Andreas Schlüter
Survival
Von Haien umzingelt
Band 7
Mit Vignetten von Stefanie Kampmann
FISCHER E-Books
Bevor Andreas Schlüter, geboren 1958, mit dem Schreiben von Kinder- und Jugendbüchern begann, leitete er Kinder- und Jugendgruppen und arbeitete als Journalist und Redakteur. 1994 feierte er mit dem Kinderroman »Level 4 – Die Stadt der Kinder« einen fulminanten Erfolg und ist seitdem als Autor tätig. Andreas Schlüter verfasst zudem Drehbücher, unter anderem für den »Tatort«. Schon als Junge liebte er Abenteuerromane, in denen man die wildesten Sachen erleben kann, ohne nasse Füße oder Kratzer zu bekommen.
Stefani Kampmann, geboren 1971, zeichnete schon als Kind gerne und überall. Während ihres Studiums der Innenarchitektur nahm sie zahlreiche Aufträge als Illustratorin an und verfolgte diesen Weg danach weiter. Sie bebilderte zahlreiche Kinder- und Jugendbücher und veröffentlichte zwei Graphic Novels. Außerdem gibt sie Comic-Workshops für Jugendliche. In ferne Länder ist sie schon einige Male gereist, zum Glück musste sie dort aber (fast) nie ums Überleben kämpfen.
Weitere Informationen zum Kinder- und Jugendbuchprogramm der S. Fischer Verlage finden Sie unter www.fischerverlage.de
Survival auf hoher See-Action und atemberaubend Spannung!
Schwimmen, tauchen und Spaß haben - das ist der Plan, als Mike, Elly, Gabriel und Matti zusammen mit anderen Jugendlichen auf einer Yacht anheuern. Ihr Ziel ist Französisch-Guyana und das Amazonasgebiet. Doch dann passiert etwas Schreckliches: Die Yacht wird von Piraten überfallen, die die anderen Jugendlichen und den Kapitän entführen. Die vier Freunde bleiben auf der manovrierunfähigen Yacht zurück, alleine und mitten im Atlantik. Wie sollen sie jemals wieder an Land kommen? Umzingelt von hungrigen Haien und giftigen Quallen entwickeln die Freunde einen riskanten Rettungsplan …
Moderne Piraten, Haie und schreckliche Seestürme: Ein weiteres actionreiches Survival-Abenteuer, diesmal auf hoher See!
Mit vielen coolen Survival-Tipps und -Tricks!
Alle Bände der Survival-Serie bei Fischer KJB:
Band 1: Survival – Verloren am Amazonas
Band 2: Survival – Der Schatten des Jaguars
Band 3: Survival – Im Auge des Alligators
Band 4: Survival – Unter Piranhas
Band 5: Survival – Im Netz der Spinne
Band 6: Survival – Der Schrei des Affen
Band 7: Survival – Von Haien umzingelt
Erschienen bei FISCHER E-Books
© 2020, Fischer Kinder- und Jugendbuch Verlag GmbH, Hedderichstrasse 144, D - 60385 Frankfurt am Main
Covergestaltung: Atelier Maria Seidel
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-7336-0350-2
Sechs Monate war es jetzt her, dass Mike und Elly, Matti und Gabriel aus dem peruanischen Dschungel gerettet worden waren und zum zweiten Mal nach Hause zurückgefunden hatten.
Damit war erstmals, seit Mike und Elly mit ihren Eltern von Deutschland nach Manaus in Brasilien gezogen waren, zu Hause Ruhe eingekehrt. Im vergangenen halben Jahr hatte die ganze Familie sich nach der turbulenten Zeit endlich einleben können. Mike und Elly hatten ihre Zimmer eingerichtet, ihre Eltern sich um das neue Haus und vor allem den Garten gekümmert.
Nicht nur bei Mike hatte es einige Wochen gedauert, ehe er in der Lage war, morgens aufzuwachen, ohne sich sofort nach irgendwelchen Gefahren umzusehen, die Lage zu peilen, nachzuschauen, ob sich während der Nacht irgendetwas zu ihren Ungunsten verändert hatte oder eine böse Überraschung passiert war. Seiner Schwester Elly und seinen Freunden Gabriel und Matti war es wochenlang ähnlich ergangen.
