Mathias Berg
Der Lohn des Verrats
Kriminalroman
Knaur e-books
Mathias Berg kam 1971 unter romanreifen Umständen zur Welt – genau 17 Tage zu früh, da der Nachbar tags zuvor seine Frau erschoss.
Lust auf das Lesen und Schreiben machte ihm seine Mutter, die Tochter eines Polizisten aus Stuttgart. Nach dem Abitur in Ulm studierte er Soziologie in Bamberg und London, jobbte als Radiomoderator und arbeitete als Werbetexter und Marketing-Redakteur. »Der Lohn des Verrats« ist nach »Der Preis der Rache« der zweite Band der Cold-Case-Serie um die Psychologin Lupe Svensson und den LKA-Ermittler Otto Hagedorn. Mathias Berg lebt in Köln.
© 2021 Mathias Berg
© 2021 Knaur Verlag
Ein Imprint der Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Michael Meller Literary Agency GmbH, München
Redaktion: Claudia Wuttke
Covergestaltung: Sabine Kwauka
Coverabbildung: Collage unter Verwendung eines Getty Images Motives.
ISBN 978-3-426-45668-2
Für Mats.
Mögen dir die Sterne stets leuchten.
Das Erste, was er von den Mädchen am Straßenrand wahrnahm, war ihr Gang.
Der war selten aufrecht, meistens schlurfend. Gern beugten sie sich weiter als üblich nach vorne, wenn sie einen Rucksack auf dem Rücken trugen und schon lange unterwegs waren. Er machte sich einen Spaß daraus, zu raten, wie lange sie bereits auf eine Mitfahrgelegenheit warteten. Seine Vermutung sagte er sich laut vor, und wenn sie sich qualifizierten und er sie mitnahm, war seine erste Frage: »Na, wie lange bist du schon unterwegs?«
Und er lag häufig richtig.
Das Zweite, was er von den Mädchen am Straßenrand wahrnahm, war die Figur. Die Größe musste grob stimmen und der Grad der Rundungen. Nicht zu üppig und nicht zu dürr. Der Hintern und das Verhältnis der Schultern zur Hüfte. Die Länge der Beine im Verhältnis zum Oberkörper.
Sein Goldener Schnitt.
Das Dritte waren die Haare. Da ließ er mehr Variationen zu. Aber schulterlang kam der Sache schon nah. Blond oder dunkelblond war gut. Ein helles Braun zur Not auch. Aber kein Schwarz, das ging gar nicht.
Auffällig war: Je länger die Mädchen unterwegs waren und den Straßenrand entlangstiefelten, umso mürber waren sie, unachtsamer. Ihre Körperhaltung hatte etwas Drängendes, wenn er das getönte Seitenfenster herunterließ und sie sich nach unten beugten und ihre langen Haare von den Schultern fielen. Und dann kam der Moment, auf den er gewartet hatte.
Er sah in ihr Gesicht.
In das Dreieck von den beiden Augenbrauen zum Kinn. Ein Ausschnitt, der darüber entschied, ob sie es waren. Er sah in ihre hoffnungsvollen, betenden Augen, ihre geschürzten Lippen. Ihr bettelndes Lächeln.
Er traf die Entscheidung in einer Millisekunde. Die Mädchen mussten aussehen wie sie.
Dieses Mädchen sah er schon von Weitem. Da war sie nicht mehr als ein gleichförmiger, beweglicher Punkt am Horizont, der sich gegen die untergehende Sonne abhob. Er nahm sofort den Fuß vom Gas und fuhr langsamer darauf zu. Es dämmerte. Eigentlich war es ihm lieber, wenn es schon Nacht war, denn die Dunkelheit schützte ihn besser, und in den Mädchen wuchsen die Furcht und der Wunsch nach einem sicheren Lager. Wie bei den Tieren, die sich einen Schlafplatz suchten, weil sie wussten, dass die Nacht gefährlich war. Er bot ihnen diesen vermeintlichen Schutzraum an. Eine warme Fahrerkabine in einem sauberen Auto. Eine trügerische Höhle, in die sie sich verkriechen konnten.
Für eine kurze Zeit.
Sie trug einen tarngrünen Bundeswehrparka, schwarze Jeans und Doc Martens mit der charakteristischen Sohle. Ihre dunkelblonden Haare lagen offen auf den Schultern, aufgefächert. Ihr Gang war nicht mehr aufrecht, in der rechten Hand trug sie einen Rucksack, der schwer sein musste, denn die Schultern beugten sich unter der Last nach rechts. Und er sah sofort: Sie war schon lange unterwegs.
Seine Handinnenflächen klebten am Lenkrad.
»Vier!«, rief er laut aus. »Ja klar, vier.«
Er lachte nervös, drosselte die Geschwindigkeit und fuhr langsam an sie heran. Unter dem Parka lugten ihre Beine hervor.
Gute Beine. Schön proportioniert.
Sie schien etwas zu groß zu sein, aber er war schon seit einigen Tagen unterwegs, ohne Beute zu machen. Er musste endlich zum Zuge kommen, fühlte sich wie unterzuckert und wollte Erleichterung spüren. Dieses Gefühl staute sich in ihm an, es wuchs täglich, bis nur noch ein einziger Gedanken ihn beherrschte.
Er musste sie endlich finden.
Die Eine.
Und es wieder tun.
Mit dem rechten Arm griff er hinter sich unter den Sitz und spürte die halb volle Wodkaflasche. Er zog sie hervor und klemmte sie zwischen seine Beine. Drehte geschickt mit einer Hand den Deckel ab. Setzte sie an die Lippen und nahm drei große Schlucke.
Der Vorteil an Wodka war, dass man ihn nicht roch.
Kein Mädchen setzte sich zu einem angetrunkenen Kerl ins Auto, der eine Fahne hatte.
Auf keinen Fall.
Er schraubte die Flasche wieder zu und verstaute sie hinter seinem Sitz.
In dem Moment war sie zum Greifen nah.
Nur wenige Meter trennten sie voneinander.
Als hätte sie einen Schuss gehört, drehte sie sich um und sah zu ihm.
Er schob die Sonnenbrille auf der Nasenwurzel nach oben.
Leckte sich über die Lippen, und mit einem Knopfdruck ließ er das Seitenfenster surrend herabgleiten.
TAG EINS
Wir kehren manchmal zu den Orten der Vergangenheit zurück. Besonders zu jenen, von denen wir dachten, dass wir sie nie wiedersehen würden. Ich bin hier, an diesem Ort, in diesem Raum, weil ein Mensch vor meinen Augen gestorben ist. Und ich es nicht verhindern konnte.
Dabei stand ich nur eine Armlänge von ihm entfernt.
Das Zimmer ist mir vertraut, und es sieht haargenau so aus wie vor drei Jahren. Und es riecht immer noch so. Ich kenne den Geruch, den der Teppich von den vielen Schuhabsätzen ausströmt, die fest in ihn gepresst wurden. Sei es aus Nervosität, Befangenheit oder aus Trotz. Den Duft der Straße, der durch das gekippte Fenster weht: die Auspuffabgase der Autos, die unten an der Kreuzung mit laufendem Motor stehen, das verbrannte Gummi der vorbeiratternden Straßenbahnen und das gebratene Hammelfleisch von dem türkischen Imbiss um die Ecke. Und der Geruch des Asphalts, wenn es regnet. Den mag ich am liebsten, denn er riecht für mich nach Kindheit und Trost.
