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Helmut Kohl

Erinnerungen

1990 – 1994

Knaur e-books

Inhaltsübersicht

Über Helmut Kohl

Dr. Helmut Kohl, geboren am 3. April 1930 in Ludwigshafen am Rhein. Seit 1947 Mitglied der CDU. Von 1959 bis 1976 Mitglied des Landtags von Rheinland-Pfalz. Von 1969 bis 1976 Ministerpräsident des Landes Rheinland-Pfalz. Von 1973 bis 1998 Bundesvorsitzender der CDU. Von 1976 bis 2002 Mitglied des Deutschen Bundestages. Vom 1. Oktober 1982 bis 27. Oktober 1998 Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland. Seit Dezember 1998 Ehrenbürger Europas. Helmut Kohl ist mit 16 Jahren Regierungszeit bis heute der am längsten amtierende deutsche Bundeskanzler. Er war der sechste Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland und der erste Bundeskanzler des wiedervereinten Deutschland. Helmut Kohl lebt mit seiner Frau Dr. Maike Kohl-Richter in seiner Heimatstadt Ludwigshafen.

Impressum

© 2014 eBook Ausgabe by Knaur eBook

Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt

Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München

Originalausgabe November 2007

© 2007 bei Droemer Verlag

Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt

Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München.

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise –

nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, München

Umschlagabbildung: Konrad R. Mueller / Agentur Focus

ISBN 978-3-426-42976-1

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Vorwort

Der dritte Band meiner Erinnerungen beginnt mit der Beschreibung der politisch äußerst schwierigen Phase zwischen dem Fall der Mauer in Berlin im November 1989 und den ersten freien Wahlen in der DDR vom März 1990. Ausführlich gehe ich auf die Gipfeltreffen mit dem amerikanischen Präsidenten George Bush und auf die Verhandlungen in Moskau und im Kaukasus mit dem sowjetischen Präsidenten Michail Gorbatschow ein. Im Mittelpunkt dieser heiklen Gespräche stand die Frage, wie die volle Souveränität des geeinten Deutschlands bei gleichzeitiger Mitgliedschaft im westlichen Verteidigungsbündnis zu erreichen ist.

Ein weiterer Schwerpunkt gilt der Bedeutung des Staatsvertrags über die Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion; detailliert erläutere ich die Hintergründe der Entscheidung, zum 1. Juli 1990 die D-Mark zum Kurs von 1:1 für Löhne, Gehälter, Mieten, Stipendien und Renten in der DDR einzuführen – eine Entscheidung, die viel kritisiert worden ist und aus politischen Gründen doch unumgänglich war (genaugenommen belief sich der gesamtwirtschaftliche Umtauschkurs übrigens auf 1:1,81).

Auch der Vertrag zwischen der Bundesrepublik und der DDR über die Herstellung der Einheit Deutschlands vom 31. August 1990 wird gebührend gewürdigt.

Dass François Mitterrand und ich in den achtziger Jahren ein elementares Vertrauensverhältnis zueinander aufgebaut hatten, entwickelte sich zu einer Schlüsselfunktion in den deutsch-französischen Beziehungen. Das zeigt sich beim Wiedervereinigungsprozess und in den Folgejahren in besonders positiver Weise.

Ein weiteres Thema dieses Bandes ist der schwierige Prozess der Vereinigung der CDU im Westen mit den CDU-Landesverbänden aus den neuen Bundesländern. Darüber hinaus beschreibe ich meine Verantwortung als CDU-Bundesvorsitzender nach dem misslungenen »Putsch« auf dem Bremer Bundesparteitag im September 1989 bis zu den so entscheidenden Bundestagswahlen im Dezember 1990 und im Oktober 1994. Dazu zählen auch die innerparteilichen Reformbemühungen und die Verabschiedung eines neuen CDU-Grundsatzprogramms im Februar 1994.

In der Außenpolitik gilt mein besonderes Augenmerk der Europapolitik, die mit dem Maastricht-Vertrag einen Höhepunkt erfährt. Breiten Raum nimmt die Schilderung der Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und den Vereinigten Staaten ein. Ohne das tatkräftige Zupacken des amerikanischen Präsidenten George Bush wäre die deutsche Wiedervereinigung niemals so schnell zustande gekommen. Wie ich auf internationaler Ebene die Hilfe für die Sowjetunion und für Michail Gorbatschow zu organisieren vermochte, der durch seine Offenheit und Reformfreudigkeit wesentlich zum Gelingen der deutschen Einheit beigetragen hat, ist ein in der Öffentlichkeit bislang wenig bekanntes Kapitel der Geschichte.

Nach dem Zerfall der Sowjetunion und dem Rücktritt Gorbatschows im Dezember 1991 setzte ich stark auf den ersten frei gewählten Präsidenten Russlands, Boris Jelzin. Dem guten persönlichen Verhältnis zwischen uns beiden war es zu verdanken, dass russische Soldaten schließlich schon Ende August 1994 endgültig Deutschland verließen. Dass dieser Abzug gerade angesichts der angespannten Situation in Russland nur gegen einen hohen materiellen Preis zu haben war, erschließt sich in der Schilderung der dramatischen Hintergründe dieser Zeit.

Auch der Nachfolger von George Bush im Amt des Präsidenten der Vereinigten Staaten, Bill Clinton, erwies sich für unser Land als Glücksfall. Der politische Schulterschluss zwischen Deutschland und den USA und unser sehr gutes persönliches Verhältnis begründeten eine enge gedeihliche Zusammenarbeit.

Die Finanz-, Wirtschafts- und Sozialpolitik der Jahre 1990 bis 1994 kreist um Themen, die uns bis heute beschäftigen: die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, die Sicherung des Sozialsystems, die Wettbewerbsfähigkeit des Standorts Deutschland. Die Zukunft und das Wohlergehen unseres Landes und seiner Menschen machten Reformen in diesen Bereichen unumgänglich.

