Penelop und die zauberblaue Nacht

Valija Zinck

Penelop und die zauberblaue Nacht

Annabelle von Sperber

FISCHER E-Books

Inhalt

Über Valija Zinck

Valija Zinck, 1976 in Ingolstadt geboren, arbeitete lange Zeit als Tanzpädagogin und freischaffende Choreografin, bevor sie das Schreiben für sich entdeckte. Nach ›Jakob und die Hempels unterm Sofa‹, ›Penelop und der funkenrote Zauber‹, das mehrfach ausgezeichnet wurde, und ›Drachenerwachen‹, ist ›Drachenleuchten‹ ihr vierter Kinderroman. Sie lebt mit ihrer Familie in Berlin. Literaturpreise und Auszeichnungen: Penelop und der funkenrote Zauber - Nominiert für den Zürcher Kinderbuchpreis - Ulmer Unke 2017 - Goldener Bücherpirat 2018 Drachenerwachen - Leipziger Lesekompass 2019

 

Annabelle von Sperber arbeitet als freie Illustratorin und Autorin im atelier2gestalten für verschiedene Verlage und Printmedien. Sie studierte Illustration an der HAW Hamburg und lehrt als Dozentin an der Akademie für Illustration und Design in Berlin.

 

Weitere Informationen zum Kinder- und Jugendbuchprogramm der S. Fischer Verlage finden Sie unter www.fischerverlage.de

Impressum

Originalausgabe

Erschienen bei FISCHER E-Books

 

© 2020 Fischer Kinder- und Jugendbuch Verlag GmbH,

Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main

 

Covergestaltung: Regina Solf unter Verwendung einer Illustration von Annabelle von Sperber

 

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.

ISBN 978-3-7336-0395-3

Aus den Studien des Alpha Regius

Warme Morgenstunden

Penelop Gowinder lag im Bett und strich sich ihr rotes Struwwelhaar aus dem Gesicht. Blinzelnd sah sie ins frostige Frühlingsmorgenlicht. Obwohl es in ihrem Zimmer so kalt war, dass sie den Atemhauch sehen konnte, fühlte Penelop sich rundum warm und wohlig. Vor allem tief innen im Bauch. Und das lag nicht daran, dass Cucuu, die alte graue Katze, sich wie so oft an Penelops Bauch gekuschelt hatte. Sondern weil ihr Vater wieder da war. Er war das jetzt schon seit über einem halben Jahr. Trotzdem. Penelop konnte es manchmal noch nicht so ganz glauben.

Die ersten Wochen nach seiner Heimkehr war sie quasi immer mit ihm zusammen gewesen. Wenn er zur Bäckerei hoch ins Dorf geradelt war, war sie mitgekommen. Bergauf

Penelop streckte sich. Sie kraulte Cucuu zwischen den Ohren, so dass ein gedämpftes Schnurr, Schnurr durch die Decke drang.

Ihre Mutter war auch wie ausgewechselt, seit der Vater wieder da war. Sie hatte meistens ein Glitzern in den Augen, wenn sie ihn ansah oder zärtlich seine Hand nahm. Das war beim Wäschewaschen allerdings nicht unbedingt von Vorteil.

Vor lauter Glitzeraugen hatte Frau Gowinder nämlich das karierte Flanellhemd ihres Mannes dermaßen heiß gewaschen, dass es fünf Größen eingelaufen war.

»Oje, das können wir jetzt wohl ausrangieren«, hatte sie bedauert und das Hemd von sich weggehalten, als sei es ein wertloser Fetzen.

»Kommt überhaupt nicht in Frage!« Penelop hatte sich das krunklige Kleidungsstück geschnappt, sich übergestreift und stolz die Ärmel aufgekrempelt.

»Das trage ab heute ich!«

Jetzt schwang sie sich aus dem Bett, schlüpfte in die Kleider und stopfte sich ihr ungestümes Flammenhaar zu einem halbwegs ordentlichen Pferdeschwanz zusammen.

Dazu gehörte, dass Penelop die Worte ihrer Mutter manchmal schon hörte, bevor diese überhaupt aus Frau Gowinders Mund hinausspaziert waren.

Oder dass Penelop und ihr Vater sich nicht immer auf dem Erdboden aufhielten. Sondern etwas weiter oben. Über den Wipfeln der Bäume, um genau zu sein.

