Lothar Frenz

Lonesome George

oder
Das Verschwinden der Arten

Inhaltsverzeichnis

In Erinnerung an Loki Schmidt

PROLOG

Per Selbstauslöser in die Erdgeschichte

NORDAMERIKA: LEERE NEUE WELT

Marthas letzte Reisen

El Condor Pasa – jetzt ohne Laus

Geisterspecht und Kreischjuwel

EUROPA: UNTERGANG IM ABENDLAND

Sieben Minuten Renaissance

Ur-Vieh, Einhorn, Rasenmäher

Der Friedhof der Geirfugl

ASIEN: AUFBRUCH, MAO UND MILLIARDEN

Im Auftrag des Zaren

Die verschwundene Prinzessin

Wunder sterben immer wieder

AFRIKA: DIE WIEGE DES GROSSEN JÄGERS

Der blaue Bock vom Burenland

Das Rätsel der Quaggas

Feuerland am Kap der Guten Hoffnung

Eine Farm in Afrika

Der Artenfresser

SÜDAMERIKA: CHRONIKEN ANGEKÜNDIGTEN AUSSTERBENS

Darwin und der Wolf

Der Krieg der Gremlins

Zweihundert Jahre Einsamkeit

AUSTRALIEN UND NEUSEELAND: VERLORENE WELTEN

Osterbilbys aus der Wüste

Die Augen des Tigers

Neuseeländische Urlaubsvergnügen

GLOBAL: JENSEITS VON EDEN

Das gefährliche Leben im Wunderland

Wir sind dann mal weg

Hitzefrei war gestern

EPILOG

Von der Gleichgültigkeit der Natur

Danksagung

Literaturempfehlungen

Bildnachweis

 

 

 

 

In Erinnerung an Loki Schmidt

(1919 bis 2010)

 

Als Loki Schmidt und ich uns im August 2010 zum letzten Mal trafen, blieb sie bei unserer Begrüßung kurz vor mir stehen, anders als sonst, um ihre Jacke zu öffnen und das T-Shirt darunter zu zeigen, auf dem die beiden Worte standen: «Still alive». «Noch lebendig». Wir mussten beide sehr lachen. Im Laufe des Gesprächs fragte sie, was denn meine neuen Projekte seien, und ich erzählte ihr von diesem Buch. Neugierig löcherte sie mich mit Fragen; am Ende: Ob sie mich um einen Gefallen bitten könne? Ob sie erste Leserin sein dürfe? Korrektur lesen? Dazu ist es nicht mehr gekommen. Zur Erinnerung an Loki Schmidt, die Botanikerin und Naturschützerin, enthält dieses Buch ein Kapitel über die bedrohte und ganz spezielle Flora am Kap der Guten Hoffnung, der die Menschen es wahrscheinlich maßgeblich mit zu verdanken haben, dass wir heute noch eines sind: «Still alive».

PROLOG

Per Selbstauslöser in die Erdgeschichte

Haben Sie mal versucht, mit einem ganz normalen Huhn zusammen auf ein Foto zu kommen? Probieren Sie es: Stellen Sie die Kamera auf einer Wiese ein paar Meter vom Huhn entfernt auf. Wählen Sie in Ruhe den Bildausschnitt: Wo soll das Geflügel im Bild stehen, wo Sie? Drücken Sie den Auslöser – jetzt haben Sie zehn Sekunden Zeit, Ihren Platz einzunehmen. Schon bei einer Familienfeier kann das ganz schön stressig sein. Sie rennen also auf das Huhn los – aber was tut das doofe Stück? Jedes einigermaßen vernünftige Huhn rennt weg! Es flieht. Denn auch an Menschen gewöhnte Hühner werden versuchen, möglichst rasch zumindest ein paar Meter Sicherheitsabstand zu gewinnen. Wer ihn vorher so ausgiebig beobachtet, den findet Gallus gallus domesticus zumindest suspekt. Und wenn derjenige plötzlich auf einen zustürmt, kann der – aus Hühnersicht – einfach nichts Gutes im Schilde führen. Selbstauslöserfotos sind einem Huhn wesensfremd. Von Natur aus kennen Hühner keine Gruppenbilder, wohl aber Angreifer, die es auf ihr Leben abgesehen haben. Hühner sind nicht so dumm, wie wir denken.

Mit einem Huhn ist mir ein solches Foto nicht geglückt, wohl aber mit einem der seltensten Vögel der Erde – der Takahe-Ralle: Ebenfalls hühnergroß, leuchtet ihr Federkleid in Grün und Kobaltblau, korallenrot erglühen Schnabel und Beine. So gilt Porphyrio hochstetteri als der Popstar der Vogelwelt Neuseelands. Ich bin dem kunterbunten Vogel auf der Insel Kapiti begegnet, einem Naturschutzreservat, nicht weit von der Hauptstadt Wellington entfernt. Als das seltene, wildlebende Tier sich von meiner Gegenwart überhaupt nicht beeindrucken ließ, sondern mir eher auf den Füßen rumtrampelte, kam mir eine Idee.

Ich legte meinen Rucksack auf den Boden, stützte meine Kamera darauf und überlegte mir den Bildausschnitt: Wo steht die Takahe gerade, wo kann ich ins Bild springen? Dann drückte ich den Selbstauslöserknopf und hatte genau jene zehn Sekunden, um mich aufzurichten, auf den seltenen Vogel zuzurennen und mich neben ihn auf den Boden zu werfen, damit wir gemeinsam auf ein Bild passen. Und was machte die Takahe? Nichts. Sie zuckte noch nicht mal. Hob nur kurz den Kopf und graste weiter, als sei nichts geschehen. Als gehörten Gruppenfotos seit jeher zu ihrem Lebenskonzept, als trachte ihr niemals jemand nach dem Leben.

Diese geradezu lächerliche Zahmheit hätte Porphyrio hochstetteri beinahe den Artentod beschert. Nach der Besiedlung Neuseelands durch die Polynesier war die Takahe bereits stark dezimiert und in Randgebiete abgedrängt. Dann brachten die europäischen Siedler im 19. Jahrhundert auch noch Frettchen, Wiesel und Hermeline mit. Solche Räuber gab es auf Neuseeland nicht: Die Insel hatte sich vor etwa achtzig Millionen Jahren vom Urkontinent Gondwana abgespalten, und seit dieser Zeit hatten die Vögel dort unbeschwert von angreifenden Säugetieren leben können. Angstbefreit, wie der hühnergroße Vogel war, stellte er nun ein perfektes Opfer für die neu eingetroffenen Marder dar.

