Roger Willemsen
Willemsens Jahreszeiten
FISCHER E-Books
Roger Willemsen, geboren 1955 in Bonn, gestorben 2016 in Wentorf bei Hamburg, arbeitete zunächst als Dozent, Übersetzer und Korrespondent aus London, ab 1991 auch als Moderator, Regisseur und Produzent fürs Fernsehen. Er erhielt zahlreiche Auszeichnungen, darunter den Bayerischen Fernsehpreis und den Adolf-Grimme-Preis in Gold, den Rinke- und den Julius-Campe-Preis, den Prix Pantheon-Sonderpreis, den Deutschen Hörbuchpreis und die Ehrengabe der Heinrich-Heine-Gesellschaft. Willemsen war Honorarprofessor für Literaturwissenschaft an der Humboldt-Universität in Berlin, Schirmherr des Afghanischen Frauenvereins und stand mit zahlreichen Soloprogrammen auf der Bühne. Zuletzt erschienen im S. Fischer Verlag seine Bestseller »Der Knacks«, »Die Enden der Welt«, »Momentum«, »Das Hohe Haus« und »Wer wir waren«.
Über Roger Willemsens umfangreiches Werk informiert der Band »Der leidenschaftliche Zeitgenosse«, herausgegeben von Insa Wilke. Willemsens künstlerischer Nachlass befindet sich im Archiv der Akademie der Künste, Berlin.
Weitere Informationen finden Sie unter www.fischerverlage.de
»Willemsens Jahreszeiten« erschienen unter großer Anteilnahme der Leserschaft von 2010 bis 2015 im Magazin der Wochenzeitung »Die Zeit«. Liest man Roger Willemsens Kolumnen heute am Stück hintereinander weg, ergibt sich das dichte Porträt einer gesellschaftlichen und kulturgeschichtlichen Schlüsselperiode für unsere Gegenwart. Es zeigt sich ein Autor auf der Höhe seiner rhetorischen Virtuosität, der uns Gott als »Tischfeuerwerker« vorstellt, einen »Rettungsschirm« zum »Knirps« schrumpfen lässt und den Journalismus dafür kritisiert, dass er »Inhalte« wie »Tütensuppenpulver« behandle: »Fünf Minuten wallen lassen.« »Willemsens Jahreszeiten« sind nicht einfach nur Kolumnen. Mit ihnen hat Roger Willemsen den Zeitgeist festgehalten.
Originalausgabe
Erschienen bei FISCHER E-Books
© 2020 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main
Covergestaltung: KOSMOS - Büro für visuelle Kommunikation
Coverabbildung: Anita Affentranger
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-491323-0
Da haben wir den Frühling! Doch das Gefühl dazu heißt Phlegma. Am »sausenden Webstuhl der Zeit« sitzen wir, gewiss, in einer »schnelllebigen«, »immer schneller werdenden«, rasanten Gegenwart, so sagt man. Aber mitten darin ist alles so still wie in einer dicken Suppe.
Den Bundestagswahlkampf haben wir gelangweilt ertragen, es ging zwar um uns, ganz um uns, aber inzwischen ödet es uns an dieses »Uns«. Die großen Wahlen haben wir vollbracht wie eine Riesenleistung, haben die entschleunigte Rhetorik der Jahreswechselansprachen überstanden mit all ihrem »wir müssen«, »wir dürfen nicht«, und was ist geblieben? Post-Coitum-Traurigkeit, bleierne Resignation, Je-m’en-Foutisme und kommende kleine Wahlen. Also noch mehr Pomposo, noch mehr Funktionsmasken im Konfettiregen, begleitet vom Spielmannszug der Plattitüden. Doch wo ist das große »Wir« bloß hin? Was ist aus unserem Neubeginn, um nicht zu sagen, aus unserem Wohl geworden? Eine von Krankenkassenbeiträgen, Fluglotsenstreiks und der Schlaglochproblematik bedrohte Ich-AG unter einem unbevölkerten Himmel.
