Simon Brett
Mord stand nicht im Textbuch
Ein Fall für Charles Paris
Aus dem Englischen von Dirk Mülder
FISCHER Digital
Kriminalroman
Simon Brett wurde 1945 geboren. Er studierte englische Literatur in Oxford, leitete die Oxford Theatre Group und war Präsident der Oxford Dramatic Society. Bis 1979 war er zehn Jahre lang Programmchef der Abteilung Unterhaltung bei Radio BBC und produzierte nebenbei auch Sendungen für London Weekend Television. Seitdem lebt Simon Brett als freier Schriftsteller in London.
Er schrieb bislang nicht weniger als zehn Kriminalromane um den Schauspieler-Detektiv Charles Paris, die ihn vor allem in England und den USA bekannt machten.
Im Fischer Taschenbuch Verlag liegen außerdem vor: ›Dunkelmänner haben keine Schatten‹, ›Spekulanten spaßen nicht‹. Weitere Bände werden folgen.
Am Premierenabend im berühmten Londoner West End wird der Star einer kleinen Provinztruppe auf offener Bühne erschossen. Für die Polizei sind die Indizien eindeutig. Nicht jedoch für Charles Paris, den Schauspieler-Detektiv des englischen Autors Simon Brett. Ein Kriminalroman, der hinter die Kulissen der Theaterwelt führt − spannend, authentisch, psychologisch motiviert und eine Spur sophisticated.
Dieses E-Book ist der unveränderte digitale Reprint einer älteren Ausgabe.
Erschienen bei FISCHER Digital
© 2016 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main
Covergestaltung: buxdesign, München
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Impressum der Reprint Vorlage
ISBN dieser E-Book-Ausgabe: 978-3-10-561254-5
Charles Paris hatte es geschafft – er war in der Künstlergarderobe Nr. 1.
Zwar unterschied sich die Künstlergarderobe Nr. 1 im Prince's Theatre in Taunton von den anderen nur durch die an die Tür geschraubte weiße Plastikzahl und war so eng und ungemütlich wie die übrigen auch.
Und außerdem mußte er sie mit Alex Household teilen, und Alex hatte eine größere Rolle in dem Stück als er.
Doch an der Tatsache als solcher war nun einmal nicht zu rütteln: Er, Charles Paris, würde drei Wochen lang, solange Die Eule unter dem Glassturz in Taunton lief, in der Nr. 1 residieren, und wenn ihn solche albernen Kleinigkeiten auch äußerlich völlig kalt ließen (»Männer werden von ihrem Spielzeug beherrscht«, pflegte er Napoleon zu zitieren), so war er doch innerlich richtig glücklich darüber. Er tat nur manchmal etwas zynisch, und ein überraschender Durchbruch mit vierundfünfzig Jahren war ja auch recht unwahrscheinlich, aber in seiner schauspielerischen Phantasie gelang es ihm stets, den Gipfel des Erfolgs im Theater in Sekundenschnelle zu erklimmen. Eigentlich träumte er noch immer seinen Jugendtraum, daß die Öffentlichkeit seine Begabung plötzlich anerkennen würde, daran hatten seine wirklich sehr bescheidenen Erfolge und die zahlreichen »Ruhezeiten« seit dem Beginn seiner Laufbahn im Jahre 1949 wenig geändert.
Obgleich Charles Paris nie, nicht einmal in Augenblicken größter Trunkenheit (und diese gab es) darüber sprach, nährte er in seinem Busen doch die winzige Hoffnung, daß Die Eule unter dem Glassturz das langersehnte Stück sein würde, mit dem er auf der Woge des Erfolges in das Londoner West End einzog, wo man endlich begriff, welch ein großartiger Schauspieler er war, und daß er von Stund an unter den vielen Rollen, die man ihm anbot, würde wählen können, statt sich um jeden kleinen Job zu reißen, und daß man ihn zu Wohltätigkeitsveranstaltungen wie der »Nacht der Tausend Stars« einladen und daß er in der sonntäglichen Farbbeilage des Observer sein »Lieblingszimmer« beschreiben würde.
Dieser Teil seines Traums war allerdings nicht ganz durchdacht, weil er in der Hereford Road in London W 2 nur ein einziges schäbiges Zimmer bewohnte. Nein, in der Tat, nichts von alledem war so ganz durchdacht, denn – etwas Erfolg hatte er ja doch gehabt. Hatte er nicht lange im West End gespielt, war nicht sogar sein eigenes Stück im West End gelaufen? Hatte er nicht zahlreiche kleine Rollen beim Fernsehen und beim Film gehabt? Aber der vernünftige Teil seines Ichs wußte sehr wohl, wie wenig wirkliche Befriedigung solche Erfolge brachten.
Und trotzdem waren diese Wünsche immer noch da, genau wie mit vierzehn, fünfzehn oder sechzehn Jahren. Damals hatte er seine Unzufriedenheit damit erklärt, daß ihm das Allerwichtigste, eine Freundin, fehlte. Doch hatte er dann später, mit neunzehn, nach einer zweijährigen festen Beziehung, zu seiner Verwunderung festgestellt, daß ihn noch immer das gleiche Mißvergnügen quälte: Wo er sich auch befinden mochte, die Erfüllung war wie der Horizont stets gleich weit von ihm entfernt.
