Stürmische Algarve

Cover

O Algarve – der Algarve. So heißt es im Portugiesischen. Ich schreibe dennoch «die Algarve», weil sich diese Version unter deutschsprachigen Urlaubern und Auswanderern durchgesetzt hat.

Sollten Sie also in die Algarve kommen und die Schauplätze suchen, an denen dieser Roman spielt: Sie werden die meisten finden. Einige wenige, wie das hier beschriebene Golfresort, sind fiktiv – vergleichbare Anlagen gibt es an der Algarve aber reichlich. Genauso wie die Personen in dieser Geschichte meiner Phantasie entsprungen sind.

Übrigens finden Sie bei Interesse am Ende dieses Buches eine Liste der verwendeten Redewendungen und Ausdrücke.

Der Mann strich sich über seine Glatze und fühlte einen leichten Schweißfilm auf der rasierten Haut. Verdammter Stress. Zwei Jahre, so ruhig und entspannt wie ein Tag am Pool, und jetzt das. Im Badezimmer griff er nach einer Packung mit Hautpuder, bestäubte die Kopfhaut mit einer dünnen Schicht und ging zurück in sein Schlafzimmer im ersten Stock der Villa. Überall standen halb gepackte Koffer und Taschen. Er reiste gern und viel. Aber jetzt ging es nicht um eine Reise, sondern um eine Abreise. Eine Abreise, zu der er gezwungen war. Zu früh. Ungeplant. Er trat mit dem Fuß gegen eine der Taschen.

Sorgfältige Vorbereitung, genaue Planung, die Dinge im Griff haben – dafür stand er, so war er immer gewesen. Er bestimmte den Zeitpunkt, wann ein Lebensabschnitt endete und ein neuer begann. Nicht irgendwelche Idioten.

Als Nächstes leerte er die Schublade mit seinen Socken und packte die Strümpfe in einen Koffer. Über der Kommode war ein Safe in die Wand eingelassen. Er stand offen, darin lagen neben einem Stapel Bargeld die Pässe. Alle in Topqualität. Er hatte sich für den französischen entschieden. Der Name lautete Marc Dalmasso, ein Name, der an der Côte d’Azur häufig vorkam. Die französische Riviera

Er trat auf den Balkon. Ein Windstoß fuhr in eine Palme, deren Krone er fast berühren konnte. Das Rascheln der Palmwedel klang, als riebe Pappe aneinander. Sonst war es still. In der Ferne lag der Atlantik, eine einzige blaue Fläche, die fast nahtlos in den Horizont überging. Die Ruhe und der Atlantik würden ihm fehlen.

War es wirklich nötig, jetzt zu gehen?

Sicherer, sagte er sich, es war einfach sicherer.

Adeus Portugal, bonjour la France.

Sein Flug ging am nächsten Tag.

Unten hämmerte jemand an die Haustür.

Wahrscheinlich der Hausmeister wegen der defekten Klimaanlage im Schlafzimmer.

Einen Tag später startete das Flugzeug. Ohne ihn.

Wie konnte Mãe nur? Fassungslos sah ich auf die blauen Flecken an Pais Oberarmen. Wellen der Wut stiegen in mir auf – so hoch, dass darin die Big-Wave-Surfer von Nazaré locker einen neuen Rekord hätten aufstellen können. Ja, meine Mutter war erschöpft und mit den Nerven am Ende. Das waren wir beide. Aber das durfte doch kein Grund sein … Unzählige Male hatte ich ihr erklärt, wie sie reagieren sollte, wenn mein Vater unruhig und anstrengend war. Er konnte nichts dafür, seine gelegentlichen Aggressionen entsprangen Verwirrung und Frustration. Mãe wusste das doch. Auch dass sie in solchen Momenten kurz den Raum verlassen oder tief durchatmen und bis drei zählen sollte.

Ich zog Pai einen frischen Schlafanzug an und half ihm, sich wieder hinzulegen. In diesem Moment kam Mãe ins Zimmer und Vaters Augen weiteten sich. Vor Schreck?

«Wieso hat Pai blaue Flecken? Was hast du getan? Wie kannst du ihn derart hart anfassen? Hast du ihn auch noch geschlagen? Bist du verrückt geworden?»

«Brüll mich nicht an», brüllte meine Mutter. «Gar nichts hab ich getan.»

Atmen, Anabela. Atmen. Einundzwanzig, zweiundzwanzig, dreiundzwanzig … Die Wellen stiegen und stiegen. Ich

Draußen war es noch dunkel.

