Kieswege fahren, die durch das Schießgelände führen. Doch zuerst müssen die Vorräte an Süßigkeiten, Alkohol, Schnitzelbrötchen und Würstchen im umgebauten VW-Bus aufgefüllt werden. Also flitze ich ins Lager und schnappe mir die Kartons mit den entsprechenden Schokoriegeln. Das Lager ist der wahr gewordene, sabbernde Kindertraum. Auf hohen Regalen stapeln sich Süßigkeiten aller Art. Alle gängigen Schokoriegel, also Mars, Raider, Lion, Snickers, dazu das gesamte Haribo-Sortiment, von Goldbären über Lakritzschnecken bis Colorado. Aber auch Ahoj-Brause, Katjes und diverse Behälter mit Groschenware wie Zuckerstangen, sauren Schnüren und so weiter. Abgesehen von dem ganzen Süßkram, werden hier auch palettenweise kleine Fläschchen mit klebrigem Likör gelagert. Schlüpferstürmer, Fernet Branca, Kümmerling und Jägermeister. Man könnte meinen, die Grünen ernähren sich ausschließlich von Zucker und hartem Alk, und wahrscheinlich entspricht das sogar der Wahrheit. Für mich hat das Lager jedoch schon lange seinen Reiz verloren. Hin und wieder ein Nucki-Erdbeer aus der Tiefkühltruhe, und das war’s schon mit meinem Süßigkeitenkonsum. Muss wohl am umgekehrten Gesetz von Angebot und Nachfrage liegen.

Als ich mit den Kartons am Verkaufswagen ankomme, sitzt meine Mutter bereits hinterm Steuer. Und schon geht’s los, quer durch das Lager, vorbei an unzähligen dunkel gebeizten, einstöckigen Mannschaftsunterkünften, bis wir schließlich den Schlagbaum erreichen. Der Wachmann schlappt aus seinem Häuschen und öffnet grüßend die Schranke. Man kennt sich. Weiter über die Panzerstraße, die vom Lager in einer schier endlosen Rechtskurve den Berg hinabführt. Das Bundeswehrlager liegt auf sechshundertvierundfünfzig Meter Höhe, auf der zweithöchsten Erhebung des Westerwaldes mit Namen »Stegskopf«, inmitten des etwa zweitausend Hektar großen Schießgeländes. Am Fuße der Kurve führt links ein Schotterweg zu den einzelnen Schießbahnen. Ich werde unruhig.

»Darf ich? Ja?!« Seufzend fährt meine Mutter rechts ran und zieht die Handbremse. Wir tauschen die Plätze. Ich muss fast im Stehen fahren, denn sonst komme ich nicht an die Pedale. Es geht nur langsam voran. Kuppeln und Schalten kann ich noch nicht. Während wir also im ersten Gang dahinkriechen, versuche ich aufgeregt den Schlaglöchern auszuweichen, was jedoch eine kaum lösbare Aufgabe ist. Meine Mutter bezeichnet mich als Schlaglochsuchgerät. Nach hundert Metern reicht es ihr, und wir tauschen zurück.

Bald erreichen wir die erste Schießbahn. Sie stellt den Bus ab und öffnet von innen die Verkaufsluke. Das ist eigentlich der Moment, in dem die Grünen angelaufen kommen und sich vor dem Bus aufstellen, um sich mit Süßkram, Schnitzelbrötchen und Schlüpferstürmern einzudecken. Heute jedoch nicht. Irgendetwas stimmt da nicht. Nicht weit von uns hat sich eine grüne Traube gebildet, und aufgeregte Stimmen dringen zu uns herüber. Nach einer Weile trottet einer zum Bus und berichtet, was passiert ist. Anscheinend haben zwei Grüne mit ihren Knarren rumgealbert. Peng, war einer tot. Das nennt man wohl Berufsrisiko. Meine Mutter ist ganz Mitgefühl und Bedauern. »Ach Gott, der Arme!« und »Die armen Eltern!« und »Am schlimmsten für den armen Kerl, der abgedrückt hat!« usw. Aber es hilft nichts, hier werden wir heute keine Knacker los. Also weiter zur nächsten Schießbahn. Auf dem Weg dorthin nimmt das »Furchtbar, furchtbar!« kein Ende. Zaghaft versuche ich, mich an ihrer Litanei zu beteiligen, merke aber bald, dass ich eigentlich nichts dabei empfinde. Ob das nun an meiner Alienbeobachterposition liegt oder an etwas anderem, kann ich nicht sagen. Manchmal kann ich die Welt dort draußen einfach nicht berühren. Zum Glück sind wir bald an der nächsten Schießbahn angekommen. Hier ist alles wie immer. Freudig kommen die Grünen angelaufen wie eine Herde Kühe zur Tränke. Für jedes Klatschmaul wäre das ein gefundenes Fressen. Nicht so für meine Mutter. Anstatt den Männern brühwarm zu erzählen, was gerade einem ihrer Kameraden passiert ist, beschränkt sie sich darauf, höflich wie immer, ihre Waren an den Mann zu bringen. Aus Rücksichtnahme, vermute ich.