Inzwischen hatte Mike sich daran gewöhnt, dass nichts Außergewöhnliches mehr passierte, er gefahrlos von seinem Zimmer in die Küche gehen und sich eine Schüssel Cornflakes einschütten konnte, um anschließend gemeinsam mit seiner Schwester sowie Matti und Gabriel, die im Nachbarhaus wohnten, mit dem Fahrrad zur Schule zu fahren. In den vergangenen sechs Monaten hatten Mike und Elly gelernt, einigermaßen passabel portugiesisch zu sprechen, und sich in ihre jeweiligen Schulklassen gut integriert. Sehr geholfen hatte ihnen dabei nicht nur, dass sowohl Mike und Matti als auch Elly und Gabriel jeweils in dieselbe Klasse gingen, sondern vor allem auch, dass sie eine Menge spannende Erlebnisse aus ihrer Zeit im Dschungel erzählen konnten. Natürlich hatte die örtliche Presse viel über das zweimalige Verschwinden und Wiederauftauchen der Kinder berichtet, sodass die vier in der Schule schon fast einen gewissen Promi-Status innehatten und sogar einige Vortragsveranstaltungen in der Schulaula absolvierten.
Jetzt standen die Sommerferien bevor und damit die erste große Reise seit ihrer letzten Rückkehr.
Obwohl die vier trotz aller Gefahren, die sie überlebt hatten, ganz und gar nicht abgeneigt gewesen wären, wieder zurück in den Dschungel zu gehen – am liebsten natürlich zu dem kleinen indigenen Volk, bei dem sie eine ganze Zeit lang gelebt hatten –, war dieses Mal etwas völlig anderes geplant, nämlich ein reiner Urlaub. Auf einer großen, komfortablen Motorjacht!
Die Reise wurde privat über den Chef der Baustelle organisiert, auf der Mikes und Ellys Vater sowie Mattis und Gabriels Mutter arbeiteten. Eine vierzehntägige, erholsame Schifffahrt mit insgesamt nur acht Jugendlichen, betreut von vier Erwachsenen: dem Baustellenchef und Besitzer der Jacht, Felipe Ferreira, der gleichzeitig auch der Kapitän war, dem Koch Théo sowie zwei weiteren, angeheuerten Besatzungsmitgliedern: Roberto und Enzo.
Vierzehn Tage Erholung: schwimmen, tauchen, Spaß haben. So lautete der Plan.
Mike pulte seine neue Taucherbrille aus der Verpackung und legte sie zu seiner Kleidung, die er zum Einpacken fein säuberlich auf seinem Bett sortiert hatte: Schwimmzeug, Shorts, Shirts, lange Hosen.
Er überlegte und rief schließlich nach seiner Schwester. Er musste mehrfach rufen, ehe Elly ihn in ihrem Zimmer nebenan hörte. Seine Tür öffnete sich und Elly kam mit Flossen an den Füßen, Taucherbrille auf dem Kopf und Schnorchel im Mund zu ihm ins Zimmer gewatschelt. In der Hand hielt sie ihr Smartphone, frisch verpackt in einer neuen wasserdichten Handyhülle für Unterwasseraufnahmen.
Mike musste lachen. »Da fehlt nur noch die Harpune!«
Elly spuckte das Mundstück des Schnorchels aus.
