Helmut Kohl
Erinnerungen
1982 – 1990
Knaur e-books
Dr. Helmut Kohl, geboren am 3. April 1930 in Ludwigshafen am Rhein. Seit 1947 Mitglied der CDU. Von 1959 bis 1976 Mitglied des Landtags von Rheinland-Pfalz. Von 1969 bis 1976 Ministerpräsident des Landes Rheinland-Pfalz. Von 1973 bis 1998 Bundesvorsitzender der CDU. Von 1976 bis 2002 Mitglied des Deutschen Bundestages. Vom 1. Oktober 1982 bis 27. Oktober 1998 Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland. Seit Dezember 1998 Ehrenbürger Europas. Helmut Kohl ist mit 16 Jahren Regierungszeit bis heute der am längsten amtierende deutsche Bundeskanzler. Er war der sechste Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland und der erste Bundeskanzler des wiedervereinten Deutschland. Helmut Kohl lebt mit seiner Frau Dr. Maike Kohl-Richter in seiner Heimatstadt Ludwigshafen.
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Ein Imprint der Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München
Originalausgabe März 2010
© 2010 bei Droemer Verlag
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Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise –
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ISBN 978-3-426-42975-4
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Für Hannelore
Im vorliegenden zweiten Band meiner Erinnerungen beschreibe ich die aufregendsten Jahre meiner sechzehnjährigen Kanzlerschaft. Der Band beginnt im Oktober 1982 mit meiner Wahl zum Bundeskanzler und der eindrucksvollen Bestätigung der politischen Wende bei der vorgezogenen Bundestagswahl im März 1983. Er endet nach dem Mauerfall mit den ersten freien Wahlen in der DDR. Die Volkskammerwahl im März 1990, die einen großartigen Sieg für die »Allianz für Deutschland« und damit für die CDU brachte, machte den Weg für die Wiedervereinigung unseres Landes frei, die 1982 bei meinem Regierungsantritt noch nicht absehbar war.
Ich beschreibe nicht nur die mit unserem Kurs der Erneuerung der sozialen Marktwirtschaft eingeleitete Wende in der Wirtschafts- und Finanzpolitik, sondern vor allem auch die intensiven Bemühungen um eine neue, alles entscheidende Sicherheits- und Abrüstungspolitik. Dass wir den Nato-Doppelbeschluss gegen den erbitterten Widerstand der Oppositionsparteien und weiter Teile der gesellschaftlichen Gruppen durchsetzten, halte ich bis heute für das wichtigste Verdienst der von mir geführten Regierungskoalition.
Ohne den Nato-Doppelbeschluss wäre die Geschichte anders verlaufen. Er war eine der entscheidenden Voraussetzungen für die Wiedervereinigung. Ganz verschiedene politische Entscheidungen griffen hier ineinander, und wenn die Geschichte auch nur in einem Teilbereich anders verlaufen wäre – bei den Abrüstungsverhandlungen auf internationaler Ebene, in der Europapolitik oder in der Sicherheitspolitik, in den bilateralen Beziehungen zu den Vereinigten Staaten, zu Frankreich oder der Sowjetunion –, dann hätte die Wiedervereinigung unserer beiden deutschen Staaten aller Wahrscheinlichkeit nach noch lange auf sich warten lassen.
So tritt der Weg, der zur deutschen Einheit führte, bei vielen Themen und Ereignissen, die ich beschreibe, mal offen zutage, während er ein andermal mehr im Hintergrund verläuft. Präsent aber war dieses Ziel immer, und viele Entscheidungen sind davon geprägt worden. Ganz besonders wichtig war die deutsche Frage natürlich im Ringen um mehr Freiheit für die Menschen in der DDR.
Zu den großen Entscheidungen dieser Jahre gehören auch die innerparteilichen Klärungsprozesse in der erfolgreichen Koalition der Mitte, für die ich als CDU-Bundesvorsitzender viel Kraft einsetzte. Auch auf diese innerparteiliche Dynamik, die manche Entscheidung befördert und manche behindert hat, gehe ich ausführlich ein.
Ich beschreibe den Besuch des DDR-Generalsekretärs Erich Honecker in Bonn und meine intensiven Bemühungen, gemeinsam mit dem sowjetischen Reformpolitiker Michail Gorbatschow die deutsch-sowjetischen Beziehungen auf eine ganz neue Grundlage zu stellen. Das deutsch-sowjetische Verhältnis mit all seinen Verästelungen spielt in meinen Erinnerungen eine wichtige Rolle.
Einen noch breiteren Raum nehmen die Höhen und Tiefen der deutsch-französischen Freundschaft ein, die durch die besonderen persönlichen Beziehungen zwischen François Mitterrand und mir eine neue Qualität bekommen hatte. Dafür steht nicht zuletzt der Händedruck über den Schlachtfeldern von Verdun als Symbol und sichtbarer Ausdruck der Aussöhnung unserer beiden Völker. Die deutsch-französische Freundschaft war und ist Grundlage für die Verständigung über ein geeintes Europa. Bei meinem Amtsantritt 1982 waren die Aussichten auf Fortschritte beim europäischen Einigungsprozess auf dem Nullpunkt. Der Begriff »Eurosklerose« war weit verbreitet. Wer, wie ich, an die Zukunft der europäischen Einigung glaubte, galt als unpolitisch und Utopist.
