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Inhaltsübersicht

Impressum

Dieses E-Book ist der unveränderte digitale Reprint einer älteren Ausgabe.

 

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg

Copyright für diese Ausgabe © 2017 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

 

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages

Umschlaggestaltung Anzinger | Wüschner | Rasp, München

 

 

Impressum der zugrundeliegenden gedruckten Ausgabe:

 

 

ISBN Printausgabe 978-3-499-22578-9

ISBN E-Book 978-3-688-10801-5

www.rowohlt.de

ISBN 978-3-688-10801-5

Fußnoten

Das Zeichen «c markiert den Beginn der Musik, das Zeichen » deren Ende.

Fragen, Versuch einer Antwort

Was bedeutet Theater für dich?

Ich weiß es nicht. Etwas Dunkles. Wie das nachmittägliche Aufwachen in der Kindheit. Heißes Dunkel. Und Stille. Auch wenn geredet wird, herrscht Stille. Die Bühnenbretter knarren, die Kleider rascheln, ein Aufschrei, zwei Schwerter stoßen klirrend aneinander, oder zwei Kelche, Brüllen, Seufzen – diese Geräusche sind sehr wichtig. Dunkel und Stille, Wärme und Licht, Geräusche. Und Atmen. Auch das Atmen ist sehr wichtig. Theater bedeutet für mich: Ich sitze in einer atmenden, dunklen Hülle, und im fernen Lichtschein, unter einer riesigen weißen Säule drückt Anna Tökés ihre Hand zuerst an die Brust, dann an den Hals, ihr steifer Körper kippt, wie ein gefällter Baum, nach vorn, sie sagt auch etwas, viel sogar, doch das Ganze besagt lediglich, daß sie jemanden sehr liebt, der sie nicht liebt, weil er eine andere liebt, und der darum wegging und Anna Tökés unter jener Säule zurückließ, und nun beginne auch ich zu atmen wie sie. Ich keuche, obwohl ich mich beherrsche. Das tun auch die andern, die ebenfalls beherrscht sind. Wir keuchen gemeinsam. Obwohl jeder nur seine eigene Lunge benutzt. Es wäre gut, zu wissen, was Theater bedeutet: nicht nur für mich, sondern allgemein. Ist es Massenhysterie in festgelegtem Rahmen? Drückt es das Bedürfnis des Menschen aus, daß man sich in seine persönlichsten Angelegenheiten einmischt, in sein Atmen? Ist es Zusammenatmen, doch ein freiwilliges? Rituelle Unordnung? Konsens der Gefühle, Ordnung? Das eine wie das andere, vielleicht. Aber das ist nur eine Annäherung. Kann ich nochmals von vorne beginnen?

 

Bitte. Wir haben Zeit.