Ich setzte mich also ins Auto und fuhr los, ohne Ziel, ohne Plan, meine Gefühle ein Gemisch aus Zorn, Hilflosigkeit und Selbstvorwürfen.

Ich war zu hart gewesen, keine Frage. Wahrscheinlich hatte Mãe ihn nur etwas zu stark festgehalten. Alte Menschen bekommen leicht blaue Flecken. Bloß weil ich gelesen hatte, dass es in der Betreuung von Demenzkranken sowohl durch Pflegepersonal als auch durch Angehörige zu Misshandlungen aus Ohnmacht kam, galt das noch lange nicht für Mãe. Ich würde mich bei ihr entschuldigen. Noch eine Weile schwirrte mir das Wort Ohnmacht durch den Kopf. Pais Krankheit bestimmte inzwischen völlig unser beider Leben, es blieb kaum Luft für anderes, kaum Luft zum Atmen. Ständig waren wir beide in Anspannung, voller Angst, was als Nächstes passieren würde.

Irgendwann fand ich mich oberhalb von Alcoutim bei der Jugendherberge wieder und hielt an. Eben stieg eine blasse Sonne über die Hügel, der Rio Guadiana lag noch in dichtem Nebel. Von hier oben glich der Flusslauf einer hellgrauen Schlange. Auf der spanischen Uferseite ragten in einiger Entfernung Windräder wie Kreuze dunkel aus dem silbrigen Dunst. Deus ajuda a quem muito madruga, Gott hilft dem Frühaufsteher, hörte ich die Stimme meiner Mutter in meinem Kopf. Auf Deutsch gesagt: Morgenstund hat Gold im Mund. Na dann. Ich beschloss, mir das heimische Drama wenigstens für eine Weile aus dem Kopf zu joggen.

Kälte und Feuchtigkeit krochen an meinen Beinen hoch,

Die Steigung ging in die Beine und schon nach ein paar Minuten brannte meine Lunge. Es war eine ganze Weile her, dass ich gelaufen war. Der Bruch meines Sprunggelenks im Frühjahr war zwar gut verheilt und das Gelenk wieder voll belastbar, aber im Moment spielte sich mein Leben fast ausschließlich zwischen dem Haus meiner Eltern und dem Schreibtisch in meinem eigenen Häuschen gleich um die Ecke ab. Dort übersetzte ich Verträge vom Portugiesischen ins Deutsche. Ein Job, der mich leidlich ernährte und im Übermaß langweilte. Meine Gedanken sprangen zurück zu Pai. Was würde die Alzheimerkrankheit ihm und uns noch antun? Wie lange mochte es noch dauern, bis wir an seinem Grab stehen würden? Der Schlaganfall vor einigen Monaten hatte ihn zusätzlich geschwächt. Wenn ich ehrlich war, gab es Augenblicke, in denen ich mir diesen Tag sogar heimlich herbeiwünschte. Was bist du bloß für ein Mensch, Anabela? Und du regst dich über deine Mutter auf?

Auf einem Parkplatz kurz vor der Abzweigung zu den Ruinen des Castelo Velho lief ich an einem Wohnmobil

Der Anblick des Campers erinnerte mich an mein letztes gemeinsames Wochenende mit João. Unwillkürlich musste ich seufzen. Nicht mal mein Liebesleben war im Moment einfach. Drei Wochen war es her, dass wir an der Westküste gewesen und im Streit auseinandergegangen waren. Seitdem hatten wir nur ein paarmal telefoniert und alle schwierigen Themen gemieden. Nicht auch noch daran denken, Anabela. Laufen. Einfach nur laufen, den Rhythmus deiner Schritte wahrnehmen, auf deinen Atem hören. Es dauerte lange, bis die Hormone ihre Arbeit taten, ich mich entspannte und mir meine Welt nicht mehr ganz so düster erschien.

Eine halbe Stunde später kam ich wieder zu dem Platz mit dem einsamen Wohnmobil. Die Hunde waren immer noch da, hatten mich aber noch nicht gewittert. Ich wurde langsamer und blieb schließlich schnaufend stehen. Inzwischen war die Sonne höher gestiegen und vom Nebel über dem Fluss waren nur noch ein paar Schwaden übrig. Ich schwitzte, öffnete meine Jacke, sog tief den Geruch von wildem Fenchel ein und beobachtete die Hunde.