Manch einer nennt das vielleicht Magie. Oder Zauberei oder Hexenkunst. Penelop und ihr Vater nannten es schlicht und einfach unsere Art.

Im Winter, als der Schnee in federgleichen Flocken fiel, die Sümpfe gefroren und es viel zu klirrend kalt wurde, um richtig hoch oben zu fliegen, hatte der Vater versucht, Penelop das Senkrechte-zwischen-den-Bäumen-Hindurchschweben beizubringen. Leider hatte er es nicht so gut erklärt, oder vielleicht hatte Penelop auch nicht ganz so gut zugehört. Jedenfalls war sie mit dem Anorak an einem spitzen Ast hängen geblieben, und er war eingerissen. Und ihre kleine Nase – ein bisschen aufgeschürft. Und ihr blasses Gesicht – rot vor Unmut.

»Dummer Ast! Der war eben noch viel tiefer.«

»Berufsrisiko, Penni«, hatte der Vater lachend gesagt und ihr sein großes Stofftaschentuch zum Naseabtupfen gereicht. Das Fliegen hatte dann – sosehr es Penelop vermisste – den Winter über Pause machen müssen.

Manchmal war Penelop aufgefallen, dass dem Vater das auch weh tat. Jedenfalls verschleierte, trübte sich immer mal wieder sein Blick. Besonders in letzter Zeit.

»Penni!!!!«, hallte die Stimme ihre Mutter jetzt nach oben. »Muss ich dich noch mal wecken? Oder rauskitzeln? Du hast zwar heute erst zur dritten Stunde, aber langsam könntest du trotzdem mal runterkommen.«

»Bin unterwegs«, rief Penelop zurück.

Heute Nachmittag, gleich nach der Schule, wollte der Vater mit Penelop in den Wald. Zum Steinkreis. Ihr einen Erdzauber beibringen. Was das wohl war? Strikt geweigert hatte er sich, Genaueres zu verraten. Aber egal. Penelop freute sich auch so darauf.

Sie hüpfte die ausgetretene Holztreppe hinunter in die Küche und schenkte ihrer Mutter einen Kuss auf die Wange. »Guten Morgen, Mama. Wo ist denn Papa?«

»Schon lange los. Er hat gemeint, es hätte mit etwas für dich zu tun«, sagte die Mutter lächelnd.

»Mit was denn?«, fragte Penelop voller Neugier.

»Das hat er mir nicht gesagt.«

Na toll! Penelop setzte sich an den Tisch und biss in ihr

Warten

In der Schule starrte sie die meiste Zeit zum Fenster hinaus. Wer überlegen muss, was ein Erdzauber ist, was der Vater für Überraschungen für einen fabriziert und wo er überhaupt hin war, kann sich eben nur schwer konzentrieren.

Es war ein glücklicher Zufall, dass Tom und Pietsch heute ihre Scooterchallenge gegen die Jungs aus der Parallelklasse organisierten. Sie redeten quer durchs Klassenzimmer, ein Zettel nach dem anderen musste durch die Bänke gereicht werden. Pietsch fotografierte sogar ihren Teilnehmerplan, schickte ihn gleich mal in die 6a, vergaß dann aber, sein Handy wieder auszuschalten, und wenig später klingelte es. Genauer gesagt gab es das wieder, was

Die Klasse lachte laut auf. Herr Pumpf, der sonst so geduldige Lehrer, lachte nicht. Er kassierte Pietschs Handy und schimpfte: »Du bist heute wirklich unmöglich!«

Aus Penelops Sicht war Pietsch nicht unmöglich. Er war genau richtig. Erstens weil er ihr Freund war. Und zweitens weil sie sich dank ihm und Tom völlig ungestört in den Nachmittag hineinträumen und sich Überraschungen ausmalen konnte.

 

Der Nachmittag wurde leider nicht überraschend, sondern einfach nur lang, länger, am längsten. Treppe rauf, Treppe runter, zur Tür raus, niemand da. Zur Tür rein, Cucuu gestreichelt, zur Tür raus, immer noch nichts. Den buckligen Sandpfad bis zur Straße hinaufgetrottet, den Vögeln zugehört, wieder zurück. Rein ins Haus, einen Apfel gegessen, Treppe rauf, Treppe runter, wieder raus, kein Papa in Sicht. Mama beim Klarinetteüben zugehört, noch mal umsonst nachgesehen, Hausaufgaben gemacht und dann wieder alles von vorne, Treppe rauf …

»Wo bleibt Papa nur?« Penelop sah jetzt grimmig auf die gelbe Küchenuhr und genauso ihre Mutter an. Als könne Frau Gowinder etwas dafür, dass der Stundenzeiger nun schon in Richtung sieben wies und der Vater immer noch nicht zu Hause war.