»Harpune?«, fragte sie entsetzt. »Spinnst du? Ich will doch keine Fische töten, sondern sie fotografieren!«
»Na ja«, erwiderte Mike. »Aber wenn man welche fangen will, um sie zu grillen, ist das effektiver als zu angeln.«
Elly verzog das Gesicht: »Ich denke nicht, dass wir uns unser Essen für den Grill selbst fangen müssen. Die Zeiten haben wir zum Glück hinter uns. Auf der Jacht müssen wir nur den Kühlschrank öffnen! Und Fischstäbchen rausholen!«
Erneut lachte Mike. »Ich weiß zwar nicht, ob in Fischstäbchen überhaupt noch Fisch enthalten ist, aber ich mag die auch gern! Haben wir welche dabei?«
»Keine Ahnung«, gab Elly zu. »Ich weiß nicht mal, ob es die hier in Manaus überhaupt zu kaufen gibt. Hab ich noch nie drauf geachtet.«
»Sag mal«, begann Mike auf das eigentliche Thema zu kommen, weshalb er seine Schwester überhaupt gerufen hatte. »Wie sind denn eigentlich die Temperaturen in Cayenne in Französisch-Guyana?«
»Na, nicht viel anders als bei uns: das ganze Jahr über im Schnitt 31 Grad tagsüber, 22 Grad nachts, Wassertemperatur 27 Grad«, referierte Elly.
Mike betrachtete seine warme Trainingsjacke, die er aus Deutschland mitgebracht, hier in Brasilien aber noch nie angehabt hatte. Bei 22 Grad Tiefsttemperaturen benötigte er sie nicht. Allerdings: »Wir sind ja draußen auf dem Meer. Ob es da nachts kühler ist? Soll ich diese Jacke mitnehmen oder diesen Hoodie?«
Elly: »Ja, warum nicht.«
Sie wollte gerade wieder aus dem Zimmer ihres Bruders herauswatscheln, da fiel ihr Blick auf Mikes Überlebensgürtel, der neben seinem noch leeren Rucksack lag.
»Nimmst du ihn mit?«, fragte sie.
»Nach unseren letzten beiden Abenteuern werde ich den auf jede Reise mitnehmen. Das schwöre ich dir. Den würde ich sogar nach Disneyland mitnehmen!«, antwortete Mike ernsthaft.
Jetzt war es Elly, die lachte. »Du Spinner!«
Sie watschelte auf den Flossen zurück in ihr Zimmer, zog sie dort aus, suchte in ihrem Schrank nach ihrem Überlebensgürtel – und steckte ihn in ihren Rucksack.
In zwei Tagen ging ihr Flug nach Cayenne, in dessen Hafen sie die Motorjacht besteigen würden. Das war eigentlich nicht genügend Zeit, um ihren Überlebensgürtel, den sie bei ihrer letzten Reise ja intensiv gebraucht hatte, auf Vordermann zu bringen und aufzufüllen, ohne dass ihre Eltern davon etwas merkten. Auch Elly wollte natürlich kein Unheil heraufbeschwören, und sie hatte eigentlich auch keine Angst, dass wieder etwas Schreckliches passieren könnte, aber dennoch stimmte sie ihrem Bruder zu: Den Survival-Gürtel dabeizuhaben, würde ihre ruhigen Ferien nicht stören, konnte bei Gefahr aber ihr Leben retten, weshalb er ja auch genau so genannt wurde: Überlebensgürtel!
Elly legte sich aufs Bett und schaute hinunter auf all ihre Sachen, die sie noch in ihren Rucksack stopfen musste und die sie im Gegensatz zu Mike nicht auf ihrem Bett, sondern auf dem Fußboden ihres Zimmers ausgebreitet hatte. Dann nahm sie sich noch mal die Unterlagen der Reise vor. Darin lag ein offizieller Flyer für Reisen in dieses Gebiet, in dem es unter anderem hieß:
Entdecken Sie Französisch-Guyana und das
Amazonasgebiet! Weltraumfans können einem Start
der Raketen Ariane, Soyouz oder Véga zusehen.
Naturliebhaber können bei der Eiablage der
Lederschildkröten am Strand dabei sein und Tanzfans
werden sich vom längsten Karneval der Welt
begeistern lassen. Dies und vieles mehr erwartet Sie
bei einer Reise durch Französisch-Guyana.
Elly schmunzelte. Nichts von alldem interessierte sie. Na gut, die Lederschildkröten schon, aber die Erfahrungen im Regenwald hatten sie gelehrt, dass man die Schildkröten lieber in Ruhe lassen sollte statt sie zur Touristenattraktion auszurufen und Fahrten zu ihnen zu organisieren.