Ich könnte diesen Raum blind aufzeichnen. Die Stehgarderobe gleich neben der Tür. Der Wochenkalender an der Wand, der seiner Zeit hinterherhinkt, weil Sabine vergisst, ihn umzublättern. Den Schreibtisch vor dem großformatigen abstrakten Gemälde, auf das ich oft gestarrt und darin Antworten auf Fragen gesucht habe. Den quadratischen Teppich in der Mitte des Raumes, mit dem Schachbrettmuster. Die Insel des Gesprächs, die wir zu zweit betreten, auf der zwei lederne Sessel und ein runder Beistelltisch aus Glas stehen. Auf dem Tisch sind eine Kleenexbox (habe ich nie gebraucht) und eine Wasserkaraffe mit zwei Gläsern.
Auf einem der Sessel sitze ich.
Die Beine übereinandergeschlagen, meinen Rucksack neben mir auf dem Boden, schwinge ich einen meiner Chucks vor und zurück und stellt fest, wie dreckig die geworden sind. Jetzt sind sie so, wie sie sein sollen. Meine schwarze Jeans kneift im Sitzen, weil sie frisch gewaschen ist.
Sabine sitzt mir gegenüber, in einer weißen Bluse. Um die Hüften ist sie fülliger geworden. Sie wischt eine kinnlange leuchtend rote Lockensträhne aus dem Gesicht. Ich habe mich nicht sonderlich hübsch gemacht. Haare zum Pferdeschwanz, Wimperntusche. Fertig. Kein Make-up. Wer seine ehemalige Supervisorin aus der Therapieausbildung wieder trifft, braucht keinen Eindruck zu machen. Ich weiß, was ich an ihr habe.
»Legen wir los«, sagt Sabine nach dem Begrüßungsgeplänkel. »Erklär mir, warum du hier bist.«
»Ich konnte einem jungen Mann nicht helfen. Er war suizidal. Wollte von einer Brücke springen. Ich dachte, er blufft und will Aufmerksamkeit. Dann sprang er vor meinen Augen in die Tiefe.«
»Wie lange ist das her?«
»Rund sechs Wochen.«
»Kanntest du ihn?«
»Er war eine Person, zu der ich im Rahmen meines ersten Falls beim LKA Kontakt hatte. Ich habe Gespräche mit ihm geführt. Sondierungsgespräche.«
»Wenn du an die Situation denkst, welche Gedanken kommen dir?«
Sie legt den Kopf schief. Ihr Gesicht ist offen.
Hab keine Angst, sagt es. Erzähl es mir einfach.
»Es war eine Extremsituation. Ich war nicht klar im Kopf, stand unter starken Schmerzmitteln nach einer Operation.«
»Das klingt wie eine Entschuldigung, soll es das sein?«
»Nein, das ist die Tatsache«, erwidere ich bockig.
»Lupe, ich will wissen, was du danach empfunden hast. Die emotionale Ebene ist ein wichtiger Aspekt bei dir. Aufgrund deiner Biografie hast du gut gelernt, sie auszuschalten. Das ist in einer professionellen Situation hilfreich, du musst dich schützen, aber du bist zu mir gekommen, weil du es verarbeiten möchtest.«
Ich stelle beide Beine auf. Presse die Schuhsohlen in den Boden. Streiche mir mit der flachen Hand über meine Stirn und ertaste mit den Fingerspitzen diese feine Furche in der Mitte.
»Ich habe das Gefühl, dass ich versagt habe«, höre ich mich sagen.
»Worin?«
»Als Psychologin, die von dir zur Therapeutin ausgebildet wurde und in der Forensischen gearbeitet hat. Und jetzt beim LKA ist.«
»Fühlst du denn Schuld an seinem Tod?«
Ich sehe sie einen Moment genau an. »Nein«, antworte ich. »Ich bin nicht schuld an seinem Tod.«
Sabine schenkt sich Wasser ein. Nippt am Glas. Stellt es wieder ab.
»Aber trotzdem hast du das Gefühl, versagt zu haben. Du hattest Erwartungen an dich.«
»Ja.«
»Waren die hoch?«
»Da könnte was dran sein.«
»Unerreichbar hoch?«
Ich atme laut aus.
Sabine räuspert sich. »Hast du nach der Tat geweint?«, fragt sie.
Jetzt kommt dieser emotionale Scheiß.
»Ja, habe ich. Mehrfach.«
»Warum?«
Ich hole tief Luft. »Weil ich wütend war. Auf mich. Dass ich nicht gesehen habe, was in ihm vorging. Dass ich ihm nicht helfen konnte.«
»Du hättest ihm gern geholfen.«
»Ich wurde deswegen zu ihm gebracht, er wollte nur mich sehen.«
Sabine beugt sich vor. »Aber er war nicht dein Patient. Du warst als Praktikantin der Ermittlungsarbeit mit ihm betraut. Nicht als Therapeutin. Ich würde sagen, es war nicht deine Aufgabe, ihn zu retten.«
Ich sehe sie verblüfft an.
»Es hat sich vermischt. Er hat mich in der Rolle als Therapeutin gefordert.«
»Hat er das gesagt?«
Mir wird warm. »Nein, das hat er nicht.«
Ich schenke mir ebenfalls ein Wasser ein und trinke das Glas in einem Zug leer. Mein Mund ist trocken wie nach einer Tüte Erdnussflips.
»Wir neigen dazu, die Fehler bei uns zu suchen«, sagt Sabine.
»Soll mich das trösten?«
Ich merke, dass ich bockig werde.
»Brauchst du denn Trost?«
»Nein«, sage ich und klopfe mit den Fingerknöcheln auf die Sessellehne.
»Was ist dein Bedürfnis?«
»Was ich brauche?«, wiederhole ich, um Zeit zu schinden.
Ich halte inne. Sehe über Sabines Kopf hinweg auf das Gemälde. Suche mit meinen Augen die Farbstriche und Tupfer ab, die Verwischungen und schwarzen Farbsprenkel, als sei eine Dose Cola explodiert. Aber in dem abstrakten Gefüge steht keine Antwort. Nicht mal ein verschlüsselter Buchstabe, der auf eine Antwort verweisen könnte.
Ich denke nach, und Sabine lässt mich. Das schätze ich sehr an ihr.
»Ich brauche klare Verhältnisse«, sage ich und finde meine Antwort recht gut, je länger sie im Raum steht. Ja, das passt auf einiges in meinem Leben.
»Wo sind die Verhältnisse gerade nicht klar?«
Ich schnaube. »Wo soll ich da anfangen?«, sage ich und lache kurz.
