Christoph Lode
Die Schwertchronik
Der Gesandte des Papstes
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Christoph Lode, geboren 1977, ist in Hochspeyer bei Kaiserslautern aufgewachsen und lebt heute in Speyer. Er studierte in Ludwigshafen am Rhein und arbeitete in einer psychiatrischen Klinik, bevor er sich ganz dem Schreiben widmete. Der historisch-phantastische Roman »Der Gesandte des Papstes« war sein viel beachtetes Debüt. Unter dem Namen Daniel Wolf gelang ihm mit der Fleury-Saga der Sprung in die Bestsellerlisten. Unter seinem Klarnamen Christoph Lode und dem Pseudonym Daniel Wolf hat der Autor insgesamt mittlerweile über 600.000 Bücher verkauft. »Das Salz der Erde« verkaufte 250.000 Ex., und stand monatelang auf der Bestsellerliste.
© 2020 Knaur Verlag
Ein Imprint der Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.
Covergestaltung: Nele Schütz Design, München
Coverabbildung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock/Paul Fleet (Schwert), Oleg lasten (Ornament), HorenkO (Hintergrund), blue pencil (Rahmen)
ISBN 978-3-426-45874-7
»Der Teufel ließ sich sogar herbei, Antonius als Weib zu erscheinen.
Dieser aber dachte an Christus und erstickte die glühende Kohle seines Wahns.«
– Aus der Vita Antonii von Athanasios, Bischof von Alexandria
Oberlothringen, Frühjahr 1303
Das Mädchen regte sich unter der Decke und murmelte etwas. Ein unverständlicher Seufzer, in dem ein vages Unbehagen mitschwang. Die junge Frau stammte aus dem Dorf und war recht hübsch anzusehen mit ihren blonden Locken und dem runden, fröhlichen Gesicht.
Raoul von Bazerat dachte an die letzte Nacht, als sie mit ihm ausgelassen um das Feuer getanzt hatte. Im Schein der Flammen war sie ihm hübscher erschienen als im kalten Licht des Morgens, mit verquollenem Gesicht und übel riechendem Atem. Aber so erging es ihm immer. Jeden Tag dasselbe Gesicht zu sehen, dieselbe Stimme zu hören, dieselben Lippen zu schmecken – an einem Morgen wie diesem fragte er sich, wie sein Bruder das nur ertrug.
Weil er eben Jacques ist, dachte Raoul und lachte in sich hinein. Der gute, alte, langweilige Jacques. Sein Bruder war mit Lysanne verheiratet, der Tochter eines Edelfreien aus dem Moseltal. Schön, aber genauso langweilig wie ihr Gatte. Raoul wünschte ihnen alles Glück der Erde und dankte gleichzeitig dem Herrn, dass ihm als Zweitgeborenem ein solches Leben erspart blieb.
Vorsichtig, um das Mädchen nicht zu wecken, schlug er die grobe Decke zur Seite und stand auf. Es war kalt in seiner Kammer, das Feuer im Kamin seit einigen Stunden erloschen. Er hob seine Hose vom Boden auf, Beinkleider aus weichem Leder, schlüpfte hinein und streifte sein Wams über. Während er die hölzernen Knöpfe schloss, ging er zum Fenster. Noch kältere Luft strömte hinein, als er die Läden aufklappte – so kalt, dass sein Atem Wölkchen bildete. Der Winter war kraftlos und schneearm gewesen, doch es schien, als wolle er im April nachholen, was er in den Monaten zuvor versäumt hatte. Schnee lag keiner auf den bewaldeten Hügeln, aber Raoul hielt es für möglich, dass in den nächsten Stunden welcher fiel. Der Wind roch danach.
Vielleicht war es die kalte Luft, vielleicht aber auch der Gedanke an einen möglichen Wintereinbruch, die seinen Rachen reizten. Raoul hustete derart heftig, dass er sich auf dem Fenstersims abstützen musste, bis der Anfall vorüber war. Himmel, wann hört das endlich auf?, dachte er. Der Husten war das Überbleibsel eines leichten Fiebers vor fünf Wochen. Blaise, der Leibarzt der Familie, hatte ihm, bevor er nach Speyer abgereist war, geraten, weniger zu feiern, früher ins Bett zu gehen und eine Weile die Hände von den Mädchen zu lassen. Blaise hatte zu lange die Heilkunst der Sarazenen studiert, um noch zu glauben, Krankheiten seien der gerechte Lohn für Sünden. Aber als der alte Arzt auf sein Pferd aufgestiegen war, hatte Raoul ein Aufflackern von Schadenfreude in den dunklen Augen gesehen. Er konnte Blaises Gedanken förmlich hören: Das hast du jetzt davon, du Schürzenjäger. Wie oft habe ich gesagt, dass du dir ein Beispiel an deinem Bruder nehmen sollst? Raoul hatte das getan, was er meistens mit Blaises Ratschlägen tat: sie ignoriert. Blaise war nicht nur der Arzt der Familie, sondern auch ihr Kaplan. Alle um ihn herum sollten wie Mönche leben, damit die alte Krähe nicht ständig daran erinnert wurde, was sie verpasste.
Nicht mit mir, dachte Raoul. Ein Ritt durch die Hügel hilft so gut wie ein Tag im Bett. Ich sollte den Bogen mitnehmen. Es dürfte nicht schwer sein, Wildschweine zu finden … Er atmete die frostige Morgenluft ein und musste wieder husten. Diesmal war es nicht ganz so schmerzhaft, aber als er dem Fenster den Rücken kehren wollte, sah er etwas auf dem Sims glitzern: zwei winzige Rubine auf dem grauen Stein. Raoul berührte sie und betrachtete seine Fingerkuppe. Blut.
Leiser Zorn regte sich in ihm. Zum Teufel damit! Er würde ausreiten und heute Abend ein heißes Bad nehmen, und spätestens übermorgen war der verfluchte Husten verschwunden.
»Geht es dir gut?«
Erschrocken fuhr er herum. Das Mädchen stand nackt neben dem Bett und sah ihn forschend an.
Schnell verrieb er das Blut zwischen den Fingern. »Alles in Ordnung.« Er lächelte. »Was du mit mir angestellt hast, steckt man in meinem Alter eben nicht mehr so leicht weg.«
Das Mädchen erwiderte das Lächeln, aber es lag Unsicherheit darin. »Es ist kalt. Komm wieder ins Bett.«
»Nein. Ich reite aus.«
»Dann nimm mich mit.«
Raoul wusste, was der flehende Unterton zu bedeuten hatte. Er hasste es, wenn es so kam. Dabei hatte es so gut angefangen … so unbeschwert. Aber er hätte es wissen müssen, denn das Mädchen war erst siebzehn oder achtzehn, ein Alter, in dem man sich leicht verliebte. »Es ist Sonntag. Hast du niemanden, der auf dich wartet?«
»Es ist mir egal, wer auf mich wartet. Ich will bei dir bleiben.«
»Du gibst nicht so leicht auf, wie?« Er setzte sich auf den Hocker und zog seine Stiefel an. Plötzlich spürte er eine Hand, die durch sein Haar fuhr. Die junge Frau setzte sich, nackt, wie sie war, auf seinen Schoß und nahm sein Gesicht in die Hände. Sie lächelte spöttisch.
