Dunkle Idylle

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Sie warf einen Blick auf den kleinen Jungen, der am Küchentisch saß. Nichts schien ihr dagegenzusprechen, für eine halbe Stunde das Haus zu verlassen, um ein paar Einkäufe zu erledigen.

Johannes war vertieft in die Bastelei. Er hatte das Kinn auf die Brust gedrückt und die Lippen aufeinandergepresst, voll konzentriert und bemüht, mit der plumpen Schere durch die dicke Pappe zu schneiden. Sie hätte ihm das Glanzpapier kaufen sollen, um das er gebettelt hatte, da glitt die Bastelschere leicht hindurch. Doch dann ließe sich der Stall von Bethlehem umpusten. Zuallererst brauchte er Standfestigkeit.

«Ich geh dann mal, Johannes», sagte Gerda Dau.

Der Junge brummelte sein Einverständnis und schnitt ein großes Tor in den Stall von Bethlehem. Maria und Josef, Ochs und Esel könnten bequem Schulter an Schulter durch das Tor gehen. Die Fenster des Stalls waren ihm auch zu groß geraten. Mit dieser Schere gelangen keine Feinheiten. Doch für eine schärfere war er noch zu klein.

Johannes würde nicht allein im Haus sein. Im oberen Stock war seine Schwester und hatte Nachhilfeunterricht. Gerda Dau lächelte, als sie die Blockflöte hörte. Wohl kaum die zehnjährige Charlotte, die da spielte. Die war vorhin

In Mathematik, nicht im Flötenspiel.

Macht hoch die Tür, spielte die Flöte.

Auf dem Küchentresen stand die schiefe Laterne, die Johannes im Kindergarten geklebt hatte. Der Junge war ein großer Bastler, wenn auch noch nicht sehr geschickt. Auf seine Bitte hatte sie eine neue Kerze in die Laterne gestellt. Gerda Dau nahm die Streichhölzer, die neben der Laterne lagen. Nicht, dass der Junge die Kerze anzündete. Die Schachtel, die sie in die Tasche ihrer Strickjacke steckte, war die einzige im Haus. Dessen war sie sicher. Streichhölzer hatte sie eben auf den Einkaufszettel geschrieben.

Sie zögerte, ob die beiden da oben wissen sollten, dass der Kleine allein in der Küche war. Doch gleich müsste ja auch die Große aus der Schule kommen. Sie sah auf die Küchenuhr, die über dem Tresen hing. Elisabeth hätte schon vor einer Viertelstunde hier sein sollen.

«Wir lassen die Laterne leuchten, wenn ich wieder da bin. Und dann helfe ich dir auch mit dem Stall», sagte sie.

Der Junge hob den Kopf. «Da soll noch ein Stern obendrauf», sagte er, «den kann ich nicht alleine. Bringst du diesmal Glanzpapier mit? Gold und silbern?» Johannes’ Stimme klang vorwurfsvoll.

«Ich guck mal», sagte Gerda Dau. Vielleicht ließen sich doch noch echte Strohhalme für das Stalldach finden. In ihrer Vorstellung war Bethlehems Stall deutlich schlichter als in der von Johannes. Sie ging in den Flur und zog den Mantel an. Eigentlich hatte sie keine Lust auf die kalte Nässe da draußen. Stockdunkel. Dabei war es noch Nachmittag.

Macht hoch die Tür, die Tor macht weit, wiederholte die Flöte, als Gerda Dau das Haus verließ und noch mal zu den Fenstern sah, aus denen ein warmes gelbes Licht fiel. Sie glaubte alle geborgen.

Als Teresa das Haus zum ersten Mal sah, stand es schon viele Monate leer, doch im Garten hing noch Wäsche an der Leine. Der Garten war eine Wiese und ringsum, dort, wo in anderen Gärten Rosen gepflanzt waren oder Rhododendren, standen Johannisbeersträucher, an denen Beeren hingen.

Auf der Wiese die eisernen Stangen für die Wäscheleine. Hinter der Wiese das dunkle Wasser des Kanals, auf dem Enten schwammen.

«Weiße Johannisbeeren», sagte Teresas Mutter, die mit ihr auf der Terrasse des zweistöckigen Hauses stand. «Über der Garage lebt Frau Dau. Wahrscheinlich ist das ihre Wäsche.»