Schließlich der deutsche Einigungsprozess: Mit dem Milliardenkredit für die DDR begannen spürbare Reiseerleichterungen für die Menschen und der Abbau todbringender Sperranlagen an der innerdeutschen Grenze. Die Deutschlandpolitik, die ich stets als politische Domäne des Bundeskanzlers behandelt habe und die hohe Priorität hatte, erfährt eine ausführliche Würdigung.
Es folgen die dramatischen Ereignisse des Jahres 1989, die Fluchtbewegungen von Ost nach West und die atemberaubende innerdeutsche Entwicklung bis zum Mauerfall im November 1989. Dazu gehört auch die Kurzsichtigkeit einiger sogenannter Parteifreunde. Während ich versuchte, auf die weltpolitischen Veränderungen Einfluss zu nehmen und sie mitzugestalten, planten vermeintliche Gefährten meinen Sturz als Parteivorsitzender und Bundeskanzler.
Von entscheidender Wichtigkeit für die Wiedervereinigung waren die Rolle Ungarns und der Sowjetunion sowie der innere Zerfall des DDR-Regimes. Ohne die Bedeutung des Beitrags unserer Landsleute schmälern zu wollen, die in der DDR gegen das Regime demonstrierten, waren es doch vor allem die Staats- und Regierungschefs der USA und der Sowjetunion und ihre weitsichtige Politik, die die deutsche Einheit erst möglich machten.
Für mich sind persönliche Begegnungen und Erfahrungen immer ebenso wichtig gewesen wie die sogenannte große Politik der Staatsempfänge und Gipfelgespräche. Mein Besuch als Bundeskanzler in der DDR im Dezember 1989, als ich in Dresden vor Tausenden Bürgern im Schatten der Ruine der Frauenkirche sprach, oder mein erster Gang durch das Brandenburger Tor, als es kurz vor Weihnachten 1989 für wenige Stunden erstmals wieder geöffnet wurde, sind unvergessliche Erlebnisse von großer Eindringlichkeit, die sich meinem Herzen eingeprägt haben.
Für die Arbeit an diesem zweiten Band meiner Erinnerungen haben meine Mitarbeiter und ich zahlreiche Quellen jener Zeit studiert und ausgewertet. Dazu gehören unter anderem die Protokolle des CDU-Präsidiums und des CDU-Bundesvorstands sowie der CDU/CSU-Bundestagsfraktion. Besonders wichtig waren für mich die Gesprächsprotokolle der Staats- und Regierungschefs der vier Siegermächte des Zweiten Weltkriegs, auf die ich erstmals für dieses Buch zurückgreifen konnte. Als Erinnerungsstütze dienten auch die Ergebnisprotokolle sämtlicher Sitzungen des Bundeskabinetts vom Oktober 1982 bis März 1990. Die vorzügliche Quellenlage habe ich gerne genutzt und in meinen Erinnerungen auch einen dokumentarischen Akzent gesetzt. Dass hier Fakten sprechen, ist um so wichtiger, als sich so manche Legenden bereits zu verfestigen drohen.
Dankenswerterweise konnte ich mich auf die tatkräftige Hilfe der Mitarbeiter des Archivs der Christlich-Demokratischen Politik der Konrad-Adenauer-Stiftung stützen. Die wichtigsten Werke der berücksichtigten Literatur sind am Ende des Buches verzeichnet. Für die Beschreibung des deutschen Vereinigungsprozesses 1989/90 konnte ich auch auf mein Buch Ich wollte Deutschlands Einheit zurückgreifen.
Danken möchte ich einigen Freunden und Weggefährten für manchen nützlichen Hinweis.
Mein besonderer Dank geht wieder an einige Wissenschaftler und Publizisten, die meine Arbeit kritisch begleiteten.
Mein größter Dank gilt auch diesmal Hannelore, meiner verstorbenen Frau. Ihrem eindringlichen Wunsch, ich solle unbedingt meine Memoiren schreiben, bin ich gern und mit großem persönlichem Einsatz gefolgt. Ihr widme ich in Dankbarkeit auch diesen Band über die ersten Jahre meiner Kanzlerschaft. Ohne ihre Unterstützung wäre mein Leben so nie verlaufen.
Ludwigshafen,
im September 2005
(1982 – 1983)
Der Zerfall der sozialliberalen Koalition im Herbst 1982 vollzog sich rasend schnell. Nachdem die vier FDP-Bundesminister Hans-Dietrich Genscher (Auswärtiges Amt), Otto Graf Lambsdorff (Wirtschaft), Gerhart Rudolf Baum (Inneres) und Josef Ertl (Landwirtschaft) am 17. September 1982 zurückgetreten und damit einem Rauswurf durch Kanzler Helmut Schmidt zuvorgekommen waren, wurde es für uns ernst. Sowohl die CDU/ CSU-Opposition wie die in sich gespaltene FDP-Fraktion mussten handeln. Nach der Erklärung des Bundeskanzlers über die Auflösung der sozialliberalen Koalition kam Hans-Dietrich Genscher im Bundestagsplenum auf mich zu und meinte, nun sei es an der Zeit, miteinander zu reden. So arrangierten wir an diesem Freitag, dem 17. September, tatsächlich die erste Verabredung zwischen uns beiden seit der parlamentarischen Sommerpause.