»Was ich heute Nacht getan habe, kann ich wieder tun. Oder reichen dafür Eure Kräfte nicht aus, mein Gebieter?«
Unwillkürlich musste er lachen. Wenigstens versuchte sie es nicht mit Tränen und Vorwürfen. »Mit meinen Kräften ist alles in Ordnung. Pass auf!« Er hob sie hoch und warf sie aufs Bett, wo sie kreischend landete. Gelächter und Geschrei erfüllten das Zimmer, als sie miteinander rangelten.
Sie alberten eine Weile herum, doch Raoul achtete darauf, dass nicht mehr daraus wurde. Als er genug hatte, setzte er sich auf und suchte seinen linken Stiefel, der während der Rauferei in den Kissen verloren gegangen war. Das Mädchen kauerte am Kopfteil des Bettes und zog die Decke zum Kinn. Es beobachtete jede seiner Bewegungen.
»Versprich mir, dass wir uns wiedersehen.«
Raoul blickte aus dem Fenster. Die Sonne beschien die Hänge hinter dem Anwesen, die Felsen auf den Hügelkämmen, die Tannen und Fichten und vertrieb allmählich die Kälte. Es war ein schöner Tag, zu schön für Tränen und gebrochene Herzen, und er wollte, dass es so blieb. Der Preis dafür war eine Lüge, aber was sollte er anderes tun? Er hatte der jungen Frau niemals etwas anderes in Aussicht gestellt als diese eine Nacht. Wenn sie sich mehr erhoffte … nun, dann war es ihre eigene Schuld.
Warum, bei allen Höllen, musste sie ihn nur in diese Lage bringen? Hätte sie die Nacht nicht einfach genießen und dann nach Hause gehen können?
Schließlich sagte er: »Versprochen.«
Sie drückte ihm einen Kuss auf die Wange und zog sich endlich an.
Kurz darauf führte Raoul sie über die schmale Holztreppe hinunter zum Vorhof aus gestampfter Erde. Das Wohnhaus war das einzige Gebäude von Bazerat, das – abgesehen vom hölzernen Dach und der Treppe – vollständig aus Stein bestand. Im Erdgeschoss waren die Unterkünfte des Gesindes, verschiedene Werkstätten und Lagerräume für das Feuerholz untergebracht. Im Obergeschoss wohnten die Mitglieder der Familie: Raoul, Jacques und Lysanne sowie deren Söhne. Die Wände waren dick, die Fenster schmal, und außer der Holztreppe hatte der obere Stock keine Zugänge. Bazerat war in seiner mehr als hundertjährigen Geschichte noch nie angegriffen worden, aber sollte es einmal dazu kommen, würden sich die Familie in das leicht zu verteidigende Haus zurückziehen.
Die übrigen Gebäude umstanden den Platz: Blaises Haus, die Kornkammer, die Küche, deren Kamin dünne Rauchschwaden in den Morgenhimmel entließ, der Pferdestall, hinter dem der Bach floss. Für einen Ringwall hatte die Familie kein Geld; also umgab lediglich ein Zaun aus angespitzten Pflöcken das Landgut.
Bazerat lag in einem Seitental des Seilletals, zwei Wegstunden südlich von Metz. Einige Täler weiter westlich gehörten bereits zur französischen Krone. Es war eine liebliche Gegend mit ausgedehnten Wäldern und Weinbergen an den Hängen der felsigen Hügel. Raoul und Jacques waren Ritter von Herzog Friedrich, aber seit Raouls Ritterschlag vor zehn Jahren hatte er sein Schwert nicht mehr in den Dienst seines Lehnsherrn stellen müssen. Zum einen war das Herzogtum von größeren Kriegen verschont geblieben, zum anderen waren die Bazerats zwar treue, aber unbedeutende Vasallen.
Als Raoul und das Mädchen die Treppe herabstiegen, waren die anderen Bewohner des Landguts schon lange auf den Beinen. François, der älteste der Waffenknechte, hob gerade das Vorderbein eines Pferdes hoch. Es lahmte seit einigen Tagen. Jacques untersuchte den Huf nach Ursachen. Die anderen Soldaten und die Mägde und Knechte warteten am Tor. Sie wollten zum Dorf, um dort die Sonntagsmesse zu hören.
Raoul küsste das Mädchen zum Abschied. Es sollte ein flüchtiger Kuss werden, aber das Mädchen vergrub seine Hand in seinem Haar und schob ihm die Zunge in den Mund, sodass sich die Angelegenheit länger hinzog als beabsichtigt. Schließlich löste er sich von ihm. »Jetzt geh«, sagte er lächelnd. »Ich will nicht warten, bis dich deine Brüder mit Gewalt holen kommen.«
»Bis heute Abend«, flüsterte es ihm zu, dann entfernte es sich mit wiegenden Hüften. Raoul war nicht entgangen, dass die Gruppe am Tor zu ihnen gesehen hatte. Gut, sie sollen ihren Spaß haben. Er tat, als starre er dem Mädchen auf den Hintern, und ließ sich nach hinten in einen Haufen Heu fallen, was bei den Knechten Gelächter und anzügliche Bemerkungen hervorrief. Raoul wischte sich das Heu von der Kleidung und ging zu Jacques.
Sein Bruder sprach mit Jean, seinem jüngsten Sohn. Der Sechsjährige hielt den Bogen in den Händen, den Raoul für ihn gemacht hatte. Er schoss damit auf alles, das ihm in die Quere kam – Steine, Vögel, streunende Katzen –, und war bereits erstaunlich treffsicher. Raoul liebte ihn und Gerard wie seine eigenen Söhne. Gerard diente als Page am Hof in Nancy und kam nur an Weihnachten und Ostern nach Bazerat. Er geriet ganz nach seinem Vater: genauso ernst und pflichtbewusst, weshalb er oft für zwölf oder dreizehn gehalten wurde, obwohl er noch keine elf war. Jean würde erst nächsten Sommer Page werden, aber er redete schon jetzt von nichts anderem mehr. Mit seinem Temperament hielt er das ganze Anwesen auf Trab, und jede Art von Gefahr zog ihn magisch an. Die Tage im Jahr, an denen er keine aufgeschlagenen Knie und Ellbogen hatte, waren die seltene Ausnahme.
Als der Junge ihn entdeckte, schrie er »Onkel Raoul!« und stürmte auf ihn zu. Raoul riss Jean hoch in die Luft und nahm ihn auf den Arm.
»Beim heiligen Kreuz, du wirst schwer, kleiner Meisterschütze. Dein Onkel kann dich bald nicht mehr tragen.«
»Gehst du heute jagen, Onkel Raoul? Nimmst du mich wieder mit?«
»Mal sehen … Hast du mit dem Bogen geübt, wie ich es dir gesagt habe? Ich kann keinen Gehilfen gebrauchen, der nichts vom Bogenschießen versteht.«
»Ich übe jeden Tag!«, verkündete der Junge. »Ich treffe das Auge auf zehn Schritt!«
»Sehr gut«, sagte Raoul und setzte Jean ab. »Wenn das so ist, darfst du mitkommen.«
Jean brach in wilden Jubel aus, der allerdings nur so lange währte, bis sein Vater sich zu ihnen gesellte. »Du kannst heute nicht auf die Jagd gehen«, sagte Jacques. »Deine Mutter möchte, dass du Sachen für den Sommer anprobierst. Geh zu ihr. Sie wartet schon.«
Der Junge stapfte missmutig davon. Raoul war der Meinung, dass Jacques zu streng mit Jean umsprang. Sie stritten oft deswegen, doch jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt, wieder damit anzufangen. Zwar sah Jacques streitlustig aus, aber offensichtlich aus anderen Gründen.