Trotzdem würde vermutlich auch ihr Schiff die Strände von Amana – zwischen den Flüssen Organabo und Maroni – anfahren, eines der wichtigsten Gebiete der Welt für vier Arten von Meeresschildkröten, die dort ihre Eier legten: die Lederschildkröte, die grüne Schildkröte, die Olivenschildkröte und, seltener, die Kieferschildkröte. Zudem war das Reservat die Heimat von 286 Vogelarten und vielen Säugetieren.
Auf der beiliegenden Karte war die Reiseroute gut zu erkennen: Zuerst ging es per Flug von Manaus nach Cayenne in Französisch-Guyana. Dort auf die Jacht mit Ziel Teufelsinsel, danach hinaus aufs Meer. Zurück würden sie mit dem Schiff nach Belém reisen, dann wieder ins Flugzeug nach Manaus steigen.
Französisch-Guyana gehört zu Frankreich und ist darum auch in der Europäischen Union. Die Umrisse des Landes und die vorgelagerten Inseln sind auf dem 50-Euro-Schein dargestellt; der Euro ist die gültige Landeswährung. Die Hauptstadt Cayenne liegt auf einer Halbinsel in der Mündung des Rio Cayenne. Natürliche Grenzen zu den Ländern Surinam und Brasilien bilden der Fluss Maroni im Westen und der Fluss Oyapock im Osten. Im Süden markieren die Tumuc-Hamac-Berge die Grenze. Französisch-Guyana ist ein Land mit vielen Dschungelgebieten. 90 Prozent seiner Fläche sind mit Regenwald bedeckt. 1968 errichteten die Europäer den Weltraumbahnhof Kourou, von dem europäische Raketen ins All geschossen werden. Die Raketenabschussbasis lockt Touristen aus aller Welt an, ebenso wie die der Küste vorgelagerte Inselgruppe Îles du Salut (Heilsinseln). Dort hielt Frankreich früher Schwerverbrecher gefangen. Weltweite Berühmtheit erlangte die sogenannte Teufelsinsel durch den Film »Papillon«, der eine Flucht von der Insel beschreibt.
Die Teufelsinsel gehört wie alle anderen Heilsinseln zur Hauptstadt Cayenne. Sie ist die kleinste und nördlichste der drei Îles du Salut und erstreckt sich über eine Fläche von 14 Hektar. Ihre höchste Erhebung beträgt nur 40 Meter. Auf der Insel befindet sich eine Radar- und Funkstation zur Überwachung der Raketenstarts vom Weltraumbahnhof Kourou. Von 1852 bis 1946 wurde die Insel als Strafkolonie für verurteilte Schwerverbrecher genutzt. Der bekannteste Gefangene war der Artilleriehauptmann Alfred Dreyfus, der hier von 1895 bis 1899 inhaftiert war. Der Dreyfus-Turm an der Küste trägt seinen Namen.
1933 begann die Heilsarmee ihre Arbeit auf der Teufelsinsel. Sie wollte damit die Aufmerksamkeit der französischen Öffentlichkeit auf die unmenschlichen Bedingungen vor Ort lenken. Ihre Berichte bewirkten einen Meinungsumschwung in der Politik, sodass die Strafkolonie geschlossen wurde.
Elly war schon sehr aufgeregt, denn so eine Schifffahrt hatten sie noch nie gemacht. Außerdem stand ihr nicht nur eine Reise auf, sondern vor allem unter Wasser bevor: Neben ihrer eigenen, neu gekauften Taucherbrille mit Schnorchel und den Flossen standen ihnen an Bord komplette Ausrüstungen aus Tauchanzügen und Pressluftflaschen zur Verfügung. Sie und ihre Freunde würden einen Tauchkursus absolvieren!