«Wer ist Frau Dau?», fragte Teresa. Seit einer halben Stunde strengte sie sich an, schroff zu klingen. Seit sie in diesem Haus waren. Ein Tiefschlag, der ihr da am ersten Ferientag verpasst worden war.

«Wir ziehen mit Thomas und Leo zusammen», hatte ihre Mutter gesagt, kaum dass sie am Frühstückstisch saßen. «Tut mir leid, Tereschen, da falle ich dir mit der Tür ins Haus. Doch alles ging auf einmal derart schnell. Ich kann es selbst noch kaum glauben.»

Sie waren durch die halbe Stadt gefahren, um das Haus zu besichtigen, das Mama und ihr Freund Thomas gemietet

Für Teresa war die Wochenendbeziehung ihrer Mutter immer ganz praktisch gewesen. Von ihr aus hätte das gern weitergehen können. Eine sturmfreie Bude alle vierzehn Tage. Stattdessen nun auch noch eine fremde Frau, die hier lebte und ihre Wäsche im Garten trocknen ließ.

«Wer ist Frau Dau?», wiederholte Teresa die Frage. Ihr Blick wanderte zu den Fenstern über der Garage, an denen weiße kurze Vorhänge hingen.

«Eine freundliche ältere Dame, die eine Art Bleiberecht hat. Sie war die Kinderfrau der Familie, der dieses Haus gehört.»

«Warum sind die ausgezogen?», fragte Teresa. Ohne ihre freundliche ältere Kinderfrau mitzunehmen?

«Thomas und ich könnten euch ein Kanu kaufen», sagte ihre Mutter. «Ihr hättet euren eigenen Anlegeplatz unten am Kanal.» Sie wandte sich um und ging ins Haus hinein. Irgendetwas blieb hier ungesagt.

 

Teresas Widerstand begann zu bröckeln, als sie das ihr zugedachte Zimmer besichtigte. Ein großes Zimmer mit Stuck an der Decke. Zwei hohe Fenster, die zu Garten und Kanal hinausgingen. Kein Kinderzimmer mit Dachschräge, wie ihr bisheriges gewesen war. Das hier kündete Erwachsensein.

Dachte sie wirklich schon in der Vergangenheitsform an

Teresa stand an einem der Fenster und sah auf den Kanal. Ein Kanu. Gut. Vielleicht war Mama auch damit einverstanden, ihr den Kleiderschrank aus Kirschbaumholz zu überlassen. Da kämen all ihre Klamotten unter. Und als Bedingung: keinen Schulwechsel. Egal, wie weit der Weg war. Nach den Ferien wollte sie mit ihrer besten Freundin Beckie und den Zwillingen Sebastian und Robert in die Oberstufe kommen und nicht in einer fremden Schule die Neue sein.

Sie hörte die Schritte ihrer Mutter, doch sie drehte sich nicht um.

«Gefällt es dir wenigstens ein bisschen?»

Teresa atmete hörbar ein. «Muffelt hier», sagte sie, «wie lang ist es denn her, dass die ausgezogen sind?»

«Ich finde nicht, dass es muffelt», sagte Mama. «Frau Dau hat oft gelüftet und überhaupt alles in guter Ordnung gehalten.»

Frau Dau. Nicht, dass Mama noch auf die Idee kam, sie einzustellen. Als Kinderfrau für eine Sechzehnjährige und einen fast Achtzehnjährigen.

«Wie lang steht das Haus also schon leer?»

Mama legte die Hände auf Teresas Schultern und blickte mit ihr in den Garten. «Anfang Juni war es ein Jahr», sagte sie.

«Wollte den Kasten keiner mieten?», fragte Teresa.

«Die Besitzer wussten wohl lange nicht, ob sie ihn vermieten wollten.»

«Komische Leute. Hast du sie kennengelernt?»

«Weiß Leo schon, dass wir zusammenziehen?»

«Er hat es auch heute Morgen erfahren.»

«Versucht es doch mal mit Synchronturnen, Thomas und du, ihr scheint Talent dafür zu haben.»

«Leo hat begeisterter reagiert als du. Er freut sich auf Hamburg und vor allem auf dich.»

Teresa zog eine Schnute, um nicht zu grinsen.

«Ihr habt euch doch immer gut verstanden», sagte Mama und betrachtete die Schnute, die es nicht länger in ihrer schnutigen Form hielt.

