Peter Stamm

Wenn es dunkel wird

Erzählungen

Erzählungen

FISCHER E-Books

Inhalt

Über Peter Stamm

Peter Stamm, geboren 1963, studierte einige Semester Anglistik, Psychologie und Psychopathologie und übte verschiedene Berufe aus, u.a. in Paris und New York. Er lebt in der Schweiz. Seit 1990 arbeitet er als freier Autor. Er schrieb mehr als ein Dutzend Hörspiele. Seit seinem Romandebüt »Agnes« 1998 erschienen sechs weitere Romane, ein Band mit Theaterstücken. »Wenn es dunkel wird« ist seine fünfe Erzählungssammlung. Zuletzt erschienen die Romane »Weit über das Land«, »Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt« sowie die Erzählung »Marcia aus Vermont«. Unter dem Titel »Die Vertreibung aus dem Paradies« erschienen seine Bamberger Poetikvorlesungen. »Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt« wurde ausgezeichnet mit dem Schweizer Buchpreis 2018.

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Über dieses Buch

Wir haben uns an die Welt gewöhnt, und plötzlich wird sie uns unheimlich.

 

Unheimliche Geschichten von Peter Stamm: Georg geht bald in Rente. Im Büro wird er schon nicht mehr beachtet, zu Hause wartet kein Essen auf ihn. Er scheint sich langsam aufzulösen und ein namenloser Schrecken erfasst ihn..

Sabrina ist geschmeichelt, als ein Künstler sie anspricht. Aber als sie sich zum ersten Mal als Kunstwerk sieht, schaudert sie.

David möchte eine Bank überfallen. Eine Maske hat er schon dabei, eine Eichhörnchen-Maske. Er wird sie heute aber noch nicht benutzen. Er hat gehört, dass Bankräuber oft wochenlang alle Einzelheiten beobachten, bevor sie zuschlagen. Er beginnt zu lauern.

Wir haben uns an die Welt gewöhnt, und plötzlich wird sie uns unheimlich. Was, wenn unsere Phantasien realer werden als die Wirklichkeit? Peter Stamms Geschichten erzählen von der Brüchigkeit der Welt, von Schwindel und gespenstischer Liebe.

Impressum

Originalausgabe

Erschienen bei FISCHER E-Books

 

© 2020 Peter Stamm

© 2020 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main

 

Covergestaltung: Andreas Heilmann und Gundula Hissmann, Hamburg

Coverabbildung: René Magritte, La reproduction interdite, Detail. (c) VG Bild-Kunst, Bonn 2020

 

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.

ISBN 978-3-10-403135-4

David hatte die Maske mitgenommen, obwohl er sicher war, dass er sie heute noch nicht brauchen würde, eine Eichhörnchenmaske, die den ganzen Kopf bedeckte. Er hatte sie als Kind zum Geburtstag geschenkt bekommen, als er längst keine Lust mehr hatte, sich zu verkleiden, vielleicht, weil er da schon in dem Alter war, in dem es einem vorkommt, als sei man immer verkleidet, auch wenn man es nicht will. Sein Körper war ihm vorgekommen wie ein schlecht sitzendes Kostüm, das seine wirkliche Persönlichkeit, das, was er sein wollte, was er zu sein glaubte, zu etwas Unförmigem verzog. Warum ausgerechnet ein Eichhörnchen, warum nicht ein Wolf oder wenigstens eine Eule? Irgendwann musste er seine Mutter auf die Maske hingewiesen haben, schau mal, das Eichhörnchen, wie süß. Und Jahre später, als sie nicht gewusst hatte, was sie ihm schenken sollte, hatte sie sich daran erinnert und die Maske, ohne viel nachzudenken, gekauft. David hatte sie ein einziges Mal angezogen, an jenem Geburtstag, und seiner Mutter vorgespielt, er freue