Und Elly war, ebenso wie ihr Bruder, natürlich sehr gespannt auf die anderen vier Jugendlichen, die mit ihnen reisten und ohne die Elly, Mike, Gabriel und Matti nie in den Genuss dieser Schifffahrt gekommen wären. Denn eine der vier anderen war Lorena, die vierzehnjährige Tochter des Baustellenchefs und Jachtbesitzers. Sie und ihre drei Freunde, deren Namen Elly noch nicht kannte, machten diese Fahrt bereits zum zweiten Mal. In diesem Jahr hatte Lorenas Vater seine Tochter gebeten, Elly und ihre Freunde mitzunehmen. Soweit Elly gehört hatte, hatte Lorena gern zugesagt, auch weil Elly, Mike, Gabriel und Matti mittlerweile eine gewisse Prominenz erreicht hatten.
Elly blätterte die Zettel noch mal durch, um zu schauen, ob da irgendetwas über Lorenas drei mitreisende Freunde stand, doch sie konnte nichts finden. Vielleicht waren es sogar nur Mädchen?, fragte sie sich. Das hätte ihr gefallen. So sehr sie ihren Bruder und Gabriel und Matti, mit denen sie durch all die Gefahren gegangen war, auch ins Herz geschlossen hatte, gegen die Gesellschaft von mehr Mädchen hätte sie wahrlich nichts einzuwenden gehabt.
Elly legte die Unterlagen wieder zusammen und packte ihren Rucksack fertig.
Zwei Tage später ging es endlich los.
»Herzlich willkommen!« Herr Ferreira stand in weißer Kapitänsuniform oben an Deck, am Ende der Gangway und winkte die Jugendlichen zu sich hinauf. Vom Kai aus bestaunten Mike, Elly, Gabriel und Matti die große Motorjacht, die für zwölf Personen ausgelegt war.
»Wow!«, hauchte Mike beeindruckt. »Die hatte ich mir kleiner vorgestellt. Das ist ja schon ein richtiges Schiff!«
»Na ja«, sagte Matti. »Zwölf Personen sind nicht gerade wenig. Es wird schon einigermaßen eng werden, denke ich.«
»Immerhin ist sie 26 Meter lang und sechs Meter breit, hat acht Kabinen mit zwölf Schlafplätzen und acht Badezimmern!«, referierte Elly aus dem Kopf, was sie in den Unterlagen gelesen hatte. »Das müsste für uns zwölf Personen doch wohl reichen.«
»Ja«, stimmte Matti zu. »Die vier Erwachsenen haben je eine Kabine für sich. Und wir teilen uns jeweils zu zweit eine Kabine: Gabriel und ich eine, ihr beiden auch eine. Und die vier, die wir neu kennenlernen, ebenfalls.«
»Da stehen sie schon!« Mike zeigte zum Kapitän, hinter dem sich jetzt dessen Tochter und deren drei Freunde zur Begrüßung aufgebaut hatten.
»Also los, zeigen wir ihnen, wie nett und sympathisch wir sind«, sagte Matti mit einem Lächeln auf den Lippen. Er warf sich seinen Rucksack über die Schulter und ging voran. Elly folgte ihm, dann kam Gabriel, Mike ging als Letzter.
»Willkommen an Bord!«, begrüßte Kapitän Ferreira die Kinder nochmals, als sie das Deck betraten. Jedem Einzelnen gab er die Hand und stellte sogleich seine Tochter und deren Freunde vor.
»Bom dia!«, begrüßte Lorena die Neuankömmlinge auf Portugiesisch. Für Elly und Mike war das kein Problem. Sie verstanden die Sprache mittlerweile gut genug. Nur beim Sprechen haperte es noch etwas.
Lorena zeigte auf die drei Jugendlichen, die sich hinter ihr aufgereiht hatten: zwei Mädchen und ein Junge, wie Elly zufrieden feststellte. Sie betrachtete den Jungen unauffällig, aber sehr genau. Ob er mit Lorena zusammen war und deshalb als einziger Junge in ihrer Gruppe dabei? Immerhin war Lorena schon vierzehn, den Jungen schätzte Elly auf fünfzehn Jahre.
»Das ist Bernardo«, stellte Lorena ihn vor.