Die Takahe galt schon als ausgerottet, da wurden 1948 in einem abgelegenen Tal der neuseeländischen Südinsel noch einige überlebende Vögel entdeckt. Naturschützer päppelten ihren Bestand mit viel Mühe wieder auf, sodass heute auf geschützten Inseln wie Kapiti, wo keine Raubfeinde lauern, wieder um die zweihundertfünfzig der bunten Vögel leben. Die Takahe hatte noch mal Glück gehabt.

Und ich auch. Weil ich diesen Vogel erleben konnte, der seinem Aussterben entgangen war, da sich rechtzeitig jemand um ihn gekümmert hatte. Weil die Idee mit dem Selbstauslöserbild so gut funktionierte. Und weil das wenig perfekte Foto mich in die Erdgeschichte entführt, in die Zeit des Urkontinents Gondwana.

Dieses Foto mit der Takahe, dem Popstar der Vogelwelt Neuseelands, erzählt achtzig Millionen Jahre Erdgeschichte.

In den rheinhessischen Weinbergen um Mainz herum findet man überall Muscheln, mit etwas Glück sogar Haifischzähne. Sammelnd erfuhr ich so als Junge, dass hier «früher» einmal ein Meer war, dass hier Tiere gelebt hatten, die längst verschwunden sind. «Früher» hieß in dem Fall, dass man vor dreißig Millionen Jahren von der Nordsee bis ins Mittelmeer hätte schippern können, durch einen Verbindungskanal, der sich ins «Mainzer Becken» ausweitete. Im Naturhistorischen Museum in Mainz staunte ich über uralte Skelette von Seekühen aus diesem Meer; außerdem über die Fossilien von Elefanten und Waldnashörnern, die noch zu Eiszeiten hier gelebt hatten. Dass die Welt damals ganz anders aussah als heute und dass diese großartigen Tiere hier gelebt hatten, wo ich jetzt lebte, faszinierte mich. Warum waren sie verschwunden? Natürlich hätte ich sie gerne erlebt – wie die Takahe. Aber was war das lange her! Aussterben ist einer der normalsten Prozesse der Welt, das hatten mir schon die Muscheln aus dem Weinberg gezeigt.

Bis heute ist es nicht immer leicht, sich die zeitlichen Dimensionen der Erdgeschichte vorzustellen. Mir helfen dabei ein paar Fixpunkte: Ausgehend von eintausend Jahren Dom, die in Mainz stehen, habe ich diesen Zeitraum geradezu vor Augen. Außerdem heißt es: Wenn man in der Stadt eine Grube gräbt, «so fällt ein Römerschiff heraus». Vor zweitausend Jahren haben die Römer Moguntiacum gegründet; Überreste ihrer Bauten sind überall zu entdecken. Auch das vermittelt mir eine Vorstellung von den zeitlichen Dimensionen.

Die letzte Eiszeit, bei der Norddeutschland von zwei Kilometer dicken Eispanzern bedeckt war, endete vor etwa zwölftausend Jahren; nach meiner Rechnung sind das «sechs Mal Mainz». Die Existenzdauer unserer eigenen Art – «hundert Mal Mainz»: Seit zweihunderttausend Jahren lebt der moderne Homo sapiens auf der Erde. Dann – ein großer Sprung: Vor fünfundsechzig Millionen Jahren sind die Dinosaurier ausgestorben. Auf den Homo sapiens habe ich diese Zahl nie umgerechnet, aber diese Punkte geben mir Orientierung in der Erdgeschichte.

Das Mainzer Naturhistorische Museum beherbergt noch andere Kostbarkeiten, die mich fasziniert haben, die größte Quaggaherde der Erde zum Beispiel: Nur hier gibt es gleich drei ausgestopfte Exemplare jener Zebras, die nur zur Hälfte gestreift waren. In einem anderen Saal steht ein Java-Nashorn, das heute kurz davor ist, von der Erde zu verschwinden, und etwas weiter davon ein Tasmanischer Tiger oder Beutelwolf, der aussieht wie ein Wolf mit Streifen, aber seine Jungen im Beutel trug wie ein Känguru. Ich las Bücher über Expeditionen, die nach dem seltsamen, verschollenen Tier suchten, von dem 1936 das letzte bekannte Exemplar starb. Beim Lesen lernte ich auch Martha kennen, die letzte Wandertaube, die 1914 einsam im Zoo von Cincinnati starb, obwohl sie zur einst häufigsten Vogelart der Erde gehörte.

Die Schicksale dieser Tiere beschäftigten mich mehr als die der Dinosaurier, denn im Gegensatz zu den Urzeitechsen waren Quaggas und Beutelwölfe bis gerade eben noch da – aus erdgeschichtlicher Perspektive betrachtet jedenfalls. Was sind im Vergleich zu den Jahrmillionen schon ein paar Dutzend oder ein paar hundert Jahre? Ich hatte die Tiere also nur ganz knapp verpasst, um einen winzigen Augenblick. «Gestern» waren sie noch da, aber ich durfte sie nicht mehr erleben.

Warum waren sie verschwunden? Wie konnte der häufigste Vogel der Erde plötzlich weg sein? Was passiert eigentlich beim Aussterben? Weshalb sterben einige Spezies aus – und andere berappeln sich wieder? Auf welche Weise sterben die Letzten ihrer Art? Und ist es nicht wichtiger zu verstehen, wieso eine Art vorher überhaupt selten geworden ist?

Schließlich befürchten Wissenschaftler, dass innerhalb der nächsten fünfzig Jahre die Hälfte aller Tier- und Pflanzenarten von der Erde verschwinden könnte, dass ein Massenaussterben im Gange ist, vergleichbar mit dem der Dinosaurier. Dabei wissen wir noch nicht einmal, wie viele Spezies derzeit überhaupt existieren. Schätzungen reichen von zehn, zwanzig, fünfundzwanzig Millionen bis hin zu einhundert Millionen Arten; die meisten sind Insekten.