«Dann steht unserem Glück ja nichts im Wege», sagte sie, als Teresas Mund immer breiter wurde.

«Weißt du, was komisch ist?», sagte Teresa. «Ich denke die ganze Zeit schon, dieses Haus kenne ich.»

Erst Tage später kam es ihr in den Sinn. Teresa lehnte an dem alten Eisengeländer, das die Böschung des Kanals von der Straße abgrenzte, und sah zur Gartenseite des Hauses hinüber. Genau hier mussten sie gestanden haben, die Fotografen und die Kameraleute, als sie ihre Bilder vom Haus schossen. Der verloren gegangene Junge. Er war nie gefunden worden. Auch nicht im Kanal. Teresa erinnerte sich an die Bilder von Tauchern, die an einem trüben Novembertag in das Wasser stiegen.

Vielleicht sollte sie nachlesen, was damals genau geschehen war. Oder brachte das Unglück? Brachte es Unglück, in einem Haus zu leben, in dem Schreckliches geschehen war? Teresa ahnte, wie ihre Mutter auf diese Frage reagieren würde. Voller Unwillen und kaum gesprächsbereit. Also warten, bis Leo eintraf, und hören, ob es ihm Sorgen bereitete.

Die Fenster zu ihrem Zimmer standen weit offen. Eine Malerleiter war zu sehen. Gleich wollte sie ins Haus gehen und gucken, wie sich «Pflaume» auf den Wänden machte. Mama nannte die Farbe einen Lichtfresser und hatte darauf bestanden, die hohe Decke weiß zu lassen. Weiß wie alle anderen Wände im Haus.

Teresa ging über die Brücke und ein Stück die Straße

Auf den Stufen zu ihrem Haus saßen die beiden Maler, hatten Becher in der Hand und eine Thermoskanne zwischen sich stehen.

«Eine Pflaumenwand ist fertig», sagte der jüngere, «sieht gut aus.»

Teresa lächelte und stieg an ihnen vorbei, um durch die geöffnete Tür zu gehen. Mama kroch irgendwo im Haus mit dem Zollstock herum. Am Wochenende war Thomas angesagt, und am Montag sollten ihre Möbel kommen und zwei Tage später der Möbelwagen aus Köln und mit ihm Leo.

Sie ging in die Küche und drehte den Hahn über der Spüle auf, um mit der Hand Wasser zu schöpfen und zu trinken. Der große Tresen, der über Eck ging, war noch von den vorherigen Bewohnern des Hauses. Auch der Geschirrschrank mit den Sprossentüren. Einen Küchentisch hatte Mama gestern gekauft. Morgen würde er geliefert werden.

Teresa schrak zusammen, als sie das Geräusch hinter sich hörte.

«Entschuldige», sagte die Frau, «ich habe dich erschreckt. Muss mich noch daran gewöhnen, dass es nun nicht mehr meine Küche ist.»

«Frau Dau?», fragte Teresa.

Die Frau streckte ihre Hand aus. «Gerda Dau», sagte sie, «ich wohne in den zwei Zimmern über der Remise.»

Die Frau nickte. «Unsere Kinder heißen Elisabeth und Charlotte. Und Johannes. Das ist der Kleine.»

Der verloren gegangene Junge. Teresa fing an zu frösteln auf den schwarz-weißen Steinfliesen der Küche.

«In der Küche ist es immer kühl. Nur im Winter nicht», sagte Gerda Dau und wandte sich zur Tür. «Dann wird ordentlich eingeheizt. Ich kenne mich aus im Haus. Vom Keller bis zu den Dachkammern. Falls ihr Fragen habt.»

«Danke», sagte Teresa und sah der Frau nach, die freundlich gewirkt hatte. Sie stieg die Treppe hoch und traf die Maler in ihrem Zimmer. Eine zweite Wand war zur Hälfte gestrichen.

«Findest du das Lila nicht doch zu dunkel?»

Teresa guckte ihre Mutter an. «Warum schleicht ihr alle hinter meinem Rücken herum?», fragte sie.

«Wer tut das denn?»

«Du und Frau Dau.»

«Das wird schwer werden, ihr klarzumachen, dass sie hier im Haus nichts mehr zu suchen hat. Doch die Tür wird ja nicht immer offen sein.»

«Ich finde das Lila nicht zu dunkel», sagte Teresa. «Aber ich würde gern mal mit dir darüber sprechen, was in diesem Haus geschehen ist.»