Alle drei waren mager und ungepflegt, keiner trug ein Halsband. Die gehören wohl kaum zu den

Plötzlich stellte der größte von ihnen die Ohren auf und wandte den Kopf in Richtung Jugendherberge. Sekunden später frenetisches Gebell aus drei Hundekehlen. Ein alter Mann kam mit kleinen, vorsichtigen Schritten den Weg herauf. Er stützte sich auf einen Stock und hielt in der freien Hand einen Stein. Auf der Höhe des Wohnmobils warf er den Stein nach den Hunden und hob den Stock. Im nächsten Moment war das Rudel im Gebüsch verschwunden.

«Verdammte Mistviecher», murmelte der Alte.

«Bom dia.» Mehr als ein kurzes Nicken bekam ich nicht zur Antwort. Er trippelte weiter, den Blick auf den Weg vor seinen Füßen gerichtet. Ich glaubte, ihn vom Sehen zu kennen. Wahrscheinlich war er einer der Männer, die vormittags in der ersten Bar an der Praça von Alcoutim ihren Kaffee tranken.

«Ist es nicht seltsam, dass sich dort gar nichts rührt?», fragte ich, als er an mir vorbeikam. Nicht einmal, als die Hunde gebellt hatten, hatte sich etwas bewegt.

Der Alte blieb stehen, hob den Stock und deutete auf den Wagen. «Der steht hier schon ein paar Tage. Die sind aber nie da. Jedenfalls hab ich nie einen gesehen.»

«Da steht ein Fahrrad.»

Er zuckte mit den Schultern und ging seines Weges.

Ich nicht.

Ich ging zum Wohnmobil.

Hier stimmte was nicht.

Die Fenster an der Fahrerkabine waren mit dunklen Vorhängen verschlossen, die Motorhaube fühlte sich kalt an. Langsam ging ich um das Fahrzeug herum. Es war ein älteres Modell mittlerer Größe, keines von den großen, schicken Dingern, die João und ich zuhauf an der Westküste gesehen und bei deren Anblick wir uns gefragt hatten, was die wohl kosten mochten. Manche wahrscheinlich so viel wie ein Einfamilienhaus.

Dieses Wohnmobil hier war von einem schmuddeligen Beige, an der Beifahrerseite zog sich ein langer rostiger Kratzer durch den Lack. Im hinteren Teil gab es an jeder Seite ein Fenster. Zu weit oben, um hineinzusehen. Hm. Am Heck war ein Gepäckträger mit Platz für zwei Fahrräder angebracht. Er war leer. Besagtes Fahrrad lehnte an der hinteren linken Ecke des Mobils und war mit einem langen Drahtkabel an den Träger geschlossen. Auch nicht gerade gestern vom Fabrikband gelaufen, dachte ich, als ich mir das Mountainbike genauer anschaute. An den Speichen und am Lenker waren rostige Stellen. Ich sah wieder auf das Wohnmobil und entdeckte oberhalb des Fahrradträgers ein weiteres kleines Fenster. Wenn ich auf die Stoßstange und von dort auf den Träger … der wirkte sehr stabil. Ich schaute mich um. Keine Menschenseele in Sicht.

Aber wenn doch jemand da drin war und dann plötzlich mein Gesicht im Fenster erschiene … Nein. Wirklich nicht. Mach, dass du nach Hause kommst, Anabela. Was geht dich dieser Camper an? Aber warum hatten die Hunde die

Ich klopfte. Keine Reaktion. Noch einmal, lauter jetzt. Nichts. Und dann roch ich es. Ich hielt die Nase näher an die Ritze der Tür. Da war ein unangenehm süßlicher Geruch. Nur schwach, aber eindeutig vorhanden. Hatte dieser Geruch die Hunde angezogen? Und der kleine Fleck am Türgriff … War das Blut?

Fünf Minuten später stand ich auf dem Träger und spähte ins Innere. Als Erstes sah ich einen Fuß mit knallrosa lackierten Nägeln, der andere steckte unter einer dicken Decke. So wie der Rest des Körpers. Ruhig und entspannt, soweit ich das beurteilen konnte. Den Kopf konnte ich nicht sehen. Der musste direkt unter dem Fenster liegen. Das Wohnmobil war so aufgeteilt wie das, mit dem João und ich unterwegs gewesen waren: eine große Doppelkoje im Heckbereich, rechts davon ein schmaler Schrank und die Tür zu einem Mini-Bad; am Fuß des Bettes das Rückteil einer Sitzbank, den Tisch davor konnte ich wegen der Rückenlehne nicht sehen. Fahrer- und Beifahrersitz waren zum Innenraum gedreht und bildeten den Rest der Sitzecke.

Ich schaute wieder auf den Fuß. Da lag also eine Frau im Bett.