Die Art und Weise, wie Helmut Schmidt in seiner Rede mit dem kleineren Koalitionspartner, genauer: mit dem Spitzenpersonal der FDP, umgegangen war, schien mir unverantwortlich. Der sonst so beherrschte Hamburger ließ kein gutes Haar an den führenden Repräsentanten der Freien Demokraten. Mit seinen Attacken fachte Schmidt die erbitterten Auseinandersetzungen in der FDP noch zusätzlich an; die Partei drohte in Schmidt-Anhänger auf der einen Seite und in Befürworter eines Koalitionswechsels auf der anderen zu zerfallen.
Zu den prominentesten Vertretern der Schmidt-Anhänger in der FDP-Fraktion zählten die Staatsministerin im Auswärtigen Amt Hildegard Hamm-Brücher und Innenminister Gerhart Rudolf Baum. Beide wollten um fast jeden Preis an der alten Koalition festhalten. Verunsichert durch die Wucht der innerparteilichen Kritik an einem bevorstehenden Koalitionswechsel, geriet die FDP in die tiefste Krise ihrer Geschichte. Hans-Dietrich Genscher hatte allergrößte Mühe, die erbittert streitenden Parteiflügel zusammenzuhalten.
Wenn ich heute auf diese dramatischen Tage im Herbst 1982 zurückblicke, staune ich immer wieder, dass es uns überhaupt gelungen ist, in so kurzer Zeit und mit solch weitreichenden politischen Konsequenzen in der Wirtschafts-, Finanz-, Sicherheits- und Außenpolitik eine tragfähige Koalition mit den Freien Demokraten zu begründen.
Drei Tage nach der Bildung einer SPD-Minderheitsregierung trafen sich FDP, CDU und CSU zu einer ersten Gesprächsrunde in meinem Arbeitszimmer im Bundeshaus, um eine Koalitionsvereinbarung zu erarbeiten. Auf seiten der FDP nahmen Hans-Dietrich Genscher und Wolfgang Mischnick teil; von unserer Seite gehörten der CSU-Vorsitzende und bayerische Ministerpräsident Franz Josef Strauß, der Vorsitzende der CSU-Landesgruppe Friedrich Zimmermann, der schleswig-holsteinische Ministerpräsident Gerhard Stoltenberg und ich zur Verhandlungskommission. Später stießen eine Reihe von Experten für Wirtschafts-, Sozial-, Finanz-, Außen- und Verteidigungspolitik hinzu, unter anderem Heiner Geißler, Norbert Blüm und Manfred Wörner. Trotz aller Schwierigkeiten, die die FDP intern hatte, spürte ich von Anfang an den festen Willen unserer Gesprächspartner, eine neue Koalition zu wagen. Allerdings war ausgeprägtes Fingerspitzengefühl gefragt, um die andere Seite nicht noch zusätzlich in Bedrängnis zu bringen. Politischer Druck und zu hohe Erwartungen an inhaltliche Zugeständnisse der FDP waren jetzt absolut fehl am Platz. Entsprechend hohen Wert legte ich auf ein kollegiales Verhandlungsklima. Der Stress mochte so hoch sein, wie er wollte, die menschlichen Bindungen durften darunter nicht leiden.
In langen Sitzungen unterzogen beide Fraktionen die Ergebnisse der Koalitionsverhandlungen einer kritischen Prüfung. Am 28. September 1982 erklärten schließlich vierunddreißig FDP-Abgeordnete in geheimer Abstimmung ihre Bereitschaft, am 1. Oktober gemeinsam mit der CDU/CSU-Fraktion für das konstruktive Misstrauensvotum zu stimmen. Achtzehn FDP-Abgeordnete votierten mit Nein, zwei enthielten sich. Als Hans-Dietrich Genscher und Wolfgang Mischnick mir diese Botschaft überbrachten, fiel uns allen ein Stein vom Herzen.
Auch in der Unionsfraktion ließ ich an jenem Dienstag eine Probeabstimmung über den Antrag nach Artikel 67 des Grundgesetzes durchführen. Er hatte folgenden Wortlaut:
»Der Bundestag möge beschließen: Der Deutsche Bundestag spricht Bundeskanzler Helmut Schmidt das Misstrauen aus und wählt als seinen Nachfolger den Abgeordneten Dr. Helmut Kohl zum Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland.
Der Bundespräsident wird ersucht, Bundeskanzler Helmut Schmidt zu entlassen.«
Mit Handzeichen wurde der Antrag einstimmig beschlossen.