«Nicht jetzt», sagte Mama. «Das tun wir, wenn wir alles hinter uns haben und friedlich an unserem neuen Küchentisch sitzen. Bis dahin habe ich nicht den geringsten Nerv dafür.»

Warum hatte sie nur davon angefangen? Wider besseres Wissen.

Die Tür zum Keller war verschlossen. Thomas stand neben den Kartons, die erst einmal unten in den Keller gestellt werden sollten, und schwitzte. Teresa suchte Frau Dau.

O ja. Gerda Dau war verlegen, dass sie den Kellerschlüssel nicht schon abgeben hatte und er noch immer an ihrem dicken Schlüsselbund hing.

Ein Schlüsselbund voller Geheimnisse, dachte Teresa, als sie zusah, wie Frau Dau die Kellertür aufschloss und erst nach Aufforderung den großen alten Schlüssel von den anderen löste.

Unten im Keller ein schöner alter Terrazzoboden. «Eine Verschwendung», sagte Thomas, «den hätte ich lieber oben im Flur.»

Oben im Flur lag Teppichboden. Gestern Abend hatte Teresa gedacht, dass auf dem Teppich Blutflecken seien. Vielleicht war sie überreizt. Ganz sicher war sie überreizt durch diese jähe Veränderung. Seit Tagen träumte sie schlecht. Dabei schlief sie noch immer in ihrem Kinderzimmerchen mit Dachschräge. Wie sollte das erst werden, wenn sie hier eingezogen waren? «Was du in der ersten Nacht in einem neuen Heim träumst, wird wahr», hatte Mamas Tante gesagt.

Teresa bezweifelte, dass sie die Vorgeschichte des Hauses kannte. Mama hatte bestimmt nichts erzählt. Schon gar nicht ihrer alten Tante. Ihre Mutter neigte dazu, heikle Themen unter den Teppich zu kehren.

Thomas klopfte die staubigen Hände an den Hosen ab und setzte sich auf eine der Kisten, die nun in den Keller gefunden hatten.

«Sie war die Kinderfrau eines kleinen Jungen, der verschwunden ist.»

«Ich weiß. Der Makler hat es Herlinde und mir erzählt.»

«Hast du schon mehr darüber herausgefunden?», fragte Teresa.

Thomas war Journalist, und Journalisten recherchierten und ruhten nicht, bis sie einer Sache auf den Grund gegangen waren. Oder?

«Nein. Das ist eine Tragödie, und es steht mir nicht zu, darin zu fleddern», sagte er zu Teresas Enttäuschung.

«Du sollst ja nicht fleddern, sondern aufklären.»

«In diesem Haus gibt es keinen Winkel, den die Kripo nicht abgesucht hat.»

«Da», sagte Teresa und hob die Hand. «Am Fenster. Hinter dir.»

Thomas drehte sich um. «Was ist da?», fragte er.

«Da war ein Gesicht. Das Gesicht eines Jungen.»

«Das haben deine Mutter und ich befürchtet, dass ihr anfangen werdet, Gespenster zu sehen.»

«Lass uns gleich mal klären, dass ich kein Kleinkind bin», sagte Teresa, «da war jemand.» Dieses Zusammenleben barg größeren Konfliktstoff als das eine und andere gemeinsame Wochenende in Hamburg oder Köln.

Doch Thomas schien mit seinen Gedanken schon anderswo zu sein. «Ich frage mich, was das für Schlüssel sind, die Frau Dau an ihrem Bund hat», sagte er. «Für zwei Zimmer über der Garage entschieden zu viele.»

 

«Dass ihr euch hierhertraut», sagte er.

«Und wer bist du?», fragte Teresa.

«Geht dich das was an?»

«Jeder geht mich an, der um unser Haus herumschleicht.»

«Euer Haus», zischte der Junge. «Du hast doch keine Ahnung, was hier passiert ist. Sonst würdest du dich wegbeamen.»

Teresa deutete ein Gähnen an. Wie alt war dieser Typ eigentlich? Eher jünger als sie. «Ist bekannt», sagte sie, «das ganze Drama.»

«Der Kleine war eine Kröte», sagte der Junge.

«Nicht nett, dass du das sagst.»

«Stimmt aber. Und trotzdem hat er dauernd geheult.»

«Vielleicht hast du ihn ja erst zum Heulen gebracht.»