»Hast du momentan einen Partner oder eine Partnerin?«
»Bist du an dem Job interessiert?«
Sabine lacht. »Nein, bin ich nicht«, antwortet sie und lächelt. »Wie heißt die Person?«
»Raffa.«
»War er für dich da, als du geweint hast?«
»Quatsch«, sage ich. »Ich habe mich selbst getröstet.«
»Was ist denn Raffas Aufgabe?«
Ich muss grinsen. »Ernsthaft?«
»Ja«, sagt Sabine und senkt nachdrücklich das Kinn. Intensiver Blick.
»Wir vögeln.«
Sie verzieht keine Miene. »Also ist es eine sexuelle Beziehung. Sieht er das auch so?«
»Ich weiß, worauf du hinauswillst«, sage ich laut.
»Ja, vermutlich, und daher bist du bei mir. Und weißt du, was das Gute ist? Ich kenne dich, Lupe.«
Ich grummele wie ein beleidigter Hund und würde mich gerne auf dem Boden zusammenrollen und auf dem weichen Teppich ein Stündchen schlummern.
Ich weiß. Okay. Es hilft ja nichts.
»Nein, Raffa sieht es nicht so«, erkläre ich. »Er will mich als seine Freundin. Mit Händchen halten und ein Herz in den Baumstamm schnitzen und so ein Kram. Eine, die immer an ihn denkt und sagt, wie sehr sie ihn vermisst, wenn er mal nicht da ist. Aber das bin ich nicht. Ich kann das spielen, Sabine, ich kann so tun, als sei ich so eine Person. Aber die Wahrheit ist, ich fühle es nicht. Ich fühle in mir drin kein Hochgefühl, da sind keine scheiß Schmetterlinge. Ich genüge mir selbst vollkommen.«
Ich bin echt wütend. Beim Sprechen habe ich eine Hand zur Faust geballt. Jetzt öffne ich sie und beginne meinen Atem zu kontrollieren und meinen Herzschlag.
»Verstehe. Du hast bei dem jungen Mann etwas gefühlt, aber bei Raffa nicht. Ist es das, was dich irritiert?«
Ich nicke.
Sabine hält einen Moment inne. »Nun, Liebe bedeutet nicht, immer nur Hochgefühle zu haben, sondern auch: wer du bist, wenn du mit einer Person zusammen bist.«
Klingt gut. Wer bin ich, wenn ich mit jemandem zusammen bin? Da liegt der Hase im Pfeffer. Und ich weiß, welche Frage jetzt kommt. Ich kenne die Routen von Gesprächsführung in psychologischen Gesprächen. Sabine sieht es mir an und schiebt die Augenbrauen zusammen.
»Okay, das war gut«, sage ich und stehe auf. »Ich muss los.«
»Lupe, wir sind noch nicht fertig«, erwidert sie und sieht auf ihre Armbanduhr.
»Ich weiß, was ich jetzt tun muss.«
»Und das wäre?«
»Ich trenne mich von meinem sexuellen Verhältnis.«
»Warum?«, fragt Sabine erstaunt.
»Klare Verhältnisse. Weil er nicht mein Freund ist«, erkläre ich, bücke mich nach meiner Tasche am Boden und stehe auf. Dabei wird mir kurz schwarz vor Augen.
»Ist das nicht voreilig? Wir haben noch ein paar Sitzungen«, sagt sie.
Ich stehe schon an der Tür und habe die Klinke in der Hand.
»Natürlich, aber sei dir sicher, Sabine. Außer mit dir würde ich mit niemandem über mich reden wollen. Auch wenn es für dich nicht den Anschein hat.«
Ich winke und zieh die Tür hinter mir zu. Grinse. Und als ich die Treppe beschwingt runterspringe, fällt mir dieser Song ein von Roberta Flack.
Compared to what.
Love the lie. And lie the love.
Die ältere Dame, die kurz nach elf von einem Kollegen in den schmucklosen LKA-Besprechungsraum gebracht wird, ist klein und schätzungsweise fünfundsechzig Jahre alt, wobei ich in so was ziemlich schlecht bin. Sie ist eine gepflegte Erscheinung mit Mallorca-Teint, rosa Seidenbluse, marineblauer Hose und toupierten, kastanienbraun gefärbten Haaren, die mit Haarspray fixiert wurden und mich an einen Footballhelm erinnern. Ich rieche den Taft bis hierher und stelle mir vor, wie sie mit einem Frisierkamm vor dem Spiegel steht und jede widerspenstige Strähne besprüht und mit ihren sauber manikürten Fingern leicht andrückt. Da komme ich mir mit meinem einfachen Pferdeschwanz fast schäbig vor.
»Das ist Lupe Svensson«, sagt Otto mit tiefer Stimme und deutet mit dem Zeigefinger auf mich, »und ich bin Otto Hagedorn.«
»Ich weiß, wer Sie beide sind«, meint die Frau schnell. »Ich bin Gabriele Küster.«
Gabriele nimmt uns gegenüber an dem Tisch Platz. Die Haut an ihrem Hals sieht aus wie zerknittertes Backpapier, das zu lange in der Schublade gelegen hat. An den Fingern trägt sie funkelnde Ringe, und auch an den Ohren glitzert es. Die Frau ist keine arme Rentnerin, da steckt ordentlich Asche dahinter. Rosa Lippenstift auf den dünnen, zusammengepressten Lippen, die wie ein gerader Schnitt ihr Gesicht zerteilen. Sie sieht uns kaum in die Augen und flieht mit dem Blick abwechselnd zum Lamellenvorhang und zur Tischplatte.
Die Frau ist nervös.
»Sie wollten mit uns sprechen?«, fragt Otto, und seine Stimme geht am Schluss nach oben. Er lächelt, aber vor zwei Minuten war er noch genervt, weil der Empfang hier beim LKA die Frau nicht abwimmeln konnte, die ausschließlich mit Otto und mir in einer wichtigen, »lebenswichtigen«, so zitierte die Empfangsfrau, Angelegenheit sprechen wollte, die angeblich keinen Aufschub duldete. Durchs Telefon schnauzte Otto die Kollegin an, die daraufhin kleinlaut wurde, und als ihre Stimme ins Weinerliche kippte, stöhnte er laut auf, brummte »meinetwegen«, und befahl, der Sicherheitsdienst möge sie in den dritten Stock in den Besucherraum bringen.
»Aber nur fünfzehn Minuten, mehr nicht«, warf er hinterher und schmiss den Hörer auf die Gabel. Jetzt sitzt sie vor uns.
Und die Zeit läuft. Ticktack.
Gabriele Küster räuspert sich. Sekunden verstreichen. Sie wischt ein nicht vorhandenes Haar vom Tisch.
»Ich möchte, dass Sie meinen verschwundenen Sohn Fabian finden.«
»Dann müssten Sie eigentlich zur Polizei gehen und eine Vermisstenanzeige aufgeben«, sagt Otto sachlich.
Die Frau sieht jetzt auf, und als habe jemand einen Vorhang zur Seite geschoben, sehe ich in ihrem Blick tiefen Schmerz und quälende Verzweiflung. Ihr Gesicht scheint plötzlich um Jahre gealtert und fällt förmlich in sich zusammen. Die Wangen treten hervor. Die Augen sinken in dunklen Höhlen ein.