Himmel? Lange wussten wir: Gott würfelt nicht. In diesem Frühjahr erfahren wir: Er ist eher Tischfeuerwerker, und wir sind Homo sapiens genug, bald zu wissen, was Sekunden nach dem Urknall geschah, als die Erde noch in der Fruchtblase kraulte. Physiker des Forschungs-Grals CERN simulierten diesen Zustand der Welt nach der Knall-Werdung. Warum können wir nun nicht beginnen, unseren Zustand nach der Polschmelze oder nach der Finanzkrise zu simulieren, also vom wahrscheinlichen Anfang auf das mögliche Ende zu blicken? Weil solche Forschungen, wie gerade publik geworden, von der Industrie diskreditiert werden? Ja, die letzten Fragen der Menschheit schaffen es immer nur auf einen der letzten Plätze in den Nachrichten. Auf die ersten Plätze schaffen es Pendlerpauschale und Heimwehzulage.
Anders gesagt: Nicht Osama bin Laden, den Kohl’schen Parteispenden, der Ermordung russischer Regimegegner kommen wir auf die Spur, aber der Entstehung des Weltalls. Nicht die Gletscher, die Artenvielfalt, das Weltklima retten wir, sondern die Gen-Kartoffel, das Ministerpräsidenten-Sponsoring, den guten Ruf und die schlechten Umfrageergebnisse. Die Tagespolitik ist dazu da, von den Jahrhundertveränderungen abzulenken. Wäre es anders, mit der »Zukunft« könnte man kaum Wahlkämpfe führen.
Das Jahr 2010 begann, und man dachte: Wie so weit und still die Welt! Überall saßen Eminenzen zwischen Kerzen und sagten, was wir sollen, sie sagten es sanft, damit sich ihre Worte nicht noch zu unseren Schrecken addieren. Angela Merkel stimmte uns auf ein hartes Jahr ein. Ihr eigenes wird so hart nicht werden dank windelweicher Rhetorik und einem Phantomschmerz namens SPD.
So sind denn auch aus Kopenhagen die Demonstranten ganz leise wieder heimgezogen. Ganz unbemerkt haben auch die Studenten ihre Streiks eingestellt, waren doch die Professoren oft radikaler gewesen als ihre Pflegebefohlenen. Durch den Lärm des Schweigens drang nichts, und die einzige Ruhestörerin in diesem Frieden war eine Frau, die den Papst am Weihnachtstag umriss. Aber sie wollte ihn bloß umarmen, und um das zu wollen, sprach die publizistische Ferndiagnostik, muss man schon »geistig verwirrt« sein.
Prophetisch, hat doch die Kirche seither dem Umarmen seinen guten Ruf genommen und den Eindruck erzeugt, als schändeten ihre Priester seit Jahrzehnten der Verjährung entgegen. Könnte es sein, dass sich so viele Ausnahmen allmählich zur Regel verdichten, dass ein totalitäres System wie die Kirche dergleichen zwangsläufig hervorbringt, oder, wie Dieter Hildebrandt so bündig fragte: »Die Kirche spricht von sexuellem Missbrauch? Versteh ich nicht. War doch Brauch!«
Doch der Vatikan ist kein Spielfeld und kein »Wiesenhof«: Beim DFB wurde die Fummelei unter Schiedsrichtern mit Runden Tischen nicht unter lebenslänglich bestraft, und kaum wurde der Verdacht ruchbar, bei Wiesenhof seien Hühner, wenn nicht sogar minderjährige Hähnchen, systematisch misshandelt worden, kam es zu einer Strafanzeige. Tierschutz ist eben manchmal schneller als Menschenschutz.
Denn jetzt, oh weh, Odenwald, Salem, Domspatzen, Windsbacher Knabenchor: überall »entsprechende Vorfälle«! Da hilft nur noch das äußerste Äußerste: eine Hotline, so heiß, dass sie gleich überlastet war. Deshalb musste der Vatikan sein Schweigen außertelefonisch auf die gute alte »urbi-et-orbi«-Art verbreiten. Das »reine Herz« des Bischofs Mixa allerdings entpuppte sich als unrein und konnte sich lange zum Rücktritt nicht durchringen, anders als das der Bischöfin Käßmann, die zwar unreinen Blutes war, ihr reines Herz aber auf dem rechten Fleck hatte.