Mit gespannter Zuversicht sah ich dem 1. Oktober entgegen. Wenige Stunden vor der Entscheidung sorgten neue Zählappelle in unserer Fraktion für Aufregung, weil eine Ruhrgebietsaktion der CDU einige Parlamentarier davon abhielt, in Bonn zu erscheinen. Allerdings zweifelte ich zu keinem Zeitpunkt daran, dass die Union geschlossen hinter dem Antrag stehen würde. Auf die Abgeordneten und auf das Fraktionsmanagement war Verlass.
Helmut Schmidt eröffnete die Debatte im Deutschen Bundestag mit scharfen Angriffen gegen die FDP, vor allem gegen den FDP-Vorsitzenden und zurückgetretenen Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher. Anschließend sprach Rainer Barzel, den ich nach seiner bitteren Erfahrung mit dem Misstrauensantrag gegen Willy Brandt von 1972 bewusst darum gebeten hatte, das Neuwahlverfahren für die Unionsparteien zu begründen.
Als nächste traten der SPD-Fraktionsvorsitzende Herbert Wehner und CDU-Generalsekretär Heiner Geißler ans Rednerpult. Anschließend hielt der FDP-Fraktionsvorsitzende Wolfgang Mischnick eine bewegende Rede. Nicht wenigen FDP-Parlamentariern standen die Tränen in den Augen. Zum Schluss der Bundestagsdebatte gaben Gerhart Rudolf Baum und Hildegard Hamm-Brücher persönliche Erklärungen ab, in denen sie sich gegen das konstruktive Misstrauensvotum aussprachen.
Dann kam der Antrag zur Abstimmung. Von den 495 gültig abgegebenen Stimmen erhielt ich 256 Jastimmen. Das waren 7 Stimmen mehr als die 249, die ich zur absoluten Mehrheit für die Wahl zum Bundeskanzler benötigt hätte, aber 23 weniger, als die Koalition 1980 besaß.
Um 15.12 Uhr erklärte Bundestagspräsident Richard Stücklen:
»Damit ist der Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP angenommen. Ich stelle fest, der Abgeordnete Dr. Helmut Kohl ist zum Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland gewählt.«
Erleichterung und eine unbeschreibliche Freude waren die vorherrschenden Gefühle in diesem Augenblick. Erst jetzt merkte ich, unter welcher Anspannung ich in den letzten Tagen gestanden hatte. Bis zuletzt war da ein Rest Unsicherheit gewesen, ob die neue Koalition ihre erste Bewährungsprobe bestehen würde. Nun brandete minutenlanger Jubel auf. Erstmals in der Geschichte des bundesdeutschen Parlamentarismus seit 1949 war ein Kanzler durch das konstruktive Misstrauensvotum abgewählt worden. Ich wechselte von der Oppositionsbank direkt ins Bundeskanzleramt.
Zu den ersten, die mich beglückwünschten, gehörten Friedrich Zimmermann, Hans-Dietrich Genscher und Wolfgang Mischnick. Ihnen folgten Helmut Schmidt und Willy Brandt, die mir mit versteinerter Miene gratulierten. Bis zuletzt schienen sie nicht an einen Erfolg des Misstrauensvotums geglaubt zu haben.
Wenige Minuten nach der Wahl trat ich vor die Fernsehkameras und erklärte, ich wolle verhindern, dass in diesem Land neue Gräben aufgerissen würden. Es gehe jetzt um eine geistig-moralische Anstrengung. Ich sprach auch von einem großen Tag in der deutschen Parlamentsgeschichte und versicherte, dass es dabei bleibe: Am 6. März 1983 werde ein neuer Bundestag gewählt. Ich wollte Neuwahlen, ich wollte das Votum der Wähler für mich und unsere Politik.
Hannelore und unsere Söhne Walter und Peter waren bereits am Tag zuvor nach Bonn gekommen. Von der Diplomatentribüne des Bundestags aus hatten sie die Reden und den anschließenden Wahlgang verfolgt. Jetzt gehörten sie natürlich zu den ersten Gratulanten in der Lobby des Hohen Hauses. Hier entstand eines der schönsten Fotos an diesem Tag: die herzliche Umarmung mit meiner Frau und meinen Kindern.
In den vergangenen Tagen hatten Hannelore und ich regelmäßig telefoniert. Jetzt fielen wir uns mit einer Freude und Erleichterung in die Arme, die nur jemand verstehen konnte, der den ungeheuerlichen Stress der letzten Monate, Wochen und Tage hautnah mitbekommen hatte. Ungeachtet der grundsätzlichen Skepsis, mit der Hannelore meinem Aufstieg in weitere politische Ämter gegenüberstand, strahlte sie vor Glück über meine Wahl zum Bundeskanzler. Sie war in diesem Augenblick so stolz auf mich, wie es sicher jede Frau in einer solchen Situation auf ihren Mann gewesen wäre.
Mit Hannelore und unseren Söhnen begab ich mich in die Bundestagsfraktion. Starker Beifall und nicht enden wollende Bravorufe hießen uns willkommen. Allerdings flossen auch reichlich Tränen. Das waren bewegende Augenblicke für uns alle, Sekunden und Minuten, die unvergessen bleiben.