»Wer war dieses Mädchen?«, fragte er.
»Ein Mädchen aus dem Dorf.«
»Hat es auch einen Namen?«
»Margerit … nein, warte … Anne.« Raoul lachte. »Herrgott, Jacques, glaubst du, ich merke mir all die Namen? Verlang nicht das Unmögliche von mir.«
Jacques konnte diesem Scherz nichts abgewinnen. »Du spielst mit diesen Mädchen. Du brichst ihnen das Herz. Kümmert dich das nicht?«
Sein schlechtes Gewissen regte sich erneut. »Ich spiele mit niemandem«, erwiderte Raoul gereizt. »Anne, oder Margerit, wusste von Anfang an, woran sie bei mir war. Ich habe ihr nichts versprochen, das sie nicht auch bekommen hat.«
»Sicher. Daran zweifle ich nicht«, sagte sein Bruder ruhig. Er war einunddreißig Jahre alt, drei Jahre älter als Raoul, und sein schwarzes Haar war bereits von einigen grauen Strähnen durchsetzt. Im Gegensatz zu Raoul, der es kurz trug, fiel es Jacques bis auf die Schultern. Sie kamen beide nach ihrem Vater: blaue Augen, hell wie Eiskristalle, am Kinn einen kurzen Bart, der jede Woche sorgfältig geschnitten wurde, ein schlankes Gesicht. Raoul hatte außerdem die vorspringenden Wangenknochen ihrer Mutter geerbt, wodurch sein Gesicht fast hager wirkte. Er selbst hielt es für durchschnittlich, obwohl viele Frauen anderer Meinung zu sein schienen.
»Du solltest heiraten«, fuhr sein Bruder fort. »Weiber, Turniere, Feste … soll das ewig so weitergehen?«
»Du hörst dich an wie Blaise.«
»Er hat recht. Du benimmst dich wie ein frühreifer Page. Willst du mit dem Erwachsenwerden warten, bis du sechzig bist?«
Raoul grinste. »Ein Langweiler in der Familie genügt, Jacques …« Er wollte seinen Spott noch weitertreiben, aber ein neuer Hustenanfall hinderte ihn daran. Erleichtert stellte er fest, dass er diesmal kein Blut spuckte.
Der Ärger in Jacques’ Gesicht verschwand augenblicklich. So war es immer: Sie konnten streiten, bis sie kurz davor waren, sich zu schlagen, doch sowie Jacques glaubte, sich Sorgen um Raoul machen zu müssen, war sein Unmut wie weggeblasen. »Blaise ist heute Morgen zurückgekommen. Er soll dich untersuchen. Sicher kennt er ein Mittel, das dir hilft.«
»Es ist nichts«, erwiderte Raoul ungehalten. »Nur ein Husten. Er wird schon verschwinden.«
»Wie lange geht das jetzt schon? Einen Monat? Geh zu ihm«, beharrte sein Bruder.
»Himmel, Jacques, du wirst von Jahr zu Jahr schlimmer! Na schön, ich gehe zu Blaise. Aber erst heute Abend. Nach meinem Ausritt. Gönnst du mir wenigstens diesen Spaß? Oder hast du Angst, ich würde das Pferd nur benutzen?« Raoul ließ ihn stehen und ging zu den Stallungen, wütend auf Jacques, den verdammten Husten, das Mädchen, die ihm mit vereinten Kräften den Morgen verleidet hatten.
Das Mädchen – Anne oder Margerit oder wie auch immer es hieß … Er durfte nicht vergessen, François anzuweisen, es nicht zu ihm vorzulassen, sollte es noch einmal beim Tor auftauchen.
Es war früher Abend, als er zurückkehrte. Raoul galoppierte den Weg zum Anwesen hinauf, rief François und Hughes, die am Tor in der Sonne saßen, einen Gruß zu und schwang sich aus dem Sattel, bevor das Pferd zum Stehen gekommen war. Raoul überließ einem Knecht das Tier und wies ihn an, die Jagdtasche zur Küche zu bringen. Seine schlechte Laune vom Morgen war vergessen. Er hatte zwei Frischlinge geschossen. Das Wetter hatte gehalten, und im Lauf des Nachmittags war es immer wärmer geworden. Raoul fühlte sich prächtig … bis er entdeckte, dass in den Fenstern von Blaises Haus, die einen Monat lang dunkel gewesen waren, Licht brannte. Ihm fiel das Versprechen wieder ein, das er Jacques gegeben hatte. Zum Teufel mit Jacques’ überflüssigen Sorgen, dachte er, doch sein Bruder würde ihn nicht in Ruhe lassen, bis er mit Blaise gesprochen hatte. Also öffnete Raoul die Tür, zog unter dem niedrigen Balken den Kopf ein und betrat das Haus des Arztes.
Blaise lebte seit über fünfunddreißig Jahren auf dem Anwesen. Das Bistum schickte ihn einst, um der Familie Bazerat als Kaplan und Arzt zu Diensten zu sein. Als Raouls Vater ins Heilige Land gezogen war, um gegen die Sarazenen zu kämpfen, hatte Blaise ihn begleitet. Die beiden Männer waren enge Freunde geworden, und bald hatte sich der Kaplan nicht mehr nur um das gesundheitliche und seelische Wohl der Familie gekümmert, sondern auch die Erziehung von Gerards Söhnen übernommen. Dass Raoul sich nicht nur auf den Umgang mit Schwert, Lanze und Bogen verstand, sondern auch lesen konnte und Latein beherrschte, war Blaises Verdienst.
Das Innere des Hauses bestand aus einem einzigen Raum, der bis zum Dachgebälk reichte; ein ewiges Halbdunkel, in das kaum Tageslicht drang. Staub lag in Ecken und Winkeln, auf Truhen, Hockern, Tischen und erfüllte die Luft. Blaise war ein reinlicher Mensch, doch vor seiner Abreise vor einem Monat hatte er den Mägden verboten, während seiner Abwesenheit zu putzen. Er fürchtete, ungeschickte Hände könnten seine kostbaren Schriften in Mitleidenschaft ziehen. Der Arzt besaß davon eine beeindruckende Sammlung: Etwa drei Dutzend Bücher standen in den Regalen, darunter Texte aus dem Morgenland, von denen es im Reich höchstens ein Dutzend Exemplare gab. Seine Kenntnisse der arabischen Sprache waren es auch, die ihn nach Speyer geführt hatten. Im Auftrag des Erzbischofs hatte er dort ein Buch über Heilkunst übersetzt.
Raoul konnte die Lichtquelle in dem Labyrinth aus Büchergestellen nirgendwo ausmachen, also ging er zum hinteren Teil des Raumes, wo Blaise zu arbeiten pflegte. Regale voller Tiegel, Fläschchen und Steintöpfe bildeten die Wände des schmalen Flurs, den er entlangging. Es roch nach Minze, Kampfer, scharfem Pfeffer, Kamille und anderen Dingen, deren Namen Raoul nicht kannte. Die trockene, staubige Luft ließ ihn husten. Kaum war der Anfall vorüber, stand Blaise vor ihm.