Ich dachte an den Geruch, den ich noch in der Nase hatte. Die Frage war: Lag die Frau dort tatsächlich ruhig und entspannt? Oder ruhig und tot?

Guarda Luís Silva reckte sich und ließ die Fingerknöchel knacken. Er sah auf die Uhr. Noch eine knappe Stunde, dann war seine Frühschicht zu Ende. Die Übergabe an die Kollegen würde keine zwei Minuten dauern. Es war nichts los gewesen, absolut nichts. In einer kleinen Gemeinde wie Alcoutim passierte sowieso nicht viel und schon gar nicht in den frühen Morgenstunden. Er griff nach seiner Torrada, dem Buttertoast, den er sich eben aus der Bar um die Ecke geholt hatte, zusammen mit einem Kaffee. Klein, schwarz und ungesüßt, so wie er ihn mochte. Guarda Silva mochte auch den Frühdienst. Eben wegen des großen Nichts.

In aller Ruhe hatte er den Correio da Mãnha von gestern gelesen, ein bisschen im Internet gesurft und einigen Frauen geschrieben. Seit ein paar Wochen war er bei Meetic.pt angemeldet und die Sache ließ sich nicht schlecht an. Im Moment gefiel ihm besonders eine fünfunddreißigjährige Krankenschwester aus Vila Nova de Cacela mit tiefschwarzem Haar und üppigen Kurven. Blöd war nur, dass sie bisher nicht auf seine Kontaktanfrage geantwortet hatte. Eben vertiefte er sich auf seinem Handy in ihr Bild, als das Telefon klingelte. Im selben Moment ging die Tür zur Straße auf

«Bom dia, Chefe.»

«Bom dia. Wollen Sie nicht drangehen, Guarda Silva?» Er deutete auf die Telefonanlage und ging weiter zu seinem Büro im hinteren Bereich des Gebäudes.

«GNR Alcoutim, Guarda Silva. Sim?»

«Luís, bist du das?»

Porra! Musste von den knapp dreitausend Einwohnern des Bezirks ausgerechnet seine lästige Cousine anrufen, die ihm immer nur eins einbrachte, nämlich Ärger?

«Anabela, was willst du?»

«Ihr müsst zum Castelo Velho kommen. Hier steht ein Wohnmobil und darin liegt eine Frau und bewegt sich nicht. Und da ist ein komischer Geruch.»

«Woher weißt du, dass da eine bewegungslose Frau drin ist?»

«Ich habe reingeguckt. Wegen der Hunde.»

«Wegen der Hunde, so, so. Was für Hunde?»

«Das ist doch jetzt völlig egal. Schick jemanden her!»

«Anabela Silva. Es ist gerade mal acht Uhr. Da schlafen viele Leute noch. Ganz besonders Touristen in Wohnmobilen.»

«Luís, verdammt noch mal. Ich habe ein ganz schlechtes Gefühl. Vielleicht ist der Frau was passiert.»

«Luís!»

«Was ist denn los, Silva?» Die Stimme seines Chefs, der plötzlich neben ihm stand.

Silva legte die Hand auf die Sprechmuschel. «Da ist eine Frau dran, die von einer reglosen Person in einem Wohnmobil redet, oben beim Castelo Velho. Aber das ist nur meine Cousine Anabela Silva, die bildet sich sonst was ein, seit sie mit einem von der Kripo liiert ist und ein paarmal für die Polícia Judiciária übersetzt hat.»

Ohne ein weiteres Wort und mit düsterer Miene nahm der Chef ihm den Hörer aus der Hand. «Bom dia, Dona Anabela. Hier spricht Primeiro-Sargento Quintal. Was genau haben Sie beobachtet?»

Während er sprach, durchbohrte sein Chef ihn mit giftigen Blicken. Sollte er doch. Der kannte Anabela schließlich nicht so gut wie er. Die Tür zur Wache ging erneut auf, sein Kollege Henrique Dias kam zum Dienst.

«Bleiben Sie bitte vor Ort», hörte er Quintal sagen, «wir sind unterwegs.» Der Chef legte auf. «Sie bewegen jetzt Ihren faulen Arsch, Silva, und zwar sofort. In spätestens einer halben Stunde habe ich Ihren Bericht! Guarda Dias, Sie fahren mit Silva.»

Er hatte es gewusst. Nichts als Ärger.

 

Luís Silva würdigte seine Cousine keines Blickes, als er ankam. Stattdessen donnerte er mit der Faust an die Tür des Wohnmobils. Sein Kollege wartete im Dienstwagen.