2

Nachdem wir alle Schießbahnen abgefahren haben, ich in der Kantine zu Mittag gegessen habe – Jägerschnitzel mit Pommes und Salat –, nehme ich mein Felgenrad und rolle nach Hause. Wir wohnen in einer dieser dunkel gebeizten Holzbaracken, die sich jedoch etwas abseits, am Rand des Lagers zwischen dunklen Fichtenhecken versteckt. Vor dem Haus eine kleine Rasenfläche, dahinter eine etwas größere. Da morgen mein Bruder nach Hause kommen wird, muss ich schleunigst anfangen, seine Sachen zurück an ihren Platz zu legen und vor allem die Legosteine abzuzählen, die ich mir geborgt habe. Mein Bruder ist in Ordnung, mit seinen Sachen aber echt penibel. Er hat eine große Waschtrommel voller Legos, und wenn er da ist und ich mir welche leihen möchte – ich liebe Lego! –, dann zählt er die Steine ganz genau ab, selbst die ganz winzigen. Und wehe, am Ende fehlt einer! Oft dauert es eine halbe Stunde, bis er die Steine gezählt hat, bevor er sie mir leiht, und eine weitere, wenn ich sie wieder zurückbringe.

Wir teilen uns ein Zimmer. Er ist sieben Jahre älter als ich, und natürlich schläft er im Doppelstockbett oben. Leider ist er nur in den Ferien zu Hause, da er ein Internat besucht. Trotz der Sache mit den Legosteinen freue ich mich auf ihn, denn er liest mir vor dem Einschlafen immer aus »Urmel aus dem Eis« vor oder erzählt mir selbst ausgedachte Geschichten. Dass er dabei ganz fürchterlich stottert, tut der Sache kaum einen Abbruch. Dabei ist sein Stottern wirklich heftig. Manchmal braucht er eine geschlagene Minute, um ein Wort rauszubringen. Auch wenn ich längst weiß, welches Wort er sagen möchte, warte ich geduldig ab, bis er es endlich geschafft hat. Ein einziges Mal habe ich ihn mit seiner Stotterei aufgezogen, und ich schäme mich noch heute dafür.

Mein Bruder ist der Inbegriff des Nerds. Er ist ein totales Mathe- und Physikgenie, Mitglied im Schachverein und wird Anfang der 80er einen der ersten Computer besitzen, die es zu kaufen gibt. Den Texas Instruments 99/4A. In sämtlichen anderen Fächern steht er zwischen Vier und Sechs, und jedes Jahr aufs Neue ist seine Versetzung gefährdet. Aber immerhin macht er Abitur. Ich gehe zwar noch in die Grundschule, werde es aber mit aller Wahrscheinlichkeit nächstes Jahr nur auf die Hauptschule schaffen. Meine sechs Jahre ältere Schwester geht auf die Realschule, und in meinem Kopf hat sich die Gewissheit gebildet, dass die Menge an Gehirnmasse, die eine Mutter weitergeben kann, von Kind zu Kind abnimmt.

Meine Schwester ist ebenfalls selten da, was aber eher daran liegt, dass sie viele Freunde hat und ein Mofa. Doppelter Luxus.