Ein schöner Junge, dachte Elly bei sich. Ihr gefielen seine etwas längeren, leicht gelockten schwarzen Haare und sein offenes, freundliches Lächeln, bei dem süße Grübchen in seinen Mundwinkeln entstanden. Er war etwa so groß wie Matti und ebenso sportlich durchtrainiert. Wobei Matti noch drahtiger und dünner wirkte. Nach der anstrengenden und auszehrenden Zeit im Dschungel hatten die vier noch nicht wieder genug zugenommen.
Lorena stellte nun auch die beiden anderen Mädchen vor: Isadora, die vor einigen Wochen ihren dreizehnten Geburtstag gefeiert hatte. Und Olivia, die Elly ein Jahr jünger geschätzt hätte, wenn Lorena die beiden nicht soeben als Zwillinge vorgestellt hätte.
Zwillinge? Elly konnte das nicht glauben und fragte behutsam nach, ob Lorena sich einen Spaß erlaubte. Doch die Zwillingsmädchen bestätigten es ihr. Die beiden hatten äußerlich fast nichts gemein, außer vielleicht annähernd ihre körperliche Statur; obwohl Olivia zarter und zierlicher wirkte als ihre Schwester. Sie hatte zudem dunkelblonde, Isadora schwarze Haare. Olivia schien schon auf den ersten Blick mindestens fünf Zentimeter größer zu sein als ihre Schwester. Auch ihre Gesichter waren völlig unterschiedlich. Olivia glich einer dünnen, großen, zerbrechlichen Porzellanpuppe, während Isadora – würde sie ihre Kleidung ablegen und ihren Körper ein wenig bemalen – genauso gut als Schwester von Haximu durchgegangen wäre, dem indigenen Mädchen, das sie mal kennengelernt hatten: klein, kräftig, athletisch und robust.
»Wir sind zweieiige Zwillinge«, erklärte Isadora, als sie Ellys ungläubigen Blick bemerkte. »Purer Zufall, dass wir beide Mädchen sind.«
»Aber ein schöner Zufall, finden wir«, fügte Olivia lächelnd hinzu.
Elly musste schmunzeln. Denn jetzt bemerkte sie, worin die beiden übereinstimmten: Ihre Stimmen ähnelten sich nicht nur, sie waren exakt gleich.
Nun stellte Elly sich und die drei Jungs vor.
»Unseren Koch und die zwei weiteren Crew-Mitglieder lernt ihr nachher noch kennen«, sagte Herr Ferreira. »Jetzt richtet euch erst einmal in euren Kajüten ein. Danach gibt’s Mittagessen auf dem Oberdeck. Ich hoffe, ihr mögt Moqueca? Nicht dass ich unseren Koch gleich über Bord werfen muss, bevor wir überhaupt losgefahren sind.«
Er lachte laut und herzlich über seinen eigenen, eigentlich doch recht makabren Witz.
»Ich liiiebe Moqueca!«, rief Elly. »Allein schon wegen der Kokosmilch darin.« Obwohl sie, das musste sie zugeben, in den Monaten, die sie im Dschungel verbracht hatten, so viele Kokosnüsse gegessen und Kokosmilch getrunken hatte, dass ihr der Geschmack eigentlich schon zu den Ohren hätte herauskommen müssen. Aber die fürs Kochen vorgefertigte cremige, gesüßte Kokosmilch liebte sie immer noch in allen möglichen Speisen.
»Es ist auch mein Lieblingsessen«, gab Lorena zu, was natürlich der Grund dafür war, dass ihr Vater es beim Koch in Auftrag gegeben hatte.
»Kocht ihr es Baiana oder Capixaba?«, fragte Mike nach.
Moqueca ist ein brasilianischer Fischtopf, eine Mischung aus einer Suppe und einem Eintopf. Sie besteht aus Fisch, Tomaten, Paprika und Koriander in Palmöl oder Olivenöl und Kokosmilch!
Brasilianer unterscheiden Moqueca Baiana, für die man Palmöl verwendet, und Moqueca Capixaba, die mit Olivenöl zubereitet wird. Dieser kleine Unterschied ist der Grund, weswegen es Streit zwischen zwei Regionen gibt, die beide behaupten, der Ursprungsort des Rezeptes zu sein.