Im Mittelpunkt unseres politischen Handelns der neunziger Jahre stehen die Bemühungen, für die Menschen in den neuen Bundesländern gleiche Lebensbedingungen wie im Westen zu schaffen. Höhen und Tiefen, Enttäuschungen und Erfolge wechselten sich in schneller Folge ab. Wir alle mussten bitter erfahren, dass die Vollendung der deutschen Einheit trotz aller Anstrengungen noch viele Jahre in Anspruch nehmen würde. Vieles ist uns gelungen, aber es steht außer Frage, dass wir unausweichlich auch Fehler machten und dass vieles, was wir auf den Weg brachten, unzulänglich war. Es gibt nun mal kein Handbuch für die Zusammenführung zweier Staaten – zumal zweier so unterschiedlicher Wirtschafts- und Gesellschaftssysteme wie der beiden deutschen. Nach und nach die Wahrheit über die tatsächliche wirtschaftliche und finanzielle Lage der DDR zu erfahren hat uns alle zutiefst erschüttert. Dem Ost-Berliner Regime war es über Jahrzehnte gelungen, die Welt über die wahre Wirtschaftskraft des DDR-Sozialismus hinwegzutäuschen, eine Propagandalüge, auf die viele Menschen hereingefallen sind. Ich auch.

Mit der glücklich gewonnenen Bundestagswahl im Oktober 1994 und meiner fünften Vereidigung als Bundeskanzler schließt dieser dritte Band meiner Erinnerungen.

Für die Arbeit an dem vorliegenden Band habe ich unter anderem zahlreiche Quellen der Jahre 1990 bis 1994 herangezogen, die der Wissenschaft wie der Forschung noch für längere Zeit nicht zugänglich sein werden. Dazu zählen insbesondere die Gesprächsprotokolle der Staats- und Regierungschefs der vier Siegermächte des Zweiten Weltkriegs sowie die Ergebnisprotokolle der Kabinettssitzungen vom Januar 1990 bis Oktober 1994. Berücksichtigt sind ferner die Protokolle des CDU-Präsidiums und des CDU-Bundesvorstands sowie der CDU/CSU-Bundestagsfraktion. Diese vorzügliche Aktengrundlage hat es mir ermöglicht, mich in die Lage von damals zu versetzen und auf dieser Basis zu beschreiben, wie es tatsächlich war. Andere mögen beurteilen, ob es mir auf diese Weise gelungen ist, der Versuchung zu entgehen, die Dinge rückblickend so zu schildern, wie ich sie heute vielleicht gerne sehen würde.

Es war die Absicht, nicht mit großem Abstand aus der Perspektive eines mit klugen neuen Einsichten ausgestatteten Memoirenschreibers von jener Zeit zu berichten, sondern so unmittelbar wie möglich aus der Sicht des handelnden Bundeskanzlers zu erzählen, mit allen Unwägbarkeiten und dem entsetzlichen Zeitdruck, den die Umstände mit sich brachten. Wer aus heutiger Sicht die damals handelnden Politiker für mangelnde Weitsicht und Fehleinschätzungen kritisiert, erhebt sich über die Zeitumstände und macht es sich allzu leicht.

In meinen Erinnerungen geht es mir wesentlich darum, zu erklären, was wir damals warum und wie entschieden haben. Nur wer sich unvoreingenommen in die Verhältnisse der hier beschriebenen Jahre hineinversetzt, ist in der Lage zu beurteilen, warum wir so und nicht anders gehandelt haben. Originalquellen unterstreichen den dokumentarischen Charakter auch des dritten Bandes meiner Erinnerungen. Damit erhalten die Leserinnen und Leser einen unverstellten Einblick in jene schicksalhaften Jahre unserer Republik und in die komplizierten politischen Zusammenhänge dieser Zeit.

Auf Anekdotisches habe ich weitgehend verzichtet und mich statt dessen auf die wichtigsten Ereignisse konzentriert, ohne dabei das eigene, ganz persönliche Empfinden aus dem Auge zu verlieren. Das Ziel war, einen Beitrag zur jüngsten Geschichte zu leisten, der auch als faktenreiches Nachschlagewerk über die politischen Zusammenhänge der ersten Hälfte der neunziger Jahre dienen mag. Ohne die Kenntnis einer Vielzahl bislang öffentlich nicht bekannter Details und politischer Hintergründe sind manche meiner Handlungsweisen nicht in vollem Umfang zu verstehen.

Zu danken habe ich wieder einmal den Mitarbeitern des Archivs für Christlich-Demokratische Politik der Konrad-Adenauer-Stiftung, die mich unter anderem mit Agentur- und Pressematerial aus den besagten Jahren versorgten. Die wichtigsten Werke der berücksichtigten Literatur sind am Ende dieses Bandes verzeichnet. Auch diesmal greife ich bei der Darstellung der historischen Begebenheiten auf mein 1996 erschienenes Buch Ich wollte Deutschlands Einheit zurück; eine wichtige weitere Grundlage ist Horst Teltschiks Werk 329 Tage. Innenansichten der Einigung.

Danken möchte ich auch einigen Wissenschaftlern und Publizisten, die meine Arbeit kritisch begleiteten.

Zudem halfen mir Weggefährten und Freunde mit manchem nützlichen Hinweis.

Mein größter Dank geht wieder an Hannelore, die mir als eines ihrer Vermächtnisse hinterließ, meine Memoiren unbedingt zu schreiben und zu vollenden.

 

Ludwigshafen,

im Oktober 2007

Teil I
Chancen und Risiken

(1990)

1.
Zeitdruck

1989 war das Jahr eines großen Umbruchs in der Geschichte Europas: Die Menschen in der DDR und in anderen Staaten Mittel-, Ost- und Südosteuropas erkämpften sich nach über fünfzig Jahren die Freiheit.

Für uns Deutsche, aber auch für alle unsere Freunde in West und Ost war die Öffnung der Berliner Mauer und des Brandenburger Tores ein zutiefst ersehntes Ereignis. Achtundzwanzig Jahre lang war die Mauer das Symbol der unmenschlichen Teilung Deutschlands und Europas. Jetzt kamen die bewegendsten Bilder des Jahres 1989 von der Grenze, die sich endlich für alle öffnete. Wer könnte die Freude und das Glück in den Gesichtern der Menschen, die wieder zueinanderfanden, je vergessen!

Mich hat der herzliche Empfang tief bewegt, den mir die Menschen in Dresden bereiteten. Wir dürfen stolz sein auf unsere Landsleute, die so mutig für Freiheit, Menschenrechte und Selbstbestimmung eingetreten sind. Ihre Umsicht, ihre Beharrlichkeit und ihr politisches Augenmaß waren beispielhaft.

In diesen Tagen zur Jahreswende 1989/90 spürten wir alle unsere besondere Verantwortung für Deutschland und für eine friedliche Ordnung in Europa. Auch die Gespräche und Verhandlungen, die ich Ende Dezember 1989 mit DDR-Ministerpräsident Hans Modrow in Dresden führte, waren davon geprägt, und wir bemühten uns, dieser Verantwortung gerecht zu werden.