»Raoul«, sagte er. Es war ihm schwergefallen, das Landgut für mehrere Wochen zu verlassen. Aber das hieß nicht, dass er sich beim Anblick von Raoul zu einem Lächeln hinreißen ließ. Sein knochiges Gesicht schien zu einem solchen Ausdruck nicht fähig zu sein.
»Blaise, du alte Krähe! Komm her!«
Raoul umarmte seinen Lehrer voller Wiedersehensfreude. Dabei fragte er sich unwillkürlich, ob der Kaplan im letzten Monat um Jahre gealtert war, denn dessen Leib schien um einiges magerer, das Haar um einiges dünner als vor der Abreise zu sein. Der Ritt und die Arbeit in Speyer mussten ihm zugesetzt haben.
Sie gingen zu einem Tisch voller Schriftstücke. Zwei dicke Talgkerzen brannten dort. Raoul erkundigte sich nach der Reise, aber der Kaplan ging nicht darauf ein. Er nahm einige Pergamente vom Hocker und bedachte Raoul mit einem kurzen, aber durchdringenden Blick.
»Was ist das für ein Husten? Bist du wieder krank gewesen?« Blaise hielt nichts von müßigem Geschwätz; er kam immer sofort zur Sache.
Raoul setzte sich. »Es ist derselbe Husten wie bei deiner Abreise.«
»Derselbe Husten seit fünf Wochen? Gütiger Gott, wieso bist du nicht zu einem Arzt gegangen?«
»Du warst fort, weißt du noch?«
»Ich bin nicht der einzige Arzt im Herzogtum. Du hättest nach Metz reiten können«
»Hätte mir ein Arzt in Metz einen anderen Rat gegeben, als mich auszuruhen und ein Keuschheitsgelübde abzulegen?«
»Nein. Aber wenn du dafür bezahlt hättest, hättest du es vielleicht eher geglaubt als aus dem Mund deines alten Lehrers.« Der Kaplan setzte sich. Er trug ein weites Gewand aus grobem Tuch, in dem seine dürre Gestalt nahezu verschwand. Er sah müde aus, erschöpft von den Wochen im Skriptorium und den Tagen auf dem Rücken seines Esels. »Entkleide dich«, wies er Raoul an. »Ich muss dich untersuchen.«
Raoul unternahm einen letzten Versuch. »Blaise, ich bin kein alter Mann, bei dem jedes Wehwehchen gleich das Ende bedeutet. Gib mir eins von deinen Wundermitteln, und ich verspreche dir, es zu nehmen, bis der Husten weg ist.«
Blaise stand auf. Der Klang seiner Stimme duldete keinen Widerspruch. »Ausziehen. Das Wams genügt.«
Seufzend öffnete Raoul die Knöpfe. Er musste sitzen bleiben, während Blaise ihn mit seinen immer noch scharfen Augen musterte. Der Blick des Kaplans blieb kurz an der langen Narbe unter dem Schlüsselbein hängen. Vermutlich dachte Blaise an den Tag, als Raoul zwar verwundet, aber als frischgebackener Ritter heimgekehrt war. Während der Kämpfe gegen Raubritter, die in den Vogesen ihr Unwesen trieben, hatte Raoul nicht nur erfahren, wie es sich anfühlt, wenn einem Stahl in den Körper drang, sondern auch, was es heißt, einen Mann mit eigenen Händen zu töten.
»Du hast abgenommen«, stellte Blaise fest. »Isst du zu wenig?«
»Der Winter ist vorbei. Ich sitze nicht mehr nur faul herum.«
Der Kaplan betastete seinen Hals, den Kiefer, das Schlüsselbein. »Tut das weh?«
»Nein.«
»Hattest du noch einmal Fieber?«
»Nein, Blaise. Es ist alles in Ordnung. Es ist nur ein Husten.«
»›Nur ein Husten‹ gibt es nicht. Alles hat eine Ursache.« Blaise stellte ihm eine Reihe von Fragen, die Raoul alle verneinte. Schließlich setzte sich der alte Mann wieder an den Tisch und schwieg.
»Was denkst du?«, fragte Raoul. »Muss ich mit einer Glocke herumlaufen, damit sich alle rechtzeitig vor mir in Sicherheit bringen können?«
Blaise reagierte auf den Scherz mit einem missbilligenden Blick. »Meine größte Sorge war, dass du den Schwund hast. Aber nichts deutet darauf hin. Es scheint sich um eine harmlose Reizung des Rachens zu handeln.«
»Gut. Das beruhigt mich.« Raoul nahm sein Wams und wollte es überstreifen, doch der Kaplan sagte:
»Wir sind noch nicht fertig.«
»Was denn noch? Du weißt doch jetzt, woran es liegt.«
»Du bist genau so ein Dummkopf wie dein Vater. In Akkon hat er mir einmal verboten, ihm zu helfen, als ihm ein Pfeil im Bein steckte.«
Raoul grinste. »Wir Bazerats sind eben robust.«
»Töricht wäre das passendere Wort.« Blaise zog eine Kiste unter dem Tisch hervor und nahm einen kupfernen Trichter heraus. »Versuch zu husten«, sagte er und horchte Raouls Rücken ab.
Er kam der Aufforderung nach, was ihm nicht schwerfiel. Der nachgeahmte Husten rief auf der Stelle einen echten hervor. Er hielt die Hand vor den Mund und betrachtete sie. Blut glitzerte auf seinem Handteller, mehr als am Morgen.
Schneidend fragte Blaise: »Seit wann hast du das? Warum hast du mir nichts davon gesagt?«
»Seit heute Morgen«, antwortete Raoul und schloss sein Wams. »Nach dem Aufwachen.«
Wortlos nahm Blaise seine Hand und betrachtete das Blut. Der Griff der knochigen, aber äußerst kräftigen Finger um sein Handgelenk schmerzte Raoul. Er war Jacques zuliebe hergekommen, weil er es nicht ertrug, wenn andere sich Sorgen um ihn machten – Sorgen, die er für maßlos übertrieben hielt. Doch als er die Dunkelheit in Blaises Augen bemerkte, beschlich ihn zum ersten Mal ein Gefühl der Beunruhigung. »Was habe ich, Blaise? Was ist das für eine Krankheit?«
Blaise gab ihm ein Tuch für das Blut. Er bemühte sich vergeblich um einen sachlichen Ton. »Es ist noch zu früh, darüber zu spekulieren. Ich muss nachlesen, bevor ich dir eine Antwort gebe.«
»Aber du hast einen Verdacht, nicht wahr?«
Die Kieferknochen des Kaplans mahlten. »Mir sind nur wenige Krankheiten bekannt, die sich durch blutigen Auswurf bemerkbar machen. Eine ist der Schwund. Aber die typischen Anzeichen der Weißen Pest fehlen bei dir. Vielleicht treten sie in den nächsten Tagen auf, aber das wäre unwahrscheinlich.«
»Und die anderen? Wie heißen die anderen Krankheiten?«
Blaise sank unmerklich in sich zusammen. Er rieb sich mit Daumen und Zeigefinger die Augen. »Wie gesagt, es ist zu früh. Lass mich bei ibn-Sina und Galenos nachlesen. Alles andere wäre …« Er wollte aufstehen, doch Zorn wallte in Raoul auf, und er packte seinen alten Lehrer am Arm.
