Roger Willemsen
Unterwegs
Vom Reisen
Herausgegeben
von Insa Wilke
FISCHER E-Books
Roger Willemsen, geboren 1955 in Bonn, gestorben 2016 in Wentorf bei Hamburg, arbeitete zunächst als Dozent, Übersetzer und Korrespondent aus London, ab 1991 auch als Moderator, Regisseur und Produzent fürs Fernsehen. Er erhielt zahlreiche Auszeichnungen, darunter den Bayerischen Fernsehpreis und den Adolf-Grimme-Preis in Gold, den Rinke- und den Julius-Campe-Preis, den Prix Pantheon-Sonderpreis, den Deutschen Hörbuchpreis und die Ehrengabe der Heinrich-Heine-Gesellschaft. Willemsen war Honorarprofessor für Literaturwissenschaft an der Humboldt-Universität in Berlin, Schirmherr des Afghanischen Frauenvereins und stand mit zahlreichen Soloprogrammen auf der Bühne. Zuletzt erschienen im S. Fischer Verlag seine Bestseller »Der Knacks«, »Die Enden der Welt«, »Momentum«, »Das Hohe Haus« und »Wer wir waren«.
Über Roger Willemsens umfangreiches Werk informiert der Band »Der leidenschaftliche Zeitgenosse«, herausgegeben von Insa Wilke. Willemsens künstlerischer Nachlass befindet sich im Archiv der Akademie der Künste, Berlin.
Insa Wilke wurde 1978 in Bremerhaven geboren und lebt als Publizistin, Literaturkritikerin und Moderatorin in Berlin. Sie veröffentlichte u. a. die Monographie »Ist das ein Leben. Der Dichter Thomas Brasch« (2010) und »Bericht am Feuer. Gespräche, E-Mails und Telefonate zum Werk von Christoph Ransmayr« (2014). 2010 übernahm sie die Programmleitung im Literaturhaus Köln und gab diese Tätigkeit zugunsten des freiberuflichen Arbeitens 2012 wieder auf. 2014 wurde sie mit dem Alfred-Kerr-Preis für Literaturkritik ausgezeichnet.
Weitere Informationen finden Sie unter www.fischerverlage.de
Schon als kleiner Junge hatte er immer einen gepackten Koffer unterm Bett. Aus dem kleinen Jungen ist ein großer Reisender geworden und ein begnadeter Erzähler. Ob Tokio, der Kongo oder Afghanistan, von überall brachte Roger Willemsen Geschichten mit. Das Reisen bedeutete ihm aber weit mehr. Dieser Band erzählt davon und von seiner Sehnsucht nach der Fremde.
Originalausgabe
Erschienen bei FISCHER E-Books
© 2020 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main
Covergestaltung: KOSMOS - Büro für visuelle Kommunikation
Coverabbildung: Anita Affentranger
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-491326-1
Als Kind hatte ich unter meinem Bett ein kleines Köfferchen, weil ich immer bereit sein wollte aufzubrechen. Darin waren eine Schokolade, ein gekochtes Ei, das ich von Zeit zu Zeit erneuerte, ein Taschenmesser und eine Badehose. Also meine persönlichen Utensilien für eine Weltreise. Außerdem gab es Dinge, die immerzu Fernweh bei mir auslösten. Etwa das Radio – drückte man die Tasten für »Kurzwelle« oder »Langwelle« und drehte dann vorsichtig am Rad für die Senderwahl, übersprang man in Millimetern Klangräume, geographische Räume. Es wimmerte der Muezzin, es läuteten die Glocken des Vatikans, ein Schuss fiel, ein Reporter schrie gegen den fallenden Regen an, ein Signal schrillte, Pferdehufe galoppierten, Meereswogen brandeten, Volksmengen applaudierten.