Trotz dieser traurigen Erkenntnis verlor er nie die Hoffnung.
Daß der Eule unter dem Glassturz eine Zukunft beschieden sein mochte, diese Hoffnung schien nicht ganz so unbegründet, wie sie es im Fall einer der üblichen Provinzproduktionen gewesen wäre. Das Futter der Theatergänger von Taunton bestand in der Hauptsache aus dreierlei Art von Menu: erstens aus den bewährten, obligatorischen Klassikern, zweitens aus etwas gewaltsam konstruierten, aber trotzdem »gut gebauten« Reißern und drittens schließlich aus Stücken, die man in der Saison des Vorjahres im West End abgesetzt hatte. Keines hatte Chancen, länger als die üblichen drei Wochen in Taunton zu laufen. Die Eule unter dem Glassturz aber war ein neues Stück und gar nicht mal ein schlechtes. Und wenn bei den Tausenden von Imponderabilien, die über den Ausgang eines solchen Unternehmens entschieden, alles gutging, war es nicht ausgeschlossen, daß das Stück von einem West-End-Theater übernommen würde.
Einen Menschen gab es, der so überzeugt von dieser Möglichkeit war, daß er Geld dafür riskieren wollte. Er hieß Paul Lexington und nannte sich Produzent. Er hatte auch einen Briefkopf, um es zu beweisen, obschon sich seine Produktionen offenbar im einzelnen nicht präzise definieren ließen. Er sprach recht selbstbewußt von Tourneen, die er für Musikgruppen arrangiert hätte, und er erwähnte sogar eine Pantomime. Nur war recht schwer einzuschätzen, auf welcher Ebene diese Produktionen stattgefunden hatten. »Tournee einer Musikgruppe« konnte so ungefähr alles, von einem Triumphzug durch die besten Provinztheater bis hin zu einem Kriechgang durch obskure Kneipen mit einer zusammengewürfelten Gruppe von Amateuren bedeuten, die nach ein paar Liedern am Klavier den Hut herumgehen ließen.
Charles hatte von keiner größeren musikalischen Tournee in den letzten Jahren gehört und neigte zu der Vermutung, daß die Unternehmungen der Paul-Lexington-Productions sich auf einem sehr bescheidenen Niveau bewegt hatten. Andererseits mußten ja auch Impresarios einmal irgendwo anfangen. Paul Lexington schien ein netter, patenter Junge zu sein, und da er in einem Gewerbe tätig war, in dem es von unfähigen und schlicht kriminellen Leuten nur so wimmelte, sollte man es mit ihm, fand Charles, ruhig einmal versuchen.
Schließlich wäre er ohne Paul Lexington beschäftigungslos gewesen, und wenn er etwas beim Theater gelernt hatte, dann dies, daß jeder Job besser als die schönste »Ruhezeit« war.
Der Weg des Stücks bis zu seiner Premiere im Prince's Theatre in Taunton war der übliche gewesen. Wie jedes neue Stück, das auf die Bühne kam, hatte auch Die Eule unter dem Glassturz zuvor eine Art Hindernisrennen mit allerlei Umwegen absolvieren müssen. Geschrieben hatte es ein Lehrer, Malcolm Harris, der, obgleich ohne Zweifel nicht unbegabt, doch über keinerlei Beziehungen verfügte und sich im kommerziellen Theater überhaupt nicht auskannte. Drei Jahre lang hatte er wie besessen seine ganze freie Zeit auf dieses Werk verwendet, und als er die endgültige Fassung schließlich hübsch sauber getippt und mit einem Titelblatt aus Letraset-Buchstaben versehen in einen durchsichtigen Plastikordner geheftet hatte, wußte er niemanden, dem er sie hätte schicken können, als seinem alten Englischprofessor an der Universität, die er zwölf Jahre zuvor verlassen hatte. Der Professor hatte nach mehrmonatiger Verzögerung und einem vorsichtig mahnenden Brief des Autors schließlich geantwortet und sich lobend geäußert, jedoch in einer etwas verschwommenen Weise, die ein erfahrener Schriftsteller als ein Eingeständnis des Professors begriffen hätte, daß er das Stück gar nicht gelesen hatte, und hinzugefügt, er habe es an einen anderen Professor weitergereicht, der das kürzlich eröffnete Theaterinstitut der Universität leite. Dieser hatte nach mehrmonatiger Verzögerung und einem vorsichtig mahnenden Brief des Autors geantwortet, er habe das Stück einem ihm bekannten Schauspieler gegeben, der gerade eine neue, unabhängige Schauspielgruppe in Surbiton aufbaue. Nach einer Verzögerung von sehr viel mehr Monaten und drei vorsichtig mahnenden Briefen des Autors hatte der Schauspieler ihm, nunmehr aus Gloucestershire, eine gekritzelte Nachricht des Inhalts geschickt, daß er leider noch keine Zeit gehabt habe, das Stück zu lesen. Außerdem bedaure er sehr, das Manuskript offenbar verloren zu haben. Aber wie dem auch sei, jedenfalls habe er festgestellt, daß das Theater doch nicht das Richtige für ihn sei und deshalb mit einem Freund zusammen einen Antiquitätenladen eröffnet.