Im Lager gibt es außer mir keine Kinder, und der Weg durchs Mittelgebirge bis ins zehn Kilometer entfernte nächste Dorf ist auf meinem Kinderfahrrad undenkbar. Selbst wenn mein Rad noch ganz wäre, könnte das Dorf genauso gut in Australien liegen.

Meine Schwester ist das genaue Gegenteil meines Bruders. Die beiden sind Katz und Hund, wie Feuer und Wasser. Sie raucht bereits und hat auch schon mal Alkohol getrunken, was mein Bruder total abartig findet. Meine Eltern rauchen natürlich auch. Kette. Mein Vater schafft zwei Packungen »Reval ohne« am Tag. Im Winter mit meinen Eltern Auto zu fahren grenzt an Folter. Bei geschlossenen Fenstern quarzen beide, bis der Arzt kommt. Aber das sieht man in den 70ern noch nicht so eng. Schließlich rauchen ja selbst im Fernsehen alle wie die Bekloppten. Beim Internationalen Frühschoppen etwa, der jeden Sonntagmittag läuft, hocken die Männer da bei Kippen und Wein, und gegen Ende der Sendung kann man ihre Gesichter durch den ganzen Qualm nur noch schemenhaft erkennen.

Meine Mutter hat mir mal erzählt, mein Vater hätte ihr, als sie geheiratet haben, gesagt, sie solle mit dem Rauchen anfangen, damit sie nicht mehr ganz so wie ein Bauerntrampel daherkomme. Sie kommt tatsächlich vom Bauernhof, irgendwo aus einem Nest in der Oberpfalz, bei dem es noch nicht einmal für ein gelbes, sondern nur für ein grünes Ortsschild gereicht hat. Sie hat neun Geschwister. Neun! Ich habe also eine schier unüberschaubare Anzahl von Onkeln, Tanten, Cousins und Cousinen. Bei großen Familienfesten brauchen wir fast eine Halle, damit alle unter ein Dach passen. Mein Vater hat nur eine Schwester, von der er immer behauptet, sie sei ein bisschen zu dick. Meiner Meinung nach ist sie jedoch nicht bloß dick, sondern fett. Die fetteste Person, die ich damals je gesehen hatte. Außerdem hat sie einen ebenso fetten Dackel. Der ist so fett, dass sein Bauch an der Unterseite ganz kahl und wund gescheuert ist, weil er beim Laufen wegen der zu kurzen Beinchen über den Boden schleift. Ein bissiges, übellauniges Tier. Verständlicherweise.

Einmal, das ist schon ganz lange her, ich war noch viel kleiner und wir haben noch nicht in dem Bundeswehrlager gewohnt, da war meine Tante zu Besuch. Meine Eltern waren kurz weg, und sie lag im Garten in einem ächzenden Sonnenstuhl, aus dem sie wegen ihres Gewichts aus eigener Kraft nicht mehr hochkam. An ihrer Seite der beständig knurrende Fettdackel. Schwitzend und mit hochrotem Kopf hat sie meinen Bruder und meine Schwester mit ihrer hohen Fistelstimme rumgescheucht. Sie sollten ihr dieses oder jenes bringen, sie sollten nicht so laut sein und ihren armen Dackel nicht so aufregen und überhaupt. Was für ungezogene Bälger! Irgendwann haben die beiden den Wasserschlauch geholt und meine Tante und ihren Köter kalt abgeduscht. Gegen ihren Willen, versteht sich. Während sich der Dackel immerhin noch träge aus der Schussbahn schleppen konnte, war meine Tante hilflos wie ein Käfer auf dem Rücken der Willkür meiner Geschwister ausgeliefert. Das war einer der wenigen Momente, bei denen sie perfekt als Team funktioniert haben.

Anstatt die Sachen meines Bruders zurück an ihren Platz zu legen, bleibe ich natürlich an den Legos kleben und baue irgendwas. Diese kleinen Klötzchen sind einfach eine ganz wundervolle Erfindung. Besonders Lego-Technik hat es mir angetan. Da kann man richtige Autos bauen mit Motor und Getriebe und allem. Später möchte ich Lego-Entwickler werden.