Beim Thema deutsche Einheit war uns oft vorgehalten worden, wir würden Sonntagsreden halten, doch spätestens jetzt erwies es sich, wie lebendig das Bewusstsein für die Einheit unserer Nation in all den Jahrzehnten der Teilung geblieben war. Das galt auch für den Westen des Landes; ich hatte allen Grund, unseren Mitbürgerinnen und Mitbürgern in der Bundesrepublik für die Unterstützung zu danken, die sie unseren Landsleuten aus der DDR erwiesen. Besonders glücklich war ich darüber, dass die politischen Häftlinge in der DDR noch vor dem Weihnachtsfest 1989 endlich in die ersehnte Freiheit entlassen wurden.

Das Jahr 1989 hatte uns die Einheit unseres Vaterlandes ein gutes Stück näher gebracht. Aber ohne die grundlegenden Veränderungen in der Sowjetunion, in Ungarn und in Polen wäre die friedliche Revolution in der DDR nicht möglich gewesen. So gehören zu den unvergesslichen Bildern des Jahres 1989 auch jene, die zeigen, wie Ungarn auf dem Weg zur Demokratie den Eisernen Vorhang zerschnitten und beseitigt hat. Dadurch wurde Zehntausenden unserer Landsleute der Weg in die Freiheit geöffnet und damit der erste Stein aus der Mauer geschlagen. Und in Polen war mit Tadeusz Mazowiecki ein engagierter Christ zum Ministerpräsidenten gewählt worden, der sich zur Aussöhnung zwischen dem deutschen und dem polnischen Volk bekannte.

All diese Entwicklungen waren auch ein Ergebnis unserer Politik. Unser beharrliches Eintreten für die Selbstbestimmung aller Deutschen und aller Europäer hatte dazu beigetragen, das Bewusstsein der Völker zu verändern.

Im »Zehn-Punkte-Programm zur deutschen Einheit« hatte ich den Weg aufgezeigt, wie das deutsche Volk in freier Selbstbestimmung seine Einheit wiedererlangen könne. Die Zulassung unabhängiger Parteien und freie Wahlen in der DDR waren wichtige Schritte auf diesem Weg. Einstweilen taten wir alles, was in unseren Kräften stand, um die wirtschaftliche Lage für die Menschen in der DDR rasch und spürbar zu verbessern. Sie sollten sich in ihrer Heimat wohlfühlen können.

Ohne die europäische Einigung war die deutsche Einheit jedoch nicht denkbar, beide mussten zusammen erstrebt werden. Die Europäische Gemeinschaft durfte nicht an der Elbe enden.

Anfang 1990 hatten wir endlich allen Grund zur Hoffnung auf ein Ende des Ost-West-Konflikts. Die Chancen für zügige Fortschritte bei der Abrüstung und Rüstungskontrolle waren günstiger denn je. Konkret erwartete ich die Ächtung der chemischen Waffen und einen ersten Vertrag über die Reduzierung der konventionellen Waffen.

Aber das Jahr 1989 war nicht nur außenpolitisch, sondern auch im Inneren überaus erfolgreich. Wir in der Bundesrepublik Deutschland genossen wirtschaftliches Wohlergehen wie nie zuvor. Die wirtschaftlichen Aussichten für die Zukunft waren günstig. Die Zahl der Beschäftigten stieg, aber wir hatten bei der Überwindung der Arbeitslosigkeit noch viel zu tun.

Das vor uns liegende Jahrzehnt konnte für unser Volk das glücklichste dieses Jahrhunderts werden: Es bot die Chance auf ein freies und geeintes Deutschland in einem freien und geeinten Europa. Unser Beitrag dazu war mit entscheidend.

* * *

In bezug auf die wirtschaftliche Lage in der Bundesrepublik waren sich die nationalen und internationalen Kommentatoren zu Beginn des Jahres 1990 in ihrem positiven, teilweise fast schon euphorischen Urteil einig wie selten zuvor. Auch zu Beginn des achten Jahres unserer Regierung hielt der Aufschwung an und war die Wachstumsdynamik der deutschen Wirtschaft ungebrochen. Mehr noch: Mit einer Wachstumsrate von 4 Prozent für 1989 hatten wir das beste Ergebnis der achtziger Jahre erreicht, und im internationalen Vergleich lagen wir damit inzwischen mit an der Spitze. Das führte auch auf dem Arbeitsmarkt zu handfesten positiven Veränderungen: Die Zahl der Arbeitslosen ging 1989 um über 200 000 zurück. Gleichzeitig stieg die Zahl der Arbeitsplätze um rund 350000 – und das angesichts von über 700 000 neuen Mitbürgern, die 1989 als Aus- und Übersiedler zu uns gekommen waren.

Die Menschen in der DDR erwarteten rasche und grundlegende Veränderungen. Sie wollten spürbare Verbesserungen in allen Lebensbereichen. Mit ihrer friedlichen Revolution hatten sie das Tor zu Freiheit und Demokratie aufgestoßen, und nun warteten sie ungeduldig darauf, dass dieser Prozess weiterging.

Täglich kehrten über tausend Menschen der DDR den Rücken. Das war ein Aderlass, der die Gesundung der Wirtschaft in der DDR mit jedem Tag weiter erschwerte. Wer nicht wollte, dass immer mehr Menschen die DDR verließen, der musste jetzt dazu beitragen, ihnen eine überzeugende Perspektive für ihre politische und wirtschaftliche Zukunft zu geben.

Es konnte und durfte nicht das Ziel unserer Politik sein, dass möglichst viele Menschen aus der DDR zu uns in die Bundesrepublik kamen. Mir ging es darum, dass sie dort, in ihrer Heimat, eine Perspektive für ihr künftiges Leben gewinnen konnten. Ein wirtschaftlicher Neuanfang in der DDR konnte nur Erfolg haben, wenn die Modrow-Regierung das Land rasch für westliche Investitionen öffnete, wenn sie marktwirtschaftliche Bedingungen schuf und privatwirtschaftliche Betätigung ermöglichte. Wer wie die SED im Januar 1990 die Priorität darin sah, einen Staatssicherheitsdienst in neuem Gewande zu bilden, setzte sich über die Interessen und Hoffnungen der Menschen hinweg. Der Prozess der Demokratisierung mit dem Ziel freier Wahlen musste jetzt ohne durchsichtige taktische Manöver und ohne Behinderungen fortgeführt werden. Dazu gehörte auch, dass das neue Wahlrecht die Zustimmung der Opposition fand. Es kam entscheidend darauf an, dass alle politischen Parteien gleiche Chancen bei ihrer Betätigung für den Wahlkampf erhielten, und dazu gehörte unter anderem eine uneingeschränkte Präsenz der Opposition im Fernsehen, im Rundfunk und in den Zeitungen der DDR.