»Er ist seit 1993 verschwunden«, fährt sie leise fort.
Otto sieht mich schnell an. »Das ist zehn Jahre her«, stellt er fest.
»Richtig, deswegen wollte ich auch mit Ihnen beiden sprechen, und nur mit Ihnen.« Ihr Blick wechselt von Otto zu mir und wieder zurück. »Sie haben den alten Fall gelöst, um den Kölner Richter und diese junge Frau, die in den Siebzigern verschwand. Es stand ja groß in der Zeitung. Da dachte ich, wenn mir einer helfen könnte, dann sind Sie das. Sie beide sind, wenn ich das so sagen darf, meine letzte Hoffnung.«
Otto räuspert sich. »Ob wir Ihnen helfen können, weiß ich nicht. Dazu müsste ich mir erst mal den Fall ansehen. Haben Sie damals eine Vermisstenanzeige aufgegeben? Wurde ermittelt?«
Gabriele Küster bläht die Nasenflügel auf und verengt die Augen.
»Natürlich, was denken Sie denn. Das ganze Programm. Anzeige. Flughäfen und Bahnhöfe absuchen. Passagierlisten. Mein Sohn blieb verschwunden, und die Ermittlungen wurden schließlich eingestellt.«
Ihr Gesicht hat eine Miene wie die Pietà der Maria im Vatikan in Rom. Schmerzerfüllt. Leidend. Aber es steckt auch die Stärke darin, dieses Leid zu ertragen.
Sie wendet sich an mich. »Verstehen Sie mich nicht falsch, Frau Svensson, Sie sind noch so jung und haben vermutlich noch keine eigenen Kinder, oder?«
Ich schüttele leicht den Kopf.
»Aber Sie, Herr Hagedorn, haben Sie Kinder?«
»Ja, eine Tochter«, sagt er trocken.
»Dann wissen Sie, was ich meine.«
»Wir haben keinen Kontakt, meine Tochter und ich. Falls Sie auf eine väterliche emotionale Verbindung anspielen möchten, die sich in mir regen könnte.«
Gabriele presst die Lippen aufeinander. »Das tut mir leid für Sie. Sehen Sie, wir sind uns dennoch ähnlich, ich habe auch keinen Kontakt mehr zu meinem Kind. Fabian ist verschwunden, und es vergeht kein Tag, an dem ich nicht an ihn denke und mir nichts sehnlicher wünsche, als ihn noch einmal lebend wiederzusehen. Mein Mann Siegfried ist heute vor neun Wochen gestorben. Herzinfarkt beim Mittagessen. Aufgestanden. Umgefallen. Tot.« Sie zuckt mit den Schultern. »Wir haben lange Zeit in Marbella gelebt, aber Sie können mir eines glauben: Man kann über Jahre hinweg traurig sein, auch wenn jeden Tag die Sonne vom blauen Himmel scheint. Nach dem Tod meines Mannes Siegfried habe ich dort alle Zelte abgebrochen und bin wieder zurück ins Rheinland gezogen, in meine Heimat. Ich bin jetzt fast siebzig und ich weiß nicht, wie viel Zeit mir noch bleibt. Aber eines weiß ich sicher: Ich will Gewissheit haben, was mit meinem Sohn passiert ist, ganz gleich, wie schrecklich die Wahrheit ist.«
»Wie alt war Ihr Sohn, als er verschwand?«, fragt Otto.
»Er war zwanzig. Er hatte sein Abitur in der Tasche und wartete auf einen Studienplatz. Er wollte Ingenieur werden.«
»Musste er nicht zum Bund?«
»Er war ausgemustert worden wegen einer Rückengeschichte. Hatte sich als Kind mal die Hüfte gebrochen und litt seitdem an einer Verkrümmung.« Sie macht eine Pause, als müssten diese Informationen reichen. »Können Sie mir helfen?«
Otto lehnt sich im Stuhl zurück. Verschränkt die Arme vor der Brust.
»Nun, ich schlage vor, wir sehen uns die Sache einfach mal an, und dann melden wir uns bei Ihnen.«
Er schiebt ihr einen Notizblock und einen Kugelschreiber über den Tisch. »Schreiben Sie mir bitte Ihre Personalien auf, und die Daten Ihres Sohnes.«
»Was glauben Sie, was Ihrem Sohn passiert ist?«, frage ich.
Gabriele sieht mich einen Moment aufmerksam an, dann schlägt sie die Augen nieder.
»Ich weiß es nicht« sagt sie leise. »In mir ist ein tiefes, unheilvolles Gefühl, das mich schon lange quält. Ich war mir viele Jahre sicher, dass meinem Sohn etwas zugestoßen ist und er Opfer eines Verbrechens wurde. Aber in mir sagte eine Stimme: Dein Sohn ist nicht tot. Er lebt noch. Und jetzt sehen Sie sich das an.«
Sie öffnet ihre Handtasche, zieht ein Foto hervor und legt es stumm auf den Tisch. Schiebt es uns mit einem Finger zu.
»Was ist das?«, fragt Otto und starrt darauf.
Still trugen die Männer den Zinnsarg in der strahlenden Mittagssonne aus dem Haus aus der Avenida Fontana in Marbella.
Dreiundvierzig Ehejahre nahmen sie mit.
Ein physisches Überbleibsel. Eine leblose Hülle, die nichts war im Vergleich zu dem lebenden Siegfried, der anpackend und unerschrocken war. Der stets wusste, was getan werden musste, und ihr heute Morgen mit dem ersten Kaffee auf der Terrasse wieder versicherte: »Wir leben im Paradies. Es fehlt uns an gar nichts, Gabriele.«
Und jedes Mal fühlte es sich so an, als steche ihr jemand eine Nadel in den Nacken.
Beim Mittagessen war er plötzlich bleich geworden und hatte die Gabel fallen lassen, die klirrend auf das Porzellan aufschlug. Die Augen weit aufgerissen, fuhr er hoch, griff sich an die Brust, und nur Sekunden später riss er den Mund weit auf, taumelte einen kleinen Schritt zur Seite und fiel polternd zu Boden. Ein Sekundentod. Barmherzig für den, der geht, und schockierend für den, der bleibt. Kurze Zeit darauf kam der Notarzt, stellte den Tod fest und kondolierte.
Gabriele stand auf dem Gehsteig und sah zu, wie sie den Zinnsarg in das schwarze Auto des Bestattungsunternehmers mit den milchigen Scheiben einluden, die Heckklappen schlossen und in gemächlichem Tempo wegfuhren.
Am Abend kam ihre Tochter Annika mit der Lufthansa-Maschine aus Frankfurt an. Aufgelöst umarmte sie die Mutter, die mit rot geweinten Augen dastand. In den Tagen danach organisierte Annika, was der Vater schriftlich entschieden und vorherbestimmt hatte. In langen Listen, die wie Bauanleitungen klangen. Alles war durchdacht: die Zeremonie, die Einladungen zur Trauerfeier, der Blumenschmuck und sogar die Speisenfolge beim Leichenschmaus. Die Tochter schaltete artig Traueranzeigen in deutschen Tageszeitungen und in der hiesigen Presse, die eher ein Anzeigenblatt für deutsche Rentner war.