Die erste Phase der Offensive war somit vorüber, und die zweite begann mit dem obersten Durchschlag des Stücks, einem neuen Titelblatt aus Letraset-Buchstaben und einem neuen durchsichtigen Plastikordner. Diesmal hatte Malcolm Harris das Stück auf Anraten seiner Schwiegermutter, die gerade die Biographie eines Dramatikers aus der Bibliothek gelesen hatte, sich aber nicht mehr an den Namen erinnerte, an das Repertoiretheater seines Wohnorts geschickt. Nach einigen Monaten Verzögerung und einem vorsichtig mahnenden Brief des Autors hatte das Büro des Intendanten das Manuskript mit einem hektographierten Schreiben zurückgeschickt, in dem es hieß: Vielen Dank für Ihre Einsendung, das Auswahlkomitee findet sie wirklich sehr interessant, sucht aber zur Zeit gerade etwas anderes, schicken Sie es doch an einen Agenten. Das hatte Malcolm Harris denn auch getan, war aber infolge seiner aleatorischen Auswahlmethode – er hatte eine Stecknadel in die Rubrik »Theater- und Varieté-Agenten« des Branchenbuchs gesteckt – an einen Agenten geraten, der sich auf die Vermittlung von Stripteasetänzerinnen und Vortragskünstlern für schlüpfrige Witze in Arbeiterclubs spezialisiert hatte. Nach einigen Monaten Verzögerung und einem vorsichtig mahnenden Brief des Autors erhielt er das Manuskript mit einem Foto von »Sadie Masso: 96–66-91: Genau das Richtige für Ihren Junggesellenabend oder Ihr Rugbyclubdinner« in einem unfrankierten Briefumschlag zurück. Dann sagte die Schwiegermutter, die unerschöpflich sprudelnde Quelle erstklassiger Ratschläge, zu Malcolm Harris, sie sei ganz sicher, daß sie irgendwo in einem Magazin beim Frisör etwas über einen Dramenwettbewerb gelesen hätte, warum er denn nicht daran teilnehme. Nach minutiösen Recherchen hatte der Autor den Wettbewerb denn schließlich auch aufgespürt, den ein »Festival der Künste« in einem Ort in Mittelengland veranstaltete, und sein Antragsformular nebst Teilnahmebedingungen erhalten. Letzteren hatte er sich stillschweigend unterworfen, das Manuskript zusammen mit den Briefmarken für das Rückporto und der Teilnahmegebühr von einem Pfund abgeschickt und saß nun da und wartete. Vier Monate später erhielt er per Post ein Einpersonenstück von George Walsh mit dem Titel Psychosymbiose. Auf wiederholte Briefe an die Jury des »Festivals der Künste«, in denen der Autor um die Rückgabe seines Manuskripts bat, bekam er keine Antwort.
Seit der Fertigstellung der Eule unter dem Glassturz waren eineinhalb Jahre vergangen, und bisher deutete nichts darauf hin, daß irgendein Theatermensch das Stück gelesen hatte. Traurig begann der Autor sich damit abzufinden, daß er für den Rest seines Lebens widerspenstigen Heranwachsenden Geschichtsunterricht erteilen würde, aber die Zuversicht seiner Frau, die das Stück gelesen, und seiner Schwiegermutter, die es nicht gelesen hatte, gab ihm neue Kraft. Seine Schwiegermutter hatte eine Sendung mit einem erfolgreichen Theaterautor im Radio gehört – oder vielleicht war es auch ein Produzent gewesen – sie meinte, eventuell in der Frauenstunde-, und der hatte gesagt, ein Stück brauche, um heute Erfolg zu haben, einen Star, der Star komme heute meist zuallererst. Etwa gleichzeitig hatte Malcolm in der Times einen Leserbrief des bekannten britischen Film- und Fernsehstars Michael Banks über die Mehrwertsteuer auf Theaterkarten gelesen. Da die Adresse mit abgedruckt war und Michael Banks in den zügellosesten Phantasien des Autors eine ideale Besetzung für die Hauptperson gewesen wäre, nahm Malcolm sein Herz in beide Hände und schickte Michael Banks Die Eule unter dem Glassturz. Unnötig zu sagen, daß Michael Banks das Stück nicht las. Da er aber ein freundlicher alter Knabe war, reichte er es an seinen Agenten weiter, der eine Abteilung für Theatermanuskripte hatte. Dort las man es auch nicht, aber ein Mädchen in der Telefonzentrale hatte gerade ein kurzes Techtelmechtel mit einem jungen Mann, der angeblich Theaterproduzent werden wollte und ein gutes Stück suchte, so daß sie es ihm gab. Der junge Mann las es, erkannte dessen Möglichkeiten und erwarb – für eine Summe, über die sich Malcolm Harris freute, die aber seinen Agenten, hätte er einen gehabt, entsetzt hätte – eine Option für eine Produktion, die innerhalb von sechs Monaten beginnen sollte.