Ich stand zu Gesprächen bereit – auch, um einen Vertrag über Zusammenarbeit und gute Nachbarschaft auszuhandeln, der die Grundlage einer »Vertragsgemeinschaft« zwischen Bundesrepublik und DDR bilden könnte, wie sie Hans Modrow in seiner Regierungserklärung vom 17. November 1989 vorgeschlagen hatte. Aber eine solche Vertragsgemeinschaft musste in der DDR die Zustimmung aller politischen Kräfte, einschließlich der Opposition, finden.

Von zentraler Bedeutung bei all diesen Prozessen war unser Verhältnis zur Sowjetunion, die sich damals in einer entscheidenden Phase der Umsetzung der Reformen befand. Ich setzte mich persönlich dafür ein, die von Generalsekretär Michail Gorbatschow und mir am 13. Juni 1989 unterzeichnete Gemeinsame Erklärung und alle anderen Verabredungen voll in die Tat umzusetzen und insbesondere die wirtschaftlichen Beziehungen weiter auszubauen. Mir lag zudem sehr daran, die guten politischen und persönlichen Beziehungen zu vertiefen, für die Gorbatschow und ich im Oktober 1988 in Moskau und im Juni 1989 in Bonn den Grund gelegt hatten.

* * *

Unser alter Kontinent Europa war wieder da – mit neuer Kraft und neuem Selbstbewusstsein! Die düsteren Prognosen aus den siebziger und frühen achtziger Jahren über eine drohende Eurosklerose hatten wir widerlegt. Jetzt stand Europa im Zentrum des weltpolitischen Geschehens – Subjekt und nicht Objekt der Weltpolitik.

Zweihundert Jahre nach der Französischen Revolution ereignete sich in Europa eine geschichtliche Wende: Die Völker nahmen ihr Schicksal wieder selbst in die Hand, und wie 1789 in der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte vorgezeichnet, standen dabei die Forderungen nach Achtung von Menschenrechten und Menschenwürde, nach Freiheit und freier Selbstbestimmung im Mittelpunkt. Und in einem bewundernswerten Gegensatz zu 1789 geschah dies in machtvollen, aber gewaltlosen und friedlichen Bürgerrechtsbewegungen und Demonstrationen.

Zum Jahreswechsel 1989/90 überschlugen sich die Ereignisse:

Kurzum: Die von Stalin den Völkern Europas aufgezwungene Nachkriegsordnung zerfiel. Etwas Neues trat hervor. Die Europäer standen in historischer Verantwortung, die Entwicklung zum Guten zu wenden. Wer an dieser wahrhaft geschichtlichen Wende dem Status quo nachtrauerte oder ihn sogar mit Stabilität gleichsetzte, verkannte die Lehre des Jahres 1989: Nichts destabilisierte mehr als verweigerte Reformen.

Einheit und Freiheit Deutschlands in freier Selbstbestimmung, das war unser Ziel, so wie es bereits 1949 unser Grundgesetz verkündet hatte. Schon damals wurde der Weg zur deutschen Einheit verknüpft mit dem Bekenntnis zur europäischen Einigung und mit der Verpflichtung, dem Frieden in der Welt zu dienen. An dieser Zielsetzung hatte sich nicht ein Jota geändert. Sie entsprach den Wünschen und Hoffnungen der überwältigenden Mehrheit aller Deutschen.

Auch DDR-Ministerpräsident Hans Modrow bekannte sich mittlerweile eindeutig zu dem Ziel, die staatliche Einheit Deutschlands auf der Grundlage freier Selbstbestimmung herzustellen. Darüber, welche Schritte auf dem Weg zur Einheit im einzelnen einzuschlagen waren, konnten wir uns dann nach dem 18. März 1990 mit einer aus freien Wahlen hervorgegangenen Regierung in der DDR verständigen. Wir waren darauf vorbereitet, unverzüglich nach der Wahl die Gespräche aufzunehmen.

Entscheidend war die freie Selbstbestimmung: Wir Deutschen in der Bundesrepublik Deutschland würden jede Entscheidung der Deutschen in der DDR – wie immer sie ausfiele – respektieren. Ich hatte aber keinen Zweifel, wie sie lauten würde.

Wir wollten keine deutschen Alleingänge oder nationalistischen Sonderwege. Das Konzept einer Neutralität Deutschlands lehnte ich deshalb strikt ab. Zudem widersprach ein solcher Vorschlag der Logik des gesamteuropäischen Einigungsprozesses. Ein vereintes Deutschland im Herzen Europas durfte keine Sonderstellung einnehmen und damit isoliert werden. Das war die Lehre aus der Geschichte.

Eine Lösung konnte nur im Rahmen des KSZE-Prozesses und durch konsequente Fortführung von Abrüstungs- und Rüstungskontrollverhandlungen erreicht werden. Damit berücksichtigten wir auch am besten die Sicherheitsinteressen aller Beteiligten in West und Ost, nicht zuletzt die der Sowjetunion. Im Gegenzug setzten wir darauf, dass auch sie das Recht des deutschen Volkes auf freie Selbstbestimmung achteten und den Prozess der Vereinigung erleichterten. Deshalb begrüßte ich es sehr, dass sich Michail Gorbatschow zu einer verantwortlichen Regelung der deutschen Frage bekannte.

Ich kann es nicht oft genug wiederholen: Der Weg zur deutschen Einheit vollzog sich nicht mechanisch nach Fahrplan und Stoppuhr. Diesen Ablauf einem geplanten Konzept zu unterwerfen oder ihn gar zu forcieren wäre ein in höchstem Grade unhistorischer und unverantwortlicher Versuch gewesen, der nur scheitern konnte. Allerdings galt auch: Uns allen standen die Bilder von Demonstrationen vieler Zehntausender, ja Hunderttausender unserer Landsleute in der DDR vor Augen. Die Rufe »Wir sind das Volk!« und »Wir sind ein Volk!« waren ihr Programm. Sie verfochten es mit immer größerer Ungeduld. Der Zeitdruck war unglaublich. Deshalb wäre es genauso unhistorisch gewesen zu versuchen, sich ihren Interessen und Wünschen zu widersetzen.