Doch dann eine Stimme wie Donnerhall. Die Welt am Sonntag titelt: »Es reicht« – und alle, alle geben ihr recht. »Es reicht!« – »J’accuse!«, sie reinigt die Luft, diese »Abrechnung mit dem Winter«! Ja, da kann sich der Winter warm anziehen, wenn er die WamS gegen sich hat und ihre Käufer, die immer schon wollten, dass ihr Blatt mal die wahren Gegner identifiziert: die Jahreszeiten. Woher soll man es auch sonst nehmen, dieses Wir-Gefühl, diese Einigkeit in Recht und Nonsens? Wir vermissen dich, Schweinegrippe! Wir wollen dieses Pandemiegefühl zurück, wollen Bilder von fotogen geimpften Ministern und telegen euphorisierten Pharma-Hysterikern. Wir wollen wieder von einer Bedrohung, der Seuche, dem Winter, dem Gaspreis verwandt, zusammengetrieben werden. Es werde Wolke!
Und weil das so ist, konnten wir erleichtert feststellen, wie die identitätsstiftende Kraft des Feindbilds von Väterchen Frost auf Guido Westerwelle überging, der uns nebenbei lehrte: Satire darf zwar alles, kann aber nicht immer. Zum Beispiel kann sie nicht übertriebener tun, als Guido es schon ist. Der Außenminister, der ehemals im Wahlkampf darüber spekulierte, in wie vielen Stunden Saddam Husseins Massenvernichtungswaffen München erreichen könnten, hat schon Monate nach seiner Wahl von der schlimmsten Drohung Gebrauch gemacht: »Ich werde mich nicht beirren lassen!« Seine Opfer, die Armen, leben in »spätrömischer Dekadenz«, seine Gegner sind »Sozialisten«, die »die DDR wieder wollen«, seine Kritiker treffen mit ihren Angriffen vor allem »meine Familie«. Das, nicht aber das Wahlkämpfen mit eingebildeten Kriegen, das Auftreten bei Big Brother oder das Gondelfahren für die Bunte in Venedig nennt er »für die politische Kultur in Deutschland eine traurige Entwicklung«. Immerhin wahr ist dagegen seine Behauptung: »Mein Ziel ist nicht Beliebtheit, sondern, das Richtige für unser Land zu tun.«
Das mögen Gott Genscher und Stuckrad-Barre, Guidos Eckermann, verhüten. Der schrieb ein paar Artikel für Springer-Blätter, band sie zum Buch, und die Zeit jubelte, einen besseren Chronisten unserer Zeit gebe es einfach nicht. Der Spiegel befand, dass man »unsere Republik im neuen Millennium« nur »begreifen« kann, wenn man das gelesen hat. Der Autor traute sich bei Westerwelle ans Äußerste und rekapitulierte: »Ich hab ihn mir ein paar Tage angeguckt und hatte dann irgendwann einen kurzen, zarten Moment mit ihm, als wir uns über Hautkrankheiten unterhalten haben.« Hier kommt, wie Adorno sagen würde, das Wort »zart« nach Hause. Abgesehen davon handelt es sich um das, was James Carville »the biggest act of public masturbation« nennen würde.
Yessir, wer das nicht gelesen hat, versteht unser Millennium nicht, und erst recht nicht die ganz große Politik in Gestalt der Angela Merkel, der sich der Pop-Senior nähert wie der Firmling der Madonna: »Und dann die Überraschung: Die gibt’s ja auch in echt! Die sitzt da jetzt wirklich, guckt einen an und fragt sich, was man gleich fragt. Das ist aufregend und lustig.« Noch Fragen, Millennium?