Nun machte sich Paul Lexington – so hieß der junge Produzent – auf die Suche nach einem Theater, das das Stück spielen würde.
Für eine durchschnittliche Provinzbühne war Die Eule unter dem Glassturz eine kostspielige Sache. Obgleich nur acht Rollen zu besetzen waren und die Kosten für die Kostüme sich, weil das Stück in der Gegenwart spielte, in Grenzen hielten, waren drei verschiedene Bühnenbilder erforderlich, was bei drei Wochen Laufzeit einen sehr hohen Aufwand bedeutete. Bei einem sicheren Kassenschlager wie Shakespeare oder der alljährlichen Pantomime konnte ein Theater sein Budget zwar durchaus so weit strecken und einen solchen Aufwand betreiben, doch war es sehr unwahrscheinlich, daß es so viel Geld in ein neues Stück von einem unbekannten Autor investieren würde. Das Geld war knapp, und kein Theater in der Provinz würde die Zuschüsse der Gemeinde oder des Britischen Kunstrats einer tollkühnen Spekulation wegen aufs Spiel setzen wollen.
Hier kam Paul Lexington mit seinem Angebot. Er hatte Geld. Woher es kam, wußte allerdings niemand so recht. Er sprach immer hochtrabend von »meinen Investoren«, deutete aber nie an, wer sie waren. Und niemand wußte, wieviel er aufbringen konnte. Dem Ton nach zu urteilen, in dem er es sagte, gab es nach oben hin keine Grenze.
Im Frühling und Sommer 1979 bot er den Bühnen in der Provinz also folgendes an: Wenn sie Die Eule unter dem Glassturz – ein gutes Stück, für das er eine Option hatte – inszenierten, würde er die nötigen Extrakosten der Produktion – für die teure Bühnenausstattung und wenn möglich auch den Star – übernehmen. Schaffte das Stück den Sprung ins Londoner West End, dann würde seine Gesellschaft es dort produzieren, das Theater in der Provinz, das es herausgebracht hatte, erwähnen und ihm einen geringen Prozentsatz der Einnahmen aus dem West End überlassen. Gelang der Sprung ins West End nicht, so hätte das betreffende Theater in der Provinz eine teure Produktion ohne Mehrkosten gewonnen und Paul Lexington und seine Investoren ihr Geld verloren.
Nur Paul Lexington wußte, wie vielen Theatern er ein solches Angebot gemacht und wie viele es abgelehnt hatten, bevor er an das Prince's Theatre in Taunton geraten war, aber der gesunde Menschenverstand ließ vermuten, daß er es zuerst bei den bekannteren, näher bei London gelegenen versucht hatte. Die Chancen, alle Leute zusammenzubekommen, die für eine Übernahme ins West End nötig waren – die Theaterdirektoren in London und die großen Investoren (deren Hilfe man Paul Lexingtons kühnen Zusicherungen zum Trotz mit allergrößter Wahrscheinlichkeit bedürfen würde) – verringerten sich mit zunehmender Entfernung von der Hauptstadt.
Trotzdem war der Produzent entschlossen, das Stück auf die Bühne zu bringen. Es gefiel ihm so gut, daß er glaubte, es könne den Sprung ins West End schaffen, sogar von dieser kleinen Stadt im Westen von England aus, die nicht besonders viele Erfolge im Londoner West End gelandet hatte. (In der Tat hatte Taunton noch nie in seiner Geschichte auch nur eine einzige Aufführung ins West End gebracht, wiewohl einige Inszenierungen vor ihrem eigentlichen Start in London probeweise im Prince's Theatre gelaufen waren.)
Nun hatte das Theater in Taunton aber einen neuen künstlerischen Leiter, einen jungen Mann namens Peter Hickton, dessen Selbstbewußtsein dem Paul Lexingtons zumindest gleichkam. Er hatte den Job am Prince's Theatre sechs Jahre nach seinem Studium in Cambridge bekommen und war entschlossen, seinen Ruf eines Wunderknaben zu festigen und dem britischen Theater seinen Stempel aufzudrücken. Sein Ehrgeiz zielte darauf, das Prince's Theatre in Taunton – ähnlich dem Royal Exchange in Manchester und dem Arts Theatre in Cambridge – in einen Brutkasten von Inszenierungen zu verwandeln, die man dann im Londoner West End würde anbieten können. Peter Hickton suchte gerade nach einem Stück, mit dem er diesen Sprung schaffen könnte, als Paul Lexington mit seinem Vorschlag kam.
Die Bedingung, die der künstlerische Leiter für seine Beteiligung stellte, war vorauszusehen: Er wollte die Regie führen. Wenn man ihm dieses Zugeständnis machte, war er bereit, seine ganze Energie einschließlich seiner Wutanfälle, die er seinem Ruf als enfant terrible schuldig war, voll in den Dienst der Sache zu stellen und das Auswahlkomitee so zu bearbeiten, daß es Die Eule unter dem Glassturz auf den Spielplan der Saison von 1979–80 des Prince's Theatre in Taunton setzte.