«GNR. Ist alles in Ordnung da drinnen?»

«Halt einfach den Mund, Anabela.»

Wieder wummerte er an die Tür. Dann schnüffelte er. Da war wirklich ein Geruch. Ein Geruch, der sich von allen anderen Gerüchen unterschied. Er hatte ihn bereits oft genug in der Nase gehabt, um ihn sofort zu erkennen. Verwesungsgeruch. Noch nicht sehr stark, aber eindeutig.

Er drückte die kleine Klinke der Tür herunter.

«Ich komme jetzt herein!»

Ein Blick reichte, um zu ahnen, was passiert war. Der Holzkohlegrill im Gang vor dem Bett sprach Bände.

Rückwärts zog er sich aus dem Wagen zurück und stieß mit seiner Cousine zusammen. Dieses neugierige Weib musste direkt hinter ihm gestanden haben.

«Und?», fragte sie.

«Zurück, verdammt noch mal!»

«Henrique», rief er seinem Kollegen zu, «im Kofferraum muss noch der Kuhfuß liegen.» Das Werkzeug hatten sie am Vortag kurz vor Dienstschluss im Innenraum eines Autos gefunden, dessen Scheibe eingeschlagen worden war. Luís hatte angeboten, sich während der Frühschicht um das Protokoll zu kümmern, hatte es dann aber vergessen. Genauso wie den Kuhfuß. «Und bring die Frau hier weg.»

Ohne Umschweife zertrümmerte Silva mit dem Brecheisen von außen die Scheiben in der Fahrerkabine, um möglichst viel frische Luft in den Wagen zu lassen, bevor er mit angehaltenem Atem wieder hinein und um den kalten Grill herum ging. Darauf lagen noch Reste von Kohle.

Die Frau unter der Decke war tot, das stand fest. Im Schlaf gestorben, da würde er wetten. Ganz friedlich sah sie aus,

Vor dem Wagen holte er tief Luft, dann griff er zum Telefon.

«Chef, wir haben tatsächlich eine Leiche. Kohlenmonoxidvergiftung, darauf verwette ich meine Uniform. So ähnlich wie der Schweizer in Foz de Odeleite vor ein paar Jahren. Alle Fenster zu und mit einem Grill geheizt. Ja, ich warte auf die Feuerwehr.»

Dann wandte er sich seiner Cousine zu, die ziemlich blass und angenehm schweigsam war.

«Hier hat es einen Unfall gegeben. Fahr nach Hause, Anabela.»

Nova vítima do assassino silencioso
Mulher austríaca morre em Alcoutim

Was war der Correio da Mãnha doch für ein Käseblatt. «Neues Opfer des stillen Mörders – Österreicherin stirbt in Alcoutim.» Übler konnte man einen Unfall kaum aufbauschen. Der Artikel selbst war zum Glück sachlicher. Barbara L., 43, hieß es dort, sei in ihrem Wohnmobil an einer Kohlenmonoxidvergiftung (CO) gestorben, als sie einen Holzgrill im Inneren des Fahrzeugs betrieben habe. Die Polizei gehe von einem Unglück aus. Hinweise auf einen Selbstmord gebe es nicht. CO sei ein farb-, geruch- und geschmackloses, aber hochgiftiges Gas und werde deshalb auch als «Silent Killer» bezeichnet. Jährlich stürben in Portugal mindestens dreißig Menschen an einer Kohlenmonoxidvergiftung, beispielsweise weil sie mit dem Backofen heizten oder Gasthermen nicht korrekt funktionierten.

Ich schrieb CO-Melder auf meine Einkaufsliste. Im Haus meiner Eltern gab es jede Menge Gasfallen, einschließlich des Backofens, den Mãe an besonders kalten Wintertagen tatsächlich zum Heizen der Küche nutzte. Also hatte Luís recht gehabt. Ein schrecklicher Unfall. Die arme Frau,

Es war am letzten Abend des Camping-Wochenendes mit João. Ich war mit einem Buch aus der Enge des Wohnmobils auf die Terrasse einer Bar geflohen, während João für uns kochte. Froh, wieder an der frischen Luft zu sein, hatte ich mich in meinen Roman vertieft und meine Umgebung nicht weiter beachtet.

«Entschuldigen Sie bitte, ich sehe gerade, dass Sie ein deutschsprachiges Buch lesen. Darf ich fragen, ob Sie Deutsche sind?»

Die Stimme der Frau, die mich störte, war tief, leicht kratzig und sie sprach mit einem Hauch von Dialekt. Irgendwas aus dem Süden. Aus Bayern?