Zum letzten Mal eröffnete ich die Sitzung als Fraktionsvorsitzender. In meiner kurzen Ansprache blickte ich voller Dankbarkeit auf die letzten Tage mit ihren dramatischen Ereignissen zurück und wagte einen optimistischen Blick auf die vor uns liegenden Wochen bis zur vorgezogenen Bundestagswahl am 6. März 1983. Zum Schluss meiner Ausführungen schlug ich Alfred Dregger zum Nachfolger im Amt des Fraktionsvorsitzenden vor.
Vor meiner Ernennung hatte Bundespräsident Karl Carstens den abgewählten Bundeskanzler und die Minister des SPD-Minderheitskabinetts, deren Amtszeit mit der des Regierungschefs erloschen war, empfangen, um ihnen die Entlassungsurkunden auszuhändigen. Wenige Minuten später kam ich ins Bundespräsidialamt – in einem grauen Cut, wie es protokollarisch gefordert und seit Gründung der Bundesrepublik üblich war. Das fiel manchen Zeitgenossen deshalb besonders auf, weil Helmut Schmidt einst um die Erlaubnis gebeten hatte, im schwarzen Anzug kommen zu dürfen. Karl Carstens überreichte mir die Ernennungsurkunde und wünschte mir Glück und Erfolg und ein segensreiches Wirken für unser Land.
Um 17.30 Uhr an diesem denkwürdigen Tag leistete ich vor dem Parlament den Eid, das Original des Grundgesetzes in der Hand. Nach Konrad Adenauer, Ludwig Erhard, Kurt Georg Kiesinger, Willy Brandt und Helmut Schmidt war ich der sechste Bundeskanzler und der vierte aus den Reihen der Unionsparteien. In diesem erhebenden Moment spürte ich die hohen Erwartungen, die an mich gestellt wurden, und hatte doch nur eine leise Ahnung von dem, was auf mich zukam.
Am Abend dieses Tages wurde erst einmal gefeiert. Meine engsten Freunde und wichtigsten Mitarbeiter mit ihren Ehepartnern hatte ich ins Restaurant Herrenhaus Buchholz in Alfter nahe Bonn eingeladen. Dazu stießen einige Politiker, die mich schon lange begleitet hatten. Unter den Gästen befand sich auch der Chef der Deutschen Bank, Alfred Herrhausen, der zu den wichtigsten wirtschaftspolitischen Beratern während meiner Kanzlerschaft zählen sollte.
Mein Freund und Weggefährte Gerd Bacher, amtierender Generalintendant des Österreichischen Rundfunks, der bei der Bundestagswahl 1976 einst mein Wahlkampfmanager gewesen war, hielt eine kurze Ansprache mit viel Wiener Charme. Er geizte nicht mit launigen Bemerkungen über den neuen Kanzler und skizzierte ein Zukunftsszenario all der bevorstehenden Veränderungen in der Bonner Politik. Eindringlich beschrieb er, was die Menschen in unserem Land von mir erwarteten.
Selten habe ich Hannelore in so ausgelassener Feierlaune erlebt wie an diesem Abend. Auch für sie veränderte sich unser gemeinsames Leben an diesem Tag spürbar. Nun war sie nicht mehr die Gattin des Bonner Oppositionsführers, sondern die Frau des Bundeskanzlers, über deren Funktion und Aufgaben weder im Grundgesetz noch in irgendeinem »Geschäftsverteilungsplan« irgend etwas festgelegt ist. Den Weg von der Ministerpräsidentengattin zur Frau des Parteivorsitzenden und Oppositionsführers hatte sie mit Bravour zurückgelegt. Jetzt musste sie sich wieder neu orientieren, und es war ihr vom ersten Tag an bewusst, dass sich erhebliche Erwartungen auch auf sie richteten.
Den Umzug bewältigten wir mit Bordmitteln: Zusammen mit Hannelore, Walter und Peter und den beiden Fahrern Eckhard Seeber und Gabriel Schuld zogen wir anderntags, am 2. Oktober 1982, ins Bundeskanzleramt ein. Wir hatten bewusst den Samstag gewählt, um ungestört von der Presse zu sein. Während die Journalisten übers Wochenende Pause machten, packten alle mit an, auch meine engsten Mitarbeiter: Juliane Weber, Eduard Ackermann, Horst Teltschik und Wolfgang Bergsdorf. Professionelle Möbelpacker hätten es kaum besser machen können.
Mein künftiges Büro hatte Helmut Schmidt vollständig geräumt, und auch das Vorzimmer war bezugsfertig. Es gab kein einziges Stück Papier, das er mir hinterlassen hätte. Als ich sechzehn Jahre später aus dem Kanzleramt wieder auszog, hielt ich es anders und übergab meinem Nachfolger eine Menge wichtiger Unterlagen.
Unbehelligt von Fernsehkameras und journalistischen Beobachtern konnten wir unsere neue Wirkungsstätte einrichten. Die Bundesflagge, die ich hier aufstellte, hatte es zuvor im Kanzlerbüro nicht gegeben. Ich brachte aber auch einige ganz persönliche Dinge mit, wie die Mineraliensammlung, eine Sammlung von Gedenkplaketten, ein zeitgenössisches Gemälde von Joseph von Görres, dem bedeutenden Publizisten des neunzehnten Jahrhunderts, und einige besonders schöne Stiche mit Motiven aus meiner pfälzischen Heimat. Später erwarb ich ein Aquarium, das bis zum Ende meiner Kanzlerschaft 1998 das Arbeitszimmer schmückte.