Im Theater ist es womöglich erlaubt, über exhibitionistische Dinge zu reden. Wenn ich auf der Straße gehe, wenn ich reise, schaue ich zwanghaft Gesichter an. Und ich möchte auch die dazugehörigen Körper sehen. Möchte Gesicht und Körper all meiner Reisegefährten mustern. Das Wort Reisegefährte ist zwar zufällig über meine Lippen gekommen, ist aber schillernd, man kann gut mit ihm spielen, denn wir alle, die wir uns in den Straßenbahnen drängen oder durch die Straßen hetzen, sind letzten Endes Zeitgenossen beziehungsweise Reisegefährten in dieser Zeit. Und eben das, eben sie möchte ich sehen und fühlen. Mit meinem Blick taste ich ab, wie sie sind, ob sie gut für mich wären. Wenn sie mir gehörten. Ein flüchtiges Erlebnis, denn so viele Menschen können mir nicht gehören, und was ich im Moment der Betrachtung fühle und denke, vergesse ich sowieso. Dennoch kann ich diesen Zwang, zu schauen und zu vergleichen, durch nichts ersetzen. Obwohl es eine unangenehme Gewohnheit ist. Eine unschickliche. Aber seit die großen Rolltreppen der Budapester Metro in Betrieb sind, sehe ich, daß meine unschickliche Neugier massenhaft und instinktiv ist. Die Hinauffahrenden schauen mit unverhohlener Neugier in die Gesichter der Hinunterfahrenden, und umgekehrt. Und man kann auch feststellen, daß sich von unten besser schauen läßt. Das Gesicht wird nicht von Haar und Stirn verschattet. Diese Rolltreppen sind das beste Volkstheater. Wir können ohne unmittelbare Folgen in fremde Leben hineinblicken. Dabei verrät eine einzelne Körpergeste, ein einzelner Gesichtsausdruck Herkunft, Erziehung und Schicksal kruder, als wenn man versuchte, das gleiche mit Worten zu umschreiben. Es gibt keine Ausnahme und keine Ausflucht. Ein kontrolliertes Gesicht verrät sich ebenso wie ein unkontrolliertes. Trotz aller gesellschaftlichen Regeln sind wir nackt voreinander. Und das Theater ist womöglich nichts anderes als die Wahrnehmung und Demonstration dieser Nacktheit. Es dehnt den Moment der Beobachtung, der Empfindung und der Resonanz auf Stunden aus. Auch Marx war der Auffassung, daß wir Akteure in unserem eigenen Drama seien; Shakespeare aber hielt sogar den Sturm für Theater. Sie haben beide recht; das Theater der Menschen ist die Geschichte, das Theater der Elemente der Sturm, zwischen ihnen aber gibt es im Grunde keine Grenzen, weshalb sie sehr gut zusammenpassen. Auf der Bühne. Denn wenn ein jeder Erlebender und Beobachter ist, wenn alles Theater ist und jeder Akteur, dann muß es einen Ort geben, wo ein paar Menschen so tun, als könnten sie Natur und Geschichte erzeugen, einen Ort, wo wir jeden Abend hingehen können, wenn wir wollen, und uns ansehen können, was wir tun und was mit uns getan wird. Wo sie es uns zeigen. Wo sie uns vorspielen, was wir spielen. Darum ist nicht wichtig, daß das Theater gut ist, sondern daß es ist. Doch der Satz ist umkehrbar. Mag die Existenz des Theaters auch ein qualitätsunabhängiges Grundbedürfnis sein: wenn es denn einen Ort geben muß, an den – wie Jouvet sagt – jeden Abend siebenhundert Leute hingehen, ohne daß jemand sie einlädt, ohne bestimmten Grund und Absprache, dann ist schlechtes Theater Verbrechen und Vertrauensbruch, oder noch mal anders: wenn das Theater schlecht ist, so bedeutet dies, daß die Gesellschaft an einer noch zu diagnostizierenden Krankheit leidet, daß sie womöglich schlecht mit ihren Gefühlen umgeht, daß sie blind, taub und stumm ist, obwohl sie Augen, Mund und Ohren hat, daß sie also, wie ein schlechter Schauspieler, sich nur verstellt. Sie verstellt und verbirgt sich, sie verstummt, sie spielt Theater. Und das kann sehr irreführend sein. Fast glauben wir ihr. Denn das Theater ist die Kunst des als ob, des was wäre, wenn, des was wäre gewesen, wenn. Als wäre ich selbst die von ihrem Liebhaber verlassene Anna Tökés. Was wäre, wenn ich sie verlassen hätte? Was wäre gewesen, wenn ich als Königin, als Maria Lebjadkina, als Meuchelmörder, als Graf Bóni, als Artur oder Edek geboren worden wäre? Das ist keine Heuchelei! Ohne die infantilen Spiele von Vorstellung und Vergleich gibt es keine gesunde Gesellschaft. Natürlich ist auch das nur eine Annäherung.

 

All das gilt auch für die übrigen Künste, etwa für die Literatur.

