[1]
Walt Whitman, Demokratische Ausblicke, Freiburg i.Br. 2005, S. 20f.
[1]
Marc Bloch, Die seltsame Niederlage: Frankreich 1940, Frankfurt a.M. 1992, S. 18.
[2]
Alexis de Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika, München 1976, S. 5.
[3]
Tocqueville, a.a.O., S. 62.
[4]
Tocqueville, a.a.O., S. 584.
[1]
Richard Rorty, Stolz auf unser Land. Die amerikanische Linke und der Patriotismus, Frankfurt a.M. 1999, S. 16f.
[2]
Norman Mailer, Nixon in Miami, Reinbek 1969, S. 60f.
[3]
Milton Friedman, Capitalism and Freedom, Chicago/London 1982, S. xiv.
[4]
Walt Whitman, Grasblätter, München 2009, S. 348.
[5]
Jonathan Franzen, Freiheit, Reinbek 2010, S. 471.
[6]
Richard Hofstadter, Anti-Intellectualism in American Life, New York 1963, S. 151.
[7]
Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, München 1986, S. 702.
[1]
William Dean Howells, «The Modern American Mood», in: Harper’s Monthly, Juli 1897, S. 95.
[2]
Robert Stone, Das Geschrei deiner Feinde, Reinbek 1986, S. 139.
[3]
James Baldwin, «Die Entdeckung, was es heißt, Amerikaner zu sein», in: ders., Schwarz und weiß, Reinbek 1963, S. 132f.
[4]
Baldwin, a.a.O., S. 137.
[5]
Hofstadter, a.a.O., S. 23.
[6]
Tocqueville, a.a.O., S. 584.
[7]
Whitman, Grasblätter, S. 214.
[8]
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[9]
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[10]
Tocqueville, a.a.O., S. 591.
[1]
Bloch, a. a. O., S. 229.
[2]
Franklin Foer, Welt ohne Geist. Wie das Silicon Valley freies Denken und Selbstbestimmung bedroht, München 2018, S. 175.
[3]
Tocqueville, a.a.O., S. 276.
[4]
Tocqueville, a.a.O., S. 597.
Für Charlie und Julia
und ihre Großeltern
Nancy, Bob und Marie
Ich sage das ursprüngliche Losungswort, ich gebe das Zeichen der Demokratie.
Bei Gott! Ich will nichts annehmen, wovon nicht jeder seine Entsprechung haben kann unter gleichen Bedingungen.
Walt Whitman, Gesang meiner selbst
Ich bin Amerikaner. Nein, ich will kein Mitleid. In der langen Geschichte des Experiments, uns selbst zu regieren, ist das Mitleid der Welt an die Stelle anderer Emotionen wie Bewunderung, Feindseligkeit, Ehrfurcht, Neid, Angst, Zuneigung und Abscheu getreten. Mitleid ist schlimmer als all das. Und auf Mitleid folgt Gleichgültigkeit, was unerträglich wäre.
Ich kenne eine Frau, die über ihren Mann und ihre Kinder sagt: «Das sind nicht die Leute, mit denen ich in Quarantäne leben möchte.» Sind meine Mitbürger Menschen, mit denen ich während einer Quarantäne zusammenleben möchte? Nun, ich kann es mir nicht aussuchen. Sie haben mich, und ich habe sie. In der Zeit der Isolation waren wir Amerikaner, mit unseren Dollars, dem lockeren Lächeln und den lauten Stimmen, auswärts nicht willkommen. Ein amerikanischer Pass, einst begehrtes Diebesgut, ist heute nichts mehr wert. Waren wir früher viel auf Achse, sitzen wir nun fest, wir und die anderen von uns. Viele Amerikaner haben sogar Nachforschungen angestellt, wie sie an eine andere Staatsbürgerschaft kommen könnten – ein verstorbener irischer Großvater, eine plötzlich vielversprechende kanadische Liebschaft, eine offizielle Einladung durch die Regierung von Ghana, ein Schlupfloch im Staatsangehörigkeitsgesetz Neuseelands. Was mich angeht: Ich bleibe, wo ich bin, und das nicht nur, weil ich keine andere Möglichkeit habe. Ich will sehen, wie die ganze Geschichte hier ausgeht – wenn nicht für mich, so doch für meine Kinder. Ob diese gewaltige Alles-für-alle-Demokratie überlebt oder vom Angesicht der Erde getilgt wird, ist eine interessante Frage. Und zwar eine, die nicht uns allein betrifft.