»Ich habe ein Recht darauf, es zu erfahren!«
Blaise verharrte einen Moment reglos, und sein stechender Blick haftete an Raoul. Dann sank er langsam zurück auf die Bank. »Am ehesten kommt karkinos infrage«, sagte er leise.
Raoul ließ ihn los. Sein Mund und sein Rachen wurden trocken. »Was bedeutet das?«
»Es ist ein fressendes Geschwür.« Blaise stockte, und sein Adamsapfel bewegte sich. »Ein Geschwulst, das immer weiter wächst und den Leib von innen aufzehrt. In deinem Fall sitzt es in der Lunge und zerstört sie, weitaus rascher als der Schwund.«
Raoul stand auf. Das Zimmer, die Regale, die Kerzen – alles schwankte vor seinen Augen. Er spürte, wie das Kribbeln wiederkam. Langsam und unaufhaltsam stieg es seinen Rachen hinauf. Er glaubte, nicht mehr atmen zu können. »Was heißt ›rasch‹?«
»Das weiß der Herr allein. In sechs Monaten. In einem Jahr, wenn er dir gnädig ist.«
»Aber es ist nur ein Verdacht.«
»Ja. Allerdings ein sehr wahrscheinlicher.«
In sechs Monaten … einem Jahr, hallte es in Raoul nach. In der Nische wurde es wärmer und wärmer, als dehne sich der Kerzenschein wie Fieberglühen aus. Er musste hinaus. Wenn er blieb, in diesem Irrgarten voller Staub und totem Wissen, erstickte er. Raoul machte einen Schritt nach hinten und stieß dabei den Hocker um. Blaise sagte etwas, doch er hörte die Worte nicht mehr. Er war schon auf dem Weg nach draußen.
Reine, kühle Abendluft umfing ihn auf dem Hof. Raoul atmete tief ein. Als seine Knie nachzugeben drohten, stützte er sich mit beiden Händen auf dem Regenfass neben der Tür ab. Ein konturloses Gesicht ohne Augen, ohne Mimik starrte ihn aus dem dunklen Wasser an.
Ein fressendes Geschwür … immer weiter wächst, bis es deine Lunge aufgezehrt hat … sechs Monate … ein Jahr …
Er tauchte seine Hände in das Fass und spritzte sich Wasser ins Gesicht. Ihm war übel.
Er hörte knirschende Schritte neben sich. Blaise sagte nichts, sah ihn nur an.
Raouls Stimme klang so rau, als hätte er wochenlang kein Wort gesprochen. »Wann weißt du, ob dein Verdacht zutrifft?«
»Ich muss beobachten, wie sich die Krankheit entwickelt. Lungenkrankheiten sind tückisch. Bei jedem verlaufen sie anders. Möglich, dass ich …«
»Wann, Blaise?«, fiel Raoul ihm ins Wort.
»Es wird mindestens eine Woche dauern.«
Raoul richtete sich auf. Wasser tropfte von seinem Gesicht ins Fass. Neuer Zorn regte sich in ihm. »Erst verkündest du mein Todesurteil, und jetzt soll ich eine Woche warten, bis du dich entschieden hast, ob du dich vielleicht irrst?«
»Ich habe dir gesagt, dass es zu früh ist, darüber zu sprechen.«
»Es geht um mein Leben. Verstehst du das?«
»Wir können nichts tun, bevor wir nicht mehr wissen. Zorn hilft dir nicht weiter. Nutze die Zeit, um deinen Schöpfer um ein gnädiges Geschick zu bitten.«
Diese priesterlichen Floskeln klangen wie Hohn in seinen Ohren. Noch bevor er begriff, was er tat, packte er Blaise am Kragen und stieß ihn von sich, sodass der Kaplan zu Boden fiel. Dann fuhr er herum, ging zu den Ställen und scherte sich nicht darum, ob er Blaise verletzt hatte. Er wollte nur noch fort. Rufe hallten aus der Richtung des Tores – sein Bruder, François und Hughes, die alles mit angesehen hatten. Als sie auf ihn zukamen, schritt Raoul schneller voran. Er stieß Jacques zur Seite und lief weiter zum Tor, wo Hughes ein Pferd an den Zügeln hielt. Dann saß er im Sattel, und Hughes rannte neben ihm her, brüllend, ehe er stolpernd der Länge nach stürzte. Raoul preschte durch das Tor, ritt, bis das Anwesen hinter ihm verschwand, bis ihn nur noch Felsen und Bäume umgaben. Er hielt erst an, als er eine Hügelkuppe in den Wäldern erreichte, weit entfernt von jedem Dorf und jedem menschlichen Gesicht, umfangen nur von Schatten und Stille. Dort schwang er sich aus dem Sattel und stieg auf den höchsten Punkt. Die Sonne ging unter, ihr vergehendes Licht gab Himmel und Wolken die Farben von Glut und Asche. Sein Atem ging hastig und rau; der Husten folgte sofort. Einen Moment später glitzerte es rot im Gras, und Raoul malte sich aus, dass es keine Tropfen von Blut, sondern winzige Stückchen seiner Lunge waren. So würde es weitergehen, immer weiter, bis nichts mehr davon übrig war, wenn Blaise sich nicht irrte. Und Raoul wusste, dass der alte Kaplan sich bei solchen Dingen niemals irrte.
Raoul machte sich erst weit nach Mitternacht auf den Rückweg, als er sicher sein konnte, dass Jacques und alle anderen längst schliefen. Nach dem Vorfall vor Blaises Haus wusste das ganze Anwesen, was geschehen war, und er hätte es nicht ertragen, Gesichter voller Sorge und Mitleid zu sehen. Da das Tor bei Einbruch der Dunkelheit geschlossen wurde, schlug er in der Talsohle einen halb vergessenen Trampelpfad ein. Als das Brombeergestrüpp zu dicht wurde, trieb Raoul das Pferd durch den Bach, die Böschung hinauf und über den brachliegenden Acker. Der Zaun dort war in einem schlechten Zustand; morsche Pfähle ragten krumm und schief aus dem Boden. Raoul fand eine Lücke, stieg ab und führte das Pferd hindurch.
Der Pferdeknecht hatte sich wie jede Nacht in den Schlaf getrunken; die Weinflasche im Schoß und das Kinn auf der Brust, kauerte er auf seinem Hocker hinter der Stalltür. Raoul versorgte das Pferd, ohne ihn zu wecken, und ging zum Haupthaus. Vor Blaises Haus blieb er stehen. Sein Zorn auf den Kaplan war ebenso schnell vergangen, wie er gekommen war, und es tat ihm leid, dass er ihm Gewalt angetan hatte. Raoul beschloss, ihn trotz der späten Stunde um Verzeihung zu bitten. Doch als er vor der Tür stand, wusste er, dass er es nicht konnte. Ihm war ein hauchdünner Schleier von Hoffnung geblieben, und mit dem Kaplan zu reden bedeutete, dass dieser zerriss.