«Dürfen Sie nicht», hätte ich am liebsten geantwortet, aber ich bin zur Höflichkeit erzogen. Deshalb sagte ich laut: «Ich bin als Tochter portugiesischer Gastarbeiter in Hannover geboren und aufgewachsen.»

«Das ist ja interessant! Sie sehen auch gar nicht aus wie eine Deutsche.»

Und schon hatte sie ihr Glas Weißwein vom Nebentisch auf meinen Tisch umgestellt. «Ich bin die Barbara», sagte sie und hob ihr Glas. Ich hob nur die Augenbrauen. Sie redete einfach weiter. «Mein Mann und ich sind mit unserem Wohnmobil unterwegs. Und ich muss Ihnen sagen: Portugal ist einfach unglaublich schön! Diese Sonne, diese Strände! Einfach phantastisch! Österreich ist ja auch schön, wenn man Berge mag. Aber kein Vergleich, wirklich, gar

Dabei sah sie aus, als hätte sie die Sonne noch nicht besonders oft gesehen. Blass, Ringe unter den graublauen Augen, steile Falten um die Mundwinkel. Nur das trockene blonde Haar schien reichlich Sonne abbekommen zu haben. Oder billige Haarfarbe.

Selbst ich wirkte vermutlich erholter, obwohl mein Wochenende mit João bisher eher unerfreulich verlief. Gelinde gesagt. Ich hasse Camping. In jeder Form.

Die Frau merkte nicht einmal, dass ich mit meinen Gedanken woanders war. «Und die Portugiesen! So höflich und freundlich und dabei so ruhig. Ganz anders als die Spanier. Finden Sie nicht auch?»

Stimmt, dachte ich. Und ganz anders als Österreicherinnen, die sich ungefragt an fremder Leute Tische setzen, um sie mit Klischees zuzutexten. Mir lag die Frage «Was wissen Sie denn schon über Portugal?» auf der Zunge. Und dort blieb sie auch. Mehr als ein Nicken bekam diese Frau von mir nicht. Wenn ich einfach nichts sagte, würde sie mich vielleicht in Ruhe lassen.

Von wegen.

«Und was machen Sie so? Arbeiten Sie in der Gastronomie? Außer Tourismus gibt es hier ja nichts.»

Ja, genau, ganz Portugal ein Land von Kellnerinnen und Kellnern. Die Zimmermädchen nicht zu vergessen. So langsam wurde ich sauer. Ich holte gerade Luft, um eine spitze Bemerkung von mir zu geben, als eine harte Männerstimme bellte: «Barbara!» Ein Wort wie ein Schuss.

Aber es würde ja wohl nicht ausgerechnet diese Barbara sein, die ich tot gefunden hatte. Auch wenn das Alter passen könnte. Bestimmt gab es in Portugal jede Menge mobile Barbaras aus Österreich im richtigen Alter.

Ich legte die Zeitung weg und machte mich auf zum Haus meiner Eltern. Zwischen mir und Mãe herrschte trotz meiner Entschuldigung angespannte Stimmung. Im Moment kümmerten wir uns in einem Zwei-Schichten-System um Pai, ich hatte die Abende übernommen. Abends war er am unruhigsten und wollte oft weglaufen. Für die Nacht stand ein Babyphon mit Kamera an meinem Bett.

Es war fast zweiundzwanzig Uhr, als ich endlich auf meinem eigenen Sofa saß und eine DVD in den Rekorder schob, die heute in der Post gewesen war. Kurz darauf sah ich einer Katzenfamilie zu, die sich in aller Ausführlichkeit gegenseitig putzte. Und putzte. Und putzte. Das Video war auf einer Alzheimer-Beratungsseite empfohlen worden. Demenzkranke, hatte es da geheißen, kämen wegen der schnellen Schnittfolgen mit normalen Filmen nicht zurecht. Die Katzen dagegen putzten sich ungeschnitten und sollten

Ein ungewohntes Klingelgeräusch ließ mich aufschrecken. Das Babyphon? Schnell lief ich ins Schlafzimmer, sah auf die Kamera. Pai lag friedlich schlafend im Bett. Wieder klingelte es und erst jetzt kapierte ich, dass es meine Türklingel war. Ich glaube, seit ich hier wohnte, hörte ich dieses Klingeln erst zum zweiten Mal. Meine Tür steht meist offen, wenn ich zu Hause bin. Und wer mich besuchen will, der klopft kurz an oder ruft nach mir. Ich bin die Einzige im Dorf, die überhaupt eine Klingel besitzt.