Gegen 14 Uhr kommen meine Eltern zur Mittagspause nach Hause. Während mein Vater sofort ins Bett geht, um sein Mittagsschläfchen zu halten, vielleicht auch, um seinen Vormittagsrausch auszuschlafen, widmet sich meine Mutter dem Haushalt. In unserer Familie ist das althergebrachte Frauenbild noch voll intakt. Die Emanzipationsbewegung der 60er hat meiner Mutter einzig und allein eingebracht, dass sie neben dem Haushalt nun auch noch arbeiten und Geld verdienen darf. Herzlichen Glückwunsch. Nach getaner Hausarbeit gelingt es auch ihr, sich noch eine halbe Stunde auf der Couch im Wohnzimmer auszuruhen. Während der Mittagspause heißt es für mich, mucksmäuschenstill zu sein. Denn wenn ich zu laut bin und mein Vater aufwacht, dann ist »Polen offen!«, wie er so schön sagt, und das gilt es unter allen Umständen zu vermeiden. Da ich aber ein grundsätzlich sehr stilles Kind bin, bleibt Polen meistens zu. Um 16 Uhr geht der Rollladen im Schankraum der Kantine wieder hoch und wird sich erst gegen 22 Uhr wieder schließen.

Der Nachmittag vergeht bleischwer. Nachdem ich die Sachen meines Bruders mehrfach ein- und wieder ausgeräumt habe, um zu sehen, was sich noch mit ihnen anfangen lässt, lande ich irgendwann, wie fast jeden Tag, vor dem Fernseher. Als es dunkel wird, rolle ich mich auf dem ausklappbaren Ohrensessel meines Vaters zusammen, den Kopf auf der Armlehne, und stelle mir vor, es wäre der Oberschenkel meiner Mutter. Ich bin neun Jahre alt und lutsche immer noch am Daumen.

3

Es ist Sonntag, mein Bruder ist schon da, und nachdem er seine Sachen inspiziert hat, freut auch er sich, mich zu sehen. Meine Mutter hat eine Ente in der Röhre. Dazu gibt es Rotkohl und Knödel. Lecker. Mein Vater, mein Bruder und ich sitzen erwartungsvoll am runden Esstisch und sehen meiner Schwester und meiner Mutter dabei zu, wie sie das Essen auftragen. Das Rollenverständnis wird gewissenhaft an die nächste Generation weitergegeben. Mein Vater sieht schrecklich aus. Offensichtlich ging es gestern wieder etwas länger, und ein beständiger Alkoholdunst umweht uns, hüllt uns ein wie ein übel riechender Mantel. Dementsprechend ist auch seine Laune. Die Luft ist zum Schneiden dick.

Das Essen beginnt mit der rituellen Selbstkasteiung meiner Mutter. Die Ente sei zäh, die Knödel zu weich usw., was natürlich totaler Quatsch ist. Der Ritus verlangt nun von uns, dass wir ihr vehement widersprechen, was wir, mit Ausnahme meines Vaters, natürlich auch tun. Danach Stille. Schließlich wendet sich meine Mutter an meinen Bruder, etwas zu sehr um fröhliche Unbeschwertheit bemüht: »Na, dann erzähl doch mal! Was gibt’s Neues?«

Mein Bruder sitzt da wie eine verängstigte Heuschrecke. Er ist schlaksig, scheint nur aus Ellbogen, Knien und Füßen zu bestehen. Sein Kassengestell sitzt etwas schief in seinem von Akne entstellten Gesicht, und die oberen Schneidezähne, die in unnatürlichem Winkel hervorstehen, lugen immer ein bisschen durch seine Lippen. Derart von unserer Mutter angesprochen, zieht eine tiefe Röte über sein Gesicht und er bringt unter großer Anstrengung hervor: »A-a-a-a-ach, e-e-e-e-e-e-e-e-eig-g-g-g-gentlich al-l-l-l-l-l-l …«

Mein Vater blickt zur Decke und atmet hörbar aus. Achtung, erstes Zeichen!