Ja, aber nicht so! Einmal saß ich bei einem Konzert in der ersten Reihe. Igor Oistrach spielte die große Nummer der Musikvirtuosen, Mendelssohns Violinkonzert in e-Moll. Die Solo-Geige setzt schon im zweiten Takt ein und dominiert das ganze achtundzwanzigminütige Stück. Oistrach ist dicklich. Zuerst begann sein – vollkommen kontrolliertes – Gesicht zu glänzen, dann fielen Schweißtropfen von seiner Stirn. Fielen in seine Augen. Rannen den Nasenrücken hinab, auf sein Kinn und von dort schließlich auf die Geige. Unter den Saiten rann der Schweiß auf sein Handgelenk und tropfte auf den Boden. Ich mußte den Blick abwenden. Es war interessant, doch hatte diese Kraftanstrengung nichts mit der Musik zu tun, die Oistrach spielte. Überhaupt mit keiner Musik. Eine Privatsache, die zu beobachten ich nicht das Recht hatte, und kein Spiel. Was er mir sagen wollte, teilte er mit der Musik, nicht mit seinem Gesicht, mit seinem Körper mit. Und genauso verhält es sich, wenn ich einen Kunstgegenstand betrachte oder ein Buch lese. Mich interessiert nicht, ob der Maler zwischen zwei Pinselstrichen schlief oder Liebe machte, es geht mich nichts an, ob der Schriftsteller zwischen zwei Sätzen seines Dramas über Magenschmerzen klagte oder gähnte. Das sind private Dinge, man muß sie alleine tun, auch die Reaktion auf sie ist entsprechend. Das Theater jedoch kalkuliert nicht nur die körperlichen Gegebenheiten und intimen Fähigkeiten des Schauspielers ein, der seine Rolle spielt, es rechnet auch damit, daß die Manifestation dieser Gegebenheiten und Fähigkeiten von mehreren hundert verschiedenen, doch auf Intimität bedachten, in diese schwarze Hülle gesperrten Menschen wahrgenommen wird. Das Theater ist die einzige wirkliche Gemeinschaftskunst. Die Kunst rituellen Zusammenatmens. Wenn dieses Zusammenatmen nie gelingt, muß man vielleicht überlegen, wieso die Gesellschaft sich nicht stark und gesund genug fühlt, um ihre eigenen Lächerlichkeiten und Schrecken sichtbar zu machen oder sichtbar machen zu lassen. Und wenn sie es nicht tut beziehungsweise nicht zuläßt, wenn die Spielregeln falsch sind, dann ist es nur natürlich, daß sich das Theater lieber taub, blind und stumm stellt – daß es zu seiner Selbsterhaltung Theater spielt. Ich bin fast sicher, daß in einer geistigen Atmosphäre, in der es zur Selbstverständlichkeit gehört, jede Ecke und Kante abzuschleifen, gesunde und ungesunde Extreme abzuschwächen, ja abzuwürgen, gutes Theater nicht gedeihen kann. Vielleicht kann man Gedichte und Romane schreiben oder Bilder malen. Wenn sie gut sind, halten sie stand. Wenn nicht, macht es auch nichts. Doch auf der Bühne kann man nicht mit seichten kleinen Seelenscharmützeln ein Drama ersetzen. Siebenhundert Leute würden da einschlafen. Auch kann man das Theater nicht auf morgen vertagen, denn es wird heute gebraucht. Ebensowenig kann sich das Theater auf die Umstände stützen, denn wir wissen, daß es in seiner Macht steht, akademische und an Selbstverkrampfung leidende Epochen zu sprengen. Es steht in seiner Macht, gegen das zu rebellieren, womit man es erwürgen wollte. In solchen Momenten fallen die Zuschauer ohnmächtig vom Stuhl, werden handgreiflich oder schluchzen in gegenseitiger Umarmung.

 

Vorhin hast du Maria Lebjadkina, Graf Bóni, Artur und Edek erwähnt. Warum gerade sie?

Graf Bóni bezieht sich eher auf die Operette und hat mit einem Kindheitserlebnis von mir zu tun, das gewöhnlich und trivial war, es geschah eine richtige Tragödie, wie sie nur einmal vorkommt; ich saß auf der Veranda, draußen blies der Wind, und obwohl mein Vater sagte, ich dürfe das Radio jetzt nicht einschalten, tat ich es doch; es kam eine Operettenarie, und ich fing zu heulen an, und von da an heulte ich immer. Denkt man einmal genau über diese Fähigkeit zur Empathie nach, über dieses Gefühl, das den Tod mit einer Operette verknüpft, und läßt man sich später durch den eigenen Snobismus nicht beirren, so kann man auch dank Graf Bóni verstehen, was es zu verstehen gibt, selbst wenn man ihn nicht mag. An Maria Lebjadkina dachte ich wegen der Inszenierung der Dämonen in Kaposvár, denn hier fühlte ich mich zum ersten Mal seit Jahren in einem echten Theater, abgesehen von jenen zwei Aufführungen, die meines Erachtens einzigartig waren und zweifellos so lange richtungweisend bleiben werden, bis ich wieder etwas Vergleichbares sehe: Tango im Warschauer Teatr Wspólczesny, im Frühjahr neunzehnhundertachtundsechzig, darauf beziehen sich die Namen Artur und Edek, nämlich auf jenen Augenblick, als schon der honigsüße Tango erklingt und Onkel Eugeniusz in Edeks Armen über Arturs Leichnam hinwegtanzt, der honigsüße Tango dröhnt noch in der Garderobe, dröhnt bis auf die Straße, endlos; der Meuchelmörder aber bezieht sich auf Manfred Wekwerths Inszenierung von Richard III. im Berliner Deutschen Theater, wo Sieger Richmond im letzten Moment eben jene Ordnung übernimmt, die sein Vorgänger hinterlassen hatte, er wird sie ebenso fortführen, weshalb das entsetzte Publikum nicht einmal applaudieren mochte, denn schließlich beklatscht man nicht gern seine eigene Angst, Unsicherheit und Schmach.

Hausputz

Komödie ohne Pause

Personen

KLÁRA

zweiundsechzig Jahre alt

ZSUZSA

zweiunddreißig Jahre alt

JÓSKA

zwanzig Jahre alt

ANDRÁS

zwanzig Jahre alt

 

Commedia perpetua – vielleicht vermag diese Gattungsbezeichnung zu verdeutlichen, wie der Stil einer künftigen Aufführung beschaffen sein sollte.