»Beruhige dich, Penni. Er kommt bestimmt bald.« Die

»Mama, ist irgendwas?«, fragte Penelop.

»Nein, nein, nichts«, lächelte die Mutter ein wenig glasig. Das Flattern um die Mundwinkel war wieder verschwunden.

Aha, nichts also, dachte Penelop und half, den Tisch fertig zu decken, dann schlüpfte sie wieder zur Haustür hinaus und ließ sich diesmal auf der kleinen Holzstufe nieder.

Unter der Stufe begann die Wiese und jenseits der Wiese der Sumpfwald. Von seinem Grunde stieg Nebel empor. Doch die ersten Schlüsselblumen rings um das Drachenhaus leuchteten den Schwaden tapfer entgegen.

Früher hatte das leicht windschiefe Holzhäuschen so ausgesehen, als hätte es eine Drachenhaut. Rote und grüne abgeblätterte Farbschichten hatten es überzogen. Da hatte Penelop es Drachenhaus genannt. Der Name passte eigentlich nicht mehr. Herr Gowinder hatte die gesprenkelten Außenwände letzten Herbst komplett abgeschliffen und mit durchsichtiger Farbe eingelassen. Er hatte die schiefen Fensterläden gerade in die Angeln gehängt und auch das

»Ich kann von einem derart alten Haus nicht verlangen, sich noch umzugewöhnen«, hatte sie gefunden. »Auch wenn Papa wieder mit uns darin wohnt! Was sicherlich das Schönste ist, was man als Haus überhaupt erleben kann.«

Nur dass Oma Erlinda irgendwann ausgezogen war, bedauerte Penelop ein bisschen. Das Drachenhaus hatte drei nicht gerade große Zimmer plus die Wohnküche. Für sie alle zusammen war es ziemlich eng geworden. Oma wohnte jetzt oben im Dorf. Direkt über der Bäckerei, und das war wunderbar. Immer wenn Penelop sie besuchte, bekam sie Marzipankringel oder Nussecken serviert. Und Omas ziegelharter Apfelkuchen ohne Äpfel gehörte endgültig der Vergangenheit an.

Mit einer ruckartigen Bewegung warf Penelop sich nun ihre Struwweln auf den Rücken und starrte hinauf in die Baumwipfel, zwischen denen das Licht des Tages allmählich verblasste.

Der Nebel wurde zunehmend grauer, dichter und kroch über das Sumpfgras heran. Penelop begann ein wenig zu frösteln. Sie zog das eingelaufene Flanellhemd ihres Vaters enger um sich.

Wo steckte er nur? Ihr Unmut verwandelte sich in Sorge. War ihm etwas passiert?

Plötzlich huschte ein flüchtiges Zucken über ihren Nacken, und ein Schauer rieselte ihr den Rücken entlang. Das geschah immer, wenn sich jemand näherte, der ihr

»Papa!«, rief Penelop in die dunstige Wand hinein. Da schwand die Empfindung wieder, versickerte, als hätte es sie nie gegeben, und es roch plötzlich nach feuchter Erde. Seltsam. Penelop stand auf und fasste nach der Türklinke.

»Papa, bist du da?«

Der helle Ruf eines Falken erklang.

»Papa«, flüsterte sie noch einmal.

Doch er antwortete nicht.

Immer noch Warten

»Kommst du wieder rein? Wir fangen ohne ihn an zu essen.« Die Mutter zog Penelop zurück in die holzfeuergemütliche Küche, die von einem Duft aus überbackenem Käse und Kartoffeln durchzogen war.

Penelop war nicht nach Essen zumute. Sie war viel zu aufgewühlt. An den Tisch setzte sie sich trotzdem.