Notwendig war vielmehr, das ständige Gespräch mit der Bevölkerung, mit den Oppositionsgruppen und mit den neuen Parteien zu führen. Gefragt waren zukunftsweisende Signale, die von Vernunft und Reformbereitschaft zeugten, und dazu zählten die Einleitung freier Wahlen ebenso wie greifbare Verbesserungen im wirtschaftlichen und sozialen Bereich. Wir waren bereit, hierzu Hilfen in neuen Größenordnungen zu leisten.

Die Alternative zu unserem Kurs der Vernunft, des Dialogs und der spürbaren Veränderung war mit warnenden Lettern an die Wand geschrieben: Krisen konnten die erste friedliche Revolution auf deutschem Boden überschatten, und der fortgesetzte Massenexodus würde, je länger er andauerte, die Chancen wirtschaftlicher Erholung schwinden lassen. Einzige Garantie der Stabilität war deshalb eine energische, vorwärtsgerichtete Reformpolitik.

Im Januar 1990 richtete ich auch an unsere westlichen Partner die herzliche Bitte, bei dieser Stabilisierung zu helfen. Dazu gehörten vor allem die Einbeziehung der DDR in Hilfsmaßnahmen der Europäischen Union und der Ausbau des besonderen Status, den die DDR bereits seit den Römischen Verträgen im Verhältnis zur Europäischen Gemeinschaft genoss. Jacques Delors, der Präsident der EG-Kommission, engagierte sich hier ganz besonders, und ich bin ihm sehr dankbar dafür.

Wir Deutschen waren uns zu diesem Zeitpunkt sehr wohl bewusst: Selbst im Rahmen eines sich enger zusammenschließenden Europas weckte ein wieder zusammenwachsendes Deutschland bei einigen in Ost und West Bedenken, ja Befürchtungen. Historische Belastungen mischten sich mit der Sorge um die eigene künftige Position. Jeder verantwortliche deutsche Politiker war gut beraten, diese Motive sehr ernst zu nehmen und sie nach bestem Vermögen zu entkräften.

Die Bundesrepublik Deutschland hatte sich über vierzig Jahre lang nicht nur als stabiler freiheitlich-demokratischer Rechtsstaat erwiesen, sie hatte sich auch als berechenbarer und verlässlicher Freund und Verbündeter bewährt und von Anfang an ihr nationales Anliegen – die Freiheit und die Einheit aller Deutschen – in den größeren europäischen Rahmen gestellt. Sie hatte sich außerdem als entschiedener Vorkämpfer der europäischen Einigung sowie des KSZE-Prozesses erwiesen, und nicht zuletzt war und blieb sie Anwalt von Abrüstung und Rüstungskontrolle. Bereits in meiner ersten Regierungserklärung 1982 hatte ich das Ziel einer Welt mit weniger Waffen beschworen. 1990 kamen wir diesem Ziel wesentlich näher.

Diese Bundesrepublik war ein vertrauenswürdiger Partner beim Bau einer europäischen Friedensordnung. In dieser Friedensordnung musste für alle Europäer, und darin eingeschlossen für alle Deutschen, die große Vision Wahrheit werden, die die amerikanische Unabhängigkeitserklärung vor über zweihundert Jahren entworfen hatte: »Leben, Freiheit und Streben nach Glück«. Dieses Europa war und ist die Zukunft aller Deutschen.

2.
Aufatmen

Nach meinem Treffen mit dem sowjetischen Generalsekretär am 10. und 11. Februar 1990 in Moskau konnte ich dem Deutschen Bundestag berichten: Noch nie, seit unser Land geteilt, noch nie, seit unser Grundgesetz geschrieben wurde, waren wir unserem Ziel, die Einheit und Freiheit Deutschlands in freier Selbstbestimmung zu vollenden, so nahe gekommen wie jetzt. In dem Gespräch mit Gorbatschow wurden die Weichen gestellt. Das Ergebnis dieser entscheidenden Begegnung lautete:

»M. S. Gorbatschow stellte fest – und der Kanzler stimmte ihm zu –, dass es jetzt zwischen der UdSSR, der BRD und der DDR keine Meinungsverschiedenheiten darüber gibt, dass die Deutschen selbst die Frage der Einheit der deutschen Nation lösen und selbst ihre Wahl treffen müssen, in welchen staatlichen Formen, in welchen Fristen, mit welchem Tempo und unter welchen Bedingungen sie diese Einheit verwirklichen werden.«

Wer fühlte sich durch diese Worte in seinen Gedanken und Gefühlen nicht unmittelbar angesprochen? Dieses großartige Ergebnis machte deutlich, was wir immer gesagt hatten: Wir sind ein Volk. Nun war es an uns, die zum Greifen nahe Chance umsichtig und entschlossen wahrzunehmen. Wir wussten, dass jetzt nicht Überschwang der Gefühle, sondern Einigkeit und Augenmaß geboten waren, und wir waren uns bewusst, dass viele zu dieser geschichtlichen Wende beigetragen hatten, in erster Linie unsere Freunde und Verbündeten im Westen. Sie hatten zu uns gehalten in den gefahrvollen Zeiten, als Blockade, Mauer und Stacheldraht die Teilung unseres Landes und seiner alten Hauptstadt verewigen sollten. Sie hatten zu uns gehalten in Zeiten des Kleinmuts, als selbst hierzulande mancher das Grundgesetz ändern wollte, weil es angeblich eine »Lebenslüge dieser Republik« festschrieb, wie Willy Brandt noch Mitte der achtziger Jahre meinte. Sie hielten zu uns in konfliktträchtigen Zeiten, als Raketenrüstung im Osten und die Antwort des Westens darauf auch auf die deutschen Dinge zurückzuwirken drohten. Sie hatten sich im Deutschland-Vertrag zum Ziel der deutschen Einheit in freiheitlich-demokratischer Form bekannt. Und sie hatten beim Eintreten in die europäische Integration – in jenem Zusatzprotokoll zu den Römischen Verträgen – unseren Beziehungen zur DDR eine Sonderstellung eingeräumt. Jetzt konnten wir darauf aufbauen. Dafür waren und bleiben wir dankbar.