Zehn Tage nach seinem Tod fand die Beerdigung im kleinen Kreis statt. Dreißig Gäste waren angereist. Enge Freunde und nahe Verwandtschaft. Gemäß dem Testament wurde Siegfried hier in Marbella bestattet, seiner zweiten Heimat. Er hatte eine Grabstätte in San Bernabé erstanden, dem ältesten Friedhof der Stadt, der von Pinien gesäumt war und inmitten eines Wohngebiets lag.
Gabriele und ihre Tochter standen nebeneinander in der ersten Reihe in der kühlen Kapelle. In Trauer gekleidet, mit schwarzen Sonnenbrillen im Gesicht, die sie gegen das helle Licht und die mitleidigen Blicke der Trauergäste schützen sollten, die jetzt hinter ihnen standen. Alle lauschten andächtig dem hellen Ton der kleinen Glocke auf dem Dach, der Schlag um Schlag verklang, bis es still war. Neben dem Sarg war ein gerahmtes Foto von Siegfried, auf dem er blendend aussah. Braun gebrannt und sportlich, wie jemand, der seine Tage auf dem Golfplatz verbrachte und nebenher seine Geschäfte managte.
Während der junge Pfarrer in gebrochenem Deutsch ein paar Worte sagte, ließ Gabriele ihren Blick schweifen.
So hatte er es gewollt. Mit diesem Sarg. Dem gerahmten Foto und diesen Blumen. Später würde die Urne in eines dieser typischen weißen Marmorhäuschen mit roten Schindeln kommen. Kleine Häuser für die Ewigkeit. Mit seinem Namen auf einer Steinplatte.
Sie betrachtete die vielen deutschen Kränze. Große und kleine, die auf Metallgestängen hingen und deren Schleifen sorgsam ausgerollt waren, und las, was darauf gestickt war. Im Grunde war es stets das Gleiche.
In tiefer Verbundenheit. In treuer Verehrung. In liebem Gedenken.
Als ihr Blick auf den letzten Kranz fiel, ein kleinerer, der weiter hinten stand, und sie die Inschrift las, traute sie ihren Augen nicht.
Das konnte nicht sein.
Niemals.
Sie zuckte zusammen.
Rang nach Luft.
Sie trat drei Schritte auf den Kranz zu und ging in die Knie.
Mit zitternden Fingerspitzen berührte sie die Schleife und strich über die Buchstaben, die dort eingestickt waren.
Buchstabe für Buchstabe.
Wort für Wort.
Dann schrie sie laut auf.
Das Foto, das Gabriele mir über den Tisch reicht, ist von der Beerdigung.
Ich sehe ein Stück eines dunklen Sargs, auf dem rote Rosen liegen. Daneben steht ein kleiner grüner Grabkranz mit weißen Blüten und einer weißen, langen Schleife.
Darauf sind in Schwarz die Worte eingestickt:
Die Zeit heilt nicht alle Wunden.
F.
»Dieser Kranz wurde zur Beerdigung nach Marbella geliefert«, erklärt Gabriele. »Ich weiß nicht, von wem. Es gibt keinen Verwandten, dessen Namen mit einem F beginnt. Außer meinem Sohn. Fabian. Und deswegen glaube ich, dass mein Sohn noch lebt.«
Ihre Augen schimmern feucht. »Oder jemand erlaubt sich einen verdammt schlechten Scherz.«
Gabriele greift mit zitternder Hand nach Block und Stift, zieht beides zu sich heran und beginnt zu schreiben.
Otto wirft mir einen interessierten Blick zu. Er hat Feuer gefangen, das sehe ich. Er will wissen, was dahintersteckt; die Sache juckt ihn jetzt schon.
»Wir würden Sie dann gegebenenfalls für eine Befragung kontaktieren«, sagt er, als er den Block zurückerhält und einen flüchtigen Blick darauf wirft.
Gabriele nickt. »Danke«, sagt sie leise. »Ich stehe Ihnen zur Verfügung. Jederzeit.«
Otto nimmt das Foto in die Hand und will es ihr zurückgeben.
»Behalten Sie das.«
Wir stehen auf und verabschieden uns. Gabrieles Hand ist feucht und kalt. Als sie die wenigen Meter zum Aufzug geht, fällt mir auf, dass ihre Schultern kraftlos nach vorne hängen.
Hinter der gepflegten Fassade dieser Frau steckt ein gebrochener Mensch.
Ganz gleich, wie schick sie sich zurechtmacht: Der Schmerz ist immer stärker.
»Du bist so vorhersehbar«, sage ich, als wir beide wieder in unserem Büro sind. »Da kommt jemand und bauchpinselt dich, und du springst sofort darauf an. ›Sehen Sie, wir sind uns dennoch ähnlich‹«, äffe ich Gabriele Küster nach. »Echt jetzt?«
Otto funkelt mich an.
»Ich bin eben auch nur ein Mensch. Und vor allen Dingen bin ich Polizist«, sagt er. »Da werde ich neugierig, wenn eine Rentnerin zu uns kommt und behauptet, ihr Sohn sei verschwunden, und der plötzlich einen Trauerkranz sendet. Passiert ja schließlich nicht alle Tage. Ich werde mir den Fall mal ansehen. Außerdem sagt mir der Name Küster etwas. Küchenstudio Küster. Die wurden in den späten 1980er-Jahren ganz groß und zu einem echten Begriff in Nordrhein-Westfalen. Die Familie ist damit reich geworden. Sehr reich. Sagt dir das nichts?«
»Ne, da war ich gerade mal fünfzehn Jahre alt und nicht an Herd und Spülmaschine interessiert. Das bin ich übrigens bis heute nicht.«
»Ich vergesse immer, wie jung du bist.«
»Sehr charmant.«
»Und dafür, dass du gerade mal drei Monate hier im LKA bist, war das eben ein äußerst frecher Kommentar gegenüber deinem Vorgesetzten. Zur Strafe gehst du uns jetzt Kaffee holen, Fräulein.«
Er hebt tadelnd den Finger, aber ich sehe das Grinsen in seinen Mundwinkeln.
Otto meint es nicht so, wir teilen den gleichen Humor.
Ich lache, hebe entschuldigend beide Hände in die Höhe.
»Sorry, ich bin Psychologin und arbeite hier an einem Promotionsthema. Kaffee kochen gehört nicht zu meinen Aufgaben«, sage ich und starre demonstrativ auf den Monitor und bewege die Maus.
Otto verdreht die Augen, kramt einen zerknüllten Geldschein aus seiner vorderen Hosentasche und wirft ihn mir über den Schreibtisch zu.
»Komm schon, Lupe, hol beim Bäcker an der Ecke zwei große Cappuccino, ich kümmere mich um die Altaktenanforderung.«
Er schiebt die Lippen nach vorne.