Die Frequenzen jaulten und zwitscherten, die Stimmen klangen mal blechern und fern, mal warm, wie direkt in die Stoffbespannung geatmet. Sie sangen sinnlos, wo doch alle Welt in Aufruhr, sie predigten, wo doch eben noch der Schuss gefallen war. Alles redete durcheinander, in allen Sprachen, jeder wollte was. Man konnte Kamele ziehen, Segelschiffe gegen die Wellen kämpfen sehen, man hörte die Winde Tausende von Kilometern entfernt in die Mikrophone knattern, bekam einen Fetzen Wetterbericht aus Abu Dhabi, ein afrikanisches Gebet, einen Sportbericht aus Amerika. Irgendwo wurde getanzt, irgendwo eine Konferenz eröffnet. Irgendwo wurde zu Bett gegangen, irgendwo der neue Tag begrüßt. Alle Tageszeiten waren gleichzeitig da, alle Kontinente, alle in anderen Sprachen und Jahreszeiten, alle mit anderen Problemen und Aufregungen. Dies war die erste ganze Welt, die ich kannte, und jeder Ton, der mich erreichte, kam von einem ihrer Enden. Mit all dieser Musik, dem Stimmenwirrwarr und Tumult im Ohr, ging ich dann von dem Hügel, auf dem unser Haus stand, ins Unterdorf, legte mein Ohr an den einzigen Schienenstrang und wusste: Dieser Strang verbindet mich mit Konstantinopel.
Aus der Materialsammlung »Das mir. Reiseerzählungen«
Ich nehme diese Orte persönlich. Ich kann nicht anders, denn ohne dies hätte ich das Gefühl, sie nicht bereist zu haben. Jeder Versuch einer Selbsterklärung führt auch zurück auf eine Reise, und ich meine nicht die Lebensreise, die wir bezeichnenderweise so nennen, sondern jenen Transitzustand, in dem uns das Besondere zustößt: ein Mensch, ein Ereignis, ein Glück.
Aus der Materialsammlung »Das mir. Reiseerzählungen«
Die Luft des Südens schmeckt nicht, damit geht es schon mal los. Von der »Aria cattiva« sprach man schon im 18. Jahrhundert, der »bösen Luft«, die imstande sei, ganze Länder zu vergiften, etwa durch den schwülen Passat, den brennenden Scirocco, den fiebrigen Föhn. Wie oft sind die Vögel, die aus dem Norden kamen, gleich beim Eindringen in die Luft des Südens tot aus dem Himmel gefallen! Wie oft hat man Kämpfer verenden und Touristen erschlaffen sehen, sobald sie in den Süden kamen. Es ist kein Spaß: Aus der Ferne erscheint Arkadien dem Schwärmer paradiesisch. Tritt er ein, trachtet ihm dieser Süden gleich nach dem Leben.
Was für eine runde Mahlzeit ist dagegen die Luft des Nordens! Jod, Salz, Tang, Torf, Heidekraut, Filzwolle, Multebeeren und die Röstaromen offener Feuer – alles in einem Atemzug. Kürzlich packte mich wieder das Nordweh, einen Norden suchte ich, irgendeinen Norden, flog also ins schwedische Luleå, auf der Höhe Lapplands, 110 Kilometer südlich der Polargrenze gelegen. Vor der Landung machte die Purserette diese Ansage: »Morgen feiern wir das Mittsommernachtfest. Legen Sie sieben Blüten unter Ihr Kopfkissen. Sie werden von der Liebe Ihres Lebens träumen. Jetzt singt unser Steward zur Feier des Tages ein altes schwedisches Volkslied für Sie.« Der nahm prompt das Mikrophon und stimmte in stolperndem Sopran ein Lied an, zuletzt so gerührt, dass ihn seine Chefin in die Arme nehmen musste. Willkommen am Bottnischen Meerbusen! Das soll der kühle Norden sein? Als der Steward seine Stimme erhob, schmolzen wir alle.
Ich legte die Blüten unter das Kissen, träumte aber von DJ Bobo. Das muss aus dem Bauch heraus geschehen sein, also dem Zentralmassiv des körperlichen Südens. Der Norden des Körpers aber ist der Kopf, und alles wird besser, wenn er beteiligt ist, gibt er doch Klarheit, Verstandeskühle. Eben deshalb gilt es ja auch als moderne Tugend, cool zu sein, also nördlich.
Geputzt und bewimpelt war das Städtchen Lulea, blickte vom nördlichen Ende der Ostsee kühl, frisch und bewegt in die kürzeste Nacht. Das hiesige Thai-Restaurant serviert »Ochsenpizza« mit Béchamelsauce, und die Menschen, die es hierhin verschlagen hat, wirken alle wie Strandgut, ist dies doch nördliches Niemandsland, und wenn man einfach so in die Weite spaziert, wo sich die Häuschen zerstreuen, dann sieht man Existenzen versanden unter den großen Himmeln des Nordens.