Der «Vater der Biodiversität», der Biologe Edward O. Wilson, hat mal geschrieben: «Jede Art lebt – und stirbt – auf ihre ureigene, einmalige Weise.» Und genau darum geht es in diesem Buch: Ein paar wenige jener Arten vorzustellen, die wir verloren, gerade eben «verpasst» haben, die erst seit «gestern» – in jenen fünfhundert Jahren seit Kolumbus, als die Globalisierung begann – nicht mehr auf der Erde sind, sondern ausgestorben, ausgerottet. Wie haben diese Tiere gelebt? Warum sind sie nicht mehr da? Wieso sind sie gerade in jüngster Zeit verschwunden? Was passierte eigentlich, nachdem sie verschwunden waren? Und was kann man heute noch über diese ausgestorbenen Tiere herausfinden? Es geht also um große und kleine Tiere, ökologisch wichtige und solche, deren Verschwinden ohne große Auswirkungen blieb; manche «nützlich», andere vielleicht auch nicht.

Rasch habe ich gemerkt, dass diese Fragen nicht nur um den Globus und in die Geschichte der modernen Welt führten, sondern dass ich in die Erdgeschichte geriet; in die Lebensgeschichte vieler Tier- und Pflanzenarten, von Landschaften, von ganzen Kontinenten. Ich traf auf Einzel- und Inselschicksale, auf komplexe Zusammenhänge und globale Phänomene; staunend darüber, wie viel wir schon wissen – und wie wenig doch eigentlich. Denn überall entstanden neue Fragen.

Und immer wieder ging es um Entscheidungen.

NORDAMERIKA: LEERE NEUE WELT

Marthas letzte Reisen

Martha war nicht irgendwer: Hätte man sie denn sonst nach ihrem Tod unverzüglich zur Cincinnati Ice Company gebracht, dort an den Füßen aufgehängt und kopfüber in einen großen Bottich mit Wasser getunkt, damit sie zu einem gut einhundertvierzig Kilogramm schweren Eisklotz gefriert? Dann per Expresszug auf eine Reise nach Washington, D. C. geschickt, wo man in der Smithsonian Institution, einer der angesehensten Forschungseinrichtungen der Welt, schon seit Jahren auf ihr Ableben wartete?

Kaum war Martha dort angekommen, wurde sie sorgsam aufgetaut und obduziert. Ihre sterbliche Hülle wurde präpariert, um sie für die Nachwelt zu erhalten. Die Innereien wurden entnommen; Augen, Leber, Hirn – ein jedes Organ kam einzeln in ein kleines Gefäß voller Alkohol. Wie bei einem altägyptischen Pharao.

In ihren letzten Lebensjahren war Martha zu einer amerikanischen Berühmtheit geworden. Benannt war sie nach der «Mutter der Nation», der allerersten First Lady der USA: Martha Washington. Mehr als hundert Jahre später lebte Martha, die Zweite, im Zoo von Cincinnati in einer japanisch anmutenden Pagode mit rotem Dach – und grüßte von Postkarten des Zoos herab: als Letzte ihrer Art. Als sie am 1. September 1914 gegen 12.45 Uhr im Alter von neunundzwanzig Jahren verschied, berichteten am nächsten Tag überall im Lande die Zeitungen davon. Denn nun war sie endgültig zu einer Ikone geworden. Marthas Tod war das Ende eines nordamerikanischen Phänomens, eines Naturspektakels, das weltweit einzigartig war.

 

«Da kommen sie.» Neben dem sanften Rascheln der Blätter, dem Zwitschern der Vögel drängte sich aus der Ferne ein neuer Ton. Wie ein starker Wind, der dröhnt und röhrt. Und doch blieben alle Blätter an den Bäumen ruhig. Als der Sturm näher kam, verschwand das Mittagslicht wie bei einer Sonnenfinsternis. Schmelzenden Schneeflocken gleich fielen weißliche Tropfen vom Himmel und bedeckten die Landschaft mit einer hellen Schicht Exkremente. Und dann war die ganze Luft buchstäblich mit ihnen angefüllt: Tauben über Tauben, die mit großer Geschwindigkeit durchs Land zogen.

Es war im Herbst 1813, rund einhundert Jahre vor Marthas Tod, als der amerikanische Naturforscher, Ornithologe und Vogelmaler John James Audubon auf dem Weg nach Louisville im amerikanischen Bundesstaat Kentucky jenen gewaltigen Schwarm von Wandertauben erlebte.

Schon oft hatte Audubon die ungeheuren Scharen der Tauben beobachtet, aber diese hier war bei weitem die größte Ansammlung dieser Spezies, die er jemals gesehen hatte: Den ganzen Tag über flogen Legionen von Vögeln über ihm, kein einziger davon setzte auch nur einmal zur Landung an.

Audubon war hingerissen, wie elegant sich die Wolke am Himmel bewegte, als ein Habicht versuchte, ein Einzeltier aus dem Schwarm zu isolieren, um Beute zu schlagen: Da strömten die Tauben wie mit Donnerhall zu einer noch kompakteren Masse zusammen; jede versuchte, sich ins Zentrum zu drücken. Gemeinsam schossen sie vorwärts, mal in wellenartigen, mal in kantigen Bewegungen; dann stiegen sie plötzlich hinab und strichen mit unglaublicher Geschwindigkeit über dem Boden entlang, nur um alsbald zu einer beinahe senkrechten, gewaltigen Säule aufzusteigen, die sich immerfort drehte und wendete wie das Knäuel eines gewaltigen Schlangenleibes.

Unzählige Tauben, es waren wohl Hunderte von Millionen, gaben sich in diesem Augenblick synchron dem Serpentinenflug hin. Mal glitzerte die Vogelwolke azurblau, wenn alle Tauben dem Betrachter am Boden zeitgleich den Rücken zuwendeten, mal präsentierten sie beim nächsten Richtungswechsel das Bauchgefieder – und die gewaltige Masse färbte sich in tiefsten Purpur ein.

Wenn die Schwärme der Wandertauben die Sonne verdunkelten, begann das große Schießen – wie hier in Iowa.

Gegen Abend erreichte Audubon Louisville. Knapp neunzig Kilometer hatte er da zurückgelegt, und noch immer zogen die Wandertauben in unverminderter Anzahl an ihm vorbei. Noch drei Tage lang sollte das Spektakel so weitergehen.

Hunderte Millionen von Tauben! Europäische Naturkundler, die solche Berichte hörten, bezweifelten die Zahlen. Doch Audubon hatte ähnliche Spektakel schon so oft erlebt und einfach nur beschrieben, was er gesehen hatte. Als er später die Individuenzahl dieses Schwarmes in seiner Gesamtheit hochrechnete, kam er auf gut eine Milliarde Wandertauben. Der Ornithologe Alexander Wilson schätzte die Größe eines anderen Schwarms sogar auf über zwei Milliarden Vögel. Vier von zehn Vögeln des Kontinents sollen damals zur Spezies Ectopistes migratorius gehört haben. Konservativen, ganz vorsichtigen Schätzungen zufolge zogen damals insgesamt «nur» zwischen drei und fünf Milliarden Wandertauben über den amerikanischen Kontinent. Die Wandertaube war zu jener Zeit jedenfalls der am häufigsten vorkommende Vogel Nordamerikas, wahrscheinlich sogar der ganzen Welt.