Noch mehr als das Klingeln überraschte mich der Mann vor meiner Tür.

«Was machst du denn hier, Mário?»

«Kann ich reinkommen?»

«Natürlich.»

Mário ist Bibliothekar in Alcoutim und ein Freund von mir, aber hier bei mir zu Hause war er noch nie gewesen. Anfangs, in meinen ersten Monaten in Portugal, hatte es mich irritiert, dass man sich in meiner neuen Heimat eher in Bars und Restaurants als privat verabredete, inzwischen war ich daran gewöhnt. Umso überraschter war ich, zumal wir in letzter Zeit nicht allzu viel Kontakt hatten. Nun aber stand er mit tief gerunzelter Stirn und ohne das allerkleinste Lächeln auf meiner Schwelle. Wenn Mário lächelt, erscheint auf seiner linken Wange ein Grübchen. Es hatte mal eine Zeit gegeben, in der mich der Gedanke an dieses Grübchen beim Einschlafen begleitet hatte.

«Das weißt du doch.»

Was meinte er? Aber eins nach dem anderen. Ich ging voraus in mein Wohn- und Arbeitszimmer.

«Möchtest du etwas trinken?»

Mário antwortete nicht, sah sich nur um und trat an meinen Schreibtisch. Darauf stand mein aufgeklappter Laptop, daneben lag die Zeitung.

«Die tote Frau, die du gefunden hast – ich hab sie gekannt.»

«Was? Woher willst du das wissen? Ich meine, woher weißt du überhaupt, dass ich …?»

Ich hatte niemandem davon erzählt, nicht einmal Mãe. Schon gar nicht Mãe. Sonst hätte inzwischen jeder Mensch zwischen Alcoutim und Martim Longo auch das kleinste Detail gewusst. Inklusive der Details, die es gar nicht gab.

«Luís hatte gestern Abend auf der Terrasse am Quiosque ein paar Bier zu viel», erzählte Mário. «Und jeder, der dort saß, durfte sich anhören, wie der Held unserer Guarda Nacional Republicana die Leiche entdeckt, sofort Bescheid gewusst und die Fenster des Wohnmobils zertrümmert hat.»

Mário verzog das Gesicht. «Es war widerlich. Jedenfalls fiel auch dein Name, der ist ihm aber nur rausgerutscht. Er hat gesagt … Ach, egal. Und dann stand heute ihr Name in der Zeitung und …»

Mein Cousin war zweifelsfrei die größtmögliche Fehlbesetzung in der Geschichte der GNR. Keine ganz neue Erkenntnis. Aber ich verstand noch immer nicht, warum Mário in meinem Wohnzimmer stand.

«Ja, natürlich. Was denn?» Ich drückte den Knopf und der Laptop erwachte aus seinem Schlafmodus.

«Darf ich?», fragte Mário und saß auch schon auf dem Schreibtischstuhl. Ich sah ihm über die Schulter. Er öffnete den Browser, dann Facebook, gab seine Anmeldedaten ein.

«Du bist bei Facebook?» Ich selbst hatte dort erst ein Profil, seit ich als Übersetzerin arbeitete und mich mit einer Gruppe von Kolleginnen und Kollegen austauschte. Privat nutzte ich die Plattform kaum. Doch Mário hörte mir nicht zu, sondern gab einen Namen in die Suchleiste ein: Barbara Leitner.

«Da, lies das!», sagte er einen Moment später und zeigte auf den Bildschirm. Doch ich starrte auf das Foto, das im Querformat die Seite krönte und ein Wohnmobil im Abendlicht an einem See zeigte. Ein Wohnmobil in schmuddeligem Beige mit einem langen, rostigen Kratzer. Kein Zweifel, das war der Wagen, vor dem ich gestern gestanden hatte. Der Kreis, der unten in das Bild eingebettet war und in dem die meisten Nutzer ein Foto von sich hochluden, zeigte eine Hibiskusblüte. Dennoch war ich mir sicher: Mário war nicht der Einzige im Raum, der diese Frau gekannt hatte. Wobei gekannt natürlich ein großes Wort für eine kleine Begegnung war.

«Seit wann verstehst du Deutsch?», fragte ich Mário, als ich von den Bildern weiter nach unten zu den Texteinträgen sah.

Er zeigte mit dem Finger auf zwei Textzeilen.

«Wenn ihr mich tot findet, denkt daran: Selbstmord kommt für mich nicht in Frage. Niemals! Ihr wisst, was dann passiert ist.»