Dabei hätte es zu Angela Merkel doch so viele Meinungen gegeben, alle gedruckt: Merkel ist Kohl, Merkel ist die Kur gegen Kohl, Merkel ist »Frau Anti-Kohl«, »Mrs. Euro- pa«, »Frau Germania«, sie ist »Germany’s last und next Bundeskanzler« oder einfach das nationale Pin-up – jeder hat so seine Meinung, und je weniger man weiß, desto mehr kann man interpretieren.
So weiß man zwar nicht, wann sie von der Tanklaster-Katastrophe von Kundus erfahren hat, man weiß aber sicher, dass sie von eben dieser zu einer gänzlich neuartigen, hoch rhetorischen Edelfloskel inspiriert wurde, nämlich: »Wenn es zivile Opfer gegeben haben sollte, dann werde ich das natürlich zutiefst bedauern.« Merkel bereichert die deutsche Rhetorik um das konjunktivische Mitleid: Wenn tot, dann traurig, wenn traurig, dann »zutiefst«, und wenn »zutiefst«, dann »natürlich«!
Dabei entpuppt es sich bei über 140 Toten des nächtlichen Angriffs als überraschende Infamie des Gegners, dass er nicht ausschließlich Taliban zum Laster vorgelassen hat, sondern auch Kinder ohne radikalislamische Gesinnungsprüfung. Und somit handelt es sich zwar um die mit Abstand größte Kriegskatastrophe der Deutschen seit dem Zweiten Weltkrieg. Es gibt aber daheim doch noch genügend Patrioten, die dies im Tenor von »Wo gehobelt wird, da fallen Späne« kommentieren. Befindet man sich mit einem solchen Standpunkt zum Massentod von Zivilisten eigentlich noch auf dem Boden der Verfassung oder nur außerhalb der Humanität?
Solche Systemveränderer führen diesen Krieg vor allem als eine Schlacht der Vokabeln: Anfangs war dies eine Krise. Doch dann gab die Finanzkrise dem Wort einen schlechten Geschmack. Dann war es eine »kriegsähnliche Situation«. Das war für Menschen gesagt, die eine in der Angel bewegliche Platte mit zwei Klinken dran als »türähnliches Objekt« beschreiben. Danach durfte man »umgangssprachlich Krieg« sagen, und nun ist schlicht »Krieg« erlaubt, zwar nicht in der Verfassung, aber in der Rhetorik. In Zukunft darf es dann nicht »Niederlage« heißen, sondern »erfüllte Mission«. Das folgt der Logik, mit der Minister Guttenberg sich in der Afghanistan-Pressekonferenz von dem Gladiator-Komparsen Ralf Möller begleiten ließ.
Doch immerhin hat man eine Afghanistan-Konferenz auch ohne den Letzteren abgehalten und danach Innenminister de Maizière gefragt, was jetzt neu sei, und er erwiderte: »Neu ist, dass wir ein Ziel haben.« Unkommentiert auch von den Angehörigen der Soldaten, die in Afghanistan ihr Leben ließen, geht das durch. Nur Guttenbergs Vorgänger Jung bestätigte: »Das Schlimme ist, er hat ja recht!« Nach so vielen Jahren ohne Ziel haben wir jetzt so viele Ziele, doch kaum ein Jahr.
Danach sollen wir abziehen. So wenigstens will es Obama, der das Klima zwar nicht rettet, Guantánamo nicht schließt und sich noch keinen Friedensnobelpreis verdient hat, dafür aber eine Tapferkeitsmedaille, wird er doch in der Heimat der Meinungsfreiheit am liebsten als Affe karikiert oder mit Hakenkreuzen dekoriert, weil er ein Krankenkassensystem propagiert, das Europa längst hat. Für so viel Kommunismus hat er bis heute über tausendmal mehr Morddrohungen erhalten als jeder Präsident vor ihm. FOX News steigert mit Propaganda die Einschaltquoten um zehn Prozent, Sarah Palin kommentiert dazu mit Meinungen, die Gabriele Pauli als Hannah Arendt erscheinen lassen, während Glenn Beck, Moderator des Senders, die Zuschauer auffordert, sie sollten die Kirche verlassen, wenn von »sozialer Gerechtigkeit« die Rede sei, denn dies sei ein Indiz für Kommunismus. Nun ja, die USA hatten eben keine Weimarer Republik.