An diesem Morgen, gleich nachdem seine Mutter zur Arbeit gegangen war, hatte David sich im Geschäft krankgemeldet. Sein direkter Vorgesetzter war in den Ferien, und die Sekretärin hatte nicht nachgefragt, als er gesagt hatte, er sei erkältet. Jetzt, während der Sommerferien, war ohnehin nichts los, und die Lehrlinge wurden mit allen möglichen sinnlosen Arbeiten beschäftigt. Auf dem Dachboden gab es einen unerschöpflich erscheinenden Vorrat an alten Briefumschlägen und Rechnungsformularen, auf die noch die alte Telefonnummer gedruckt war, und wenn gar nichts anderes mehr zu tun war, versammelten sich die Lehrlinge im Sitzungszimmer unter dem Dach, wo es im Sommer muffig und heiß war, und überklebten die alten Nummern mit kleinen Etiketten in Leuchtfarben, auf denen die neue Nummer stand, die auch schon seit Jahren galt. Die meiste Zeit aber ulkten sie herum, halb träge, halb aufgekratzt, oder trafen sich

David hatte um zehn in der Stadt sein wollen, aber nachdem er im Geschäft angerufen hatte, war er noch einmal ins Bett gekrochen, als sei er tatsächlich krank, und war wieder eingeschlafen. So saß er erst um elf vor der kleinen Kneipe im Außenviertel und schaute zur Bankfiliale hinüber, die in einem Einfamilienhaus untergebracht war. Es war heiß auf dem kopfsteingepflasterten Vorplatz, und die Sonne blendete ihn. Seit er angekommen war, war niemand in die Bank hineingegangen oder herausgekommen, nur zwei Frauen mit Fahrrädern standen vor dem Gebäude auf dem Gehsteig und unterhielten sich. Die Wirtin kam. Sie musste über sechzig sein, aber sie war dünn wie ein junges Mädchen, ihr Haar war blond gefärbt, und sie trug eine hautenge lilafarbene Jeans. Sie öffnete den Sonnenschirm, der neben Davids Tisch stand, und fragte nach seinen Wünschen. Er bestellte einen Milchkaffee. Erst seit er in der Lehre war, trank er Kaffee, nicht weil er den Geschmack mochte, sondern weil alle Kaffee tranken und es irgendwie Teil des Erwachsenseins zu sein schien. Auch Alkohol trank er erst seit kurzem und nur an den Firmenanlässen, von denen es viele gab zu allen möglichen Gelegenheiten, Betriebsausflüge und Sommerfeste und

Elf Uhr dreiundzwanzig. Ein Mann in Motorradkleidung und mit Helm betritt die Bank, schrieb er in ein kleines Heft, das er extra zu diesem Zweck angeschafft und mitgebracht hatte. Einen kurzen Moment lang fürchtete er, der Mann könnte dieselben Absichten haben wie er und ihm zuvorkommen. Atemlos wartete er, bis der Motorradfahrer wieder herauskam, sich ohne Eile auf seine Maschine setzte und davonfuhr. Die Wirtin hatte den Kaffee vor David auf den Tisch gestellt und sich zu den Gästen an den anderen Tisch gesetzt, zwei alten Männern und einer alten Frau mit einem kleinen Hund, die, seit David hier war, immer wieder Anläufe zu einem Gespräch gemacht hatten, das jeweils nach wenigen Sätzen erstarb. Die Frau mit dem Hündchen hatte sich schon zweimal verabschiedet und war dann doch einfach sitzen geblieben. Elf Uhr vierunddreißig. Älteres Ehepaar betritt die Bank, schrieb David in sein Heft und merkte, dass er vergessen hatte, die Zeit aufzuschreiben, zu der der Mann mit Motorradkleidung die Bank verlassen hatte. Er ärgerte sich über seine Unaufmerksamkeit, der kleinste Fehler konnte das ganze Unternehmen zum Scheitern bringen. Elf Uhr sechsunddreißig, schrieb er, ein großer Mercedes hält circa zehn Meter von der Bank entfernt vor einem

Auf dem Zuckerbeutel stand ein Zitat. Wer Großes versucht, ist bewundernswert, auch wenn er fällt. Seneca. 4. v. Chr. – 65 n. Chr. David wunderte sich immer noch darüber, dass ausgerechnet er, der sich zu Hause keinen Keks genommen hätte, ohne seine Mutter um Erlaubnis zu fragen, diesen Plan ausgeheckt hatte. Seit Wochen, seit Monaten hatte er daran herumgedacht, hatte sich vorgestellt, wie er die Eichhörnchenmaske überstreifte, die Bankfiliale betrat und zum Schalter ging. Er zog die Armeepistole seines Vaters aus der Plastiktüte, richtete sie auf die einzige Kundin im Raum und verlangte von der Schalterbeamtin mit verstellter Stimme das Geld. Geld, würde er nur sagen. Alles. Schnell. Er hatte zu Hause üben wollen, seine Stimme zu verstellen, aber er war sich so blöd dabei vorgekommen, dass er es schnell wieder aufgegeben hatte.