Der Junge öffnete den Mund. Doch er schwieg. «Gus», sagte er schließlich, «von gegenüber. Eigentlich Gustav. Und wie heißt du?»

«Geht dich das was an?», fragte Teresa. Ihr verspäteter Abgang war elegant. Die Königin von Saba nichts dagegen. Hätte sie gleich tun sollen. Doch schon Sekunden später kam sie sich kindisch vor.

«Und Ratten gibt es hier auch», rief Gus ihr nach. «Die sitzen in den Klos.»

 

Von einer Leiche im Kanal hatte sie geträumt. Kein Kind. Eine Frau, die im seichten dunklen Wasser lag, von Schlingpflanzen festgehalten. Lange rötliche Haare, die sich um den Kopf legten wie ein Heiligenschein. Die Augen der Frau waren weit geöffnet. Ihre Haut sehr weiß. Am ganzen Körper weiß. Doch sie war nicht nackt. Die Leiche im Wasser hatte ein Kleid an, dessen nasser Stoff transparent geworden war.

Teresa saß aufrecht im Bett. Ihr war eiskalt. Das Entsetzen in den Augen der Frau. Kein sanfter Tod, den sie gestorben war.

Erst nachdem sie heiß geduscht hatte, fiel ihr ein, dass Leo und sie am Abend von Teresas Hausaufgabe in Deutsch gesprochen hatten. Hamlet. Hamlets Ophelia. Die wahnsinnige Ophelia, die ins Wasser gegangen war. Shakespeare hatte sich in ihren Traum geschlichen. Teresa lachte erleichtert auf und kämmte ihre langen nassen Haare.

Thomas hatte gar nicht so falschgelegen mit seiner Vermutung, dass sie anfingen, Gespenster zu sehen. Das heißt, sie sah Gespenster. Leo schien gelassen zu sein, als die Geschichte vom verlorenen Jungen am zweiten Abend auf den Küchentisch kam. Wenn auch ziemlich verkürzt von Mama, die nie den Nerv haben würde, ausführlich darüber zu sprechen.

Sie kehrte in ihr Zimmer zurück und trat an eines der Fenster. Draußen fand gerade der schönste Sommer statt. Ihre Mutter und Thomas saßen auf der Terrasse in den

Unten am Kanal ließ Leo das Kanu zu Wasser. Ein knallblauer Zweier-Kanadier. Die beiden Stechpaddel lagen noch in ihrer Folie im Gras. Leo guckte auf und rief ihr etwas zu. Teresa beugte sich vor. Sie war sicher, dass die Tote in ihrem Traum genau an der Stelle im Wasser gelegen hatte. Warum bloß träumte sie so was? War das eine Warnung? Gab es Häuser, auf denen ein Fluch lag, und auch sie waren in Gefahr?

«Komm, du Langschläferin. Wir machen eine Tour.»

Leo sollte lieber mal die Umzugskartons auspacken, die sich in seinem Zimmer stapelten. Bisher hatte er nur geschafft, zwei Poster an die Wände zu pinnen. Eines davon war ein Filmplakat von «Pulp Fiction», auf dem sich eine schwarzhaarige Frau räkelte. Im Vordergrund eine Pistole. Das andere zeigte eine Landschaft in Patagonien. Sagte Leo.

«Kommst du?», rief Leo. Mama und Thomas guckten zu ihr hoch.

Dunkles Kanalwasser lockte sie gerade wenig. Ganz war der Schrecken des Traumes noch nicht weggelacht. Doch wenn sie ihm jetzt was von Kartons auspacken erzählte, hielte Leo sie für eine komplette Idiotin.

Sie betrachtete ihn, der dabei war, die Jeans aufzukrempeln. Seine Haut war von der Sonne gebräunt. Das dunkle lockige Haar fiel ihm in die Stirn. Er sah gut aus. Beunruhigend gut.

Vielleicht sollte sie die Chance nutzen und ins Kanu steigen.

«Ich komme», rief sie und wandte sich dem Kleiderschrank zu. Sandfarbene Shorts. Ein schwarzes ärmelloses Shirt. Die nackten Füße in Sneakers.