Es folgten grüne Tage, halbhelle Nächte, milde Winde. Ich sah die Dünung des Luftzugs in den Gräsern, dann und wann fiel ein Regenschauer hinein, die Felder atmeten aus, und der Himmel war ein Wolken-Louvre. Ich ging weiter über Land, wo die feuchten Meerwinde durch die Fugen der Holzhütten drangen. Aus dem undichten Torfdach fielen Tropfen in die Hütte des Fischers. In nassen Socken habe er geschlafen, sagte er, als er an die Bucht hinaustrat, redete über die Winterfischerei, klagte über sein schlechtes Schuhwerk und stellte einen Kinderwagen mit Baby hinaus in die Sonne. In diesen Breiten feiern die Menschen das Licht als Ereignis.
Schönes Wetter interessiert mich nicht. Wenn die Sommerfrischler sonnenmilchig müffeln und ihre abgeblätterten Schultern vergleichen, packt mich der Drang, den Norden zu inhalieren. Die edle Blässe ist nördlich, vulgäre Bräune südlich, der Porzellanteint einer Kate Middleton blamiert die Lederhaut einer Carmen Geiss. Auf der Packungsbeilage einer Sonnencreme las ich einmal: »Auch die Sonne hat ihre Schattenseiten.« Eben, doch wie viele Sonnenseiten hat der Schatten!
Alles Werden und Vergehen hat seinen Ursprung im Norden. Es stammt aus dem Eis, wurde von der Schmelze freigegeben, Plankton, Mikroben, Mikroorganismen, sie entwickelten sich aus dem Frost, aus der Dunkelheit, abgerungen der Nacht und dem Eis. Als ich einmal mit Polarforschern reiste, erklärten sie mir, hier, an den Grenzen der lebensabweisenden Zone, entwickele sich eigentlich das erste Leben. Was der Norden aber von seiner Flora einfriert, das wird er eines Tages auftauen, um es dem Leben zurückzugeben. Seine Landschaften sind Schläfer, die lange dämmern und heftig blühen. Selbst die Steine spucken dann Blüten aus, über die Geröllfelder ergießen sich saftige Matten, und sanft ist noch der Tod in diesen Breiten, kommt das Erfrieren doch still und besinnlich.
Was der Süden dagegen verbrennt, das ist für immer und qualvoll verbrannt! Wen wundert es also, wenn der älteste Menschenfund der Südhalbkugel, die äthiopische Ardi, aussieht wie Tatjana Gsell. Der älteste Menschenfund des Nordens – und auch Südtirol liegt ja eigentlich im Norden – ist dagegen ein Gentleman namens Ötzi, auf Englisch: »Frozen Fritz«. Ja, Deutsche, Nördlinge sind wir von seinem Schlag und keine Mittelmeerpreußen! Auch ist das Abendland Nordland, und der größte Teil der bewohnbaren Erde liegt auf unserer Halbkugel. Also ist ja unser europäischer Süden, global gesehen, eigentlich Teil des Nordens.
Der Norden ist Heimat einer Kultur, in der Riesen, Trolle, Elfen zu Hause sind. Die längste Zeit des Jahres liegt er im Dunkel, kennt transzendente Mächte und geht so vernünftig wie möglich mit ihnen um, also protestantisch. Der Süden ist dagegen sonnendurchflutet und eigentlich taghell profan. Man redet laut und effektvoll, man krakeelt. Seine Lebensform ist die Hysterie. Deshalb muss er das Dunkel künstlich erzeugen, sich Mysterien ausdenken und lebt von Weihrauch, Reliquien und Beichtgeheimnissen, also katholisch. Auch große Religionskriege kennt der Norden nicht. Nein, die gefährlichen Staaten der Welt liegen in Süd, Ost, West.
Trotzdem ist der Norden das hässliche Entlein der Himmelsrichtungen, ungeliebt und jahrhundertelang verleumdet. An der äußersten Grenze der keltischen Anderswelt wacht die Insel Thule, heißt es, wo keine Sonne scheine und man das Getreide im Hause dresche. Hier liegt die Heimat einer Macht von legendären germanischen Eroberern, der »Wölfe aus dem Norden«, eine »Game-of-Thrones«-Macht, die die Welt überfallen und mit Schrecken erfüllen könnte. »Allzeit traurige Nacht überwölbt jene elenden Menschen dort«, so zitiert Dieter Richter in seinem Buch über den »Süden« die »Odyssee« und Goethe gar mit dem Ausruf: »Nordwestlich, Satan, ist dein Lustrevier«.