Morgen ist früh genug, dachte er und lenkte seine Schritte die Treppe des Haupthauses hinauf. Der Saal war leer und still, die Fackeln waren erloschen, im großen Kamin glühten die letzten Scheite. An den Säulen hingen die Geweihe mächtiger Hirsche, des Wappentiers der Bazerats. Die ersterbende Glut zeichnete ihre Schatten verästelt an die Gewölbedecke. Der Geruch von Fleisch, Bratfett und Bier hing noch in der Luft. Raoul sah das Nachtmahl vor sich: Schweigen, verstohlene Blicke zu seinem leeren Stuhl, Lysanne, die mühsam die Tränen zurückhielt, Jean, der nicht verstand, was vor sich ging, und unruhig auf seinem Sitz herumrutschte, Mägde, die Fleisch und Brot abräumten, das kaum angerührt worden war. Seine Verzweiflung wurde schier übermächtig.
Vor seiner Kammer stand ein Lehnstuhl, der dort nicht hingehörte. Jacques saß zusammengesunken darauf und schlief, an den Füßen noch die lehmverkrusteten Reitstiefel. Offenbar war er durch den Wald geritten und hatte ihn vergeblich gesucht. Schließlich war er zurückgekehrt, um seinen Bruder hier zu erwarten. Der gute, alte, langweilige Jacques, dachte Raoul, öffnete die Tür fast geräuschlos und schloss sie ebenso leise hinter sich.
Er zog seine Stiefel aus und legte sich aufs Bett – dasselbe Bett, in dem er mit dem Mädchen die Nacht verbracht hatte: eine Erinnerung aus einem anderen Zeitalter. Lange starrte er in die Dunkelheit. War er jemals so müde gewesen? Die letzten Stunden hatten all seine Kraft geraubt. Trotzdem wollte der Schlaf nicht kommen. Immer wenn ihm die Augen zufielen, schreckte er hoch, mit rasendem Herzen und der Gewissheit, dass im nächsten Augenblick etwas Furchtbares geschehen würde. Irgendwann stand er auf, zog den Hocker zum Fenster und setzte sich. Er sah zu, wie der Mond langsam über die Hügel zog. Die Schwärze der Nacht wich dem ersten Licht des Tages, in dem das Dach von Blaises Haus genauso grau wirkte wie die Flanken der Hügel und die Konturen des Waldrandes. Ihm kam der Gedanke, dass er die wenige Zeit, die ihm noch blieb, vielleicht festhalten oder wenigstens in die Länge ziehen konnte, wenn er für immer hier sitzen blieb und jede Bewegung vor seinem Fenster, jeden Wechsel von Licht und Schatten genau beobachtete.
Eine Gestalt erschien am Tor, gehüllt in einen groben Mantel. Als sie die Kapuze zurückschlug, sah Raoul die blonden Locken und das runde, hübsche Gesicht, blass von der durchwachten Nacht. Die Augen des Mädchens suchten sein Fenster, und Raoul entdeckte keinen Zorn darin, nur die Frage, warum er nicht gekommen war, so wie er es versprochen hatte.
François, der von allen Bewohnern Bazerats immer als Erster auf den Beinen war, stapfte zum Tor. Harsche Worte fielen. Das Mädchen weinte und rief Raouls Namen, worauf der alte Soldat das Tor aufriss und das Mädchen anherrschte, zu verschwinden. Es versuchte, an ihm vorbeizukommen, doch François stieß es zu Boden. Bitterkeit und Hass lagen plötzlich in seinem Blick, ehe es aufstand und davonlief.
Sophie, dachte Raoul. Ihr Name ist Sophie.
Kurz darauf kam der Schlaf, und er träumte von einem Tunnel, den er hinabrutschte, ohne etwas dagegen tun zu können, hilflos, ausgeliefert, einer Dunkelheit entgegen, die ihn lockte und rief und verhöhnte.
Als er aufwachte, stellte er fest, dass er in seinem Bett lag. Er war nackt, seine Kleider lagen ordentlich auf dem Hocker. Jacques, dachte er. Sein Bruder hatte ihn den ganzen Tag schlafen lassen; der Himmel vor dem Fenster war von violetten Streifen durchsetzt. Abend. Fast Nacht.
Es war ein Moment der Leere, ohne einen klaren Gedanken. Ein Teil von Raoul wusste, wie wertvoll dieser Augenblick war, und er versuchte ihn so lange wie möglich festzuhalten. Aber schon bald kam die Erinnerung an den gestrigen Tag, und mit ihr Verzweiflung und Schmerz. Doch diesmal ließ er nicht zu, dass er davon überwältigt wurde. Er setzte sich auf und überlegte, was er unternehmen konnte.
Zu Blaise gehen. Ja, das musste er als Erstes tun.
Er zog sich an und verließ sein Zimmer. Der große Saal wurde von Fackelschein und dem Kaminfeuer erleuchtet, und die Bewohner Bazerats saßen beim Essen zusammen. Jacques, Lysanne und Jean teilten sich das kalte Fleisch, das vom Sonntag übrig war. Die Waffenknechte und das Gesinde kauerten in den Fensternischen und verzehrten Erbsenbrei und Brot, das sie in Milch tauchten. Ein Blick genügte Raoul, um die gedrückte Stimmung wahrzunehmen. Als er den Saal betrat, verstummten sämtliche Gespräche. Eine junge Magd mit schmalem Gesicht und spitzer Nase, die seit Jahren in ihn verliebt war, fing an zu schluchzen.
»Wo ist Blaise?«, fragte Raoul in die Stille hinein.
Jacques war aufgestanden. »In seinem Haus. Er wollte allein essen …« Er wollte noch etwas sagen, suchte nach Worten, doch Raoul war bereits zur Tür gegangen.
Blicke aus mehr als einem Dutzend Augenpaaren folgten ihm.
»Was ist los mit euch?«, fragte er mürrisch. »Übt ihr schon für meine Trauerfeier?«
Nun brach auch Lysanne in Tränen aus.
Allmächtiger, sei mir gnädig, dachte er, als er die Tür zuwarf und die Treppe hinabstieg. Das Schicksal, das Blaise ihm prophezeit hatte, war schon schlimm genug. Aber diese bleierne Hoffnungslosigkeit um ihn herum war einfach zu viel.
Er stapfte über den menschenleeren Hof und klopfte bei Blaise an. Kurz darauf wurde die Tür geöffnet. Der Kaplan hielt eine Öllampe, deren Flamme im Wind zitterte, und blickte ihn schweigend an, das Gesicht ernst wie immer, aber ohne einen vorwurfsvollen Ausdruck darin. Schließlich nickte er nur und ging voraus ins Halbdunkel.
Sie schritten zur Nische, in der sie gestern gesessen hatten. Statt der Unordnung aus Pergamenten lagen nun zwei in Leder gebundene Folianten auf dem Tisch. Blaise setzte sich und wartete.
Raoul wusste, dass der Kaplan bei all seiner Strenge nicht nachtragend war, dennoch fiel es ihm schwer, zu sprechen. Er kam sich wegen seines Verhaltens wie ein Narr vor.