Generalsekretär Gorbatschow hatte nicht nur eine tiefgreifende Umgestaltung seines Landes in die Wege geleitet, sondern auch der sowjetischen Außenpolitik eine neue Richtung, neue Dynamik und neues Denken vorgegeben – bis hin zu der Überlegung eines Beitritts der Sowjetunion zur Nato. Jetzt veränderte dieses »Neue Denken« auch die sowjetische Deutschlandpolitik und erlaubte eine konstruktive und zukunftsträchtige Lösung der deutschen Frage.

Ich war zutiefst davon überzeugt, dass diese Lösung den wohlverstandenen Interessen Moskaus entsprach, auch den sowjetischen Sicherheitsinteressen. In unserer Chance zur Einheit lag für die Sowjetunion die Chance zur langfristigen Partnerschaft mit einem politisch stabilen und wirtschaftlich leistungsfähigen Land in der Mitte Europas sowie – und ich meine das mit Bedacht – auch die Chance, dass das deutsche Volk und die Völker der Sowjetunion endgültig die Schatten der Vergangenheit hinter sich ließen und einander die Hand reichten. Es gab so viele Menschen in der Sowjetunion, deren Bild von Deutschland und den Deutschen durch persönlich erlebtes Leid in der Vergangenheit geprägt war. Gerade ihnen galt mein Wort: »Von deutschem Boden soll künftig nur Frieden ausgehen!«

Die Polen und Ungarn, die Tschechen und Slowaken waren mit revolutionären Reformen in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft vorangegangen. Ohne ihr Beispiel wären die Entwicklungen in der DDR nicht möglich gewesen.

Ich war mir dessen sehr bewusst, und ich war dankbar dafür. Auch deshalb hatte ich bei meinem Besuch in der Republik Polen im November 1989 betont: »1980, auf der Danziger Lenin-Werft, ging es um Ziele, die auch die Deutschen in der DDR betreffen: um Freiheit, um Menschenwürde, um Menschenrechte, um Selbstbestimmung.« Und im Dezember 1989 in Ungarn stellte ich dankbar fest: »Ungarn hat den ersten Stein aus der Mauer geschlagen.«

Um so wichtiger war mir eine Zusage, die ich jetzt erneuerte: Bei aller Freude über die Chance der deutschen Einheit, bei aller akuten Sorge um die Entwicklung der Lage in der DDR würden wir unsere Nachbarn nicht vergessen – ihnen galt unsere unverminderte Solidarität.

Vor allem aber hatten natürlich unsere Landsleute in der DDR, die Menschen in Berlin, in Leipzig, in Dresden, in Halle, in Chemnitz und in Plauen, mit ihren Parolen »Wir sind das Volk!« und »Wir sind ein Volk!« mehr als alle anderen getan, um diese Chance für Deutschland zu erringen. Gerade das Geschehen der letzten sechs Monate in der DDR hatte bei der sowjetischen Führung die Einsicht reifen lassen, dass Richtung und Tempo der Entwicklung weder in der DDR noch in anderen Reformstaaten Mittel- und Osteuropas am Grünen Tisch bestimmt werden konnten. Vielmehr hatten die Menschen ihr Schicksal in die eigenen Hände genommen.

Michail Gorbatschow und ich waren uns einig, dass den am 18. März 1990 anstehenden Volkskammerwahlen eine Schlüsselbedeutung zukam. Die Wahlprogramme der Mehrheit aller Parteien und Gruppierungen in der DDR ließen nur einen Schluss zu: dass es als Ergebnis dieser Wahl nicht nur eine demokratisch legitimierte und handlungsfähige Regierung geben würde, sondern eine Regierung mit dem klaren Ziel: »Einheit sobald wie möglich!« Davon war ich fest überzeugt, und der Generalsekretär widersprach mir nicht.

Von Anfang an hatte ich darauf gesetzt, die Trennung des eigenen Landes zusammen mit der Teilung Europas insgesamt zu überwinden. Die Architektur des künftigen Deutschlands musste in die Architektur des künftigen Europas passen. Wir mussten neue, übergreifende Sicherheitsstrukturen aufbauen. Das hieß für uns Deutsche: Wir achten die berechtigten Sicherheitsinteressen aller europäischen Länder, gerade auch der Sowjetunion, und wir respektieren die Sicherheitsbedürfnisse und die Gefühle aller Europäer, insonderheit unserer Nachbarn.

Das war der Rahmen, den wir uns selbst gesetzt hatten. Die wohl schwierigste Frage aber, über die Generalsekretär Gorbatschow und ich sowie Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher und sein Amtskollege Eduard Schewardnadse zu sprechen hatten, war die Zukunft der Bündnisse. Ich hielt mit meiner Überzeugung nicht hinter dem Berg, dass auch bei vernünftiger Würdigung der Sicherheitsinteressen der Sowjetunion ein künftiges geeintes Deutschland nicht neutralisiert oder demilitarisiert werden dürfe, sondern ins westliche Bündnis eingebunden bleiben sollte. Die Geschichte gerade des zwanzigsten Jahrhunderts zeigte: Nichts war der Stabilität Europas abträglicher als ein zwischen zwei Welten, zwischen West und Ost, schwankendes Deutschland. Umgekehrt galt: Deutschland im festen Bündnis mit freiheitlichen Demokratien und in zunehmender politischer und wirtschaftlicher Integration in der Europäischen Gemeinschaft war der unerlässliche Stabilitätsfaktor, den Europa in seiner Mitte brauchte. Ich stellte in Moskau klar, dass unser Bündnis sich entsprechend seiner Zielsetzung verstärkt auf seine politische Rolle konzentrieren müsse und dass keine Einheiten und Einrichtungen des westlichen Bündnisses auf das Gebiet der DDR vorgeschoben würden. Ín dieser Zielsetzung wusste ich mich mit dem amerikanischen Präsidenten im Einklang.

Michail Gorbatschow und ich waren uns einig, dass jeder Anschein vermieden werden musste, als würden Deutsche und Sowjets für andere Europäer sprechen – und schon gar nicht hinter deren Rücken oder über deren Köpfe hinweg. Tragfähige Lösungen waren im Gespräch mit allen Beteiligten zu finden.