Mal halblang, Goethe! Wer in den Süden reist, sucht die Zerstreuung, wer in den Norden reist, sucht sich selbst. Der Norden kokettiert nicht, der Süden ist ein Flittchen. Hier erfand man Mode als eine Erweiterung des Körperdesigns, als Stimulans öffentlicher Lüsternheit. Der Norden dagegen erfand den Norwegerpullover. Der nackte Wikingerkörper, der in diesem schlummert, ist erst Verheißung, dann Erscheinung. Die Sinnlichkeit des Südens ist bloß der Bikini. Dieser Süden kennt keine echten Rätsel. Seine Götter sind nackt, seine Himmel bevölkert von Nudisten, alles ist offensichtlich.
Echte Erotik aber braucht wie die echten Mythen Finsternis, Schatten, Zwielicht. Der Norden kommt aus dem Halbdunkel und taucht dahin zurück, er lebt in Schattenspielen. Deshalb ist auch die Liebe des Nordens elementar. Sie setzt sich gegen die Kälte durch und muss die Hitze erst entfachen. Anders gesagt, der Liebhaber des Nordens ist ein Samowar, der lange leise simmert. Dem Latin Lover dagegen ist immer schon heiß. Er muss seine Begierde abkühlen und will deshalb den Beischlaf schleunigst hinter sich bringen.
Mehr noch als Schweiß aber bringt dieser Süden Klischees hervor: der Strand, die gestreckte Langeweile in Beige, der immerblaue Himmel, eine Erfindung der Tourismusindustrie, das dolce far niente, eine Beschönigung der Arbeitslosigkeit. Auch pries Johann Winckelmann, der Vater der Kunstwissenschaft, die Schönheit italienischer Menschen, bevor er ihnen leibhaftig begegnet war. Kaum in Italien, gestand er: »Unter den Creaturen sind (hier) die Pferde am schönsten.«
Warum wir trotzdem den süßlichen Italien-Kitsch pflegen? Aus Konträrfaszination. Wir wünschen uns Schwärmer da unten, weil wir Materialisten sind, nein, wir wollen den Süden in seiner Realität nicht kennen.
Gewiss, der Norden kennt keine arkadischen Postkartenschönheiten, er kennt den Rückzug in die Natur, das Ideal der Hütte am Fjord, das Iglu, die Jurte, beschienen vom Wetterleuchten. Touristen zieht es in den Süden, sie haben ihn unbereisbar gemacht. Jeder Küstenfleck erobert von denselben Stereotypen, denselben Angeboten an das Phlegma. In ganz Skandinavien dagegen gibt es keinen einzigen Robinson Club, keinen Ballermann. Die Küsten des Nordens sind einsam wie seine Menschen. Wenn ich nur an die Bucht von Murmansk denke, mit den hellen Birkenwäldern, die sich um die Ausläufer des Polarmeers legen! Grau und pragmatisch mag dieser Ort wirken, von keinem Ideal gestreift, ein angetauter Organismus, der zwischen seinen Mauern das Licht schluckt – und doch, was für ein Individuum von einer Stadt!
Nein, der Norden ist nicht bunt. Seinem Wesen nach ist er schwarz-weiß. Soll die Phantasie ihn nachkolorieren! Trotzdem erlebte ich die größten Farbräusche an der Reling eines Eisbrechers zum Nordpol. Paletten voller Grautöne, Farbfächer aus Grün- und Blautönen, mal das Gelb des Erpelkots, doch dann übernahm wieder das große Weiß, gebrochenes, verschlammtes, angeschmuddeltes, lebendes Weiß. Die Veränderungen auf dieser Fläche sind geringfügig. Mal schiebt sich die Nebelgrenze weiter weg, mal wallt sie einem entgegen. Wetternester am Himmel. Das leere Meer. Die Eisdrift. Der Frostduft. Eisberge in Scherben, in Spänen. Die Wolken hängen mal, dann streben sie auf. Manchmal zeigt sich kurz ein Stück Horizont, dann ist er weggerafft, und das Tuten des Eisbrechers schallt lang und hohl in den Nebelraum. Diese Eispanoramen sind Landschaft ohne Gegenwart. Sie sind ewige Landschaften, gerade weil sie alles Leben abschütteln. Nirgends war mir der Süden auf diese Weise ernst und bei sich begegnet, nirgends schien mir Natur so erhaben wie in diesem Polarmeer. Jeden Tag stand ich über viele Stunden an Deck, gelähmt von Schaulust. Vom Eis ging großes Schweigen aus, und wer lange genug an der Reling stand, ließ bald nicht mehr als den Atem hören.