500 g Fischfilet (Seelachsfilet)
500 g Gambas
2 Knoblauchzehen
3 Tomaten
2 Zwiebeln
1 rote Paprikaschote
200 ml ungesüßte Kokosmilch
2 EL Öl (rotes Palmöl oder Olivenöl)
Salz und Pfeffer
Paprikapulver
Koriander
Zitronensaft
Fischfilets mit Zitronensaft besprenkeln, salzen, pfeffern, klein geschnittenen Knoblauch und die Hälfte des Korianders über die Filets verteilen.
Zwiebeln würfeln und in einem großen Topf in Palm- oder Olivenöl glasig braten.
Tomaten und Paprika würfeln und dazugeben, so lange braten, bis keine Flüssigkeit mehr austritt.
Ungesüßte Kokosmilch dazugeben.
Fisch würfeln, mit den Gambas in den Topf geben und noch ca. 10 Minuten garen.
Mit Salz, Pfeffer, Paprikapulver und dem Rest des frischen Korianders abschmecken.
Dazu Reis servieren.
»Oho, ein Gourmet an Bord!«, kommentierte Herr Ferreira vergnügt.
Elly lachte lauthals los. »Ihr könnt sicher sein, Mike würde den Unterschied niemals herausschmecken. Aber ich auch nicht.« Sie wusste natürlich, dass sich beide Zubereitungsarten nur hinsichtlich der Verwendung verschiedener Öle unterschieden.
»Also gut!« Herr Ferreira klatschte in die Hände. »In dreißig Minuten gibt’s Essen. In einer Stunde legen wir ab!«
Die acht Jugendlichen zogen los, um – genau so aufgeteilt, wie Matti es vorausgesagt hatte – ihre Kabinen zu beziehen.
Fast genau so.
Denn Elly fragte sich, ob Lorena und Bernardo sich tatsächlich ein Zimmer teilen würden. Waren die beiden so fest zusammen, dass sie vierzehn Tage lang in einem Zimmer wohnen und vielleicht sogar im selben Bett schlafen durften? Gut, Lorena war zwar schon vierzehn und Bernardo fünfzehn Jahre alt, aber in einem solchen Zusammenhang hätten Ellys Eltern wohl eher angemerkt, dass die beiden erst vierzehn und fünfzehn waren.
Andererseits: Elly war außer mit ihrem eigenen Bruder mit den Nachbarsjungen Gabriel und Matti über Monate unterwegs gewesen und sie hatten überall zusammen geschlafen: unter Bäumen, auf dem Boden, in Höhlen, auf einem Boot, in offenen Hütten bei einem indigenen Volk und sogar als Gefangene in einem von Drogengangstern bewachten Zelt. Aber das war eben etwas anderes gewesen. Jetzt waren sie nicht auf einer Dschungeltour, sondern auf einer komfortablen Urlaubsreise auf einer großen Jacht und Lorenas Vater fuhr mit.
Lorena blieb vor der Tür ihrer Kabine stehen, weil sie bemerkte, dass Elly vor ihrer eigenen stehen geblieben war und ihr nachschaute.
»Nein!«, stellte Lorena klar. »Wir gehen nicht miteinander. Ich könnte behaupten, Bernardo sei mein Cousin. Stimmt aber nicht. Doch er steht mir viel näher als ein Verwandter. Wir sind als Nachbarn zusammen aufgewachsen und sind unzertrennlich, seit ich drei Jahre alt bin. Das hat sich bis heute nicht geändert.«
Elly lächelte sie an. »Und zwischen euch ist nie etwas gelaufen?«
Lorena lachte auf. »Würdest du etwas mit deinem Bruder anfangen?«
»NEIN!«, antwortete Elly entschieden.
»Siehst du?«, sagte Lorena.
»Aber …«
»Nichts aber«, beteuerte Lorena. »Genauso ist es zwischen Bernardo und mir!«
»Gut zu wissen«, sagte Elly, grinste keck und verschwand schnell in ihre Kajüte.