Paul Lexington äußerte zuerst Bedenken. Er hatte gehofft, einen bekannten Regisseur für seine Produktion zu gewinnen, mußte sich aber bald mit den Gegebenheiten abfinden. Peter Hickton war der einzige künstlerische Leiter, den er für das Projekt hatte begeistern können, und wenn die Paul-Lexington-Productions ihre erste große Veranstaltung tatsächlich auf die Beine stellen wollten, würde es nicht ohne Kompromisse abgehen. (Und daß Peter Hickton in Taunton zu Hause war, hieß ja, daß die Regiearbeit an dem Stück zu seinem Job gehörte – ein Detail, das dem Produzenten Paul Lexington keineswegs entging. Gewiß, wenn das Stück im West End lief, würde Hickton einen gewissen Prozentsatz bekommen, aber bei dem Versuch in Taunton würde man erst einmal die Regiekosten sparen.)
So einigten sich die beiden ehrgeizigen jungen Männer, und Peter Hickton fing an, das Auswahlkomitee zu bearbeiten. Dabei war er nicht ganz so erfolgreich, wie er es sich erhofft hatte. Zwar erreichte er eine Zusage, daß das Prince's Theatre Die Eule unter dem Glassturz produzieren würde, konnte das Gremium aber nicht überreden, es noch in die Spielzeit 1979– 80 aufzunehmen. Er versuchte es zwar mit allen Mitteln, die ihm zu Gebote standen – mit Sarkasmus, Schweigen, zornigem Geschrei, er verließ die Sitzung, drohte sogar vorsichtig seinen Rücktritt an –, aber der früheste Termin, den er herausholen konnte, war der September 1980. Als er endlich einsehen mußte, daß weitere Proteste nichts fruchteten, erklärte er sich widerwillig damit einverstanden, daß die Spielzeit 1980–81 mit der Eule unter dem Glassturz beginnen würde.
Paul Lexington freute sich keineswegs über diesen Zeitverlust, war aber Realist genug und da er wollte, daß die Produktion überhaupt in Gang kam, gab er nach. Er rief Malcolm Harris an und sagte, er habe eine gute und eine schlechte Nachricht für ihn. Die gute: Das Stück sei endgültig vom Prince's Theatre in Taunton angenommen worden. Die schlechte: Es werde erst in einem Jahr herauskommen. Er vergaß dem Autor gegenüber zu erwähnen, daß die Option von sechs Monaten, die er auf das Stück erworben hatte, beim vorgesehenen Produktionsbeginn schon acht Monate verfallen sein würde, und bot ihm auch kein Geld an, um sie zu erneuern. Er wußte, daß Malcolm Harris naiv genug und noch immer berauscht von der erregenden Aussicht war, daß das Stück nun wirklich aufgeführt werden würde, und nicht ans Geld dachte.
So kümmerte sich Paul Lexington denn ein Jahr lang um seine übrigen Geschäfte, welcher Art diese auch sein mochten. Das wußte niemand. Vielleicht arrangierte er wieder eine Tournee für eine Musikgruppe, oder auch für eine Pantomime. Vielleicht beteiligte er seine Investoren an einer anderen Produktion. Womöglich nahm er Verbindung mit Londoner Theatermanagern auf, damit es keine unnötigen Verzögerungen gab, sobald die Produktion anlief.
Man wußte nur, daß er einen Star für Die Eule unter dem Glassturz suchte. Wie bei den Theatern wußte auch in diesem Fall nur er allein, wie vielen Stars er das Stück angeboten, wie viele Ablehnungen er bekommen hatte, wie viele vorläufige Zusagen von Terminen und Honoraren abhingen. Es gab in der Eule unter dem Glassturz eine weibliche und zwei männliche Hauptrollen, und so ist er wahrscheinlich an Stars beider Geschlechter mit Angeboten herangetreten.
Bekannt ist nur das Ergebnis seiner Machenschaften. Zwei Wochen bevor die Proben beginnen sollten – Charles Paris wurde gerade für die zweite männliche Hauptrolle engagiert – ging in Theaterkreisen das Gerücht um, die weibliche Hauptrolle werde eine junge Dame spielen, die gerade aus der nicht endenwollenden Fernsehserie Kreuzfahrten ausgeschieden war, »um sich ernsthaft auf ihre Karriere als Schauspielerin zu konzentrieren«.
Ob ernsthaft oder nicht – daß sie keine besonders gute Schauspielerin war, spielte keine Rolle. Die Leute würden kommen, um sie zu sehen. Und wenn sie nur einfach da auf der Bühne stehe – die Leute würden begeistert applaudieren. (Und manche Kollegen, die mit ihr gearbeitet hatten, meinten, es sei vielleicht wirklich besser, wenn sie nur da auf der Bühne stehe; sie wußten, wie gefährlich es war, sie zu überfordern.)