Was diesen Norden aber gerade vollkommen machte, das waren die Bilder, die er weckte, Bilder des Südens, der vitalen Lebensfreude und Daseinsbejahung, der Sinnenlust und Heiterkeit, die nur hier, im strengen Norden, ihr volles, berauschendes Aroma entfalten konnten.
Havanna, New York, Surabaya, Dakar, Abidjan, Sankt Petersburg, Saigon, Timbuktu. Jede einzelne dieser Städte umschwärmt von einer Aura. So wie Personen Charisma haben, so können Städte Charisma haben. Wir stellen plötzlich fest: Indem sie das haben, lösen sie Versprechen aus. Sie lösen ein Versprechen aus, das mit dem Konjunktiv zu tun hat, sie fragen: Wer wäre ich? Wer könnte ich sein? Wer hätte ich sein müssen in dieser Stadt?
Diese Form der Selbsterneuerung, der Erfahrung, die mit der Konfrontation mit Fremde zu tun hat, mit dem Nichtdurchschauen, mit dem Unpraktischen, mit dem Nichteffizienten, mit all dem, was nicht zu meinem genuinen Erfahrungsraum gehört, das ist es, was so etwas wie das Versprechen von Städten ausmacht.
Und indem wir dieser Spur folgen, stellen wir fest, dass es zwar etwas gibt, das wir »Fremde« nennen, das die fremde Stadt sein kann, dass wir aber in diesem Fremden sehr gerne das Vertraute suchen. Wenn es so ist, dann könnte es sein, dass wir nicht eigentlich Architekturen bereisen und nicht Kunstdenkmäler finden wollen, sondern dass wir in Situationen ankommen wollen, in einem Konflikt, in einem Geruch, in einer Umarmung. In etwas, das atmosphärisch verdichtet ist, das uns auf irgendeine diffuse Weise das Gefühl gibt, wirklich zu werden. Das ist das Kostbarste, was Lebensräume anbieten können: das Gefühl, in einem Augenblick wirklich zu werden.
Unterwegs zu Hoki Tokuda in Tokio
Die philippinische Stewardess mit Wohnsitz im Schwäbischen tritt an den Klapptisch, setzt den O-Saft ab und sagt: »Sodele«. Zufrieden? Und ob.
Ihr folgt der Steward mit dem Mineralwasser: »Lassen Sie es sich schmecken.« Wird gemacht.
Wir fliegen über Sibirien. Zum ersten Mal verstehe ich den Ausdruck »Das Gesicht der Erde«. Es lacht nie, aber gerade nimmt es Züge an wie die balinesischen Kultmasken, wie Farbholzschnitte aus Japan. Es grimassiert mit grotesken Faltenwürfen.
Viele Säfte, viele Mineralwässer später liegt Tokio unter uns, die Inseln ringsum wolkig weiß und grau, wie Schaumkronen auf dem Meeresspiegel, die Besiedlung wie eine Flechte. Nichts Schönes zu sehen von hier aus, nur das Schnittmuster der Erde ist schön.
Der Grenzbeamte in Narita Airport steht klein und streng. Die Schranke seines Arms klappt hoch:
»Purpose of your visit?«
»Holidays.«
»And the purpose of your visit?«
»And Holidays.«
»Holidays?«
»Yessir.«
»And what is in your suitcase?«
»Clothes.«
Ferien in Tokio? Mit Kleidern?
»You can go.«
Er sagt das resigniert.