Sie lief die Treppe hinunter und trat in die Küche. Noch letzte Spuren des Frühstücks auf dem Tisch. Sie griff nach einem Apfel. Eine unbeschriftete Kiste stand auf dem Tresen, deren Inhalt Mama wohl gerade begutachtete, Kram aus Teresas früher Kindheit. Basteleien. Eine schiefe Laterne stand neben der Kiste. Schwarzer Karton. Die vier Fenster aus buntem Transparentpapier. Kerze. Engel. Stern. Ein Tannenzweig. Was Mama alles aufbewahrt hatte.

Teresa trat auf die Terrasse und in den strahlenden Tag. Welch ein Kontrast zur dämmrigen Küche und den kindlichen Kunstwerken.

Sie lief über die Wiese und pflückte allerletzte Johannisbeeren vom Strauch. Leo war gerade dabei, die Paddel von der Folie zu befreien.

Als sie ins Kanu kletterten, hörten sie einen Schrei im Haus.

 

Gerda Dau saß am Tisch und hielt die Laterne fest. Tränen liefen ihr über das Gesicht. Sie sah nicht auf, als sie in die Küche kamen.

«Ich weiß», sagte Frau Dau leise. «Es ist auch nicht seine Laterne. Ich hab es nur im ersten Augenblick geglaubt.»

«Meine Tochter hat die Laterne im Kindergarten gebastelt.»

Gerda Dau nickte. «Johannes’ Laterne hat den heiligen Martin im vierten der Fenster. Ich habe ihm geholfen. Der Junge ist so stolz darauf.»

Sie standen zu dritt um den Küchentisch und wirkten hilflos. Nur Leo stand noch in der Tür. «Vielleicht wollen Sie sich in den Garten setzen?», fragte er. «In die warme Sonne. Oder soll ich Sie in Ihre Wohnung begleiten?»

Thomas drehte sich zu Leo um. Voller Staunen ob dessen Sanftheit.

«Nicht in den Garten», sagte Gerda Dau. Sie stand mühsam auf. «Doch wenn du mich zur Remise bringst, bin ich dankbar.»

Sie sahen den beiden nach, als sie die Küche verließen. Herlinde fing an, die Basteleien in die Kiste zu packen. Thomas stand bereit, die Kiste in den Keller zu tragen. Teresa ging zurück zum Kanal und wartete auf Leo.

 

«Es ist hell und gemütlich bei ihr», sagte Leo. «Auf einer Kommode stehen Fotos von den Kindern. Ein großes von Johannes. Sie hat eine kleine Vase mit Blumen daneben stehen, eine Kerze und einen Engel aus Bronze.»

«Ein Altar», sagte Teresa, «dabei glaubt sie doch, dass er lebt.»

Leo hob die Schultern. Er zupfte an ein paar Grashalmen

«Gibt auch Typen, die klauen die Kinder, um sie gefangen zu halten und sie zu quälen», sagte Teresa.

«Frau Dau braucht professionelle Hilfe. Das ist doch ein Trauma. Du bist für ein Kind verantwortlich, lässt es für eine kurze Zeit in der Küche zurück, und dann ist es weg. An einem dunklen kalten Novembertag.»

«Hat sie dir das erzählt?»

«Nein. Das habe ich im Internet gelesen.»

«Und wenn der Junge doch noch hier ist? Vielleicht im Garten vergraben?»

«Ein Fremder hätte ihn kaum im Garten vergraben und sich aus allen Fenstern dabei zugucken lassen. Der wäre nach der Tat auf und davon.»

«Kein Fremder. Einer, der hier jedes Fleckchen kennt.»

«Quatsch. Denkst du vielleicht, Frau Dau hat ihn getötet?»

Teresa schüttelte den Kopf und kaute an ihrer Lippe.

 

Thomas hatte die Kiste in den Keller getragen und einen Geruch in der Nase gehabt, der auch im Garten noch in der Luft zu liegen schien und sich über alle leichten Düfte des Sommers legte. Doch es dauerte eine Weile, bis Thomas sich eingestand, dass es der Geruch von Verwesung war.

Er sah zu Herlinde hinüber, die gerade ihr Glas neben den Korbstuhl stellte und zu dem Textbuch griff. Sie war keine erfolgreiche Schauspielerin. Und es war eher

Die Kinder saßen am Kanal im Gras.

Die Kinder. Im September würde Leo volljährig werden. Hoffentlich das Abitur im kommenden Schuljahr machen. Thomas hatte ihm angeboten, an seinem alten Gymnasium in Köln zu bleiben, doch Leo war ganz dankbar für unvoreingenommene Lehrer, die keine näheren Kenntnisse von seiner Schulkarriere hatten.