Bei allem Stillstand sind dies also doch bewegte Zeiten, Zeiten der Hoffnung auch. Silvio Berlusconi verspricht: »In drei Jahren besiegen wir auch den Krebs.« Wäre er weniger wahrhaftig, er hätte »zwei Jahre« gesagt, doch die Wähler werden dafür sorgen, dass er noch an der Macht ist, wenn es den Krebs schon nicht mehr gibt.
Ob es dann Griechenland noch gibt, weiß Vicky Leandros, die uns jetzt dauernd ihre Heimat erklären muss. Doch niemand weiß, wie viele Eheringe Lothar Matthäus bis dahin unter die Gymnasiastinnen gebracht haben wird, wie viele DSDS-Kandidaten sich noch um einen Logenplatz im Vergessen bemüht haben werden, ob Brigitte-Models immer noch keine Models sein werden und ob wir eher den Gläsernen Abgeordneten oder den Nacktscanner kriegen werden.
Das ist zwar nicht die »geistig-moralische Wende«, die der Bundes-Jubilar Kohl ehemals versprochen hatte, aber gesagt hat er auch: »Die Frau gibt Heimat, das ist ein ganz wichtiger Punkt«, und so verbinden sich die größten Freuden wieder einmal mit jungen Frauen und mittelalten Herren: der wildwüchsigen Lena Meyer-Landrut, dem dämonischen Christoph Waltz, der sprühenden Magdalena Neuner, der damenhaften Maria Riesch, dem tollkühnen Nikolaus Brender … ach nein, der wurde vor seiner Seligsprechung beim ZDF ja noch als »Quoten Saddam« bezeichnet und hat viel Easy Listening für die Augen produziert, ehe man ihn als Retter des freien Journalismus feierte.
Was bleibet aber, das werden wie immer die Feuilletons stiften, und wenn sie nicht zum x-ten Mal das Fisternöllchen zwischen Walser und Reich-Ranicki aufkochen oder eine junge Freibeuterin namens Hegemann umkreisen bis zur Rappelköpfigkeit, dann umkreisen sie sich selbst oder die Frage »Hat Ihr Frank Sie heute schon gelobt?« Wenn nicht, Schleim drüber. Es gibt Wichtigeres: Schließlich gab es nie so viele Gourmets im Fernsehen, das größte Gastronomieunternehmen des Landes heißt trotzdem McDonald’s, schließlich dachten wir, Bushido sei böse, und dann war er bloß Film-Soap, und der Rhein ist auch um fast hundert Kilometer kürzer, als es in den Lexika steht. Alles Latte.
Es ist wahr, ein großes Phlegma hat uns erfasst, und so haben die Zeitungen zu Anfang des Jahres erst geklagt, Angela Merkel sei nicht da – statt froh zu sein über sturmfreie Bude! –, dann, der Bundespräsident sei verschwunden. Doch das wenigstens hat sich gelohnt. Als Horst Köhler zurückkehrte, sprach er: »Es gibt keine endgültigen Antworten.« Das löste Haareraufen, Veitstanz und nackte Verzweiflung unter den Lobbyisten der endgültigen Antworten aus. Wir aber verstehen: Keine endgültigen Antworten sind die Antwort. Das musste gesagt werden, und so hat der rhetorische Ertrag Köhlers Verschwinden nicht nur gerechtfertigt, er könnte beispielgebend, könnte unser Jakobsweg sein: Die Wahrheit offenbart sich dem allein, der lange genug verschwindet.