Das Hotel, in dessen zwanzigstem Stock ich zwei Stunden Busfahrt später hinter der Gardine sitze, um die Stadt Tokio zu belauern, heißt »Jahrhundert«. Alles ist epochal hier, das Frühstück heißt »Jahrhundert-Frühstück«, der Pool »Jahrhundert-Pool«, und einen »Jahrhundert-Andenkenshop« gibt es auch, falls ich all dies Jahrhundert je vergessen sollte.
Die Hochbauten gegenüber stecken im Boden wie von innen beleuchtete Chitinpanzer ausgestorbener Insekten mit auf und nieder rasenden Fahrstühlen darin. Ja, und es gibt Schnittblumen im Aufzug, und Julio Iglesias wird ewig schmachten »Amor, Amor, Amor«. Auch hier. Die Liebe ist unausweichlich.
Das ist schön und schrecklich, denn während von der Liebe geschnulzt wird, wirken die Paare lieblos und die Masseurinnen, die noch bis Stunden nach Mitternacht gebucht werden, können auch ein Lied singen von der Liebe, aber ein anderes. Einer begegne ich im Fahrstuhl. Sie prustet, reibt sich die Arme und schüttelt den Kopf: Nein, nein und nochmals nein. So extrovertiert sind diese Masseurinnen selten.
Nach Mitternacht auf dem großen leeren Platz vor dem Neuen Rathaus, mitten auf der muschelförmigen Piazza, mit ihrer Assoziation des Mussolini-Prunks in Rom, dort also steht ganz allein ein Mädchen und fotografiert mit ihrem Mobiltelefon den Vollmond. Gibt es jemanden unter den dreißig Millionen im Großraum von Tokio, der heute nicht zum Nachthimmel hinaufblicken kann? Einen Kranken? Gefangenen? Unterirdisch Arbeitenden? Einen U-Bahn-Kontrolleur, eine Hostess, einen Bräutigam im Bankettsaal von einem der großen Hotelkeller? Oder wird der Mond gleich vom Display über die Landesgrenzen geschickt oder über den Ozean, vielleicht nach Europa, wo er noch nicht aufgegangen ist, aber jetzt acht Stunden zu früh eintreffen wird?
Sie könnte ihn einem Liebenden schicken und schreiben: Hier, Liebster, schicke ich Dir schon mal den Mond, unter dem Du in ein paar Stunden schlafen wirst. Amor, Amor, Amor … Das Mädchen kichert, dass es von den Marmorwänden rieselt. Als ich näher komme, geht sie schnell davon, den Mond fest eingepackt. Der Ort könnte nicht einsamer sein.
Ich kenne keine Stadt, über der das Licht so grau aufgeht wie über Tokio, der einzigen Stadt, die aus dem Anthrazit kommt und auf den Betonflächen langsam aufklart, heller wird, mausgrau, staubgrau, flanellgrau, fahl, dann licht. Graue Mauern werfen das graue Licht grau zurück, mehr Schattierungen seift der Frühnebel hinein. Auch der Dampf aus den Klimaanlagen mischt mit. Jetzt treten die Laufschriften heraus, jetzt die in die Fassaden gesäbelten Schriftzeichen, jetzt Billboards und Transparente.
Drei Tage später darf ich sagen: Der Himmel war immer schön. Keine Wolke blieb, und Sorgen gab es nur im Traum. In den Fenstern der Büros standen um vier Uhr nachmittags die Angestellten zu Fitnessübungen. In den Fenstern der großen Hotels flammten um drei Uhr früh nur noch die Lichter der Jetlag-Patienten, bis vier Uhr früh sind sie allein es, die wachen. Um sechs ging ich zum Frühstücken und aß Spaghetti, danach »Armer Ritter« zu »Jahrhundert«-Instantkaffee.
Dabei las ich jede lesbare Zeitung, darin einmal einen Artikel über drei konservative Anhänger Koizumis, die vor seinen Augen Seppuku begehen wollten, aus Enttäuschung über den Verrat an den traditionellen Idealen; ein andermal einen über den chinesischen Gewinner des »Ugly Man Contests«, der als Hauptpreis eine Rundumerneuerung seines Gesichts bekommt. Immer fanden sich da solch interessante Texte.