»Papa kann doch nicht einfach wegbleiben. Er hat mir versprochen, dass wir heute zum Steinkreis wandern und …«

Die Mutter füllte die Teller, dass sie dampften, und murmelte:

»Zu mir hat er gesagt, er müsse heute wohin, um etwas Wichtiges herauszufinden, was euresgleichen betrifft, etwas, was mit dir zu tun hat. Dass es so lange dauert, wusste

»Als ich vorhin zu dir sagte, es sei nichts, habe ich nicht ganz die Wahrheit gesagt. Ich mache mir Sorgen, Penni. Die mache ich mir immer, wenn Papa zu lange weg ist. Es ist vielleicht albern, aber ich habe dann jedes Mal Angst, dass er wieder komplett vom Erdboden verschwindet.« Sie lächelte matt. »Ich kann das einfach nicht abstellen.«

Penelops Vater war nämlich all die Jahre nicht freiwillig fort gewesen. Er war gefangen gehalten worden von zwei Männern seiner Art. Die hatten sich Leopolds Fähigkeit, die Gedanken anderer Menschen beeinflussen zu können, zunutze gemacht, um damit reich zu werden. Diese Männer, genannt Fellseifer und Platell, waren jetzt weit weg. Herr Gowinder hatte dafür gesorgt, dass sie nicht wiederkamen. Er hatte sie mit einem Vergessenszauber belegt, so dass sie sich an ihn, ja eigentlich an ihr komplettes bisheriges Leben nicht mehr erinnern konnten.

»Ich habe immer Angst, dass Leopold etwas zustößt.« Frau Gowinder zwirbelte hilflos an ihrer feinen Halskette herum, die ihr Mann ihr letztes Weihnachten geschenkt hatte.

Penelop tastete über den Küchentisch nach der Hand der Mutter. Sie war ihr dankbar. Dafür, dass sie ihr jetzt die Wahrheit sagte und nicht wieder so tat, als sei bei ihr alles in bester Ordnung.

»Mama«, begann sie. »Mit wem wollte Papa eigentlich heute etwas klären?«

»Und ich auch nicht. Wie ich so vieles nicht weiß, was unsere Art angeht. Und das finde ich überhaupt nicht gut«, murmelte Penelop und überlegte, ob sie der Mutter erzählen sollte, dass sie eben vor der Haustür jemand gespürt hatte. »Ich weiß nur, dass Papa manchmal traurig ist.«

»Er hat viel durchgemacht«, erwiderte die Mutter. »Selbst ein Mensch wie er steckt das nicht in so kurzer Zeit weg.«

»Ja, aber …«

Zuck, zuck machte Penelops Nacken erneut, und der Rückenschauer ließ sie jetzt regelrecht zusammenfahren. Cucuu rannte maunzend über die Dielen. Die Haustür knarzte und dann, ja dann stand einfach Herr Gowinder im Drachenhaus. Mit nebelfeuchtem kupferrotem Haar, seinem Parka und einem Strahlen im wohlgeformten Gesicht, als wäre er die Sonne persönlich.

»Papa!!!« Penelop sprang auf und warf sich in seine Arme. Die Mutter stieß einen Seufzer der Erleichterung aus.

»Was für ein Tag! Tut mir leid, ich bin zu spät, meine Lieben. Aber ich kann es gleich erklären, und du wirst dich freuen, Penelop. Oh, hier gibt es ja Ofenkartoffeln mit Käse. Lucia, du kannst viel besser Gedanken lesen als ich!«

Er küsste Penelop fröhlich auf die Stirn und wand sich aus ihren Armen, um die Mutter ebenfalls zu küssen.

»Hallo Leopold«, sagte sie und zwang sich, sein Lächeln zu erwidern »Ja, du bist wirklich sehr spät, und wir haben

Der Vater sah völlig überrumpelt und auch ein bisschen erschrocken aus. Doch die Mutter war zu sehr in Schwung, um darauf zu achten.

»Angst ist schlimm. Besonders wenn man nicht weiß, woher sie kommt. Ich will endlich wissen, was damals genau geschehen ist. Obwohl Fellseifer und Platell über alle Berge sind und sich an nichts erinnern können, habe ich den Eindruck, dass du immer noch mit damals beschäftigt bist und dich fürchtest.«

»Ich fürchte mich nicht mehr«, wandte der Vater sanft ein. »Ich bin nur manchmal ziemlich traurig. Vielleicht sieht das dann so aus. Außerdem habe ich … ach, ich möchte gerne erst etwas essen und dann …« Weiter kam er nicht.