Elf Uhr neununddreißig. Das Ehepaar verlässt die Bank. Die junge Frau läuft auf dem Gehsteig auf und ab und raucht eine Zigarette. David steckte das Notizbuch weg. Die Frau wirkte nervös. Was würde sie aussagen, wenn die Polizei sie befragte? Sie konnte den jungen Mann nicht beschreiben, sie hatte nicht einmal bemerkt, dass er die Bank betreten hatte. Erst als der Alarm losging, hatte sie einen Schritt Richtung Eingang der Bank gemacht

David stellte sich vor, wie er den Mercedes über eine Landstraße lenkte, die Frau saß neben ihm, er legte eine Hand auf ihr Knie, lächelte ihr zu. Wohin fahren wir?, fragte sie. Nach Frankreich, sagte er, an die Côte d’Azur. Du bist verrückt, sagte sie und lachte, ich habe doch gar nichts dabei. Dann kaufen wir dir eben neue Sachen, sagte er, Geld spielt keine Rolle. Wie viel hatte er in seiner Plastiktüte? Hunderttausend? Zweihunderttausend? Und wenn das Geld aufgebraucht war? Auch an der Côte d’Azur gibt es Banken. Du bist verrückt, sagte sie. Man lebt nur einmal, sagte David und beschleunigte den Wagen. Es ging nicht ums Geld bei seinem Plan, es ging darum, sein Leben in die Hand zu nehmen, um die Freiheit, selbst zu bestimmen, was geschah.

Die junge Frau schaute auf die Uhr. Auch David schaute auf die Uhr. Zehn vor zwölf. Er durfte nicht zu lange hierbleiben, die Wirtin und die anderen Gäste sollten sich nicht an ihn erinnern, wenn die Polizei sich später nach Verdächtigen erkundigte. Er stand auf und ging über die Straße. Im Fenster der Bank hing eine Liste der aktuellen Wechselkurse, Euro, USA, Dänemark, England, Norwegen, Schweden, Australien, Kanada, Japan, lauter Länder,

Am nächsten Tag regnete es. David fuhr wieder in die Stadt. Er hatte von Bankräubern gehört, die den Tatort Monate im Voraus auskundschafteten, jedes Detail notierten, sich Pläne des Gebäudes beschafften, heimlich Fotos machten. Er saß im Bus und dachte darüber nach, was er noch herausfinden musste. Überwachungskameras, schrieb er in sein Heft. Öffnungszeiten. Schalterraum, Fluchtweg. Vor lauter Nachdenken verpasste er seine Station und stieg erst eine später aus. Auf einer Seite der Straße standen kleine schäbige Einfamilienhäuser, auf der anderen eine große Wohnsiedlung mit fünfstöckigen Blocks aus den fünfziger oder sechziger Jahren. Statt zurückzugehen, ging David weiter aus der Stadt hinaus. Der Regen wurde schwächer und dann wieder stärker. Die Straße führte über die Autobahn, und David lehnte sich ans Geländer der Brücke und schaute hinunter auf die vorbeifahrenden Autos und Lkws und fragte sich, wohin sie alle unterwegs waren. Wie lange brauchte man von hier an die Côte d’Azur? Aber er konnte ja gar nicht fahren, er war erst vor einigen Monaten achtzehn geworden und hatte kein Geld für die Fahrschule, geschweige denn für ein Auto.

Die Tische standen noch vor dem Lokal, aber die Stühle waren zusammengeklappt und lehnten an der Hauswand. David betrat den winzigen Raum, in dem es nur eine Theke, einen Zigarettenautomaten und zwei Tische gab. Die Luft war warm und schwer vom Regen draußen. Am Tisch neben dem Eingang saßen wieder zwei alte Männer und eine Frau mit einem Hündchen, aber andere als gestern, als seien dieselben Rollen mit neuen Schauspielern besetzt worden. Auch die Wirtin, die hinter der Theke stand, war eine andere, eine rundliche Frau von unbestimmtem Alter. Könnte ich einen Kaffee kriegen, fragte David. Die Wirtin zögerte kurz, dann sagte sie, ja, ich glaube, einen habe ich noch. Die anderen Gäste lachten. Der war gut, sagte die Frau mit dem Hündchen.