Das Virus hat uns ein Geschenk gemacht: Es hat unser Leben unterbrochen. Das Maskentragen, das Abwischen der Lebensmittel, der Handschlag, den man hinterher bedauert, das Risiko in Gestalt der vermummten Person, die uns auf dem Bürgersteig entgegenkommt – es ist unmöglich geworden, weiter dumpf durch die Welt zu tappen. Das Virus zwang uns, den Blick auf uns selbst zu richten und uns endlich einmal mit jener Art Aufmerksamkeit zu betrachten, die wir für selbstverständlich hielten, wenn sie uns von anderen entgegengebracht wurde.
Und damit meine ich nicht den Kontrollblick, mit dem Teenager auf dem Smartphone oder im Schaufenster schnell ihr Spiegelbild checken. Die Aufmerksamkeit, die ich meine, gleicht eher dem beunruhigten Blick eines Mittvierzigers auf das sich dunkel im Spiegel abzeichnende Gesicht. Und dieses Gesicht hatte ich wirklich nicht erwartet: die tiefen senkrechten Furchen unterhalb der Wangenknochen, das Grau der Erschöpfung rund um die Augen, das spärliche Resthaar, das dringend professionelle Hilfe benötigt. Statt der abgeklärten Weisheit, die man erwarten könnte, stiehlt sich ein Ausdruck der Unsicherheit in die Augen, ein Anflug von erstickter Panik. Der starre Blick legt eine erschreckende Entfremdung offen. Jetzt bloß nicht zu lange hinsehen, sonst weiß ich nicht mehr, wer mir da entgegenschaut.
Die Zeit der Isolation hat uns zu Fremden gemacht, und sie hat uns nicht nur den anderen, sondern auch uns selbst entfremdet. Ein junges Mädchen sagt ihren Eltern, sie fühle sich unwirklich. Und sie wolle im Bett bleiben, denn dann wäre alles nur wie ein böser Traum, aus dem sie bald wieder erwachen könne. Und wenn wir das tun – wenn wir endlich aus unseren Höhlen kriechen und die Masken abnehmen –, dann werden wir uns fragen: Wer sind wir? Was ist mit uns geschehen? Ist dies nun der Anfang vom Ende oder ein Neubeginn? Und was sollen wir jetzt tun?
1838 hielt Abraham Lincoln, damals ein noch unbekannter 28-jähriger Provinzpolitiker, in Springfield, Illinois, eine Rede über den «Fortbestand unserer politischen Institutionen». Ein Vierteljahrhundert bevor er das Land durch seine erste Nahtoderfahrung führte, stellte Lincoln die Frage: Aus welchen Gründen könnte die amerikanische Demokratie zugrunde gehen? Und er sagte voraus, dass kein fremder Eroberer an der Spitze einer gewaltigen Armee je die Blue Ridge Mountains überqueren und seine Lippen mit den Wassern des Ohio benetzen würde. «Falls der Untergang unser Los sein sollte, dann werden wir selbst seine Urheber und Vollender sein», sagte Lincoln. «Als Nation freier Menschen werden wir für immer leben oder durch unsere eigene Hand sterben.»
Eines Nachts tauchte im Licht meiner Autoscheinwerfer ein rechteckiges rotes Schild auf. An der Einfahrt zu der Farm gleich neben dem Haus, in dem ich dies schreibe, in das wir uns glücklicherweise retten konnten, um der Pandemie zu entkommen. Fünf weiße Buchstaben auf rotem Grund – und das Ganze mal zwei, denn da standen zwei Schilder: eines am Drahtzaun zur Ziegenweide, ein anderes an der gemähten Wiese. Der grelle Rotton sagte mir sofort, was die fünf Buchstaben bedeuteten. Zwei Wochen vor der Wahl hatten unsere Nachbarn beschlossen, ihre politische Einstellung offen kundzutun. Was ihr gutes demokratisches Recht war. Sie lebten hier schon eine ganze Weile länger als wir. Der Mann hatte mir gerade zwei Ballen Heu geliefert, das ich brauchte, um im Herbst die Grassamen zu mulchen. Die Tochter legt uns in ihrem Stand an der Straße oft zwei Dutzend Eier zur Seite. Als die Nachbarin krank war, brachte meine Frau ihr ein Blech mit Muffins vorbei. Wir wollen schließlich alle gute Nachbarn sein.