»Es tut mir leid. Ich wollte dir nichts antun. Es ist nur … es ist …«
»Ich weiß«, sagte Blaise ungewöhnlich sanft. »Setz dich.«
Raoul kam der Aufforderung nach, obwohl es ihm schwerfiel. Die Unruhe, die ihn seit dem Aufwachen erfüllte, wurde immer quälender, und er verspürte den Drang, auf und ab zu gehen. Er räusperte sich. »Ich habe über alles nachgedacht, was geschehen ist. Ich will genau wissen, was mit mir geschieht … wie wahrscheinlich es ist, dass ich sterbe.«
Blaise warf einen kurzen Blick zu den beiden Büchern, in denen er vermutlich den ganzen Tag gelesen hatte. Raoul kannte sie, so oft hatte sein Lehrer davon erzählt. Es waren das kitab al-shifa und das al-qanun al-tibb, die bedeutendsten Werke des persischen Arztes ibn-Sina. Das Buch des Heilens und der Kanon der Medizin in lateinischen Abschriften. Krankheiten und Heilmittel, die darin nicht zu finden waren, waren nirgendwo zu finden. »Der blutige Husten bedeutet, dass deine Lunge zerfällt«, erklärte der Kaplan. »Wie ich dir sagte, ist die wahrscheinlichste Ursache ein fressendes Geschwür – oder der Schwund oder eine Krankheit, die ich nicht kenne. Aber die Folge ist in allen Fällen dieselbe. Nur bleibt dir bei der einen Krankheit mehr Zeit, bei der anderen weniger.«
Raoul nickte stumm. Mit belegter Stimme sagte er: »Angenommen, es ist ein Geschwür – was kannst du dagegen tun?«
»Nichts«, antwortete Blaise schlicht. »Alles, was ich habe, sind Kräuter, die deinen Husten lindern können und die Schwäche, die dir bald zusetzen wird, verringern.«
»Und ein Wundarzt? Ich habe gesehen, wie sie Geschwüre aufschneiden, die auf den Armen und in den Achseln sitzen.«
»Aber deines wächst in der Lunge. Nicht einmal der fähigste Arzt am Hof des Sultans wäre dazu in der Lage. Wenn blutiger Husten auftritt, ist das Geschwür bereits so groß, dass alle Hoffnung vergeblich ist.«
Raoul schloss die Augen und fasste sich an die Stirn. Seine Haut glühte. Er war gekommen, um vernünftig über alles zu sprechen. Aber es war so schwer. Jedes Wort von Blaise brachte neue Verzweiflung. »Warum ich?«, flüsterte er. »Warum musste es mich treffen?«
Blaises Stimme klang behutsam, voller Liebe. »Das weiß Gott allein.«
In den nächsten Tagen ging Raoul allen aus dem Weg. Nacht für Nacht schlief er nur wenige Stunden, verließ im Morgengrauen das Haus, ritt durch die Wälder bis zum Einbruch der Dunkelheit und kehrte zurück, wenn seine Familie, Blaise und die Bediensteten bereits schliefen. Er wusste, dass er die Zeit, die ihm noch blieb, mit Jacques und Lysanne und Jean verbringen sollte, doch ihre Niedergeschlagenheit, ihre Furcht und ihr Mitgefühl riefen ihm immer wieder aufs Neue in Erinnerung, was ihm bevorstand. Jacques versuchte mehrere Male, mit ihm zu sprechen. Aber Raoul wich ihm aus. Einmal machte er einen Scherz über seinen baldigen Tod, der seinen Bruder so sehr in Wut versetzte, dass sie sich beinahe schlugen. Von da an ließ Jacques ihn in Ruhe.
Der Husten verschlimmerte sich, und die Krankheit begann, von seinen Kräften zu zehren. Eines Abends verfolgte er ein Reh durchs Unterholz. In der Hand den Bogen, hastete er einen langen Hang hinauf, was ihn früher lediglich etwas außer Atem gebracht hätte. Jetzt musste er alsbald aufgeben, weil sein Brustkorb sich anfühlte, als würde er bersten. Jede Nacht quälten ihn Albträume. Zwei Wochen nach ihrem ersten Gespräch sagte Blaise, er habe keinen Grund mehr, seine Einschätzung, dass in Raouls Lunge ein fressendes Geschwür wachse, zu ändern. Raoul hatte selbst nicht mehr daran geglaubt, trotzdem überkam ihn danach eine abgrundtiefe Verzweiflung. Eine leise Hoffnung war geblieben, alles könne sich doch noch als Irrtum erweisen, doch nun war es eine unumstößliche Tatsache.
Zwei Tage schloss er sich in seinem Zimmer ein, aß nichts, schlief kaum, dämmerte dahin.
Ich erlebe nicht mehr, wie Jean Page wird. Gerard als Knappen erlebe ich auch nicht mehr. Nur noch einen Sommer, ein Osterfest, ein Weihnachten. An meinem dreißigsten Namenstag bin ich vielleicht schon ein halbes Jahr unter der Erde …
Irgendwann, es war Nacht, verließ er das Haus. Er wusste, dass er ein mitleiderregendes Bild abgab, unrasiert und hohlwangig, wie er war, in verschwitzten Kleidern, die er seit Tagen ununterbrochen trug, und war froh, niemandem zu begegnen. Er schob sich durch die Lücke im Zaun und ging zu einem Pfad, der sich zwischen Felsen und Buschwerk den Hang hinaufwand. Wolken verdeckten die Sterne, und es war so dunkel, dass er kaum etwas sah.
Auf der Hügelkuppe erstreckte sich eine Wiese bis zum Waldrand. Hohes, regenfeuchtes Gras strich Raoul um die Beine, als er zu dem Stein ging, der das Grab seiner Eltern markierte. Gerard von Bazerat und Christine von Bazerat, In manus tuas, Domine, stand darauf. Raoul kniete nieder und bat seine Eltern stumm um Verzeihung für sein heruntergekommenes Aussehen.
Seine Mutter war eine schöne, fröhliche Frau gewesen, die sich das Haar zu einem langen Zopf geflochten hatte und einen unerschöpflichen Vorrat an Liedern und Geschichten besaß. Sie war jung gestorben, an einem Fieber, das ihren zierlichen Körper so sehr auszehrte, bis ihr Herz vor Erschöpfung aufhörte zu schlagen. Es war ihr letzter Wunsch gewesen, auf diesem Hügel begraben zu werden, unter sich das Tal, in dem sie die glücklichsten Jahre ihres Lebens verbracht hatte. Raouls Vater hätte wegen seiner Verdienste im Heiligen Land in der Cathédrale St-Étienne in Metz seine letzte Ruhestätte finden können, doch er wollte neben seiner Frau liegen, die Gott ihm so früh genommen hatte.
Raoul war schon lange nicht mehr hier gewesen. Er dachte oft an seine Eltern, trotzdem kam er nur ungern zu ihrem Grab. Es führte ihm vor Augen, dass alles, was er noch von ihnen hatte, Erinnerungen waren und dass sie für immer fort waren.
So wie ich es bald sein werde, dachte er. Wer würde sich an ihn erinnern, wenn sein Tod erst einmal einige Jahre zurücklag? Jacques, Lysanne und Blaise. Jean und Gerard, aber sie waren noch jung. Für sie wäre er bald nur noch ein Schatten in ihrem Gedächtnis. Onkel Raoul? Er hat mir Bogenschießen beigebracht, nicht wahr? Nein, ich weiß nicht mehr, wie er aussah …
Diese fünf, mehr nicht. Keine Ehefrau, keine Kinder, keine Weggefährten aus Kriegen. Und woran würde man sich erinnern? Die Liste seiner Taten war kurz. Ein unwichtiger Feldzug gegen Raubritter, denen früher oder später ohnehin Winter und Hunger ein Ende gemacht hätten. Alles, was sein Leben ausgemacht hatte, Liebeleien mit Töchtern von Bauern und fahrenden Händlern, der Sieg bei einem Turnier, bedeutete auf einmal nichts mehr. Wie viel wertvoller war da Jacques’ Leben! Er hatte zwei Söhne gezeugt, die einmal Ritter des Herzogs werden und dafür sorgen würden, dass der Name von Bazerat weiterlebte. Er hatte die Ländereien der Familie vergrößert und neue Äcker angelegt, die die Bewohner des Tals ernährten. Oder sein Vater! Ein Kreuzritter, der bis ans Ende der Welt gereist war, um die Christenheit in Palästina mit seinem Leben zu verteidigen. Und dabei klüger geworden war, weil er begriffen hatte, dass es falsch war, das Wort Gottes mit dem Schwert zu verbreiten. Sie beide hatten Spuren hinterlassen, die einer Erinnerung würdig waren. Und Raoul? Nichts davon. Vergeudete Jahre voller Sünden und Belanglosigkeiten.