»Und warum bist du traurig? Keinen Aufschub mehr!« Die Stimme der Mutter wurde greller. »Als du dir vor elf Jahren plötzlich die Haare mit der Aschenpaste gefärbt hast, damit deinesgleichen dich nicht mehr spüren können, da hast du zu mir auch gesagt: ›Später, Lucia, ich erkläre es dir später.‹ Zu ›später‹ ist es aber nie gekommen, weil du dann nämlich nicht mehr da warst!«

Penelops Brust zog sich zusammen. Jetzt war ihre Mutter aber ungerecht. So wie sie sprach, hörte es sich ja fast so an, als könne ihr Vater selbst was dafür, dass er nicht

Herr Gowinder ließ sich auf den Küchenstuhl sinken.

»Mama, wie kannst du …«, begann Penelop.

»Es tut mir leid«, sagte die Mutter sofort. »Ich hatte einfach Angst. Ich hatte mich nicht mehr im Griff. Ich … Leopold, vielleicht kannst du ja essen und gleichzeitig erzählen, was dich bedrückt.«

Der Vater nickte und bekam einen ganz seltsamen Blick. Die Kartoffeln rührte er nicht an.

»Eigentlich wollte ich etwas Schönes erzählen und nicht das von damals. Aber gut. Also, der Tag, an dem … ich weiß nicht, ob ich es euch erzählen kann. Es ist so schlimm.« Er verstummte wieder. Doch dann straffte er sich, schöpfte erneut Luft und fing an zu berichten, und Penelop war für das, was dann kam, nicht ganz gewappnet.

Düstere Erinnerungen

»Der Tag, an dem ich die Aschenpaste kreiert habe, war der schlimmste meines Lebens«, begann der Vater. »Ich hatte die Paste, wie ihr ja wisst, nicht zum Spaß zusammengerührt, sondern um mich für Leute unserer Art unspürbar zu machen. Weil ich abgrundtiefe Angst hatte. Angst zu sterben. So wie Alpha Regius an diesem Tag gestorben ist.«

Herr Gowinder sah auf seine großen Hände, die ineinander verschlungen auf dem Tisch lagen.

»Alpha Regius?«, fragte Penelop. »Der, der unser Buch mit dem schimmernden Einband geschrieben hat?«

Leopold nickte.

»Genau der. Ich habe an diesem Tag den Menschen verloren, den ich nach dir, Lucia, am meisten verehrt, ja

Der Vater hielt inne.

Die gelbe Uhr gab beharrlich ihr leises Tick, Tick, Tick von sich, und Penelop kam es plötzlich so vor, als würde die Zeit verrinnen und knapp werden. Knapp wofür? Das konnte sie nicht sagen, es war nur so eine Ahnung, ein kaum fassbares Gefühl.

»Und weiter?«, fragte die Mutter nach einer Weile vorsichtig.

»Was? Ach ja …« Der Vater sah die Mutter jetzt direkt an.

»Damals habe ich zu dir gesagt: ›Ich verschleiere mich, ich werde unsichtbar für meinesgleichen. Wir werden umziehen und an einem neuen Ort ein normales Leben führen.‹ Und das ging ja auch gut. Wir waren jung, wir waren verliebt, und ich war abgelenkt und musste mich dem Schmerz um Alpha Regius nicht stellen. Und als Penelop dann geboren wurde, war unser Leben sowieso so erfüllt.«

Penelop wurde es kribblig warm im Bauch. Es war einfach immer wieder so schön, das mit dem »Erfülltsein« zu hören.

»In den langen Jahren meiner Gefangenschaft habe ich nur an euch gedacht. Immer nur an euch. Aber jetzt, da

»Das verstehe ich nicht.« Penelop zog die Stirn kraus. »Wieso ›nach all dieser Zeit niemand mehr verfolgt‹? Du hast doch Fellseifer und Platell außer Gefecht gesetzt.«

»Ich habe mich damals vor einer ganzen Gruppe von Leuten versteckt. Fellseifer und Platell gehörten zwar auch mal dazu, aber sie sind irgendwann wieder ausgestiegen und haben ihre eigenen Ziele verfolgt. Jedenfalls gehörten sie nicht zu denen, die Alpha Regius auf dem Gewissen haben.«

»Auf dem Gewissen? Du meinst …« Die Mutter hielt sich die Hand vor den Mund, und der Vater sprach mit brüchiger Stimme weiter.

»Ja. Ich habe damals gesehen, wie Alpha Regius getötet wurde. Auf dem Gang, vor der Tür von Frau Winkel.«

»Wer ist denn jetzt wieder Frau Winkel?«, fragte Penelop.