Sobald Paul Lexington seinen Star hatte, war er mit Peter Hicktons Besetzungsvorschlägen für die übrigen Rollen einverstanden. Wenn sie nur billig und tüchtig und für den Fall einer Übernahme ins West End abkömmlich waren, fragte er wenig danach, was für Schauspieler Hickton engagierte. Also besetzte Hickton die Rollen weitgehend mit Leuten aus seinem Ensemble: Er kannte sie, sie beteten ihn an, und sein Ehrgeiz war es, Stars aus ihnen zu machen.
Die Hauptrolle gab er Alex Household. Der hatte nach anfänglichem Erfolg eine ziemliche Pechsträhne durchgemacht, die schließlich zu einem Nervenzusammenbruch geführt hatten. Nun, mit Ende vierzig, arbeitete er an seinem Comeback und war in den Augen des zwanzig Jahren jüngeren Peter Hickton stärker als je zuvor.
Die Rolle der Tochter bekam die knapp zwanzigjährige Lesley-Jane Decker, der Hickton »enorme Fähigkeiten« nachsagte. Und wie er sie ansah, waren diese seiner Meinung nach nicht auf die Bühne beschränkt.
Was die Rolle des Bruders von Alex Household, eines Versagers betraf, so hatte Peter Hickton hier seiner Ansicht nach eine Erleuchtung gehabt. In seinem Ensemble gab es niemanden in dem richtigen Alter. Peter erinnerte sich an einen Schauspieler, mit dem er einmal als Regieassistent in Colchester zusammengearbeitet hatte. Der hatte genau den richtigen »Geruch des Versagers«, den die Rolle verlangte. Peter rief dessen Agenten an und erfuhr zu seiner großen Freude, daß der Bursche frei war.
Für Maurice Skellern waren die »Pausen« im Arbeitsleben seines Klienten Charles Paris nichts Neues. »Ich habe einen großartigen Job für Sie«, hatte der Agent am Telefon gesagt.
»Ach ja?« hatte Charles skeptisch erwidert.
»Ja. Tolles neues Stück, heißt Die Eule im Gras.«
»Wo?«
»Taunton.«
»Aha.«
»Der Regisseur will unbedingt Sie.«
»Oh.«
»Sucht jemanden, sagt er, der regelrecht nach Versager riecht.«
»Danke, Maurice.«
So bekam Charles Paris seine Rolle in der Eule unter dem Glassturz.
Einen Tag vor Probenbeginn rief der Agent des Stars aus den Kreuzfahrten an. Die junge Dame habe gerade einen Vertrag für eine neue Serie bei West End Television unterschrieben. Und weil sie da sehr viel zu tun haben werde, sei sie gerade zu einem Safariurlaub nach Kenia geflogen. Nein, den Vertrag für Die Eule unter dem Glassturz habe sie leider nicht unterschrieben.
Es folgten hektische Telefonate. Vergeblich versuchte Paul Lexington, innerhalb von vierundzwanzig Stunden einen neuen Star herbeizuzaubern. Schließlich mußte er Peter Hicktons Vorschlag akzeptieren: ein Mitglied seines Ensembles – Salome Search. »Sie ist sehr begabt und zuverlässig Paul, hat noch nie einen richtigen Durchbruch gehabt, könnte aber eine echte Wucht sein.«
So kam es, daß die dem Star aus den Kreuzfahrten zugedachte Garderobe Nr. 1 im Prince's Theatre in Taunton am Premierenabend der Eule unter dem Glassturz von Alex Household und Charles Paris genutzt wurde, indes die junge Dame das Auge ihrer Kamera auf lebensmüde Nashörner richtete.
Solange Charles auch schon im Theater arbeitete – das Lampenfieber war immer noch dasselbe. Das verlor man ebensowenig wie die Hoffnung. Daß er ein paar hundert Premieren überlebt hatte, bedeutete nichts, es machte keine neue Uraufführung leichter. In mancherlei Hinsicht war es sogar schwieriger geworden, denn in all den Jahrzehnten hatte er gesehen, was schiefgehen konnte. Das gab Stoff für düstere Phantasien.
Aus zweierlei Gründen jedoch war sein Lampenfieber diesmal geringer als üblich. Erstens hatte er eine Hauptrolle – ein Glück, das ihm nicht oft beschieden war. Und nun erst verstand er, wieso Stars bis zur Premiere kühl und gelassen blieben. Sie trugen zwar eine größere Verantwortung, aber das mechanische Auswendiglernen und die Probenarbeit hielten sie in Trab. Die Schauspieler mit den kleinen Rollen und den langen Wartezeiten während der Proben kamen ins Brüten und schlugen den Tag mit unzähligen harntreibenden Tassen Kaffee tot.