Allein der Milliardenschwarm von Kentucky vertilgte täglich über dreißigtausend Kubikmeter Nahrung – das entsprach dem Fassungsvermögen von über einhundertfünfzigtausend Badewannen à zweihundert Liter voller fetthaltiger Bucheckern, Eicheln und Kastanien, aber auch Sämereien und Beeren. Auch das hat Audubon berechnet. Eiweißreiche Würmer und Insekten vervollständigten den Speiseplan der Wandertauben im Frühling und Sommer. Augenzeugen berichteten von den schlechten Manieren der Wandertauben während ihrer Mahlzeiten: Rasch stopften sie in sich hinein, was sie nur erpicken konnten, ehe es der Nachbar fraß. Manche bekamen den Kropf nicht voll genug und verschluckten viel zu viele Bucheckern auf einmal. Wenn sie dann im Gewimmel der fressenden Vögel vom Ast fielen, zerplatzten die vollgefressenen Tauben auf dem Boden wie ein prall gefüllter Sack. Wer nahrhaftere Happen fand, würgte Verschlucktes empor und schaffte so Platz für den besseren Bissen. Innerhalb von Minuten hatten die Tauben Tausende von Hektar Wald voller Eicheln oder Eckern leer gefressen. War ein Waldstück geplündert, zogen sie weiter.

Wandertauben waren Flugnomaden und auf ein besonderes Phänomen spezialisiert: Oft produzieren Buchen und Eichen, die innerhalb eines Gebietes wachsen, mehrere Jahre lang nur wenige Früchte, sie «sparen» geradezu ihre Energie auf. Dann aber, mit diesem «Anlauf», überschwemmen sie den ganzen Wald ringsum mit Eckern oder Eicheln. In solchen «Mastjahren» gibt es Früchte satt. Dann können die tierischen Bewohner des Waldes gar nicht alles auffressen: Unmengen an Samen bleiben übrig, die keimen und den Bestand des Waldes sichern. Würden die Bäume alljährlich eine gleichbleibende Menge produzieren, wären die Tiere darauf eingerichtet und fräßen jedes Jahr fast alle Früchte auf.

Die Wandertauben waren mit ihrem nomadischen Lebensstil auf genau diese Mast eingestellt. «Blauen Meteoren» gleich streiften sie quer durch den Osten Nordamerikas, immer auf der Suche nach begehrten Sämereien: Weiter, immer weiter, dorthin, wo es genug fruchttragende Bäume gab. Wenn die Vögel mit scharfem Auge Nahrung erblickten, fielen sie ein. Manchmal kamen sie mehrere Jahre nacheinander in eine Region, dann lange nicht mehr. Den Westen Nordamerikas mit den weiten Prärien aber mieden sie.

Ihr ovaler Körper, der lange, keilförmige Schwanz, die zugespitzten Schwingen und starken Brustmuskeln machten die Wandertauben zu extrem schnellen Fliegern. Mit raschen Flügelschlägen propellerten sie durch die Luft und schafften große Strecken in kürzester Zeit. Einmal wurde im Kropf frisch getöteter Tauben im Bundesstaat New York Reis gefunden – viele hundert Kilometer nördlich der nächsten Reisplantage, die irgendwo im Süden, in Georgia oder Carolina lag. Der Stoffwechsel der Wandertauben hatte einen enormen Umsatz, denn er musste für die extreme Lebensweise viel Energie liefern; innerhalb von zwölf Stunden hatten die Tauben daher aufgenommene Nahrung umgesetzt. Die Reiskörner befanden sich aber erst im Kropf, wo sie nach dem Schlucken gespeichert und eingeweicht wurden, bevor die Taube sie verdauen konnte. Also konnte dieser Reis keine sechs Stunden vorher gefressen worden sein. Die erlegten Tauben waren in dieser Zeit folglich mindestens sechshundert Kilometer geflogen, in einer Geschwindigkeit von gut einhundert Kilometern pro Stunde, so schnell wie mancher Tornado!

 

Wenn Wandertauben in einen Wald einfielen, landete jede Taube, wo sie gerade Platz fand, oft eine über der anderen, manchmal vier, fünf übereinander. Auf den Ästen bildeten sich Haufen von Vögeln, manchmal groß wie Fässer, die regelmäßig unter dem ständig zunehmenden Gewicht abbrachen, zu Boden stürzten und dabei Hunderte von Artgenossen erschlugen, die darunter Platz genommen hatten.

Ihre Nistplätze lagen vor allem in den Buchenwäldern im Bereich der Großen Seen und westlich von New York. Der Ornithologe Wilson beschrieb die Ausmaße eines Brutgebietes in der Nähe des Ortes Shelbyville in Kentucky: über sechzig Kilometer lang, mehrere Kilometer breit. Auf jedem Baum brüteten Hunderte Tauben; in jeder Astgabel, in jedem freien Winkel hatten sie ein paar Zweige zu einem einfachen Nest zusammengeklaubt. Darin lag meist nur ein reinweißes Ei, selten zwei, später eben das Taubenküken. Habichte, Bussarde und Adler kreisten in großer Zahl über dem Wald, in dem leichte Beute wartete. Die Geräuschkulisse war abenteuerlich: Abertausende von Tauben flatterten mit den Flügeln, was wie Donner grollte, ständig brach und splitterte Holz. Wegen der fallenden Äste hielt Wilson es für gefährlich, in einer Wandertaubenkolonie unterwegs zu sein; unerquicklich sei außerdem, dass der Regen aus herabfallendem Vogelkot die Kleidung völlig besprenkelte.

Jeden Tag, kurz vor Sonnenaufgang, brachen die erwachsenen Vögel von hier aus auf. Sie zogen zum nächsten Buchenmastgebiet in Richtung Indiana, etwa einhundert Kilometer vom Nistplatz entfernt, denn längst war ringsum alles leer gefressen. Schon gegen zehn Uhr am Morgen kehrten die ersten zurück; die meisten folgten gegen Mittag, um die Jungen im Nest mit hochgewürgter «Kropfmilch» zu füttern, einem speziell produzierten Nahrungssekret. Das war so gehaltvoll, dass die jungen Tauben nach gut drei Wochen flügge und fast so schwer wie die ausgewachsenen Tauben waren. Zwei, drei, manchmal sogar vier Gelege schafften die Wandertauben in einem Jahr.