Zu den berechtigten Interessen, die wir Deutschen achten wollten, gehörten selbstverständlich auch die besonderen Rechte und Verpflichtungen der Sowjetunion, der USA, Großbritanniens und Frankreichs für Berlin und Deutschland als Ganzes. Nach den Beratungen der Außenminister der vier Siegermächte in Ottawa zeichnete sich Mitte Februar 1990 folgender Weg ab:

Nach den Wahlen am 18. März würden die Bundesregierung und eine demokratisch legitimierte Regierung der DDR über den Weg der Deutschen zu ihrer Einheit sprechen. Wir Deutschen würden uns dann mit den Amerikanern, den Briten, den Franzosen und den Sowjets über die äußeren Aspekte der Schaffung der deutschen Einheit verständigen, einschließlich der Sicherheitsfragen der Nachbarstaaten.

Vertrauen war eine wichtige Voraussetzung für den Erfolg dieser sensiblen Gespräche, auch in Moskau. Da war es gut, dass Gorbatschow und ich an das vertraute persönliche Verhältnis anknüpfen konnten, das wir bei unseren Begegnungen im Oktober 1988 und im Juni 1989 aufgebaut hatten, an deren Ende die Gemeinsame Erklärung stand, die ausdrücklich klarmachte, jeder Staat – also auch die DDR und ein vereinigtes Deutschland – habe das Recht, das eigene politische und soziale System frei zu wählen.

* * *

Vor dem Treffen mit Ministerpräsident Hans Modrow und seiner großen Delegation am 13. Februar 1990 hatten die politischen Parteien und Gruppierungen in der DDR – vertreten durch den sogenannten Runden Tisch – der Bundesregierung ein Positionspapier übermittelt, in dem es hieß, »die Lage« sei »durch rasche Destabilisierung gekennzeichnet«. Einen »Solidaritätsbeitrag« der Bundesregierung in Höhe von 15 Milliarden D-Mark wünschte sich der Runde Tisch noch vor den März-Wahlen. Das stieß bei mir auf scharfe Ablehnung.

Ich hatte eine ganz andere, sehr viel grundsätzlichere Idee. Mit Geld allein war den Problemen nicht beizukommen, die sich insbesondere durch den anhaltend großen Zustrom von Übersiedlern manifestierten. Seit Jahresbeginn waren es nochmals rund 85 000 mehr geworden. Zwar erklärte ich auch in den Gesprächen mit Hans Modrow und seiner Delegation wieder unsere Bereitschaft, kurzfristig dort zu helfen, wo dies insbesondere aus humanitären Gründen dringlich und notwendig war, und im Nachtragshaushalt 1990 waren auch bereits Mittel für entsprechende Unterstützungsmaßnahmen eingestellt: unter anderem für den Reisedevisenfonds, das ERP-Kreditprogramm vor allem für kleine und mittlere Unternehmen, für Schulung und Technologietransfer sowie Umweltschutz und Verbesserung der Verkehrswege. Allein für medizinische Geräte und Ausrüstung stellten wir rund 400 Millionen DM bereit. Alles in allem ging es um einen Betrag von über 5 Milliarden DM für die DDR. Eingeleitet wurde ferner ein umfassendes Programm technischer Zusammenarbeit und konkreter Hilfe durch die Post. Die Postpauschale wurde auf 300 Millionen DM erhöht und voll und ganz für den Ausbau des Telefonnetzes der DDR verwendet.

All dies ließ klar erkennen: Wir waren bereit, uns für die Menschen in der DDR zu engagieren, damit sie in ihrer Heimat bleiben und den wirtschaftlichen Neubeginn dort mitgestalten konnten. Aber wir gingen noch einen entscheidenden Schritt weiter: Ich unterbreitete Ministerpräsident Hans Modrow das Angebot, sofortige Verhandlungen zur Schaffung einer Währungsunion und Wirtschaftsgemeinschaft aufzunehmen.

Dieses Angebot bestand im Kern aus zwei Teilen:

Beide Elemente standen für die Bundesregierung in einem unauflösbaren Zusammenhang. Politisch und ökonomisch bedeutete dieses Angebot, dass wir bereit waren, auf ungewöhnliche Ereignisse und Herausforderungen in der DDR unsererseits eine ungewöhnliche Antwort zu geben. In einer politisch und wirtschaftlich normalen Situation, die uns Zeit für schrittweise Reformen gelassen hätte, wäre der Weg sicher ein anderer gewesen – die gemeinsame Währung wäre dann erst zu einem späteren Zeitpunkt eingeführt worden. Kritische Stimmen von Wirtschaftsexperten und aus dem Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung mahnten uns, die Dinge nicht zu überstürzen, und ihre Argumente wurden von der Bundesregierung sehr ernst genommen. Doch die politischen und gesellschaftlichen Umwälzungen hatten zu einer dramatischen Verkürzung des politischen Zeithorizonts geführt, so dass die Voraussetzungen für wie auch immer definierte Stufenpläne entfallen waren.

In einer solchen Situation ging es um mehr als Ökonomie. Es galt, ein klares, unmissverständliches Signal der Hoffnung und der Ermutigung für die Menschen in der DDR zu setzen. Deswegen, und nur deswegen, trafen wir die in der Tat historisch zu nennende Entscheidung, der DDR jetzt das Angebot einer Währungsunion und Wirtschaftsgemeinschaft zu machen – ein Angebot, für das wohl keine historische Parallele existiert.

Wichtig war, politisch und wirtschaftlich Kurs zu halten. Das bedeutete in diesem Februar 1990 unter anderem ganz konkret, dass wir eine umfassende Bestandsaufnahme finanzieller Daten und Fakten vornehmen mussten, damit die bewährte Stabilitätspolitik der Deutschen Bundesbank auch für das gemeinsame Währungsgebiet gesichert werden konnte. Auch die Orientierung an der sozialen Marktwirtschaft war nicht nur für die Bundesrepublik, sondern für Deutschland insgesamt von zentraler Bedeutung. Wenn wir in diesen Zeiten an den Grundprinzipien festhielten, die die Bundesrepublik Deutschland vom ökonomischen Nullpunkt nach dem Zweiten Weltkrieg in die Spitzengruppe der Industrieländer der Welt gebracht hatten, dann konnten wir auch die Herausforderungen der neunziger Jahre bestehen.

3.
Absichern

Am 15. Februar 1990 flog ich nach Paris, um Präsident François Mitterrand von meinem Treffen mit Michail Gorbatschow zu berichten. Die französische Seite charakterisierte diesen Besuch später als »Stunde der Wahrheit«.