Der andere Faktor, der das Lampenfieber fernhielt, war das Arbeitstempo, das Peter Hickton seinen Schauspielern abverlangte. Die meisten hatten schon sehr viel mit ihm gearbeitet und wußten, was sie zu erwarten hatten – daß er jede verfügbare Stunde zum Probieren nutzte und ihnen nicht selten auch noch die Nachtstunden raubte. Das heißt, die Richtlinien der Bühnengenossenschaft »Equity« zur Höchstzahl der täglichen Arbeitsstunden wurden stillschweigend umgangen. Zwar gab es einen – von den übrigen ordnungsgemäß gewählten – Vertreter der Bühnengenossenschaft unter ihnen, aber da er auch zu Peter Hicktons Ensemble gehörte, hielt er den Mund.
Peter Hickton gehörte zu jenen Menschen, deren Autorität darauf beruhte, daß sie anderen bewiesen, wie wenig Schlaf sie selbst benötigten. Charles, der seine whiskysatten acht Stunden brauchte, hätte sich diesem Wettbewerb gern entzogen. Aber es war ihm unmöglich, sich morgens um neun bei der Probe darüber zu beklagen, daß die Probe des Vortags bis ein Uhr früh gedauert hatte, wenn er wußte, daß der Regisseur selbst bis vier Uhr früh am Beleuchtungsplan gearbeitet hatte.
Wegen der unbarmherzigen Probenarbeit fand Charles nicht einmal mehr Zeit, sich in aller Ruhe zu betrinken. Er war kein Alkoholiker (sagte er), sondern er trank gern, und mit einer Flasche Bell's Whisky in der Jackentasche auf den Proben erscheinen zu müssen, fand er ziemlich würdelos. Von allem anderen abgesehen, beulte sie seine altertümliche Sportjacke auf der einen Seite unschön aus. Und dann stieß sie manchmal klirrend gegen andere Gegenstände, und man bekam einen ganz falschen Eindruck. So als Salome Search ihn eines Abends im Künstlerzimmer dabei überraschte, daß er gerade heimlich einen Schluck aus der Flasche nahm, und ihm einen Blick zuwarf, der ihm zeigte, daß sie sich völlig falsche Vorstellungen von seiner Beziehung zum Alkohol machte, handelte es sich doch in ihren Augen offenbar um eine Art unauflösliche Ehe, wo er nur ein lockeres Verhältnis sah, das beiden Partnern gestattete, es jederzeit zu beenden (obgleich das, ehrlich gesagt, nicht oft vorkam).
Peter Hicktons Probenarbeit wurde zum Ende hin noch intensiver. Die Technikproben am Montag, im Anschluß an einen vollen Probentag, endeten um drei Uhr morgens. Ausnahmsweise begann die nächste Besprechung erst um neun Uhr dreißig. Proben verschiedener Szenen schlossen sich an, bis es Zeit für die abendliche Generalprobe war, die – obgleich als Vorstellung geplant – erst um dreiviertel zwei am Morgen endete. Deshalb verlangte Peter Hickton eine zweite Generalprobe am Mittwochnachmittag vor der Premiere. Darauf folgten Besprechungen, so daß alle bis zur »Halben« (der halben Stunde vor dem Aufgehen des Vorhangs, während der alle Mitspieler im Theater sein müssen) beschäftigt waren.
So hatte Charles nicht einmal mehr Zeit für eine halbe Stunde in der Kneipe bei ein paar Gläsern Bell's Whisky, die er für eine wesentliche Vorbedingung der vollen Entfaltung seiner Kunst hielt.
Nicht nur das: Wegen der Zwänge der letzten Tage war auch der Pegel in seiner Taschenflasche bis auf wenige Zentimeter gesunken. Er hatte gedacht, daß er zumindest Zeit haben würde, sich zwischendurch einmal hinauszuschleichen und seine Flasche wieder aufzufüllen.
Aber nein. Und die vielen Regieassistenten, Bühnenhilfskräfte und sonstigen Zuschauer waren natürlich zu beschäftigt, als daß man ihnen diese wichtige Aufgabe hätte übertragen können.
Es war eine schwierige Situation.
Und während der halben Stunde vor Beginn der Vorstellung fühlte er sich dem Lampenfieber und seinen überspannten Nerven völlig ausgeliefert. Normalerweise hatte er die nun einsetzende Übelkeit unter Kontrolle, weil er in bestimmten Intervallen bestimmte Mengen Bell's zu sich nahm, jetzt aber fühlte er sich miserabel.
Er leerte die Flasche, um sich etwas zu stabilisieren, aber fünf Minuten später krampften sich seine Eingeweide bereits wieder zusammen.
Alex Household bereitete sich auf seinen Auftritt ohne Alkohol vor. Er glaubte nicht an den Nutzen von Stimulanzien, sondern meinte, daß der Körper sich mit verborgenen seelisch-geistigen Kräften steuern lasse. Er hatte daraus eine richtige Philosophie entwickelt, die ersten Kapitel verschiedener Taschenbücher über orientalische Religionen gelesen und mit anderen Schauspielern bei ungezählten Tassen Jasmintee darüber geplaudert.