Noch am Tag des Einzugs lernte ich bei einer sachkundigen Führung durchs Haus die Räumlichkeiten des Kanzleramts kennen. Gleichzeitig wurden wir mit den Sicherheitsvorschriften der Regierungszentrale vertraut gemacht. Die Funktionalität dieses mächtigen Gebäudes beeindruckte mich.
Mit meinem Amtsantritt war ich zugleich Hausherr im Kanzleramt und Vorgesetzter von über vierhundert Beamten und Angestellten geworden, denen gegenüber ich eine unmittelbare Fürsorgepflicht hatte. Bilanzierend kann ich heute nur feststellen, wie positiv meine Erfahrungen mit den Mitarbeitern des Kanzleramts waren. Bis zuletzt fühlte ich mich hier außerordentlich wohl. Einige Angestellte und Beamte mögen mir gegenüber anfangs noch Vorbehalte gehabt haben. Bei meiner Verabschiedung 1998 aber gingen die Emotionen hoch, und es liefen viele Tränen.
Für die Regierungsbildung blieb nicht mehr allzuviel Zeit. Zwischen dem Einzug ins Kanzleramt und der Vorstellung der Regierungsmannschaft am 4. Oktober 1982 lagen nur noch wenige Stunden. Das Telefon in Ludwigshafen stand kaum still. Die Ministerriege war weitestgehend vorgegeben, zumal das Personaltableau der FDP kaum Überraschungen enthielt. Kein Zweifel bestand daran, dass Hans-Dietrich Genscher wieder das Auswärtige Amt übernehmen und dass Otto Graf Lambsdorff ins Bundeswirtschaftsministerium zurückkehren würde. Gleiches galt für Josef Ertl, der weiterhin Minister für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten sein sollte.
Offen war vorübergehend nur die Frage, wen die FDP zum Justizminister küren würde. Hans-Dietrich Genscher hätte es gern gesehen, wenn der frühere Innenminister Gerhart Rudolf Baum ebenfalls ins neue Kabinett eingetreten wäre, denn das hätte trotz des Koalitionswechsels eine gewisse politische Kontinuität signalisiert. Doch als erklärter Gegner der neuen Koalition wollte Baum verständlicherweise kein Ministeramt annehmen. Nach seiner Absage war Burkhard Hirsch im Gespräch, den ich aber nicht wollte. Im Jahr 2000 nahm er Rache und wollte meiner Regierung und mir anhängen, im Kanzleramt Akten vernichtet zu haben.
Obwohl jede Koalitionsfraktion allein über die Verteilung ihrer Ressorts entschied, spürte Genscher früh genug meine Abneigung und fand rasch eine personelle Alternative: Die Liberalen entschieden sich für Hans Engelhard. Der angesehene Rechtspolitiker der FDP-Fraktion übernahm das Justizministerium, das dem liberalen Koalitionspartner anstelle des Innenministeriums zufiel.
Es bedurfte nicht allzu vieler Gespräche mit Franz Josef Strauß, um die Besetzung der vier CSU-Ressorts zu regeln. Strauß selbst stand mitten in der Endphase des bayerischen Landtagswahlkampfs, bei dem er sich erneut um das Amt des Ministerpräsidenten bewarb. Rasch verständigten wir uns: Friedrich Zimmermann sollte Innenminister werden. Das Innenressort war neben dem Außenamt das wichtigste und zugleich riskanteste Bonner Ministerium, denn es war eine Art Schleudersitz für jeden Ressortchef. Im Bereich der inneren Sicherheit konnte der kleinste Fehler eines mittleren Beamten den Minister das Amt kosten. Um so wichtiger war es, dass hier mit Friedrich Zimmermann ein guter und erfahrener Politiker zum Zuge kam, der noch dazu hohen juristischen Sachverstand hatte. Zimmermann war nicht nur stellvertretender CSU-Vorsitzender, sondern seit 1976 Vorsitzender der CSU-Landesgruppe in Bonn. Als mein bisheriger Stellvertreter an der Spitze der CDU/CSU-Bundestagsfraktion hatte er mein volles Vertrauen.
Werner Dollinger übernahm das Verkehrsministerium. Dollinger, Mitbegründer der CSU und Vorsitzender des mächtigen CSU-Bezirksverbands Nürnberg, hatte bereits als Bundesschatzminister noch unter Adenauer Erfahrungen gesammelt, unter Ludwig Erhard war er kurze Zeit Minister für wirtschaftliche Zusammenarbeit, und in der Großen Koalition, im Kabinett Kiesinger/Brandt, war er von 1966 bis 1969 für das Post- und Fernmeldewesen verantwortlich.