Nach der Brut blieb ein Schlachtfeld zurück. Manchmal sahen Tausende von Hektar Wald aus wie von einer Axt gefällt, oder als wäre ein Wirbelsturm hindurchgezogen: abgeknickte Äste und Zweige überall; Bäume mit einem Durchmesser von sechzig Zentimetern und mehr waren knapp über dem Boden abgebrochen; Gras und Unterholz demoliert, schon allein, weil sich unter den Nistplätzen der Taubenmist zehn Zentimeter und höher anhäufte. Wo sich ein Taubenschwarm niedergelassen hatte, waren noch Jahre später die Spuren zu sehen.

 

Was für Wälder waren das nur, die eine so zerstörerische Kraft aushielten? Welch eine Fruchtbarkeit, Fülle und Lebenskraft besaß das Nordamerika dieser Zeit? Den ersten europäischen Siedlern erschien der Kontinent als ein weites und leeres Land voll riesiger Wälder, in denen lediglich ein paar Indianerstämme herumstreiften – eine Wildnis enormen Ausmaßes, wie man sie sich heute kaum mehr vorstellen kann. Entlang der Ostküste wuchsen über Tausende von Kilometern hinweg Laubwälder. Ein Eichhörnchen, so hieß es, konnte von Neuengland im Norden bis nach Arkansas im Süden von Baum zu Baum springen, ohne jemals den Boden zu berühren.

In diesen Wäldern lebten schätzungsweise zehn Millionen Wapitis, amerikanische Verwandte unseres Rothirsches, dazu eine ähnliche Anzahl von Maultierhirschen. In den Prärien des «Wilden Westens» grasten dreißig bis sechzig Millionen Bisons, dazu bis zu vierzig Millionen der seltsamen Gabelantilopen. Etwa sechzig Millionen Biber bauten überall Dämme in den Flüssen und schufen somit Feuchtgebiete und Uferwälder – Lebensräume für viele andere Arten. Und bereits im 17. Jahrhundert beschrieben frühe Siedler, wie die Schwärme der Wandertauben die Sonne verdunkelten.

Doch gibt es immer mehr Hinweise, dass diese Wildnis nicht schon immer so da war, sondern erst entstand, nachdem Kolumbus die Neue Welt entdeckt hatte. Der Archäologe und Geograph William I. Woods untersuchte Abfallgruben von Indianern bei Cahokia im heutigen Bundesstaat Illinois, der größten Indianersiedlung, die aus Nordamerika bekannt ist. Wahrscheinlich war sie schon vor Kolumbus’ Ankunft von den Einwohnern aufgegeben worden, aber um 1200 zählte die Stadt zehn- bis zwanzigtausend Einwohner, vielleicht sogar vierzigtausend. Damit war die Stadt vermutlich ebenso groß wie die mächtigsten europäischen Städte dieser Zeit: In Köln lebten im Jahr 1180 etwa fünfundzwanzigtausend Menschen, um 1400 etwa vierzigtausend.

In den Küchengruben Cahokias fand Woods die Überreste vieler Tiere – und somit den Speiseplan der Indianer, die hier mehrere Jahrhunderte gelebt hatten. Die größte Grube enthielt fast zehntausend Knochen von über siebzig Vogelarten, aber nur wenige Knochen der Wandertaube. Dabei lag jener riesige Nistplatz, den Audubon Jahrhunderte später beschrieb, in der Nähe von Cahokia. Waren die Knochen zu klein, um die Zeiten zu überdauern? Offensichtlich nicht, denn im Abfall fand Woods auch Knochen kleinerer Vögel oder winzige Gräten von Fischen. Wieso also fehlten die Knochen der Wandertauben fast völlig? Hatten die Indianer Cahokias die Vögel gar nicht verzehrt? Woods’ Erklärung war einfach: Vielleicht gab es die Tauben damals noch gar nicht in so ungeheurer Zahl.

Heute erst beginnt man zu lernen, dass auch präkolumbianische Indianer in großen Teilen Nordamerikas Landwirtschaft kannten, wenn auch nicht im europäischen Stil: Zum Teil legten sie Terrassen an oder bewässerten ihre Felder. Die von ihnen begründete «Mississippikultur» hatte sich zwischen 900 und 1500 vom amerikanischen Mittleren Westen bis zum Südosten ausgebreitet, und weil sie sich vor allem auf den Anbau von Mais und Bohnen gründete, veränderten die Indianer die Landschaft weiträumig, indem sie die aufstrebende Vegetation niederbrannten. Aufgrund dieser indianischen Feuerkultur, einer Art prähistorischen Landschaftsmanagements, waren große Flächen an der amerikanischen Ostküste nur locker bewaldet; aber auch in den Wäldern selber legten sie regelmäßig Feuer, um trockenes Gras und Unterholz abzubrennen. So entstanden eher lichte Parklandschaften mit hohen Bäumen, in denen sich leichter jagen ließ.

Die Wandertauben waren also nicht nur potenzielle Leckerbissen für die Indianer – aus den prallen Küken schmolzen sie das Fett als Butterersatz heraus; sie waren auch Konkurrenten – die großen Schwärme machten sich über die Maisfelder her. Außerdem waren Bucheckern und Eicheln auch für die Indianer eine wertvolle, energiereiche Nahrung. Was läge da näher, als dass die Menschen damals die Konkurrenz der Tauben möglichst gering hielten?

Es gibt eine Parallele zur Wandertaubengeschichte: die vom Auftauchen und Verschwinden der amerikanischen Bisons. Getrieben von der Suche nach Gold, zog der Spanier Hernando de Soto vier Jahre lang mit etwa sechshundert Mann als erster Europäer weit in den nordamerikanischen Kontinent hinein. Dabei erreichte er 1541 auch den Mississippi und beschrieb, wie viele indianische Siedlungen es im Südosten der heutigen USA gab. In manchen lebte er monatelang.