Das sind die Momente, in denen ich den jungen Otto in dem alten, fast pensionierten Mann entdecke. Wenn das Jungenhafte in ihm durchblitzt, das nicht von dem hartgesottenen Polizistenhabitus übertüncht ist, den er sich über die vielen Dienstjahre hinweg angeeignet hat.
»Okay, aber ich bringe dir nichts Süßes mit«, sage ich und zeige auf seinen Bauch, der sich unter seinem grauen Pullover vorwölbt. Otto hat die typische Figur eines in die Jahre gekommenen Familienvaters, der für Sport keine Zeit fand, dafür aber für ausschweifende Grillabende und Feierabendbiere. Leichtes Doppelkinn, grauer Vollbart, keine Haare aufm Kopf, zumindest nur ein Schatten von Stoppeln wie auf einem Ackerfeld im Winter. Aber er hat schöne blaue Augen, die leicht ins Gräuliche gehen.
»Bis gleich«, ruft Otto und hämmert auf die Tastatur seines Computers ein. »Und trödele nicht.«
»Geht klar.«
Ich stehe auf und ziehe meinen Parka über, der am Garderobenhaken hängt. Nach dem katastrophalen Hitzesommer hätte ich nicht gedacht, dass ich den noch mal anziehen würde. Aber der Jahrhundertsommer ist vorbei. Jetzt wird es Herbst, und ich freue mich auf kühle Morgenluft, die mich mit einem Schlag wach rüttelt, wenn ich morgens auf die Straße trete.
Ich bin im dritten Monat meines Praktikums beim LKA und gehöre zur Truppe der OFA, der Operativen Fallanalyse, hier in Düsseldorf; einer Einheit mit sechs Leuten, die recht frisch ist und von Frank geleitet wird, der täglich Krawatten trägt und deswegen bei mir nur »Krawatte« heißt. So ein Siegertyp mit BOSS-Parfüm und trainiertem Bizeps, der dir mit jeder Faser seines Auftretens ein »Ich will gewinnen« zuruft. Böse Zungen behaupten, ich hätte den Platz nur bekommen, weil mein Vater psychiatrischer Gutachter ist und gute Beziehungen zur Polizei besitzt. Aber egal, jetzt bin ich hier. Für sechs Monate. Und damit basta.
Eine halbe Stunde später sitzen wir an unseren Schreibtischen und schlürfen Cappuccino. Die Altakten sind bestellt und kommen gleich aus dem Archiv.
»Wie war’s denn bei der Psychotante heute Morgen?«, fragt Otto.
»Bei Sabine? Okay.«
Otto sieht mich ernst an. »Erzähl ihr nicht so viel von dir. Lass dir nicht von den anderen in deinen Kopf sehen. Bewahre dir etwas, was keiner kennt. Eines Tages kann es dich retten.«
Ich stelle den Kaffeebecher ab. »Du meinst, wie deine Geschichte zu der Narbe an deinem Kopf?«
An seiner linken Schläfe hat Otto eine kleine Narbe, sie sieht aus wie ein überfahrener Regenwurm, der im Zickzack aufgeklebt wurde. Er hat mal gesagt, seine Tochter hätte ihm mit einer Spielzeugeisenbahn eins draufgegeben, aber die Geschichte nehme ich ihm nicht ab. Gelogen.
»Ja, zum Beispiel«, antwortet Otto und sieht demonstrativ in seinen Monitor.
Vermintes Gelände, da wechsele ich besser das Thema.
»Otto, du weißt, dass ich in der Forensischen Klinik gearbeitet habe«, fahre ich fort. »Wenn du täglich mit Straftätern zu tun hast, lernst du, zuzumachen und nichts von deinem Inneren preiszugeben. Sie wollen, dass du die Jalousie ein kleines Stückchen offen lässt. Aber das bekommen sie nicht.«
Otto nickt wissentlich. »Das ist gut, bewahre dir das«, sagt er nachdenklich, und es klingt wie ein väterlicher Rat.
Ottos Jalousie ist geschlossen. Absolut blickdicht.
Es klopft an der Tür, und ein Kollege bringt uns eine ziegelsteindicke, blassblaue Mappe. Otto quittiert den Erhalt, und wir sehen beide ehrfürchtig darauf.
Ein leichtes Prickeln überkommt mich. Eine nervöse Vorfreude gemischt mit einem springenden Glück. Wie wenn du hungrig im Restaurant sitzt und der Kellner endlich das bestellte Essen serviert und bei dir sofort der Speichelfluss einsetzt.
»Machen wir uns an die Arbeit«, sagt Otto.
Er reibt sich die Hände, zieht das Gummiband mit einem Schnalzen ab und klappt den Deckel auf.
Fabian Küster verschwand am frühen Morgen des 12. April 1993. Ein Montag. Die Eltern schliefen im Erdgeschoss. Die Zimmer der beiden Kinder, Fabian und seine vier Jahre ältere Schwester Annika, waren im ersten Stock, wo sie sich ein Badezimmer teilten. Annika studierte bereits und wohnte nicht mehr zu Hause, war in der Nacht somit nicht da. Die Mutter sagte, sie hörte die Dusche oben rauschen. Sie selbst war unten in der Küche und setzte Kaffee auf. Um 5:45 hörte sie, wie der Sohn die Treppe runterkam. Sie konnte sich an die Uhrzeit so genau erinnern, weil sie auf die Digitalanzeige der Küchenuhr sah. Gabriele Küster rief nach ihrem Sohn, fragte, ob er Kaffee wolle, aber er antwortete nicht. Nur ein Schatten huschte an der Küche vorbei. Dann ging die Haustür, und seitdem wurde er nicht mehr gesehen.
Gabriele hat bei der Polizei ausgesagt, dass sie Zweifel habe, ob die Person tatsächlich ihr Sohn gewesen sei. Sie habe ihn ja nicht gesehen.
Im Protokoll steht:
»Ich weiß es nicht. Aber die Art, wie die Person die Treppe runterkam, das waren nicht die Schritte von Fabian.«
Wer war es dann? Wurde der Junge verschleppt?
Es gab keine Einbruchspuren am Haus. Die Spurensicherung fand nichts Brauchbares, aber die Vermutung, es sei jemand anderes gewesen, blieb bestehen. Wer tatsächlich die Treppe heruntergekommen war, konnte nie geklärt werden.
Auf Nachfrage der Polizei gab es keinen Streit oder besondere Vorkommnisse in der Familie, die zu dem Verschwinden hätten führen können. Auch seinen engen Schulfreunden und seinem besten Freund Mark blieb es ein Rätsel. Zwei Tage zuvor war Fabian mit Mark abends noch ausgegangen. Feiern.
Anschließend verlor sich jegliche Spur.
Die Küsters konnten der Polizei glaubhaft machen, dass dieses Verschwinden gänzlich ungewöhnlich war. Kurz darauf begann die Suche nach dem vermissten Fabian. Passagierlisten von Flugzeugen und Schiffspassagen wurden durchforstet. Sein Auto, ein weißes Golf-Cabrio, wurde nie gefunden.
Aber jetzt kommt das Interessante.