Und doch tauchte da im Kegel meines Scheinwerferlichts plötzlich dieses finstere, unheilvolle Menetekel auf. Der Anblick ließ mich erschauern. Einen Moment lang hatte ich ein Zeichen des Bösen vor Augen, ein gefährlicheres aus Rot und Schwarz. Ich schob das Bild beiseite. Man muss ja nicht gleich übertreiben! Was aber, wenn wir in einer anderen Zeit, einem anderen Land leben würden? Wäre eine solche Situation dann nicht denkbar? Wie lange kann sich ein verhasster Führer an der Macht halten ohne die Unterstützung der guten Nachbarn?
Meine Kinder waren verwirrt und aufgebracht, meine Frau regelrecht entsetzt. Ich brachte den Rest des Abends damit zu, die roten Schilder an der Straße mit den anständigen Menschen, die sie aufgestellt hatten, unter einen Hut zu bringen. Ich konnte es nicht, kann es bis heute nicht.
Unsere Nachbarn sind engagierte Bürger. Die Frau arbeitete erst im Stadtrat mit, dann ließ sie sich für einen der Ausschüsse nominieren. Ich habe sie gewählt, obwohl wir unterschiedliche politische Ansichten haben, einfach weil sie unsere Nachbarin ist, weil ihr Heimatort ihr am Herzen liegt, weil das Regieren auf lokaler Ebene überparteilich sein sollte und weil ich eine Lebenswelt bewahren möchte, zu der der kalte Krieg, der im Land herrscht, keinen Zutritt findet, in der er nicht alles zerstören kann. Als die letzten Briefwähler ausgezählt waren, fehlten unserer Nachbarin nur ganz wenige Stimmen zum Sieg. Und sie verlor unter anderem wegen Menschen wie uns, Stadtmenschen, die sich hier für die Wahl registrieren ließen, um in einem seit jeher republikanischen Bezirk dem Demokraten zum Sieg zu verhelfen, denn der Ausgang der letzten Präsidentschaftswahl hatte sie zutiefst empört. Es war nicht schwer, sich die Verbitterung der Einheimischen vorzustellen, die ihre ganze Stadt verwandelt, deren Werte in Frage gestellt sahen. Unserer Nachbarin war der Weg von selbstgerechten Zuzüglern verstellt worden, die dort nicht verwurzelt waren, für die dort nichts auf dem Spiel stand.
Aber als ich bei ihr vorbeischaute, um über all das zu reden, war sie überhaupt nicht verbittert. Sie akzeptierte ihre Niederlage als den Willen Gottes. Bald darauf wurde sie Mitglied der Wahlkommission ihres Countys.
Im Sommer 2020 dann prangten am Drahtzaun meiner Nachbarn Schilder, die für lokale Kandidaten warben – in Rot, Weiß und Blau. Die Farben Amerikas. So blieb das ein paar Wochen lang, und ich begann schon zu hoffen, dass sich die Sache damit hätte. Dann aber, als die Kürbisse sich auf den Feldern stapelten und die Dunkelheit immer früher hereinbrach, tauchten plötzlich die roten Schilder auf.
Am nächsten Morgen, dem frühesten Tag, an dem man seine Stimme abgeben konnte, fuhren wir in die Stadt. Am Eingang zum Rathaus stand unsere Nachbarin von nebenan, die ja nun Mitglied der Wahlkommission war. Sie hatte sich fein gemacht, trug hohe Absätze und begrüßte die Wähler. Über dem Rand der Maske sah man ihre Augen lächeln. Sie hätte uns gern mit unserem Hund ins Wahllokal gelassen und entschuldigte sich wortreich, weil da einfach nichts zu machen war. Im ganzen Land brodelte die Gerüchteküche: angeblicher Wahlbetrug und Tricks zur Annullierung von Stimmen. Ich aber vertraute der Integrität dieser Frau. Sie gehörte zu den Systemrelevanten, die dieses System, die Selbstregierung des Volkes, überhaupt erst möglich machen. Wir grüßten uns freundlich. Ich vergaß die Schilder einfach.