Erstaunlicherweise erwähnte de Soto mit keinem einzigen Wort den Bison, jenen «Indianerbüffel», obwohl der für einen Europäer ein gewaltiges Ungetüm gewesen sein muss. Das verblüfft besonders, denn als die spanischen Eroberer unter Hernán Cortés 1519 im mexikanischen Tenochtitlán die Menagerie des Aztekenherrschers Montezuma besichtigten, hatte sie jener «seltsame mexikanische Bulle mit löwenartigem Haar, einem Kamelhöcker und gekrümmten Schultern» tief beeindruckt. Hätte de Soto solche Tiere gesehen, hätte er sie wohl beschrieben. Erst recht, wenn sie in so gewaltigen Herden durchs Land zogen, wie sie über einhundert Jahre später der Franzose René Robert Cavalier de La Salle beobachtete, als er 1682 im Kanu den Mississippi hinunterpaddelte. Von den indianischen Kulturen, den vielen Siedlungen, fand Cavalier damals hingegen keine Spur mehr, nur ein paar versprengte Dörfer in der Einöde.

Was war geschehen? Wo waren die Indianer abgeblieben? Frühe Entdecker wie de Soto führten immer wieder kriegerische Auseinandersetzungen mit den amerikanischen Völkern und waren ihnen mit ihren Gewehren oft überlegen. Was aber viel schlimmer war: Sie brachten Krankheiten mit – Pocken, Masern, Grippe. Die Indianer waren gegen solche Erreger nicht gewappnet. Viele Menschen starben daher an den ihnen unbekannten Seuchen, oft sogar bevor sie überhaupt einen Europäer erblickt hatten. Allein östlich des Mississippi verschwanden bis 1650 zweiundzwanzig Indianerstämme, bis 1690 summierten sich die Verluste sogar auf über dreißig Stämme. In manchen Regionen überlebten gerade einmal vier Prozent der Bevölkerung die Jahre zwischen den Reisen von de Soto und La Salle. (Selbst die Pest im Mittelalter raffte durchschnittlich «nur» ein Drittel der europäischen Bevölkerung dahin.) Die gesamte Siedlungsstruktur und Kultur der Indianer brach zusammen. Die Pferde, die die Spanier zurückließen, erleichterten den Überlebenden immerhin ein Leben als Reiternomaden – bis heute prägt dies unser Bild von den Indianern.

Nach dem Kollaps der indianischen Kulturen, die jahrhundertelang den Kontinent geprägt hatten, konnten sich die Bisons ungehindert vermehren, weil kaum einer mehr da war, der sie jagte. Auch die Wapitihirsche nahmen an Zahl gewaltig zu. Im Bereich des heutigen Yellowstone-Nationalparks finden sich ihre Knochen erst in jenen indianischen Abfallgruben häufiger, die nach den großen Seuchen angelegt wurden. Und der Himmel verdunkelte sich mit den gewaltig angeschwollenen Schwärmen der Wandertauben, die in den neugewachsenen Wäldern viel Nahrung fanden. Eine «neue» Wildnis war entstanden, von der die später kommenden europäischen Siedler annahmen, sie sei schon immer da gewesen.

Während sich im Nordamerika jener Zeit nach dem Verschwinden der Indianer die Wälder ausbreiteten, machte den Menschen in Europa die «Kleine Eiszeit» von 1550 an bis ins 19. Jahrhundert hinein das Leben schwer. Die Winter waren lang und kalt, die Sommer verregnet. Die Flüsse froren häufiger zu, in manchen Jahren konnte man über die zugefrorene Ostsee laufen – von Rügen bis nach Schweden. Immer wieder gab es Missernten und Hungersnöte, die dadurch ausgelösten Krisen gipfelten in Hexenverbrennungen und bewegten viele Menschen dazu, den Kontinent zu verlassen. Letztlich waren die schlechte Witterung und der Nahrungsmangel jener Zeit sogar einer der wesentlichen Faktoren, die die Französische Revolution vorbereiteten.

Wodurch die «Kleine Eiszeit» hervorgerufen wurde, ist umstritten: Haben Sonnenflecken die Strahlungsintensität der Sonne verringert? Oder gelangte durch Vulkanausbrüche so viel Schwefeldioxid in die Atmosphäre, dass das Klima abkühlte? William F. Ruddiman, ein Paläoklimatologe aus Virginia, war der Erste, der die Kälteperiode mit dem Verschwinden der Indianer in Zusammenhang brachte. Denn vor Kolumbus schufen die Menschen in Nordamerika über Jahrhunderte, vielleicht auch Jahrtausende, mit dem Feuer und ganz ohne Axt Grasländer von Florida bis in die «Great Plains», die endlosen Prärien des «Wilden Westens».

Als die Indianer ausstarben, vermehrte sich nicht nur ihr Jagdwild, auch die Wälder breiteten sich auf dem brachliegenden Land wieder aus – und banden dabei große Mengen des in der Atmosphäre enthaltenen Treibhausgases Kohlendioxid im Holz. Berechnungen des amerikanischen Geochemikers Richard Nevle haben ergeben, dass die neugewachsenen Wälder bis zu siebzehn Milliarden Tonnen Kohlendioxid aus der Erdatmosphäre aufgenommen haben könnten – so viel, dass die Temperaturen merklich absanken. Und in jenen Tausenden von Kilometern Wald, die an der Ostküste herangewachsen waren, konnten die Schwärme der Wandertauben Nahrung finden.

 

Schon bevor die Wandertauben vor Sonnenuntergang von ihren Nahrungszügen zur Kolonie zurückkamen, hatten sich Siedler mit Pferden und Wagen, Gewehren und ausreichend Munition aufgestellt. Zwei Farmer hatten dreihundert Schweine über einhundertsechzig Kilometer vor sich her getrieben, als sie von dem Brutplatz in Russellville in Kentucky erfahren hatten.

Noch sah Audubon kaum erwachsene Tauben im Wald. Als aber die Sonne unterging und der allabendliche Sturm, die Heimkehr der Tauben zu ihren Nestern, begann, setzte auch ein grausames Schauspiel ein, eine blutige «Ernte» ohnegleichen: Lampen blendeten die Vögel, als sie sich niedersetzen wollten, ein Schrotschuss nach oben genügte – und schon fielen mehrere Dutzend Tauben zu Boden. Töpfe mit brennendem Schwefel wurden unter den Bäumen aufgestellt, die giftigen Dämpfe benebelten die Vögel, die benommen auf den Boden torkelten. Mit Keulen und langen Stöcken schlugen die Männer die fetten Küken aus den Nestern – die «Squabs» galten als besondere Leckerbissen. Hier sprechen zu wollen, war unnütz; der Aufruhr der Tauben war so laut, dass Audubon selbst die Schüsse des Nebenmannes nicht hören konnte. Nur am Blitzen des Pulvers und am Nachladen der Gewehre merkte er, dass dauernd geschossen wurde. Neugierig, wie der Naturforscher war, schickte er einen Begleiter los, weil er wissen wollte, wie weit denn der Lärm zu hören sei. Noch drei Meilen entfernt vernahm der das Gemetzel.