Und jetzt war seine Zeit beinahe vorbei.
Raoul schaute den verwitterten Grabstein an. Was soll ich tun, Vater?
Einige Tage später wusste er die Antwort. Er kam von einem langen Ausritt zurück und ging zu seinem Bruder, der in seinem Gemach Schriftstücke durchsah. Als Jacques die Tür hörte, blickte er auf. Das lange Haar hatte er am Hinterkopf zusammengebunden. Er sagte nichts. Seit ihrem Streit hatten sie nicht miteinander gesprochen.
»Was machst du?«, fragte Raoul.
»Die Urkunden unserer Pächter ordnen. Die Steuer ist bald fällig.«
Raoul setzte sich zu Jacques an den Tisch. Er fühlte sich unwohl. Sie stritten oft und vertrugen sich in kurzer Zeit wieder. Aber es war noch nie vorgekommen, dass sie sich tagelang aus dem Weg gingen.
»Ich gehe fort«, sagte er langsam. »Ich verlasse Bazerat.«
Jacques legte die Pergamente beiseite. »Was hast du vor?«
»Ich gehe nach Rom. Ich will an den Gräbern der Apostel um die Vergebung meiner Sünden bitten.«
Sorge blitzte in den Augen seines Bruders auf. Falls er noch zornig auf Raoul gewesen war, so war es augenblicklich vergessen. »Der Weg nach Rom ist weit und nicht ohne Gefahren. Hast du dir das gut überlegt?«
»Schau mein Leben an«, sagte Raoul bitter. »Siehst du daran irgendetwas, das eines Ritters würdig ist? Wenigstens am Ende will ich etwas tun, das tugendhaft ist. An das man sich erinnert.«
Einen Moment hatte Raoul gehofft, sein Bruder würde ihm widersprechen, würde ihn darauf hinweisen, dass es sehr wohl Dinge gab, auf die er stolz sein konnte. Aber Jacques tat nichts dergleichen. Warum sollte er auch?, dachte Raoul voller Zorn auf sich selbst.
Sein Bruder lehnte sich zurück. Seine Rechte lag reglos auf dem Tisch. »Mir wäre es lieber, du würdest den Rest deiner Zeit mit uns verbringen. Aber ich verstehe deine Entscheidung. Vater hätte sie gutgeheißen.«
Ja, dachte Raoul, das hätte er. Es tat gut, das aus Jacques’ Mund zu hören.
»Wann willst du aufbrechen?«
»So bald wie möglich. Dann werde ich vor Einbruch des Winters zurück sein.«
Sie wussten beide, dass es nicht in seiner Hand lag, ob er dieses Versprechen halten konnte.
Der Abschied fand im Morgengrauen statt und war schlimmer, als Raoul geglaubt hatte. Alle waren da: Jacques, Lysanne, die einen betreten dreinschauenden Jean an der Hand hielt, Blaise, François und die anderen Soldaten, Knechte und Mägde – eine Reihe von traurigen Gesichtern vor dem Tor. Alles hüllte sich in Schweigen.
Raoul hielt sein Pferd an den Zügeln. Er trug einen blauen Waffenrock mit dem silbernen Hirschen der Bazerats auf Brust und Rücken und hatte sein Schwert umgegürtet. Zwar galt er als Pilger, doch er wollte als Ritter in Rom einziehen.
»Sieh dich vor, wenn du die Alpen überquerst«, sagte Jacques. »Dort soll es Unruhen geben. Der Papst führt Krieg gegen die Katharer.«
Raoul brachte ein Lächeln zustande. »Es geht nie ohne Ratschläge, nicht wahr?«
Jacques erwiderte das Lächeln. »Natürlich nicht. Du bist mein kleiner Bruder.« Er umarmte ihn. »Glück auf deinem Weg.«
Blaise war vorgetreten und gab Raoul einen Lederbeutel. »Mehr von den Kräutern. Der Vorrat sollte für einige Wochen reichen. Du weißt, wie sie zubereitet werden?«
»Du hast es mir fünfmal erklärt. Lebwohl, du alte Krähe. Und gib auf Jean acht. Wenn ich fort bin, ist niemand mehr da, der dem Jungen etwas Anständiges beibringt.« Raoul umarmte den Kaplan, der bei so viel Zuneigung steif wie ein Brett wurde.
»Leb wohl, mein Junge«, sagte Blaise würdevoll. Dabei zitterte seine Stimme unmerklich.
Raoul schwang sich in den Sattel und ließ den Blick über die Dächer Bazerats schweifen, über die grünen Hügel, die Baumkronen und die schiefergrauen Felswände. Er dachte an seinen ersten Abschied von diesem Tal, an jenen Tag, als er an der Seite seines Vaters nach Nancy aufgebrochen war, um für zwölf Jahre der Obhut des Herzogs übergeben zu werden. Damals hatte er keinen Funken Angst gespürt, nur unbändige Freude. Er hätte alles für diese kindliche Gewissheit gegeben, dass das, was er tat, das einzig Richtige war.
Raoul schob diesen Gedanken fort, rief »Ho!«, riss das Pferd herum, kehrte Bazerat, den traurigen Abschiedsgesichtern, seinem alten Leben den Rücken und ritt davon.
Kastanien und Pinien säumten den Weg, und hinter den Baumkronen erstreckten sich die sanften, von Buschwerk gesprenkelten Hügel, die die Landschaft seit vielen Tagen prägten. Raoul begegnete kaum jemandem, außer einem Eselskarren und einigen Bauern mit Schaufeln und Hacken auf den Schultern. Er hatte die alte Römerstraße verlassen, um dem Meer näher zu sein. Es lag hinter der Hügelkette, keine halbe Meile von ihm entfernt. Die salzige, frische Luft tat ihm gut. Er musste immer noch husten, aber seit zwei Tagen war der Husten frei von Blut.
Die Gegend, durch die er ritt, wurde Latium genannt und gehörte zum Kirchenstaat, dem Reich des Papstes. Raoul hatte die Nacht in einer Pilgerherberge verbracht und von den Mönchen erfahren, dass Rom nicht mehr fern war; zwölf Wegstunden zu Fuß, die Hälfte zu Pferd. Am frühen Nachmittag würde er sein Ziel erreichen. Er kam zu einer Weggabelung und nahm die Abzweigung, die ins Landesinnere führte. Die Bäume lichteten sich bald und gaben den Blick frei auf das Hügelland vor den Gipfeln der Sabiner Berge im Osten.