Der CSU-Bundestagsabgeordnete Oscar Schneider, zuvor zehn Jahre lang Vorsitzender des Bundestagsausschusses für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau und ein besonders treuer Mitstreiter, wurde jetzt Bundesbauminister. Der Jurist Schneider war der gebildetste »Baumensch«, dem ich je begegnet bin. Zu jedem politischen Vorgang schien er vier Lexika im Kopf zu haben, und obendrein verfügte er über einen so ausgeprägten Kunstsachverstand, wie ich ihn unter aktiven Politikern nicht mehr erlebt habe.
Jürgen Warnke, der künftige Minister für wirtschaftliche Zusammenarbeit, besaß einen ausgezeichneten Ruf als versierter Exportfachmann. Jahrelang war er Hauptgeschäftsführer des Verbands der Keramischen Industrie in Bayern gewesen. Als Landtags- und Bundestagsabgeordneter der CSU vertrat er zielstrebig die Interessen des Mittelstands und war einer der profiliertesten Vertreter auf dem Gebiet der regionalen Strukturpolitik. Von ihm erwartete ich eine Neuorientierung der Entwicklungspolitik. Sie musste den Interessen deutscher Außenpolitik verpflichtet sein und »Hilfe zur Selbsthilfe« organisieren.
Auch bei der Besetzung der weiteren Ressorts gab es zwischen Strauß und mir so gut wie keine Differenzen. Was uns allerdings an den Rand des Bruchs brachte, war die Behandlung der FDP. Total über Kreuz lagen wir außerdem bei der Frage, wann Bundestagsneuwahlen angesetzt werden sollten. In der Hoffnung, damit die absolute Mehrheit für die Unionsparteien zu erreichen, wollte Strauß die Bürger so schnell wie möglich an die Wahlurnen bitten. Dass Neuwahlen nach dem Grundgesetz so schnell gar nicht herbeizuführen waren, hinderte ihn nicht daran, die FDP bis zur Weißglut zu ärgern, sie zu verunsichern, zu demütigen und ihre Existenzängste zu schüren. Strauß wollte die FDP überflüssig machen und sie mit dem Votum der Wähler aus dem Bundestag herauskatapultieren. Darin traf er sich seltsamerweise mit Helmut Schmidt – beide konnten ihre Abneigung gegen die FDP kaum verhehlen. Der tief verletzte Sozialdemokrat gab den Liberalen die alleinige Schuld an seinem Sturz, und Strauß wusste, dass er nur dann als Bundesaußenminister und Vizekanzler zurück nach Bonn kommen könnte, wenn die FDP an der Fünfprozenthürde scheitern würde.
Ich hingegen setzte auf eine Konsolidierung der Liberalen und darauf, dass Neuwahlen in angemessenem Abstand zum Koalitionswechsel stattfinden sollten. Ohne eine langfristige Bindung an die FDP sah ich für die Union wenig politische Gestaltungsmöglichkeiten für das nächste Jahrzehnt.
Ungeachtet dieser grundlegenden Meinungsverschiedenheiten ging es jetzt aber zunächst einmal um die Regierungsbildung, um ein Regierungsprogramm für die neue Koalition der Mitte und vor allem um den verfassungsmäßig richtigen Weg, Neuwahlen im Frühjahr 1983 durchzuführen.
Als die CDU/CSU-Bundestagsfraktion am 4. Oktober 1982 zusammenkam, stand die Wahl der Fraktionsspitze auf der Tagesordnung. Außerdem wollte ich die Kabinettsliste der künftigen Regierungskoalition vorstellen.
Zuvor hatte die CSU-Landesgruppe ihren neuen Vorsitzenden gewählt: Theo Waigel war mit 48 von 49 abgegebenen Stimmen zum Nachfolger von Friedrich Zimmermann bestimmt worden, der ins Bundesinnenministerium wechseln sollte. Meinem Vorschlag, Alfred Dregger zum Vorsitzenden der CDU/CSU-Bundestagsfraktion zu wählen, folgten 213 Abgeordnete. Es gab 3 Neinstimmen und 4 Enthaltungen. Das war ein enormer Vertrauensvorschuss, den es zuvor und auch in späteren Jahren so eindrucksvoll selten gab.
Dreizehn Jahre Oppositionsarbeit steckten der Fraktion in den Knochen – eine viel zu lange Zeit. Jetzt waren wir Regierungsfraktion, und für die meisten Abgeordneten war das eine ganz neue Erfahrung. Nun kam es darauf an, aufs engste mit der Regierung zu kooperieren: mit dem Bundeskanzler, den Ministern und Staatssekretären und vor allem mit der FDP. Gefragt waren Fairness zwischen den Koalitionsparteien und die Entwicklung eines neuen Selbstverständnisses der Fraktionen, die sich weder als Gegner noch als Diener der Regierung verstehen sollten, sondern als ihr Partner.