Solange das Schlachten anhielt, ging niemand tiefer in den Wald hinein. Die Schweine wurden in den Pferchen gehalten. Überall am Boden lagen tote, sterbende, zerfetzte Wandertauben. Als nach Stunden das Massaker ein Ende nahm, füllten die Leute Säcke mit erlegten Vögeln, beluden damit Pferde und Wagen. Andere salzten die Tauben gleich vor Ort ein, um das Fleisch haltbar zu machen. Als jeder so viele aufgelesen hatte, wie er wollte, als endlich alle genug hatten, wurden die Schweine losgelassen, um sich an den toten oder noch zuckenden Vögeln zu mästen.

Wo immer Taubenschwärme einfielen oder brüteten, kam es zu solchen Massakern. Zunächst reicherten die örtlichen Siedler auf diese Weise nur ihren Speiseplan an. Was waren da schon Tausende, Zehntausende oder Hunderttausende toter Tauben, solange die Bestände Milliarden zählten? Rasch wurde der Fang kommerzialisiert: Mit billigem Wandertaubenfleisch wurden die schnell wachsenden Städte der Ostküste beliefert. Schon 1805 sah Audubon auf dem Hudson River ganze Schiffsladungen von Wandertauben, die in New York für ein Cent das Stück verkauft wurden. Tausende gingen zudem als lebende, bewegliche Zielscheiben an die Schießstände der Sportschützen in den Städten.

Als gegen Mitte des 19. Jahrhunderts die Eisenbahn das Land östlich des Mississippi mehr und mehr erschloss, wurde der Transport zu den Märkten der großen Städte noch einfacher. Den Dampfrossen folgte der Bau transkontinentaler Telegraphenleitungen. Nun verbreitete sich die Nachricht vom Ankommen der riesigen Schwärme schnell, und professionelle Taubenjäger gelangten rasch in abgelegene Regionen des weiten Landes. Sie entwickelten neue «Erntemethoden», mit denen sie auch tagsüber Beute machen konnten. Dabei wurden Wandertauben die Augen zugenäht und an einen Ast gebunden. Deren Flattern lockte vorbeiziehende Trupps an, die auf Futtersuche waren. Denn wo ein Artgenosse am Boden flatterte, musste es etwas zu fressen geben, und so gingen sie zu Tausenden in aufgestellte Netze. Ein Trapper konnte auf diese Weise bis zu fünfhundert Vögel in einer Stunde töten, bis zu fünftausend an einem Tag. Andere kletterten mit Steigeisen in die Wipfel, um die fetten Küken aus dem Nest zu schlagen. So wurden 1851 fast zwei Millionen Tauben nach New York City geliefert, die von einem einzigen Nistplatz stammten. Für die Profis waren die Tauben ein Riesengeschäft: Ein einziger Taubenfänger soll in einem Jahr sechzigtausend Dollar verdient haben – dafür hätte er mindestens drei Millionen Tauben abschlachten müssen.

Lange schienen die Bestände unerschöpflich. Gesetzliche Schutzmaßnahmen wurden zwar diskutiert, doch noch 1857 war man in Ohio der Ansicht, die Wandertauben bräuchten keinen Schutz. Selbst Vogelfreund Audubon, der sich über Jahre mit ihnen beschäftigt hatte, glaubte an die Unerschöpflichkeit der Ressource Wandertaube: «Personen, die nicht mit diesen Vögeln vertraut sind, könnten natürlich schließen, dass solche scheußliche Zerstörung der Art bald ein Ende setzen könne. Aber ich habe mich nach langer Beobachtung damit zufriedengestellt, dass nichts außer dem allmählichen Verschwinden unserer Wälder ihren Rückgang vollbringen kann.» Dafür vermehrten sich die Tauben einfach zu rasch.

Doch die Tauben verschwanden vor den Wäldern.

 

Irgendwann blieben die großen Schwärme aus. Zunächst mochte man sich in einzelnen Regionen gar nicht so viel dabei denken, denn waren sie nicht schon immer heute hier, morgen da gewesen? Mieden für Jahre ein Gebiet, nur um dann plötzlich wieder einzufallen?

Noch im Jahr 1880 erlebte Simon Pokegon, der letzte Häuptling der Pottawatomie-Indianer, ein Gemetzel am Plate River in Michigan, dem letzten großen bekanntgewordenen Nistplatz der Tauben östlich der Großen Seen und wurde Zeuge einer neuen, schrecklich effektiven Methode. Die Kolonie lag in einem Birkenwald. Die weiße Rinde hing am Stamm in langen Fetzen herunter. Je älter die Bäume waren, desto mehr trockene Streifen hingen herab – und die brannten wie Zunder. Genau das nutzten die Taubenfänger. Sie hielten ein entzündetes Streichholz an die Birken, und schon raste das Feuer wie ein Blitz den Stamm hinauf bis zum letzten Zweig. In Panik sprangen die aufgeschreckten «Squabs» aus den Nestern, die Eltern versuchten mit angesengtem Gefieder, der Flammenhölle zu entkommen – oftmals vergebens.

Ein abgelegener Nistplatz in Oklahoma, der über einhundertsechzig Kilometer von der nächsten Bahnlinie entfernt war, wurde noch 1881 von Trappern aufgespürt und geplündert. Bis 1886 wurden Wandertauben für die Märkte in den Städten gefangen, dann lohnte sich das professionelle Taubenbusiness nicht mehr. 1896 wurde noch ein Schwarm von fünfzig Vögeln in Missouri gesichtet. Häuptling Pokegon wollte im Frühling des gleichen Jahres eine kleine Gruppe nistender Tauben am Au Sable River in Michigan gesehen haben. 1897 wurde in diesem Staat schließlich ein Gesetz erlassen, das die Jagd auf Wandertauben für zehn Jahre verbot.

Diese Schutzmaßnahme kam allerdings viel zu spät, der Bestand war bereits nahezu ausgerottet. Nur drei Jahre später, am 24. März 1900, erlegte ein Junge in der Nähe von Sargents im Pike County in Ohio die letzte freilebende Wandertaube, deren Existenz verbürgt ist. Die Frau des Sheriffs, Mrs. C. Barnes, präparierte den Kadaver – der einst massenhaft auftretende Vogel war inzwischen zu einer sammlungswürdigen Besonderheit geworden.