Drei Tage vor dem Verschwinden hat Fabian sein Bankkonto leer geräumt. Zwölftausend Mark waren darauf. Die Polizei nahm an, dass der junge Mann unterwegs sei, eine Reise mache, sich amüsiere. Er sei volljährig und könne tun, was er wolle, auch ohne seine Eltern in seine Pläne einweihen zu müssen. Nicht mal eine Woche später stellte die Kölner Polizei die Ermittlungen ein. Der Grund: Ein Briefumschlag lag am Samstag, fünf Tage nach seinem Verschwinden, am 17. April 1993, im Briefkasten der Familie Küster. Ohne Briefmarke, ohne Adressierung. Darin: ein einmal zusammengefaltetes Blatt Papier. Format A5. Der Text war mit Computer geschrieben. Das Schreiben trug kein Datum.
Liebe Eltern,
ich weiß, dass ich eine große Enttäuschung für euch bin. Daher habe ich beschlossen, ab jetzt meinen eigenen Weg zu gehen und mich von euch zu lösen. Bitte sucht nicht nach mir. Danke für alles, was ihr je für mich getan habt, aber nun ist es an der Zeit, dass ich mein Leben selbst in die Hand nehme. Und das geht besser ohne euch.
Euer Fabian
Nur sein Name war handschriftlich geschrieben. Eine typische krakelige Jungenschrift, die nach viel Computerspielen und wenig Schönschreibtraining aussah.
»Das würde Fabian niemals tun, so sang- und klanglos verschwinden. Niemals«, sagte Gabriele Küster in einem protokollierten Gespräch, als die Polizei ihr mitteilte, dass sie die Ermittlungen einstellen würde. Siegfried Küsters Redeanteil in den Protokollen ist deutlich geringer. Von ihm kamen Sätze wie: »Verstehe ich nicht, wo ist er denn hin?«, »Was er sich dabei nur wieder gedacht hat«. Zuletzt sagte der Vater nur: »Wenn er meint, dass er sich so aus der Verantwortung des Lebens stehlen kann, bitte. Dann ist das seine Entscheidung, und wir müssen sie akzeptieren. Suchen Sie nicht weiter nach unserem Sohn.«
Der Fall wurde geschlossen und zu den Akten gelegt.
Ende. Aus. Mickymaus.
Seitdem: kein Lebenszeichen. Keine Leiche. Nichts.
Bis heute.
Otto streicht sich durch den Bart.
»Warum kommt das erste Lebenszeichen nach zehn Jahren zur Beerdigung des Vaters?«
Ich lege den Kopf schief. »Vielleicht traut er sich jetzt wieder? Aber warum ruft er nicht einfach an?«
Otto richtet sich auf. »Warum steht auf dem Trauerkranz: Die Zeit heilt nicht alle Wunden?«
»Welche Wunde ist es denn?«, frage ich und sehe das Blitzen in Ottos Augen.
»Und was ist, wenn er diesen Kranz nicht selbst geschickt hat?«, sagt er. »Sondern sein Mörder? Sein Entführer? Was, wenn Gabrieles Vermutung stimmt und ihr Sohn einem Verbrechen zum Opfer gefallen ist?«
Wir starren uns einen Moment lang an.
»Wir sollten Gabriele Küster einen Besuch abstatten. Soll ich sie anrufen und uns ankündigen?«, frage ich.
Er sieht auf seine Armbanduhr. »Nicht nötig, wir fahren einfach hin. Sie wird auf uns warten.«
»Das heißt, wir rollen den Fall neu auf? Musst du da nicht Frank Bescheid sagen?«, frage ich und deute in Richtung des Büros unseres Chefs.
»Einen Scheiß muss ich«, knurrt Otto und schnappt sich seine Autoschlüssel.
Das Haus der Familie Küster steht in Junkersdorf, einem der besseren Stadtteile von Köln, wo Vorgartenhecken akkurat geschnitten sind, kein Müll auf der Straße rumliegt und in den Auffahrten glänzende Sportwagen parken. Wo kein Unkraut zwischen Gehwegplatten hervorwuchert, der Rasen regelmäßig gemäht wird und sich blickdichte Gardinen wie von Geisterhand bewegen, wenn man die Autotür fester zuwirft. Wo niemand auf der Straße ziellos rumläuft, die makellos getünchten Hauswände im Sonnenlicht strahlen, die riesigen Fensterscheiben schlierenlos geputzt sind und die gerafften Vorhänge Eleganz und Trägheit zugleich verströmen. Und wo Türklingeln ertönen, die wie ein gut komponiertes Klangexperiment klingen.
Fassade. Das ganze Leben nichts als Fassade.
»Ich wusste, dass wir uns wiedersehen«, sagt Gabriele Küster, als sie uns öffnet. »Bitte kommen Sie rein.«
Sie zieht die Tür weiter auf und ruft: »Annika!«
Im Flur erscheint Fabians Schwester. Eine schmale Frau mit dunkelblondem Pagenkopf. Strenge Erscheinung. Schwarzer Rock, weiße Bluse und schwarzer dünner Cardigan. Wenn ich fies wäre, würde ich sagen, das Outfit schwankt zwischen Chefsekretärin und Anwältin. Sie zupft an ihren Haaren. Steht neben ihrer Mutter und ist einen Kopf größer, aber immer noch kleiner als ich.
Mit meinen eins siebenundsiebzig überrage ich sie locker. Ich schüttele ihre sehnige Hand.
Gabriele und Annika führen uns in das Esszimmer. Typischer Neunzigerjahre-Chic. Metallene Freischwinger mit schwarzem Leder und ein großer Glastisch.
»Möchten Sie einen Kaffee?«, fragt Gabriele freundlich.
»Sehr gern, danke«, sagt Otto.
»Ich mach das Mama, bleib du sitzen«, sagt Annika und geht aus dem Raum.
Otto sieht mich auffordernd an und reißt kurz die Augen auf.
Okay, ich hab’s kapiert.
»Ich komme mit«, rufe ich Annika hinterher und folge ihr.
Höre noch, wie Otto das Gespräch mit Gabriele beginnt.
»Wir würden Ihnen gern noch ein paar Fragen stellen zu dem Grabkranz, macht Ihnen doch nichts aus, wenn ich das aufzeichne, oder?«
»Gewiss nicht«, antwortet Gabriele im Nebenzimmer.
Annika steht am Spülstein und lässt Wasser in die Kaffeekanne laufen. Die Küche ist in die Jahre gekommen, war aber mal todschick. Wenn die Familie mit der Küchenfabrik keine anständige Küche hat, weiß ich auch nicht.
Ich lehne mich mit der Schulter an den Türrahmen.
»Wie war Ihr Bruder Fabian denn so?«, frage ich.
Annika hält die Glaskanne weiter unten den Wasserstrahl und reagiert nicht sofort, drei Sekunden verstreichen, dann sieht sie über die Schulter zu mir.
»Sorry, wenn ich Sie so überfalle«, schiebe ich hinterher. »Ich bin nicht so gut mit Einleitungen und komme gern direkt zum Punkt.«
Im Hintergrund höre ich, wie Otto mit Sina telefoniert.