»Frau Winkel war Alpha Regius’ Gehilfin, Assistentin, Sekretärin oder so, vielleicht auch seine Lebensgefährtin. Ich weiß es nicht genau. Ich habe sie nur zweimal gesehen.

Alpha Regius hatte mich zu ihrem Arbeitszimmer bestellt. Frau Winkel sollte mir meine Arbeit, die ich über Gegenkräfte geschrieben hatte, zurückgeben. Alpha Regius hatte diese Arbeit nach Unklarheiten durchgesehen und bei ihr hinterlegt.

Ich war an diesem Tag viel zu früh dran und stieg

Der Vater verstummte. Nach einer Weile rüttelte Penelop ihn behutsam am Unterarm, denn er schien völlig vergessen zu haben, dass er gerade etwas erzählte.

»Was? Ach so, ja, das Arbeitszimmer von Frau Winkel lag ganz am Ende eines weiten, langen Ganges. Ich öffnete die bronzene Schwingtür, die das Treppenhaus von diesem Gang trennt, und da standen sechs Gestalten weit hinten, direkt vor Frau Winkels Tür. Unseresgleichen. Natürlich, alle in diesem Gebäude waren unseresgleichen. Einer der sechs war Alpha Regius. Die anderen habe ich nicht erkannt, denn sie standen mit dem Rücken zu mir. Nur Alpha Regius, der stand so, dass ich sein Gesicht sehen konnte, und das war kalkweiß.

Dann ging alles unglaublich schnell. Er rief ›Verschwinde!‹ – ich glaubte, er meinte mich. Er hob beide Hände, so als ob er sich ergäbe. Aber vielleicht wollte er auch seine Gegenüber verschwinden lassen, ich weiß es nicht. Auch die anderen hatten plötzlich die Hände nach oben gerissen, merkwürdig gekrümmt.

»Es wird weitergehen«, hallte Alpha Regius’ Stimme durch den Gang. »Ich bleibe ich.« Und er sackte zusammen und fiel dumpf zu Boden. Ich war wie erstarrt. Ich konnte nicht fassen, was geschehen war.

»Tja, good bye, old Alpha, wird wohl nichts mit ›ich bleibe ich‹«, stieß einer verächtlich hervor und tastete nach Alpha Regius’ Puls. »Du wirst jetzt nur noch Erde.«

Ich bin sofort ins Treppenhaus, dann nach unten und hinaus ins Freie gerannt. In den verblichenen Gräsern vor dem Gebäude habe ich mich notdürftig verwurzelt und bin nach oben gezischt. Ehe einer von diesen Leuten aus dem Gebäude herausgekommen war, war ich in den Wolken verschwunden. Ich wusste nicht, ob sie mich erkannt hatten.«

Penelop stand auf. Sie musste sich bewegen, musste die Beklemmung aus ihren Gliedern schütteln. Cucuu strich um ihre Beine. Penelop bückte sich, nahm die Katze auf den Arm und drückte ihr Gesicht in das stumpfe Fell. Der Vater sah zu ihnen. Aber Penelop kam es so vor, als blicke er durch sie hindurch und würde dort, weit weg, nur sich selbst sehen, wie er fortflog …

»Ich flog sofort nach Hause. Und das war der Abend, Lucia, als ich so verstört zu dir kam und gleich hoch in unser Zimmer rannte, um meine Bücher zu Rate zu ziehen. Ich habe Kräutertinkturen gemischt und zu experimentieren begonnen. Alles, was ich zustande brachte, war hochexplosiv. Zu gefährlich, um sich damit unsere Wahrnehmbarkeit aus den Haaren zu ziehen. Aber irgendwann habe ich das mit der Asche rausgefunden: Ich hatte die Paste erschaffen, die uns für unseresgleichen unspürbar macht. Sie erzeugte graue oder weiße Haare, und leider dämpfte sie auch meine Kraft extrem. Aber das war ein geringes Opfer für Sicherheit, dachte ich mir. Und dann sind wir hierher, in unser geliebtes Holzhaus umgezogen. Und ich habe

Der Blick des Vaters verweilte immer noch auf Penelop und Cucuu. Doch nun nahm er sie wieder wahr, sah sie unverwandt an.