Da haben wir den Sommer, aber das ist auch alles, was wir haben. Bemerkenswert ist nämlich eher, was alles weg ist! Es ist der Sommer der Abschiede. Lafontaine ist nicht mehr da. Nie wieder wird er mit Schröder und Scharping durch einen Säulengang schreiten, nie wieder mit dem Sohn auf den Schultern vom heimischen Balkon grüßen, nie wieder tanzen, wie nur er es konnte. Ach, das Volk vermisst zwar »Typen« in der Politik, aber nicht solche, sagt das Volk, aber das Volk war auch nicht immer Lafontaines Typ.
21 Prozent aller Deutschen vermissen dafür Roland Koch, der ebenfalls die große Flatter gemacht hat. Das sind doppelt so viele, wie FDP gewählt haben, und viermal so viele, wie es heute wieder tun würden. Nein, Roland Kochs Abschied zu bedauern kommt einer Selbstbestrafung gleich, denn was wird nun fehlen: seine Kampagnen gegen Zuwanderer und »kriminelle Ausländer«, seine nimmermüden Initiativen, an den Bedürftigen zu sparen, seine Falschaussagen und die Manipulation eines Rechenschaftsberichts … Doch nein, das war ja nur eine »Dummheit«, wie Koch dann einräumte, und die habe für uns Wähler nur Vorteile, erfuhren wir doch so, laut Koch, dass es keine perfekten Menschen, also auch keine perfekten Politiker, also auch keinen perfekten Staat gibt, wie wir hierzulande immer geglaubt hatten. Nun endlich wissen wir, was uns die deutsche Politik immer so unmenschlich hat erscheinen lassen: ihr Mangel an Dummheit oder auch an Skrupeln, denn jetzt empfängt die freie Wirtschaft Koch mit offenen Kassen.
Andererseits ist die CDU plötzlich eine Partei ohne Leute für die Drecksarbeit, und weil mit diesen lauwarmen Thermaldemokraten ja auch kein Staat zu machen ist, muss Siegmar Gabriel immer neue Goldadern des Rohstoffs Empörung in sich entdecken. Wann immer er zum Mikrophon schreitet, weiß man, jetzt kommt wieder eine volle Dosis rhetorischer Problemzonengymnastik, hitzig und voller Fäuste-Schwenken. Wenn aber Wolfgang Thierse schweigend in einer Sitzblockade gegen Neonazis demonstriert, kommt Kritik auch aus den eigenen Reihen. So viel gelebter Widerstand ist einfach zu viel in einer Zeit, in der die Welt den »Antifaschismus« in einer Überschrift als »Deppensport« bezeichnete, was in der allgemeinen Anti-68er-Rage gar nicht mehr weiter auffiel.
Der Präsident ist auch weg. Er hatte, wie die Präsidenten und die Liedermacher vor ihm, versprochen »unbequem« zu sein, doch am Ende wurde ihm das selbst unbequem, und so bleibt er dein Präsident, das unbekannte Wesen, sagt etwas Missverständliches, tut etwas Schwerverständliches und erntet das Verständliche: vollstes Unverständnis. Trotzdem macht uns sein Amtsverzicht Hoffnung, weiß man doch: Eine Krise, in der das Staatsoberhaupt aus solchen Gründen zurücktritt, kann so schlimm nicht sein. Wäre die Krise nämlich tief und furchtbar, dann hätte der Rücktritt das Amt des Präsidenten stärker beschädigt, als es die Kritik am Amtsinhaber vermochte.
Üblicherweise entkommen Politiker, die von der Fahne gehen, in die Privatwirtschaft, denn da können sie noch was werden – so wie Joschka Fischer, der jetzt sein Geld irgendwo zwischen Gasindustrie und einer Firma von Madeleine Albright verdient. Doch glücklich macht das wohl nicht. Zwar wächst ihm der rot Teppich unter den Füßen immer nach. Aber wenn er mit Minu Barati darüber hergeschritten kommt, sieht das nicht aus wie ein Paarlauf, eher wie eine Geiselnahme. Er schaut dann in die Kamera, brüskiert und von den Kameraleuten offenbar angewidert, ein Mann, der eben einen Ekel-Alfred-Wettbewerb für sich entschieden hat, aber einen, bei dem Ekel Alfred selbst nur den zweiten Platz machte, und seine Frau teilt den Journalisten mit, sie könnten froh sein, dass sie einen Satz zu ihnen gesagt habe. Kostenlos.