Ich dachte hin, ich dachte her, um Glück für dich zu werben.

Warum kam ihm dieser Text in den Kopf? Weil er an Leos Mutter dachte? Die er verloren hatte, als Leo ein Baby war? Nach einer kleinen, eigentlich harmlosen Operation?

Er hatte Leo allein großgezogen. Die eine oder andere Freundin gehabt. Nichts Ernstes. Bis Herlinde in sein Leben gekommen war.

Nur eines hab ich nicht gedacht, dass du mir könntest sterben.

Thomas stand auf. Er musste dem Geruch nachgehen.

 

Er stieß die Tür zum Nebenraum des großen Kellers auf. Hier gab es keinen Terrazzoboden mehr. Nur gestampften Lehm. Holzregale standen an den gekalkten Wänden. Leer bis auf trübe Einmachgläser ohne Eingemachtes. Doch der Geruch, im großen Keller nur eine Ahnung, war hier eindeutig und wies in die hinterste Ecke des Raumes.

Die tote Ratte lag in einem Nest aus zerknülltem Zeitungspapier. Eine Kölner Zeitung. Sie musste das Papier

Er stieg die Treppe hoch und ging in die Küche. Riss zwei Müllsäcke von der Rolle. Nahm eine kleine feste Plastiktüte aus dem Schrank unter der Spüle. Gab es hier nicht irgendwo Klebeband?

«Was hast du vor?», fragte Teresa, die in die Küche kam.

«Das willst du nicht wissen», sagte Thomas. Doch nun drängte auch noch Herlinde nach und guckte fragend. Was weckte die menschliche Neugier derart bei zwei Müllsäcken und einer kleinen festen Plastiktüte?

Er trat den Weg in den Keller an, gefolgt von Teresa und Herlinde.

«Es ist nicht das, was ihr denkt», sagte er. «Erspart es euch trotzdem.»

«O Gott», sagte Herlinde, als sie sich dem kleinen Keller näherten.

Teresas Gesicht schien zu erstarren.

«Nur eine Ratte», sagte Thomas.

Herlinde entspannte sich auf der Stelle. «In Hamburg muss das der Behörde gemeldet werden», sagte sie, «dem Institut für Hygiene.»

Sie drehte sich um und folgte nun doch Thomas’ Rat. Sie ersparte sich den Anblick der verwesenden Ratte. Nur Teresa sah ganz genau hin.

Thomas stülpte die kleine Tüte über die rechte Hand, griff die Ratte und tat sie in den Müllsack. Wickelte sie fest ein und nahm auch noch den zweiten Sack, um ein luftdichtes Paket zu schnüren.

 

Nein. Nicht der Kanal. Die Sielbauarbeiten störten die Ratten und trieben sie in die Keller hinein. «In der ganzen Stadt werden die Siele erneuert», erklärte der Mann von der Schädlingsbekämpfung. «Da fühlen sich die Viecher belästigt und verlassen ihr vertrautes Terrain. Das Abwassersystem ist zu großen Teilen noch aus dem neunzehnten Jahrhundert. Da muss was geschehen, sonst fängt es an zu stinken in Hamburg. Bei Ihnen in der Gegend wird aber nichts mehr aufgerissen. Damit sind die durch.»

Giftköder wurden ausgelegt. Teresa hoffte, dass keine Katzen und Hunde in den Keller kamen und in Gefahr gerieten. Und sie wurde ganz besessen von der Idee, Haus und Garten Zentimeter für Zentimeter abzusuchen.

«Lust auf weitere Ratten?», fragte Leo.

«Ich werde das Gefühl nicht los, dass Johannes ganz nah ist.»

«Das fängt an, manisch zu werden bei dir», sagte Leo. Er blickte zu den kurzen weißen Vorhängen von Gerda Dau, die sich bewegten.

«Wenn es mal zu sterben gilt, will ich es hier tun», hatte sie zu ihm gesagt, «genau hier und nirgends anders. Vorher geh ich nicht weg. Ich warte auf den Jungen, und ich will da sein, wenn er zurückkommt.»

Er hoffte für sie, dass sie Erlösung fände. Er mochte Gerda Dau. Vielleicht mangelte es ihm an Müttern und Großmüttern.

Teresa genoss erst einmal das Kribbeln unter ihrer Haut.