Und auf den Straßen? Randvoll sind Gassen, Brücken, Bahnen, Läden, Bürgersteige, Toreingänge, Verkehrswege aller Art mit sechzehnjährigen Mädchen, alle gleich hoch, alle gleich blass, alle gleich alt, ja, auf das Haar gleich alt. Faszinierend. Es muss also eines Tages eine gigantische Golden Shower über der Stadt niedergegangen sein, eine kosmische Befruchtung, die im nämlichen Augenblick Millionen Frauen schwängerte, die alle im selben Augenblick kleine Mädchen hervorbrachten, die so heransprossen, in dieselben Röckchen, Schühchen, Blüschen hineinwachsend.
Ihre plärrenden Stimmen. Immer kommen sie im Hof der gleichaltrigen Freundinnen, von Millionen Freundinnen. Eine trägt eine Baskenmütze, eine andere eine Baseballkappe aus Sandpapier. Dämchen in Matrosenanzügen sind dabei, Uniformierte im Dienste großer Kaufhäuser. Gemeinsam verschwinden sie in einem westlichen Dekor, »Das Brot-Restaurant« überschrieben, wo man sich an der Theke aus fünfzehn Brotkörben bedient, Sesambrot, Kürbisbrot, Zwiebelbrot, Tangbrot, Algenbrot, Brotbrot.
Andere verteilen Papiertaschentücher mit Werbeaufdrucken auf der Straße. Dritte wieseln mit indischem Curry zwischen gekachelten Wänden herum, in Schwarzwaldkostümen, mit gestärkten Schürzen und weißen Schleifen im Kreuz. Und so weiter.
Nach vier Tagen habe ich kaum vier Sätze gesprochen. Einem Fremden in die Augen zu sehen gilt als unhöflich. Man könnte unsichtbar sein und würde es kaum merken. Julio Iglesias singt immer noch im Aufzug, und allmählich werde ich knieweich.
»Licht des Orients, Perle des Orients«, »Venus von Samothrake, Shizuoka und Points East«, »Königin der Azoren«, »Du Gefeierte und Schöne«, »Nachfahrin der Samurai«, »Kleine Rosenknospe zwischen Dornen«, »Hoki Mysteriosa Cantabile«, »Singvogel, Liebesvogel«! Wollte ich nicht Hoki Tokuda finden, die letzte Frau von Henry Miller, die hier eine »Hostess Bar« unterhalten soll?
Diese befremdliche Frau, die wohl geliebt wurde und nicht zurückliebte, der geschrieben wurde und die nicht antwortete, wer war sie? Auf den wenigen publizierten Fotografien hat sie ein anderes Gesicht für jeden Fotografen.
Einmal schenkt sie Miller eine Aufnahme, auf der sie nackt sitzt, mit angezogenen Beinen vor einer Tapisserie. Wie sie so über die Schulter aufwärts blickt, könnte man sie für elegisch halten. Ein andermal zottelt sie als Hippieschlampe durch ein Museum. Dann wieder sitzt sie 1966 in den »Imperial Gardens« singend am Klavier und könnte France Gall sein. Auf dem Hochzeitsfoto mit Miller dagegen ist sie ein schüchternes Frauchen mit Pagenkopf, so treuherzig, dass man kaum glauben kann, dass sie gestand, Miller aus drei Gründen zu heiraten: »Sympathie, Aufenthaltsgenehmigung und Ruhm«.
Damals war sie irgendwo in der zweiten Hälfte ihrer Zwanziger, alle möglichen Zahlen kursieren, und jedenfalls zählte er bald fünfzig Jahre mehr als sie, die ihm, so ihre Version der Geschichte, als Tischtennispartnerin im »Pacific Heights« zugeführt wurde. Er schummelte und gewann.
Außerdem sang sie damals am »Sunset Boulevard« Jazz-Standards. Manchmal kam er, sie zu hören. Jedenfalls hatte sie in Tokio fünf Filme gedreht, war erst seit kurzem in den USA, und wer Miller war, das erfuhr sie erst durch Briefe von zu Hause.
Du sollst meine fünfte Frau werden, soll er gesagt haben. Ganz zuverlässig scheint ihr die Nummerierung nicht, argwöhnt sie doch, er habe inzwischen vielleicht ein paar Ehefrauen vergessen. Jedenfalls witterte der Standesbeamte eine Scheinehe, und so pfefferte sie ihm ein Konvolut Liebesbriefe vor die Nase, die Miller ihr seit 1966 geschrieben hatte, rührende Liebesbriefe, die mit der Zusendung von Kinderbildern eröffnet werden.