Sarah Ferguson, ehemals als »Miss Donnerschenkel« und »Schande Englands« verspottete Prinzen-Ex, bot dagegen einem Reporter harsch und betrunken ein Gespräch mit dem Exgatten für 500000 Pfund an. Da war Rüttgers ein Schnäppchen.
Wer ist sonst noch verschwunden? Michael Ballack aus Verletzungsgründen, Jens Lehmann aus Altersgründen und der Nimbus der FDP aus guten Gründen. Zwar hat die Partei in Generalsekretär Christian Lindner auch ihren zu Guttenberg – Kleidung, Rhetorik, Selbstliebe, alles tiptop und wie gecastet, aber die Inhalte, die viel beschworenen Inhalte, soll man behandeln wie Tütensuppenpulver: fünf Minuten wallen lassen. Und für die Ergebnisse gilt das Gleiche.
Für NRW hatte Westerwelle angekündigt: zehn Prozent plus X, der Wähler hat gegeben: fünf Prozent plus X, macht: Kehrtwende in null Komma nix. Anders gesagt: »Die Ampel ist denkbar«, und zwar weil die SPD zum zweiten Mal (nach Hessen) an ihrer Pawlow’schen Dämonisierung der Linkspartei scheitert und »Politikwechsel« ohnehin der neumodische Ausdruck für das ist, was bei Karl Marx heißt: »Dieselbe alte Scheiße stellt sich wieder her.« Jedenfalls soll der Wähler, was er gewählt hat, nicht kriegen.
Die FDP aber sorgt sich nun, die Identität der Partei sei gefährdet, und das bei einer Partei, für die schon die gesammelten Identitäten von Dieter Bohlen, Wolfgang Joop, Dariusz Michalczewski, Ralf Möller, Sky du Mont, Dolly Buster und Marie-Luise Marjan in die Werbe-Waagschale geworfen wurden!
Was machen wir nur, wenn mal wirklich Politik und ein Wort von außenpolitischer Autorität gefragt sind? Da war der Gaza-Streifen vor vier Jahren ohne jede internationale Legitimation abgeriegelt worden, den 1,5 Millionen Einwohnern wurden Medikamente und Lebensmittel verweigert, zwei Drittel der Menschen dort leben an der Armutsgrenze, fünfzig Prozent sind arbeitslos. Dann nähert sich ein Hilfsschiff, wird vom israelischen Militär gekapert, neun Menschen werden getötet, zwanzig verletzt. Israels Vize-Außenminister Danny Ayalon nennt das Gaza-Hilfsschiff eine »Armada des Hasses und der Gewalt« und beweist: Sprachlich ist er dem Vorfall schon mal nicht gewachsen. Als Armada bezeichnet man eine ganze Flottenstreitmacht, und die Gewalt bezieht sich nach Aussage eines anwesenden Bundestagsabgeordneten auf den Besitz von zweieinhalb Knüppeln. Immerhin: Die UN verurteilt wieder einmal aufs schärfste, und Israel ignoriert wieder aufs schärfste. Das nennt man »starken internationalen Druck«, ein Stirnrunzeln wie Donnerhall.
Da ist die Natur weniger konziliant, und sie brachte sich auch fühlbarer in Erinnerung: Erst streute der isländische Vulkan Asche auf unser Haupt und stoppte den Flugverkehr, dann hielt sich das Oder-Hochwasser peinlich an die Prognosen und stoppte die Hoffnung, man könne mit ihm irgendeine Wahl gewinnen, schließlich stoppte der frische Bau des Bibers Castor fiber albicus vorerst den Bau der Dresdner Waldschlösschenbrücke.
2009BP222010