Die Methode, die er entwickelt hatte, sah folgendermaßen aus: Während sein Haupt frei und ungestützt in die Luft hineinragte, lag der übrige Körper starr wie der eines Toten auf drei Stühlen und atmete tief. Wenn er einatmete, klang es, als ob ein Durchlauferhitzer eingeschaltet würde, dem folgte eine lange Pause. Wenn er aber ausatmete, murmelte er dabei irgendwelche Silben. Vielleicht war es eine machtvolle Mantra. Dem gelegentlichen Zuhörer klang es wie »Rabba-dabba-dabba-dabba-dab«.
Charles wurde immer unkonzentrierter, während die halbe Stunde forttickte und seine Nerven sich anspannten. Alex mit seiner Vorführung half da überhaupt nicht. Charles, der normalerweise sehr anpassungsfähig war, entdeckte nun plötzlich die Nachteile, die es hatte, wenn man die Garderobe mit einem anderen teilen mußte.
Alex war ein Schauspieler, wie man ihn häufig im Theater antrifft, einer, der alle Moden mitmachte. Er glaubte an vegetarische Ernährung, transzendentale Meditation, Homöopathie, Seelenwanderung, Okkultismus und eine Vielzahl anderer halbverdauter Geheimlehren. Er sprach immer von der »Kommunion mit der Natur« und vom »Einssein mit der Welt«. Aus Samen, Gräsern, Brennesseln und anderem, weniger leicht zu identifizierendem Grünzeug bereitete er pflanzliche Gerichte in der Garderobe zu. Er hatte ein paar Kapitel in einem Buch mit dem Titel Nahrung, die nichts kostet gelesen und schwärmte vom »Reichtum der Erde«.
Normalerweise machte das alles Charles überhaupt nichts aus – schließlich mochte er den Mann ja –, aber als er wieder die endlose Pause zwischen dem Einatmen und dem unvermeidlichen »Rabba-dabba-dabba-dabba-dab« über sich ergehen ließ, glaubte er, schreien oder um sich schlagen zu müssen. Um der Gefahr zu entgehen, verließ er die Garderobe und schlug die Tür hinter sich zu, mußte es einfach tun. Auf dem Korridor traf er Lesley-Jane Decker, die Arme voller Päckchen, die in rotes Seidenpapier gewickelt waren. Sie war eine attraktive rothaarige junge Frau von etwa zwanzig Jahren, die es noch immer aufregend fand, beim Theater zu sein. Sie war sehr begabt und, wie Paul Lexington und Peter Hickton, davon überzeugt, daß Die Eule unter dem Glassturz einen triumphalen Einzug ins West End halten und sie alle zu Stars machen würde.
Bei den Proben hatte man beobachten können, wie Peter Hickton um sie herumscharwenzelte, aber ob er etwas bei ihr erreicht hatte, konnte Charles nicht beurteilen. Er konnte sich nicht einmal vorstellen, wie der Regisseur neben den Proben noch Zeit für eine Liebschaft hätte finden können, aber natürlich war alles möglich.
Doch wenn er es gründlich überlegte, glaubte Charles eher, daß er nichts erreicht hatte. Von der Logistik abgesehen, war Lesley-Jane so naiv und übersprudelnd, daß er sich nicht vorstellen konnte, wie sie eine Liebesbeziehung hätte geheimhalten können. Er hielt es sogar für möglich, daß sie – eine Seltenheit im Theater – noch Jungfrau war.
Wahrscheinlich sparte sich Peter Hickton seinen Angriff für die weniger hektische Zeit auf, wenn das Stück bereits laufen würde. In den zweieinhalb Wochen hätte der junge Regisseur dann genug Zeit.
»O, Charles, Liebling, das ist für dich.« Lesley-Jane drückte ihm eines ihrer Päckchen in die Hand.
»Oh«, sagte er verblüfft.
»Premierengeschenk.«
»Aha«, dachte er. Irgend so eine Marotte. Was mochte es sein? Ein Kuscheltier? Nein, dafür fühlte es sich zu hart an. Eine Gipsfigur von Pierrot? Ja, so etwas wahrscheinlich. »Oh, danke. Wie geht's dir denn?«
Sie riß die grünen Augen auf. »Hab' wahnsinnige Angst. Paul sagt, er hofft, daß ein paar Leute aus London im Zuschauerraum sitzen.«
»Oh, tatsächlich?« Das hatte Charles viel zu oft in seinem Leben gehört, als daß es ihn noch besonders aufregen könnte.
»Und schlimmer noch …« Sie legte eine dramatische Pause ein.
»Was?«
»Meine Mutter kommt aus London, um es sich anzusehen.«
»Ist das schlimm? Ist sie so schrecklich?«
»Nein, sie ist ein richtiger Engel. Aber wahnsinnig anspruchsvoll. War auch beim Theater, weißt du.«
»Oh.« Ein plötzliches Bedürfnis zwang ihn zu unterbrechen:
»Wenn du mich entschuldigst …«
»Ja. Ist Alex in der Garderobe?«
»Klar.«
Auf der Toilette sitzend, öffnete Charles sein Premierengeschenkpäckchen. O ja, das Mädchen würde es weit bringen. Er nahm all seine Gedanken über ihre Naivität und »Marotten« zurück.