»… l-l-les wie i-i-i-i-i …«

»Seit wann isst der feine Herr seine Ente mit Messer und Gabel?!« Die Stimme meines Vaters knallt wie eine Peitsche. Mein Bruder blickt zu Boden, legt Messer und Gabel zur Seite und gibt seinen kläglichen Versuch auf, von seiner Zeit im Internat zu berichten. Wieder Stille. Kaugeräusche. Mein Bruder ist dazu übergegangen, seine Ente mit den bloßen Fingern zu zerlegen. Ein Fettfilm zieht sich über sein Kinn, der seinen Pickeln einen rötlichen Glanz verleiht. Uiuiui, kann ich gerade noch denken, als mein Vater von Neuem loslegt. »Jetzt guck dich an! Du frisst wie ein Schwein!!!«

Meine Mutter schaltet sich zaghaft ein. »Ach, Herbert …«

Mein Bruder, wahrscheinlich getrieben durch die schreiende Ungerechtigkeit, die ihm gerade widerfährt, und ermutigt durch die Rückendeckung der Mutter, so halbherzig sie auch ist, wird nun seinerseits laut. »Wie s-s-s-s-s-oll ich d-d-denn e-----«. Weiter kommt er nicht, denn mein Vater ist schon aufgesprungen, hat ihn am Oberarm gepackt und zerrt ihn so heftig vom Tisch weg, dass der Stuhl krachend umfällt. Er schleift meinen schreienden Bruder durch den Flur und sperrt ihn in das kleine Gäste-WC ohne Fenster. Der Lichtschalter befindet sich außen, und das Licht bleibt selbstverständlich aus. Währenddessen ist meine Mutter sitzen geblieben und weint still in ihre Ente. Meine Schwester tut es ihr gleich, und ich sitze da, und die Welt hat wieder Abstand von mir genommen. Dunkel umwölkt kehrt mein Vater zurück und isst als Einziger weiter. Irgendwann fängt meine Mutter an, den Tisch abzuräumen. Ein stiller Protest. Meine Schwester hilft ihr. Auch ich schleiche mich, ganz unsichtbar jetzt, weg vom Tisch und wünschte, ich könnte sagen, dass ich auf dem Weg in mein und meines Bruders Zimmer ganz vorsichtig den Lichtschalter betätigt habe, aber das habe ich nicht getan.

 

Ein Mensch definiert sich durch seine Taten. Tut ein Mensch Gutes, dann ist er ein guter Mensch. Tut er Böses, dann ist er ein böser Mensch. So einfach ist das, und nach dieser Definition wäre mein Vater eindeutig ein böser Mensch gewesen. Was aber, wenn man spürt, dass in dem bösen Menschen irgendwo noch ein guter drinsteckt, wie bei diesen russischen Matroschka-Puppen?

Ich glaube, mein Vater war vor allem ein verzweifelter Mensch. Vielleicht weil er sich sein Leben anders vorgestellt hatte oder weil auch er ein Opfer seiner verqueren Kriegs- und Nachkriegserziehung war, weil er nicht aus seiner Haut konnte und weil der Alkohol ihn immer weiter von sich selbst entfernt hatte. Oder was weiß ich. Was ich weiß, ist, dass er uns auf seine hilflose Art irgendwie geliebt hat. Das soll keine Rechtfertigung für seine Taten sein, denn das kann es nicht. Ebenso wenig wie man die Taten von rechten Schlägern durch ihre schwere Kindheit rechtfertigen kann. Es geht eher darum, dass ich mich rechtfertigen muss, vor mir selbst. Dafür, dass ich ihn trotz allem geliebt habe, selbst dann noch, als ich von der einen Tat erfahren habe, der unverzeihlichen, für die es keine Rechtfertigung geben kann. Denn das ist die Schuld, mit der ich leben muss: dass ich mich nicht von ihm abgewendet habe, dass er für mich nie aufgehört hat, mein Vater zu sein.