Wir haben nie darüber gesprochen und werden das wohl auch nicht tun. Da wir gute Nachbarn sind, ist uns dieses Gespräch nicht möglich. Würden wir uns auf eine Diskussion über Politik und bestimmte Politiker einlassen, gerieten wir wohl sehr bald in die Untiefen von Glauben und Wertvorstellungen. Dann würden wir uns eingestehen müssen, dass wir die Ansichten des anderen als Bedrohung für unser Land betrachten, als den Gewehrlauf, der auf das Herz des American Way of Life zielt, auf alles, was uns hoch und heilig ist. Wie könnten wir uns danach noch zuwinken, wenn unsere Nachbarn mit ihrem Kubota-Traktor an unserem Zaun vorbeiratterten?
Aber dieses Schweigen – löst einfach gar nichts. Es ist vielmehr Teil des Verfalls.
Die Selbstregierung ist Demokratie in Aktion – und das bezieht sich nicht nur auf Rechte, Gesetze und Institutionen, sondern auch und vor allem darauf, was freie Menschen gemeinsam tun, auf die Gepflogenheiten und Fähigkeiten, die uns in die Lage versetzen, unsere Geschicke selbst zu lenken. Tocqueville beschrieb die Selbstregierung als eine «Kunst», die erlernt werden muss. Genau dazu sind die Amerikaner nicht länger in der Lage. Vermutlich wollen sie es auch nicht. Das ist harte Arbeit, denn dazu braucht es nicht nur Wahlurnen, Zeitungen und offizielle Dokumente – die wir ja immer noch haben –, sondern vor allem Vertrauen. Und das haben wir verloren. Die Selbstregierung gründet auf der Fähigkeit zu streiten, zu überzeugen und Kompromisse zu schließen, zum Nutzen und Vorteil des Gemeinwesens, zum Beispiel, wenn es darum geht, eine katastrophale Pandemie effektiv zu bekämpfen. Selbstregierung verlangt von uns, dass wir uns in die Erfahrung des anderen hineinversetzen können, dessen Unabhängigkeit akzeptieren und trotzdem eigenständig denken.
Daran ist nichts selbstverständlich. Es braucht unter Umständen mehrere Jahrhunderte, um sich diese Fähigkeit anzueignen, und oft nur wenige Jahre, um sie wieder zu verlernen. «Die Menschen werden alles Mögliche tun, aber selbst regieren werden sie sich nicht», schrieb Walter Lippman vor etwa hundert Jahren. «Sie scheuen die Verantwortung.» Überlegen Sie sich nur einmal, auf welch vielfältige Weise wir ihr aus dem Weg gehen: indem wir perfekte Kinder aufziehen, gleichgültig sind, immer mehr Geld verdienen, uns um unsere tausendfachen Bedürfnisse kümmern, ein Internetprofil erstellen, andere für uns denken lassen, einem Demagogen hinterherlaufen.
Selbstregierung ist eine Praxis, die auf einer Idee beruht. Und diese Idee ist es, die diese ausufernde, unbegreifliche Nation zusammenhält. «Aber die Angst vor unversöhnlichen inneren Konflikten und der Mangel an einem gemeinsamen Knochengerüst, das alles zusammenhält, lässt mich noch immer fürchten», schreibt Walt Whitman in seinem Manifest Demokratische Ausblicke, das nach dem Bürgerkrieg entstand. «Denn ich sage: Wenn wir in eine moralische Krise geraten, liegt nach alledem die wirkliche Identität der Vereinigten Staaten, die eigentliche Einheit, weder im geschriebenen Gesetz noch – wie man gewöhnlich glaubt – in den gemeinsamen finanziellen und materiellen Interessen, sondern in der glühenden und großartigen IDEE, die alles andere mit unwiderstehlicher Hitze zerschmilzt und alle weniger klar umrissenen Bestimmungen in umfassender, unbegrenzter, spiritueller und emotionaler Kraft auflöst.»[1]
So eine Idee ist ein zerbrechliches Gebilde, selbst – und gerade dann – wenn es sich um eine höchst lebendige, große Idee handelt. Wir hätten auf unsere Idee besser achtgeben müssen.