Es geht nicht nur darum, daß das Spiel durch keine Pause unterbrochen wird, sondern daß in dieser Komödie der Text ausgesprochen musikalisch organisiert ist.

Die Sätze haben einen eigenständigen Rhythmus und bilden eine Grundeinheit, wie in der Musik die Töne und Tonreihen. Dieser Rhythmus wird nicht nur durch den prosaischen Inhalt oder Sinn der Sätze geprägt, sondern auch durch den Stellenwert des Satzes, bzw. der Sätze, in einer größeren Einheit. Das Stück orientiert sich in gewisser Weise an der Oper, es besteht aus Arien, Duetten und Terzetten. Das Wechselspiel dieser größeren Einheiten ergibt die Struktur des Stücks. Letztlich könnte man sogar die Stimmlage der Personen angeben. Klára spricht im Mezzosopran, Zsuzsa im Alt, Jóska im Tenor. Den einzigen wirklich prosaischen Satz sagt András.

Die Art der Aufführung ließe sich mit einem musikalischen Ausdruck charakterisieren: con amore, das heißt, gespielt wird mit einer liebevollen Innigkeit, die nie klar entscheiden läßt, ob ein ausgesprochenes Wort nicht ein verschwiegener Gedanke ist.

Auf der offenen Bühne ein völlig leeres Zimmer. Ein tiefer, hoher, weiter Raum. Alles ist echt, auch was vorläufig noch nicht zu sehen ist. Weil der Hausputz bevorsteht, sind an den Wänden nur Nägel übriggeblieben und die hellen Stellen von Möbeln, Teppichen, Bildern und Bildchen und dem großen Wandspiegel; weiße Flecken auf den verschmutzten Wänden; doch die Nägel sind echt, echt auch der Schmutz, die echten Gegenstände haben hier ihre Spuren hinterlassen, und am Schluß des Stücks werden sie wieder an ihren richtigen Platz gerückt.

Die Farbe der Wände war ursprünglich weiß. Ein vergoldeter Lüster hängt von der Decke.

Etwas zurückgesetzt, parallel zur Rampe, läuft auf halber Höhe quer über die Bühne eine Vorhangstange. Sie ist aus Messing, oxydiert. In den letzten Augenblicken des Spiels wird hier jener riesige, luftige Musselinvorhang angebracht, der dann zugezogen wird, damit sich dahinter in vollem Pomp der keusche Schluß entfaltet und das Spiel zu Ende geht.

In der Wand, in der Bühnenmitte, frontal zum Publikum, eine halboffene Flügeltür, eine Glastür, wie sie in jedem anständigen bürgerlichen Drama vorkommt; dahinter die Halle, in der Halle ist die ganze Zimmereinrichtung zusammengedrängt, so daß zwischen den aufeinandergestapelten Möbeln und Gegenständen nur ein schmaler Weg bleibt.

Es gibt nur Biedermeiermöbel; der Bücherschrank, die Kommode, das Kanapee, der Fauteuil, das Tischchen und der Spiegel sind ausschließlich Biedermeier, nur die unzähligen Nippsachen können aus anderen Epochen stammen, sagen wir von Empire bis Jugendstil; neuere Gegenstände gibt es nicht – außer jenem bräunlichen, genau lebensgroßen Amateurfoto, das einen hübschen jungen Mann im Badekleid zeigt, wie er aus dem Fluß steigt.

Dieses auf Pappe aufgezogene und gerahmte Foto ist noch nicht entfernt worden, es hängt neben der Tür zur Halle; doch wenn es abgehängt und hinausgetragen wird, muß auf der Wand ein schmerzlich weißer Fleck zurückbleiben.

Am Ende des Wegs durch die Halle gibt es eine weitere offenstehende Tür: man sieht ins Vorzimmer; von dort aus geht es zur Küche und ins Badezimmer, und von dort werden alle für den Hausputz erforderlichen Dinge hereingebracht.

Das Zimmer im Vordergrund ist sanft erhellt, man könnte sagen, leicht dämmerig. In der Halle herrscht Halbdunkel, aber im Vorzimmer darf, damit die Perspektive der Wohnung optimal zur Geltung kommt, ein härteres Licht herrschen. Die Quantität und Qualität des Lichts verändert sich im Laufe des Spiels nicht, denn obwohl alles echt ist, vergeht keine Zeit; oder gerade weil alles echt erscheint, vergeht keine Zeit.

In der linken Wand des Zimmers ist eine weitere Tür, kleiner, auch sie steht offen.