Es war eine sehr ernste Unterredung. Mitterrand wollte nicht den Eindruck erwecken, ein schlechter Freund zu sein, aber er wies noch einmal auf die Befürchtungen hin, die die Wiedervereinigung Deutschlands in Frankreich wachrufe. Trotz solcher Vorbehalte bezog er sich bei dem Mitspracherecht der Vier Mächte nur auf die internationalen Konsequenzen der Einheit, nicht auf die inneren Angelegenheiten. Hauptproblem zwischen uns beiden war und blieb die Frage, ob die endgültige Anerkennung der Oder-Neiße-Linie noch vor der Einheit erfolgen sollte oder danach. Ich reagierte spürbar verärgert, weil Mitterrand bei seinem altbekannten Standpunkt blieb, und unterstrich erneut, dass die Bestätigung der Grenze mit der Wiedervereinigung einhergehen müsse und keine Vorleistung sein dürfe. Mitterrand hingegen betonte, dass es politisch nützlich sei, die Grenze vor der Wiedervereinigung zu bestätigen. Der Dissens in dieser Frage blieb.

* * *

Am 24. und 25. Februar 1990 reiste ich zu einem Treffen mit Präsident George Bush auf dessen Landsitz Camp David bei Washington. Die deutsch-amerikanischen Beziehungen, die enge Freundschaft und vertrauensvolle Partnerschaft mit den Vereinigten Staaten von Amerika waren eine entscheidende Vorbedingung dafür, dass der Tag der Einheit für uns Deutsche jetzt unmittelbar bevorstand, und natürlich standen die Zukunft der transatlantischen Beziehungen und – darin eingebettet – der Weg der Deutschen zur staatlichen Einheit im Mittelpunkt unserer Gespräche. Dabei bekräftigten wir beide, dass ein wiedervereintes Deutschland in vollem Umfang Mitglied der Nato bleiben müsse und amerikanische Soldaten weiterhin in Deutschland stationiert sein sollten. Für das Gebiet der DDR sollte ein Sonderstatus gelten, wonach sowjetische Truppen sich dort vorerst aufhalten könnten, bis in Verhandlungen über ihren weiteren Verbleib entschieden worden wäre. Klar war: Auch in einem geeinten Deutschland war der Sicherheitsverbund zwischen Nordamerika und Europa für uns Deutsche von existentieller Bedeutung.

Zum Abschluss meines Amerikabesuchs unterstrich ich noch einmal, dass wir den Weg zur deutschen Einheit mit Vernunft und Augenmaß beschreiten wollten. Einerseits führten wir intensive Gespräche mit der DDR, besonders über die Währungsunion und eine Wirtschafts- und Sozialgemeinschaft; andererseits achteten wir auf die unauflösliche Verbindung mit der transatlantischen Partnerschaft, der europäischen Einigung und der umfassenden Zusammenarbeit zwischen West und Ost. Wieder einmal ging ich auch auf die Ängste einiger unserer europäischen Nachbarn ein, von deutscher Seite könnte die Frage der Einheit der Nation mit dem Wunsch verbunden werden, bestehende Grenzen zu verschieben. Im Hintergrund solcher Befürchtungen stand natürlich insbesondere die Sorge um die territoriale Integrität Polens, und fast schon gebetsmühlenartig wiederholte ich, was ich damals bei jeder Gelegenheit – sei es auf internationalem Parkett oder im Deutschen Bundestag, sei es in Radio und Fernsehen oder in Zeitungsinterviews – beinahe täglich annähernd wortgleich versicherte: Wir wollten die Westgrenze Polens nicht in Frage stellen. Allerdings rückte ich auch keinen Millimeter von meinem Standpunkt ab, dass die Grenzfrage endgültig erst durch eine frei gewählte gesamtdeutsche Regierung und ein frei gewähltes gesamtdeutsches Parlament geregelt werden könne.

Neuen Zündstoff erhielt die Diskussion dadurch, dass der polnische Ministerpräsident Tadeusz Mazowiecki gegenüber den Vier Mächten sowohl die endgültige Anerkennung der Oder-Neiße-Linie noch vor der Wiedervereinigung als auch eine Teilnahme an den Zwei-plus-Vier-Verhandlungen forderte. Am 23. Februar hatte ich deshalb mit ihm telefoniert und seine Sorgen über die Grenzfrage zu zerstreuen versucht. Doch es schien mir nicht zu gelingen. Zugleich nahm die innenpolitische Debatte hinsichtlich der polnischen Westgrenze an Härte derart zu, dass man den Eindruck gewinnen konnte, sie wäre wichtiger als die deutsche Einheit.

Eine weitere, sehr heftig geführte Diskussion entwickelte sich darüber, wie der Beitritt der DDR zur Bundesrepublik erfolgen könnte, ohne den Eindruck eines Anschlusses entstehen zu lassen. Ich trat von Anfang an für die Lösung nach Artikel 23 des Grundgesetzes ein. Hans-Dietrich Genscher dagegen plädierte für eine Vereinbarung der beiden frei gewählten Regierungen nach der Volkskammerwahl am 18. März. Auch Bundespräsident Richard von Weizsäcker hatte Bedenken, den Weg über Artikel 23 des Grundgesetzes als den allein möglichen anzusehen, während die Unionsparteien meiner Linie folgten.

4.
Bündnis

Die so kurzfristig für den 18. März 1990 angesetzten Wahlen in der DDR brachten uns alle unter großen Zeitdruck. Die Frage, wer der künftige Partner der CDU in der DDR sein würde, plagte mich schon, seit die Wahlen in Aussicht standen. Ein schlichtes Zusammengehen mit der Blockpartei CDU hielt ich für außerordentlich problematisch. Die Ost-CDU hatte über Jahrzehnte die SED-Diktatur willig mitgetragen und war folglich mitverantwortlich sowohl für die verheerenden wirtschafts-, finanz- und sozialpolitischen Entscheidungen der DDR-Regierung als auch für die massiven Menschenrechtsverletzungen und Einschränkungen der Meinungs- und Reisefreiheit in der DDR. Abgesehen davon hatten Vertreter der Ost-CDU jahrelang jegliche Kontakte zu uns abgelehnt, so wie umgekehrt auch mir jegliches Interesse an politischen Beziehungen zu ihnen fehlte. Sollten wir nun gemeinsame Sache machen, wie es Wolfgang Schäuble und Walter Wallmann forderten?