Ich las den kurzen Text noch einmal und fand ihn mehr als seltsam. Für Mário übersetzte ich ihn wörtlich ins Portugiesische.

«Also steht das da tatsächlich. Mein Gott.» Er wurde auf einmal sehr blass und die Augen hinter der Brille schimmerten feucht.

«Was, denkst du, hat sie damit gemeint?»

«Ist doch klar: Er hat sie umgebracht.»

«Was? Wer? Was redest du denn da?»

«Ihr Mann. Ihr Mann hat sie umgebracht.»

«Jetzt mal ganz langsam, Mário. Woher kennst du die Frau überhaupt?»

«Das ist doch überhaupt nicht wichtig!» Er schlug mit der flachen Hand auf den Schreibtisch. Es war das erste Mal, dass ich Mário aufbrausend erlebte.

«Ich glaub, ich hole uns doch etwas zu trinken.»

Während ich in der Küche eine Flasche Wein entkorkte und Gläser aus dem Schrank nahm, dachte ich über das nach, was diese Barbara geschrieben hatte. Okay, auf Facebook waren eine Menge seltsamer Menschen unterwegs, selbst in meiner Gruppe, in der es nicht immer um Berufliches ging, aber einen so eigenartigen Eintrag hatte ich noch nie gelesen. Ganz abgesehen davon: Laut Polizei handelte es

Als ich ins Wohnzimmer zurückkam, stand er am Fenster und starrte auf meine Wiese, die von einer einzelnen Straßenlaterne beleuchtet wurde.

«Komm», sagte ich und setzte mich aufs Sofa. «Trink einen Schluck Wein und erzähl mir, was du meinst.»

Er blieb stehen, wo er war.

«Diese Barbara hat sich doch gar nicht umgebracht, Mário. Es war ein Unglück, das steht jedenfalls in der Zeitung. Und von einem Mann ist dort überhaupt nicht die Rede.» Was, wenn ich jetzt darüber nachdachte, tatsächlich merkwürdig war. Wieso war der Blonde mit dem schütteren Haar und dem Befehlston, an den ich mich erinnerte, nicht auch im Wohnmobil gewesen? Mein nächster Gedanke war: Was für eine Ironie – nun ist die Frau in der ach so sonnigen, warmen Algarve ausgerechnet deshalb gestorben, weil ihr kalt war.

«Sie hatte Angst vor ihrem Mann», unterbrach Mário meine Gedanken. «Und genau deshalb hat sie das geschrieben. Weil sie befürchtete, dass er sie eines Tages umbringt.»

«Hat sie dir das gesagt? Dass sie Angst vor ihrem Mann hatte?»

«Indirekt. Also: Rufst du ihn an?»

«Was? Wen?»

«Deinen Kommissar.»

Wie bitte? Das konnte er doch nicht ernst meinen. João würde mich für verrückt erklären, wenn ich ihm mit dieser

«Sei mir nicht böse, Mário, aber ich glaube kaum, dass sich die Polícia Judiciária dafür interessiert, ob diese Barbara zu Lebzeiten Angst vor ihrem Mann hatte, wenn es keinen Hinweis auf ein Verbrechen gibt.»

«Habe ich dir nicht immer geholfen? Auch wenn es noch so unsinnig klang, was du erzählt hast?»

Ein gleichzeitig vorwurfsvoller und flehender Blick traf mich aus kaffeebraunen Augen.

Porra! So etwas nennt man emotionale Erpressung. Ich wusste noch sehr genau, dass er damals der erste Mensch gewesen war, dem ich von meinem Verdacht erzählt hatte, in Alcoutim ginge womöglich ein Todesengel um, der alte Leute umbrachte. Wie dankbar ich ihm gewesen war, weil er mich nicht ausgelacht hatte. Ja, er hatte mir geholfen. Mehr als einmal. Ohne ihn, ohne seine Recherchen und Verbindungen – und später ohne die von João – hätte ich vielleicht niemals von der tragischen Geschichte meiner Tante und meines Cousins Ricardo erfahren.

«Ich werde es mir überlegen, Mário. Aber am einfachsten und logischsten wäre es doch, erst einmal hier zum Polizeichef zu gehen, wenn du dir so sicher bist, dass da was nicht stimmt. Meinst du nicht?»

«Das will ich nicht.»

«Warum nicht?»

«Das ist meine Sache.»

«Aber …»

«Kein Aber, Anabela. Sprich mit dem Inspektor, ich bitte dich darum.»

Er ging, ohne sein Weinglas auch nur angerührt zu haben, und ließ mich mit einem Stapel Fragen zurück.