Schauen Sie sich draußen doch nur mal um. Unsere Brücken brechen zusammen, da oder dort wurde wieder eine Fabrik geschlossen, und unsere schlecht belüfteten Schulen entlassen die nächste Generation ungebildeter Kinder in die Welt. Die Krankenhausbetten sind überfüllt, und an den kleinen Läden hängen Schilder mit der Aufschrift: Wegen Geschäftsaufgabe geschlossen! Gleichzeitig verstopfen die Lieferwagen von Amazon die Straßen, unsere geistige Elite hört sich an wie Marktschreier, und alle anderen wirken, als litten sie an Polit-Alzheimer im Frühstadium. Das gemeinsame Skelett verliert seine stützende, verbindende Wirkung und wird wohl bald zu einem Knochenhaufen zerfallen, über den sich künftige Archäologen mit vor Trauer und Ratlosigkeit gerunzelter Stirn beugen werden. Warum mussten erschöpfte Wahlhelfer im ganzen Land Nacht für Nacht aufbleiben, um sich gegen die unzähligen Lügen zu wehren, die über hochkomplexe digitale Pfade hinaus ins Land wucherten, Pfade, die von unseren genialsten und erfolgreichsten Unternehmern angelegt worden sind? Lügen, die Eingang fanden in Millionen Köpfe, die sich als erstaunlich anfällig für diese Art der Ansteckung erwiesen haben. Irgendetwas läuft schief mit dieser «letzten und besten Hoffnung der Erde» (Lincoln). Die Amerikaner wissen es – die ganze Welt weiß es. Denn auch da draußen geht gerade etwas gründlich schief.
Und doch erweist sich unsere Zivilisation als hartnäckig stabil. Ich habe das Gefühl, dass ein so großes und mächtiges Land ewig weitermachen könnte wie gehabt, ohne unterzugehen, ohne auch nur den Kurs zu ändern. Und das bereitet mir ebenso viel Sorge wie der nationale Selbstmord. Amerika kann Unmengen von Toten ertragen, Massenproteste, Wirbelstürme, Waldbrände, Skandale im Stundentakt, dramatische Wahlen und wüste Lügengewitter – aber Netflix streamt immer noch jede Woche eine neue Serie. Eltern geben immer noch viel Geld für Nachhilfelehrer aus, der Black Friday wird auch dieses Jahr eine Riesensache werden, und mit dem College-Football muss es natürlich weitergehen.
Der Motor, der diesen Koloss antreibt, fängt schon an zu stottern, doch das Schiff bewegt sich weiter vorwärts, getrieben vom Schwung seiner Masse und Geschwindigkeit.
Amerikaner machen es sich gewöhnlich viel zu gemütlich in ihren unerschütterlichen Glaubensüberzeugungen und sind viel zu abgelenkt vom Konsumgewitter, um einmal ehrlich auf sich selbst zu schauen. Und die Geschichte zwang uns bisher nur wenige Male, am Überleben unserer Selbstregierung zu zweifeln. Es braucht schon einen gewaltigen Schuss vor den Bug, damit wir merken, wie still es im Motorraum geworden ist. Einen Schock, wie ihn uns das Jahr 2020 versetzt hat.
Aber wenn ich von der letzten besten Hoffnung spreche, verstehen Sie mich bitte nicht falsch. Amerika ist kein «Licht für andere Völker» mehr. Diese Rolle ließ uns ohnehin immer besser oder auch schlechter erscheinen, als wir es in Wahrheit sind. Was aber erblicken wir jetzt im Spiegel? Ein instabiles Land und politische Institutionen, deren Weiterleben in Frage steht, ein Volk, das in einander bekriegende Fraktionen zerfällt und zu Gewalt neigt – die Art von Land also, deren Rettung wir stets für unsere Aufgabe hielten. Uns aber wird niemand retten kommen. Unsere letzte und beste Hoffnung sind tatsächlich wir selbst.