Annika dreht den Wasserhahn ab. »Schon okay, schließlich müssen Sie die Frage ja stellen.« Sie vollführt eine Drehung und gießt konzentriert das Wasser in die Kammer der Kaffeemaschine.
»Mein Bruder ist vier Jahre jünger. Wir hatten ehrlich gesagt nicht sehr viel gemeinsam. Wir waren Geschwister, aber so grundverschieden, dass wir wenig miteinander anfangen konnten. Manchmal witzelten wir und sagten, er und ich seien von unterschiedlichen Eltern, und wir knobelten, wer von uns beiden wohl das Findelkind sei. Das war natürlich Humbug. Als mein Bruder verschwand, wohnte ich nicht mehr hier, hatte damals einen festen Freund und studierte bereits Medizin. War also kaum noch zu Hause. Ich bin Augenärztin geworden. Aber ich komme vom Thema ab.«
Annika dreht sich zu mir um und lehnt sich gegen die Arbeitsplatte.
»Was meinen Sie, was Ihrem Bruder damals passiert ist?«, frage ich.
»Als mein Bruder verschwand, dachte ich erst, der ist entführt worden. Meine Eltern sind vermögend und hätten sicherlich jede Lösegeldforderung bezahlt. Meine Mutter hoffte insgeheim, dass es so wäre. Aber Entführer melden sich normalerweise schnell und lassen einen nicht lange zappeln. Kurzum, der Anruf kam nie.« Sie sieht mir direkt in die Augen.
»Dachten Sie dann, dass er Opfer eines Verbrechens geworden sei?«, frage ich. Annika öffnet eine Schranktür, holt eine Dose hervor und befüllt den hellbraunen Filter mit Kaffeemehl.
»Ehrlich gesagt, ja. Ich hatte oft den Eindruck, er hing mit den falschen Leuten herum. Vielleicht spielte er, ich hab keine Ahnung, aber es würde zu ihm passen. Ja, doch. Mein Bruder war das Gegenteil von mir. Schlecht in der Schule, feierte gern mit seinen Freunden.«
Sie schaltet die Maschine ein, verschränkt die Arme vor der Brust und fährt fort.
»Ich dachte gleich, ihm sei etwas zugestoßen, aber ich war mir auch sicher, dass die ihn finden würden. Ich meine, seinen Leichnam.«
Sie schluckt einmal laut.
»Ich habe zu meiner Mutter gesagt, die Polizei wird bald anrufen und dir sagen, dass sie ihn gefunden haben. Und dann musst du sehr stark sein. Bei jedem Telefonklingeln zuckten wir zusammen, und wenn die Polizei dran war, hielten wir den Atem an und dachten: Jetzt kommt die Nachricht. Jetzt sagen sie den Satz zu uns, wie in einem schlechten Film. Aber dieser Satz fiel nie. Bis heute nicht. Es bleibt wie ein dunkler Schatten, wie ein Staubfilm, der auf allem liegt.«
»Sind Sie sauer auf Ihren Bruder?«, frage ich.
Sie schiebt den Unterkiefer nach vorne, während die Kaffeemaschine orgelt.
»Ja, schon. Er hat immer die ganze Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Als mein erstes Kind geboren wurde, sagte meine Mutter zu dem Baby auf meinem Arm: Schade, dass du deinen Onkel nicht kennenlernen wirst. Wie trinken Sie Ihren Kaffee?«
Kalt wie ’ne Hundeschnauze.
»Für mich keinen Kaffee«, antworte ich. »Ein Glas Leitungswasser würde mir vollkommen genügen.«
Ich gehe zurück ins Esszimmer. Otto bringt mich kurz auf den neuesten Stand. Die Rückfrage über Sina bei dem spanischen Floristen in Marbella ergab, dass der Kranz mit der ominösen Botschaft telefonisch von Deutschland aus bestellt wurde. Die Nummer hatte sich der Florist nicht notiert. Die Überweisung erfolgte per Western Union von einem Martin Stockmann in einer Filiale am Hauptbahnhof in Dortmund. Der, so erinnert sich Gabriele, war ein Klassenkamerad von Fabian. Otto gibt die Daten telefonisch an unsere Kollegin Sina weiter, unsere Datenspezialistin beim LKA.
»Wir werden Herrn Stockmann ausfindig machen und befragen«, erklärt Otto.
Annika kommt mit einem Tablett herein und serviert Kaffee. Stellt ein kleines Sahnekännchen und eine Zuckerdose aus Silber dazu. Tassen klappern. Silberlöffel schlagen gegen Porzellan. Kaffeeduft.
»Meine Kollegin Lupe Svensson würde Ihnen gern noch ein paar Fragen stellen«, sagt Otto.
Ich setze ein freundliches Therapeutengesicht auf. »Ich möchte mir ein Bild von Ihrem verschwundenen Sohn machen.«
»Bitte.«
»Mich interessiert seine Persönlichkeit. Wie war Ihr Sohn? Was war seine herausragende Charaktereigenschaft?«
»Ich möchte nicht, dass Sie in der Vergangenheitsform über ihn sprechen«, sagt Gabriele mit fester Stimme und berührt mit den Fingerspitzen ihren Hals.
»Verzeihung, natürlich. Wie ist Ihr Sohn damals gewesen? Beschreiben Sie ihn mir bitte.«
Sie nippt am Kaffee, faltet die Hände zusammen.
»Er ist offen. Verspielt. Als Kind ist er neugierig gewesen. Große, wache Augen. Sehr aufmerksam, er sah sich alles genau an, beobachtete auf dem Spielplatz andere Kinder, stand still da und schaute zu, wie sie spielten. War in seiner Welt versunken. Er war trotz der Neugierde zugleich scheu. Laute Stimmen oder Lärm erschreckten ihn. Später hat sich das gegeben. Aber er beobachtet gern seine Umwelt.«
Sie seufzt einmal.
»Hat sich etwas geändert, als er in die Pubertät kam?«
Gabriele sieht kurz zu Annika, die mit regungsloser Miene das Gespräch verfolgt.
»Es kam zu Reibereien, die typischen Stimmungsschwankungen, er wurde manchmal laut, knallte Türen, wenn er sich ungerecht behandelt fühlte.«
»Gab es zu Hause Streit?«
»Gott ja, das Übliche«, sagt Gabriele und zuckt mit den Schultern.
»Na, manchmal haben wir schon heftig gestritten«, ergänzt Annika.
»Worum ging es dabei?«, frage ich.
»Um den Gameboy, oder dass Annika ihn nicht in ihr Zimmer gelassen hat, wenn sie Besuch von Freundinnen hatte. Dann klopfte er an die Tür und …«
Annika unterbricht sie. »Er klopfte nicht, er hämmerte an die Tür, er schrie und tobte, weil er es nicht aushalten konnte, dass ich Freundinnen zu Besuch hatte.«
Gabriele reibt ihre Handflächen aneinander. »Aber das kam letzten Endes selten vor. Fabian bekam ja alles, was er brauchte. Es mangelte ihm an nichts.«
»Was meinen Sie damit? Was bekam er denn?«