David saß am hinteren Tisch. Am Fenster war ein gehäkelter Vorhang, und er konnte die Bank nicht sehen, aber es wäre aufgefallen, wenn er gleich wieder gegangen wäre. Er trank seinen Kaffee in kleinen Schlucken und schaute sich um. An den Wänden hingen Postkarten, wohl von

Zurück im Dorf ging David auf direktem Weg nach Hause, er durfte niemandem von der Firma begegnen. Zu Hause schaute er ein wenig fern und aß das Brot, das er sich beim Frühstück fürs Mittagessen geschmiert hatte. Am Nachmittag fuhr er mit dem Rad in den Wald. Er hatte die Armeepistole dabei und wollte sie ausprobieren. Munition hatte er keine, es wäre wohl nicht schwierig gewesen, sie zu beschaffen, aber es hätte die Aufmerksamkeit auf ihn gelenkt und alles nur komplizierter gemacht. Er stand mitten im Wald und zog die Pistole aus der Plastiktüte und krächzte mit verstellter Stimme, Geld, schnell, immer und immer wieder. Geld, alles, schnell. Am Donnerstag oder spätestens am Freitag würde das Wetter besser werden. Waren

Diesmal fuhr David absichtlich eine Station zu weit. Immer noch Regen, schrieb er in sein Heft, böiger Wind. Mitten in der Stadt riecht es wie im Wald. Freudige Stimmung, fast feierlich, ohne zu wissen, weshalb. Er brauchte einige Zeit, bis er das Mietshaus wiedergefunden hatte. Niemand war zu sehen, und David las die Namen auf den Klingelschildern, Marra, Reisacher, Wittwer, Garofalo, Nahtigal. Nahtigal sollte es sein. Und wie hieß sie mit Vornamen? Renata war der erste Name, der ihm einfiel, er hatte keine Ahnung, weshalb. Er kannte niemanden, der so hieß. Renata Nahtigal, er sagte den Namen ein paarmal vor sich hin, schrieb ihn in sein kleines Heft. Sie hatte gesagt, sie wohne nicht hier. Vielleicht war sie zu Besuch bei ihren Eltern gewesen. David ging die Straße auf und ab und wartete, aber die Frau tauchte nicht auf. Es hatte wieder zu nieseln angefangen, und er stellte sich bei dem Haus unter, vor dem er sie getroffen hatte. Du bist ja ganz nass, sagte Renata, du wirst dich noch erkälten. Ihr Vater war in den Ferien oder im Krankenhaus, sie war gekommen, um den Briefkasten zu leeren, die Pflanzen zu gießen. Du kannst mir helfen, sagte sie, mein Vater hat viele Pflanzen. Sie saßen nebeneinander auf dem Sofa, und Renata zeigte ihm Fotos aus ihrer Kindheit. Sie saßen dicht

Es war Mittag. Auf den Bänken im Zentrum des Viertels saßen Lehrlinge und aßen Sandwiches oder Kebab, den sie am Imbiss in der Nähe gekauft hatten. David betrachtete sie und beneidete sie um die Ruhe und die Regelmäßigkeit ihres Alltags, die er selbst aufs Spiel gesetzt hatte. Sie hatten gute Aussichten, ihren Weg zu gehen, ein anständiges Leben zu führen wie ihre Eltern und ihre Großeltern als Teil von etwas Größerem. Er selbst schien für dieses Leben verloren zu sein, auch wenn er es noch bis vor einer Woche selbst gelebt hatte. Er wusste nicht mehr genau, wann er gemerkt hatte, dass es zu einer Entscheidung kommen musste, es war, als habe er es erst gemerkt, als es schon zu spät gewesen war. Und alles, was geschehen war und was geschah und noch geschehen würde, führte hin auf diesen einen Moment. Er würde vor der Bank stehen, zwei Atemzüge lang, und dann die Eichhörnchenmaske überziehen und hineingehen und tun, was zu tun war.

Die Sekretärin hatte die Mutter angerufen und sich nach David erkundigt. Was ist los mit dir?, fragte die Mutter. Du kannst dich doch nicht