Dort hatte Mike gerade angefangen, seinen Schlafsack auf seinem Bett auszubreiten.
»Ich schlafe links«, forderte Elly.
»Wieso das denn?«, fragte Mike, der sich das linke Bett ausgesucht hatte.
»Weil ich immer links schlafe.«
»Stimmt doch gar nicht. Seit wann denn?«
»Seit zwei Minuten. Geh da rüber!«
Da es Mike letztlich egal war, gab er nach und zog um aufs andere Bett. Das einzige Bullauge lag ohnehin genau zwischen den beiden Betten an der Stirnseite der Kajüte.
Mike hatte ebenso wie die anderen nur wenig Gepäck dabei. Als er den Überlebensgürtel und seine Schnorchel-Utensilien ausgepackt hatte, war kaum noch etwas in seinem Rucksack. Ein paar Unterhosen, ein Paar Sneakers, zwei Shorts und eine Handvoll Shirts. Das war’s. Nicht mal die Sportjacke hatte er mitgenommen. Er würde sowieso die meiste Zeit nur in Badeshorts an Bord herumlaufen, nahm er an. Seine kleine Kulturtasche mit Zahnbürste, Zahnpasta und einer Flasche Shampoo hängte er an die Tür des Badezimmers, in dem auf engstem Raum eine Toilette, ein Waschbecken und eine schmale Dusche untergebracht waren. Alles andere passte in eine Schublade unter seinem Bett. Entsprechend war Mike nach fünf Minuten mit Auspacken und Einrichten fertig. Bei Elly, Matti und Gabriel verlief es ähnlich.
Als die vier sich wieder an Deck trafen und über den Hafen blickten, wunderten sie sich, dass von den anderen noch nichts zu sehen war.
Erst nach zwanzig Minuten, kurz bevor es Essen gab, tauchten die Zwillinge auf, danach Bernardo und weitere zehn Minuten später Lorena. Da saßen alle anderen bereits am großen Esstisch auf dem Oberdeck.
»Was hat die denn so lange gemacht?«, flüsterte Mike seiner Schwester zu. »Ihre Kabine neu gestrichen?«
Elly prustete los. Aber man sah, was Lorena getan hatte: sich umgezogen. Hatte sie die neuen Gäste an Bord noch in Shorts und ärmellosem Shirt begrüßt, trug sie jetzt ein bunt geblümtes Sommerkleid. Ihre Haare hatte sie frisch gewaschen, was man daran erkannte, dass sie sich eine andere Frisur geföhnt hatte. Dazu trug sie eine auffällig große Sonnenbrille mit grellen pinkfarbenen Gläsern.
»Sie betrachtet wohl gern alles durch die rosarote Brille«, bemerkte Elly leise kichernd und sicherheitshalber auf Deutsch, denn soweit sie wusste, verstanden die vier »anderen« kein Wort davon.
Auch Bernardo und die Zwillinge hatten sich fein herausgeputzt. So empfanden es Mike und Elly jedenfalls. In solcher Kleidung wäre Elly bestenfalls zu einer Familienfeier gegangen, aber anlässlich eines alltäglichen Mittagessens auf einer Jacht bei 30 Grad im Schatten wäre sie nie auf den Gedanken gekommen, etwas anderes anzuziehen als Shorts, ein Shirt und Sandalen.
Jetzt erst fiel Mike auf, dass auch der Tisch sehr fein gedeckt war: weiße Stofftischdecke, Porzellangeschirr, Silberbesteck. Echtes Silber, nicht etwa Edelstahl, wie Mike der Prägung auf dem Löffel entnahm. Auf dem Tisch standen vier Karaffen Wasser, in denen Eiswürfel, Minze und Limonenscheiben schwammen. Auf jedem Teller war eine Stoffserviette zu einem kleinen Häuschen gefaltet worden. Mike hob sein Glas, weil er sich etwas Wasser einschenken wollte, und stutzte. So ein schweres Glas hatte er zuvor noch nie in der Hand gehabt. »Das ist ja schwer wie Blei!«