»Ich höre Alpha Regius’ Stimme in mir wispern und werde traurig. Es ist, als hätten meine Erinnerungen in tiefgefrorener Erde gelegen, sie sind richtig frisch. Sie kreisen mich ein. Ich frage mich, ob ich Alpha Regius nicht hätte helfen können, ihn retten, wenn ich damals auf dem langen Gang sofort zu ihm geeilt wäre. Diese Frage lastet auf meinem Herzen wie ein Stein.«

»Warum?«, fragte Penelop.

»Warum«, wiederholte der Vater leicht befremdet.

»Warum haben die Alpha Regius getötet, meine ich.«

»Ich weiß es nicht mit Sicherheit. Vielleicht weil er ein sehr Mächtiger unserer Art war. Er hat uns beigebracht, quer und durchdringend zu denken. Nicht nur die üblichen vorgefertigten Gedanken. Er war der beste Lehrer, den wir je hatten.«

Penelop ließ Cucuu wieder hinunter auf die Dielen. Sie bekam plötzlich eine unglaubliche Sehnsucht, auch so einen Lehrer oder eine Lehrerin zu haben. Und auch danach, sich mehr in der Welt ihrer Art zu bewegen. Selbst wenn es da vielleicht gefährlich war. Sie wollte sich dort auskennen, sie wollte, wie ihr Vater soeben, auch mal uns und wir sagen können. Und da Leopold bisher kaum von seinem früheren Leben erzählt hatte, sog Penelop nun all

»Alpha Regius hat sich für Gleichberechtigung eingesetzt«, begann Herr Gowinder nun wieder. »Schon als sehr junger Mann hat er dafür gesorgt, dass auch Mädchen magisches Training erhielten. Bis vor noch gar nicht so langer Zeit war das nämlich reine Männer- und Jungensache gewesen. Aber Alpha Regius hat diese verkrusteten Strukturen mehr und mehr aufgeweicht.«

»Hört sich vernünftig an«, murmelte die Mutter. »Und er war ein Mann. Das ist besonders. Viele Menschen setzen sich ja für Dinge ein, die sie selbst betreffen.«

»Ja, er war sehr besonders«, fuhr der Vater fort. »Es gab jedoch diese Gruppe von Leuten, die sich Der Goldene Kondor nannte. Die wollten zurück zu mehr Tradition. Sie verlangten eine einheitliche Ausbildung, in der funktionales Zaubern und absoluter Gehorsam das Wichtigste sein sollten. Sie wurden mehr. Und sie wurden immer gewaltbereiter. Eines Tages wollten sie tatsächlich mich anheuern, Alpha Regius zu bespitzeln. Sie vermuteten, dass hinter seiner außerordentlichen Kraft ein dunkles Geheimnis läge. Dieser Job würde mir eine hohe Position mit viel Geld einbringen. Ich habe natürlich abgelehnt und Alpha Regius davon erzählt. Er hat darüber nur gelacht und gemeint: ›Lass sie nur, Leopold.‹«

»Und diese Leute waren dann die, die ihn …?«, fragte die Mutter.

»Die Menschen auf dem Gang haben jedenfalls diese

»Aber wieso hat Alpha Regius sich nicht gewehrt? Wenn er doch so fähig war?«, wand Penelop ein.

Der Vater blickte wieder gedankenverloren ins Leere. »Irgendetwas muss passiert sein. Vielleicht war er geschwächt. Vielleicht konnte er nicht mehr.«

»Vielleicht«, murmelte Penelop, »vielleicht hatten die vom Kondor ja einen anderen Spion gefunden? Diese Assistentin, diese Frau Winkel. Sie hat Alpha Regius ja anscheinend nicht geholfen. Obwohl er direkt vor ihrer Tür stand.«

»Sei still, Penelop«, sagte der Vater sofort. »Was redest du denn da? Noch dazu über einen Menschen, den du überhaupt nicht kennst! Alpha Regius hat Frau Winkel sehr geschätzt und hätte sich nie von jemandem wie ihr täuschen lassen. Sie war nicht sonderlich begabt, sie konnte eigentlich gar nichts, also jedenfalls was unsere Fähigkeiten angeht.«

»Ja, ja. Ist ja gut«, murrte Penelop. Ihr kam es einfach komisch vor, dass dieser Großmeister sich einfach so hatte ausschalten lassen.

Die Mutter nahm jetzt die Hand des Vaters und drückte sie.