 

Später, am Nachmittag, hat mein Vater seinen Kater und damit seine schlechte Laune weggeschlafen und sitzt nun vor dem Fernseher. Er hat eines unserer Endlos-Cartoon-Videobänder in den Videorekorder, ein monströses Video2000-Gerät, eingelegt und lacht nun lauthals über »Tom und Jerry«, »Roadrunner« und »Duffy Duck«. Wahnsinn. Er lacht so laut, dass die Wände wackeln. Der Restfamilie steht nach dem verkorksten Mittagessen jedoch nicht der Sinn nach lustigen Comicfilmchen. Meine Schwester hat inzwischen Besuch. Irgendein Mario. Der ist mit seinem Mofa gekommen, und nachdem sie ihn an der Kasernengrenze durch den Schlagbaum gelotst hat, hängen die beiden nun in ihrem Zimmer und hören Smokie. Ich spiele mit meinem Bruder, der wieder auf freiem Fuß ist, in unserem Zimmer Schach, was unendlich sinnlos ist. Wie schon erwähnt, ist mein Bruder im Schachverein, sieben Jahre älter als ich, und dann ist da ja auch noch das Problem mit der schwindenden Hirnmasse. Kurzum: Ich habe zu keinem Zeitpunkt auch nur den Hauch einer Chance. Wahrscheinlich nicht einmal dann, wenn er nur mit drei Figuren in die Schlacht ziehen würde. In zwei Jahren werde ich mich weigern, gegen ihn zu spielen, aber dann wird es bereits zu spät sein, und ich werde ein Schachtrauma davongetragen haben, das mir bis heute jede Lust an diesem Spiel verleidet.

Irgendwann taucht meine Schwester bei uns auf, gefolgt von Mario. Der steht irgendwie verdruckst hinter ihr und lächelt so ein überlegenes Lächeln, als hätte jemand einen Witz gemacht, den nur er versteht. Er ist etwas kleiner als sie, und seine aschblonden Locken fallen auf seine mit Buttons bepflasterte Jeansjacke. »Atomkraft, nein danke«, »Peace« und »Alfred E. Neumann« kann ich erkennen. Der Rest sagt mir nichts. Außerdem hat er sich einen Bart stehen lassen, oder besser gesagt einen Flaum oder ein Fläumchen, von dem mein Vater behaupten würde, den könne er sich morgens mit dem Handtuch wegrubbeln.

Meine Schwester sieht aus wie mein Vater. In schön. Sie hat rotblonde Locken, die ihr bis weit über die Schultern reichen. Eine richtige Mähne. Auch sie trägt eine Jeansjacke, ohne Buttons, die ihr ein bisschen zu groß und außerdem an den Ellbogen schon etwas abgewetzt ist, was aber irgendwie cool an ihr aussieht. Auch das Gesicht hat sie von meinem Vater. Ebenfalls in schön und natürlich ohne die dicke, vom Alkohol zerwucherte Nase. Jungs in ihrem Alter und auch ältere werden in ihrer Gegenwart entweder ganz ruhig oder zu Gockeln. Mario gehört eindeutig in die zweite Kategorie. Mein Bruder sieht aus wie meine Onkel mütterlicherseits. Zu mir sagen alle, ich wäre meiner Mutter »wie aus dem Gesicht geschnitten«. Weiß nicht, was ich davon halten soll. Ich bin doch ein Junge. Seltsam, wie drei Geschwister so unterschiedlich aussehen können.

»Wir drehen ’ne Runde durchs Übdorf«, sagt sie und schaut meinen Bruder dabei so seltsam an, als wäre klar, wie der jetzt zu reagieren hätte. Dem ist natürlich überhaupt nichts klar, und er glotzt sie nur verständnislos an. Woraufhin sie ihren Blick noch verstärkt. Auch ich begreife nicht, was los ist, und blicke ratlos zwischen den beiden hin und her.

»Wollen wir los?«, kommt es von Mario, der schon halb aus der Tür ist. Sie verdreht die Augen. Endlich fällt der Groschen, und mein Bruder erhebt sich halbherzig von unserem Schachspiel. »Ich k-k-k-kann ja mitk-k-k-kommen …«

»Aber der hat doch gar kein Mofa!«

»D-d-d-as m-m-m-acht …«

»Der kommt schon hinterher!«

»Okay …«