Die wenigen Wandertauben, die zu diesem Zeitpunkt noch in Gefangenschaft lebten, hielt man bezeichnenderweise in der Nachbarschaft exotischer Tiere wie Löwen und Elefanten im Zoo von Cincinnati. Es waren zwei Männchen – und eben Martha. Eines der Männchen starb im April 1909, das andere am 10. Juli 1910. Danach bot die American Ornithologists’ Union eintausendfünfhundert Dollar für einen Gefährten für Martha – vergeblich. Die war in ihren letzten Jahren immer schwächer geworden, sodass besorgte Pfleger ihren Schlafplatz im Käfig niedriger legten, weil sie nicht mehr so gut fliegen konnte. Manche Besucher hingegen sollen mit kleinen Steinen nach Martha geworfen haben, damit sich die Letzte ihrer Art doch noch mal bewege.

Last Lady: Martha hieß die letzte Wandertaube. Sie war benannt nach Martha Washington, der ersten First Lady der USA.

Wie konnte dieser seinerzeit häufigste Vogel von der Erde verschwinden? Die Ungeheuerlichkeit seines Aussterbens ist bis heute rätselhaft. Natürlich beschleunigten der kommerzielle Raubbau und die unglaublich effektive Schlächterei der Taubenjäger den Niedergang der Spezies. Wie viele Küken wohl in den Nestern verhungerten, weil die Eltern nicht zurückkehrten? Und wie viele der erlegten Tauben in den Städten vergammelten, weil es oft ein Überangebot auf den Märkten gab?

Der Bison oder Indianerbüffel wurde zu jenen Zeiten ebenfalls bis an den Rand der Ausrottung gejagt – sogar aus politischen Gründen, um den verbliebenen Indianern die Nahrungsgrundlage zu entziehen. Gerade noch rechtzeitig wurden die letzten paar hundert Tiere unter Schutz gestellt, sodass heute wieder mehr als dreihundertfünfzigtausend Bisons in den Prärien Nordamerikas grasen. Von der Wandertaube muss es nach den letzten großen Massakern immer noch mehr Exemplare gegeben haben als vom Bison: Tausende, Zehntausende oder Hunderttausende mögen noch in kleineren Schwärmen umhergezogen sein. Wieso reichten sie nicht aus, um die Art zu erhalten?

Die gewaltige Zahl der Wandertauben gaukelte eine Sicherheit vor, die es nicht gab. Auch in der Ökologie gibt es so etwas wie «Murphy’s Law» – den «Allee-Effekt», benannt nach einem amerikanischen Ökologen: Wenn etwas erst mal schiefgeht, dann richtig.

Die Wandertauben waren für das Überleben in riesigen Schwärmen ausgerichtet; fällt die Anzahl von Individuen einer solchen Art unter eine bestimmte Größe, wirken sich viele Faktoren plötzlich dramatisch aus. So bot die Masse den einzelnen Wandertauben beispielsweise Schutz vor angreifenden Habichten. Als der Bestand an Tauben nun aber innerhalb kurzer Zeit zusammengeschossen wurde, blieb die Zahl der natürlichen Feinde unvermindert. Sie erbeuteten genauso viele Tauben wie zuvor, möglicherweise sogar mehr: Für Greifvögel ist es viel einfacher, aus kleineren Schwärmen ein Einzeltier zu isolieren.

Zudem brauchten die Wandertauben wahrscheinlich große Schwärme, um überhaupt in Brutstimmung zu geraten. Das erklärt auch, weshalb sich Einzelpaare oder kleine Gruppen in Gefangenschaft kaum vermehrten. Von anderen Koloniebrütern kennt man dieses Phänomen, etwa von Flamingos: Wenn es in Zoos mit der Zucht nicht klappen will, stellt man dort manchmal Spiegel auf – und die zumindest optisch vergrößerte Gruppe beginnt plötzlich, Eier zu legen.

Irgendwann wurde es wohl für die letzten wildlebenden Exemplare immer schwerer, Partner zu finden – erst recht bei einer Spezies, die so nomadisch und unregelmäßig durchs Land streifte wie die Wandertaube. Wenn die Geburtenrate aber über einen längeren Zeitraum unter die Sterberate sinkt, ist das Aussterben nur noch eine Frage der Zeit – eine mathematisch zu lösende Gleichung.

 

Nach dem Ausbleiben der Wandertauben kamen zunächst Gerüchte auf: Die großen Schwärme seien fortgezogen, nach Australien, nach Chile oder Peru. Andere seien vom Wind verweht worden und in die Karibik abgedriftet, und dort seien alle Vögel ertrunken.

Die Jäger stiegen rasch auf andere Objekte der Begierde um: Brachvögel und Regenpfeifer, Enten und Gänse boten neue Möglichkeiten, den Appetit der Städter auf Fleisch zu befriedigen. In jenen Jahren rotteten die Jäger den Trompeterschwan und den Schreikranich beinahe aus. Auch den Eskimobrachvogel, einst einer der häufigsten Vögel an der Küste, ereilte wahrscheinlich dasselbe Schicksal wie die Wandertaube; 1974 wurde das letzte Exemplar dieser Spezies gesichtet. Die Jägervereinigung «Ducks Unlimited» begann schließlich, Sumpfgebiete unter Schutz zu stellen, damit nicht noch mehr Arten aussterben – und ihnen genug Beute bleibt.

Noch immer ist die Wandertaube die häufigste Vogelart der Welt – allerdings nur in den Museen, in den Sammlungen ausgestorbener Vögel. Von keiner anderen verlorenen Tierart gibt es so viele Überreste: Über eintausendfünfhundert Bälge, Skelette und Präparate zeugen davon, dass Ectopistes migratorius existierte, darunter Martha, die als Letzte ihrer Art von den 1920er Jahren an bis 1999 im Smithsonian Museum in Washington ausgestellt war. Seither ist sie der Öffentlichkeit aus konservatorischen Gründen nicht mehr zugänglich.

Zwei Mal noch ging Martha auf letzte Reisen: 1966 zu einer Naturschutzkonferenz nach San Diego und 1974 nach Cincinnati, als vor ihrer alten Pagode ein Denkmal eingeweiht wurde, das an das Verschwinden ihrer Spezies erinnert. Beide Male flog sie, sogar in der ersten Klasse. Und wurde von einem persönlichen Assistenten begleitet, der aufpasste, dass ihr nichts geschah. Schließlich war Martha nicht irgendwer – sie war schon lange eine VIP.