Noch eine weitere wichtige Personalentscheidung fiel auf dieser Fraktionssitzung: Wolfgang Schäuble, der bereits im Juni 1981 auf meinen Vorschlag hin zum Parlamentarischen Geschäftsführer der Fraktion gewählt worden war, stand für die Wahl zum Ersten Parlamentarischen Geschäftsführer an, den die CDU-Abgeordneten der gemeinsamen Bundestagsfraktion zu bestimmen hatten. Schäuble war seit 1972 für den Wahlkreis Offenburg Mitglied des Deutschen Bundestags und seit 1976 Vorsitzender des Bundesfachausschusses Sport. Ich kannte dieses große politische Talent schon aus der Zeit, als Schäuble sich noch in der Jungen Union Südbaden engagierte und dem baden-württembergischen CDU-Landesvorstand angehörte. Jetzt wurde er mit einem beachtlichen Ergebnis zum Ersten Parlamentarischen Geschäftsführer gewählt: 163 Abgeordnete stimmten für ihn, es gab 6 Neinstimmen und 3 Enthaltungen.
Nach diesen Wahlen machte ich ein paar grundsätzliche Bemerkungen zur Partnerschaft zwischen Fraktion und Regierung. Ich hatte viele Jahre hindurch eine Regierungsfraktion in einem Landtag geführt und noch länger in Rheinland-Pfalz einer Regierungsfraktion als Regierungschef gegenübergestanden, so dass mir die Konstellation grundsätzlich vertraut war. Ich versprach – trotz aller Belastungen, die mein neues Amt mit sich bringen würde –, den Abgeordneten in meiner Eigenschaft als Bundesvorsitzender der CDU mit Rat und Tat zur Verfügung zu stehen.
Auch wenn die Zeit drängte, weil die Ministervereidigung beim Bundespräsidenten kurz bevorstand, erläuterte ich das Personaltableau, soweit es die von der CDU gestellten Minister betraf:
Bundesminister der Finanzen sollte der schleswig-holsteinische Ministerpräsident Gerhard Stoltenberg werden, der schon seit langem Sprecher der Union war, wenn es um Fragen der Finanzpolitik ging. Er hatte sich nicht erst bei den Koalitionsverhandlungen als sachkundiger und geschickter Verhandlungspartner profiliert. Für mich war er ein unentbehrlicher Finanzexperte, mit dem ich mich auch persönlich immer besser verstand. Aus meiner Sicht hatte er in der Union nur einen einzigen Konkurrenten um das Ministeramt: den rheinland-pfälzischen Finanzminister Johann Wilhelm Gaddum. Zwar hätte ich Gaddum gerne an meiner Seite in Bonn gehabt, doch der Kieler Ministerpräsident, der mächtig nach Bonn strebte, erhielt den Vorzug, zumal mit ihm auch einer der prominentesten Vertreter der norddeutschen CDU im Bonner Kabinett vertreten war.
Rainer Barzel, meinen Vorgänger im Parteivorsitz, der 1962 schon einmal für ein Jahr »Minister für gesamtdeutsche Fragen« gewesen war – so lautete die damalige Bezeichnung für dieses Ressort –, berief ich zum Bundesminister für innerdeutsche Beziehungen. Mir lag sehr daran, Barzel mit seinen großen politischen Erfahrungen in mein erstes Kabinett einzubinden. Seine Berufung war auch als ein Stück Wiedergutmachung gedacht. Ich wollte zeigen, dass die Partei mit ihm im reinen war und von innerparteilicher Zerstrittenheit keine Rede mehr sein konnte.
Dass Norbert Blüm das Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung übernahm, war geradezu vorgezeichnet und für jedermann einleuchtend. Blüm, Senator für Bundesangelegenheiten des Landes Berlin, seit 1977 Bundesvorsitzender der Christlich-Demokratischen Arbeitnehmerschaft (CDA) und mein Stellvertreter im Parteivorsitz, zögerte keinen Moment, im ersten Kabinett der christlich-liberalen Regierungskoalition eine einflussreiche Position zu übernehmen.
Gleiches galt für Manfred Wörner. Der ehemalige Oberstleutnant der Reserve und aktive Starfighterpilot hatte in der Union keinen ernstzunehmenden Konkurrenten für das Amt des Bundesverteidigungsministers.
Heiner Geißler, den ich 1967 als Sozialminister nach Mainz berufen hatte und der seit 1977 als CDU-Generalsekretär vorzügliche Arbeit leistete, bot ich das Ministerium für Jugend, Familie und Gesundheit an, das er zusätzlich zu seiner aufreibenden Parteifunktion übernahm.
Unumstritten war auch die Berufung des erfolgreichen Unternehmers und feinsinnigen Kultur- und Sprachwissenschaftlers Christian Schwarz-Schilling zum Minister für das Post- und Fernmeldewesen.
Heinz Riesenhuber war für das Amt des Bundesministers für Forschung und Technologie vorgesehen. Seit 1976 im Deutschen Bundestag, war der Frankfurter Chemiker und Wirtschaftsmanager seit 1980 energiepolitischer Sprecher und Vorsitzender des Bundesfachausschusses für Energie und Umwelt. Das Energieprogramm der CDU hatte Riesenhuber maßgeblich mitformuliert. Er befürwortete ebenso wie ich den behutsamen Ausbau der Kernenergie und hatte sich besonders durch seine emotionslose, aber hochkompetente und sachbezogene Argumentationsweise profiliert.
Die einzige Frau im neuen Bundeskabinett war die Sozial- und Wirtschaftswissenschaftlerin Dorothee Wilms, die das Ministerium für Bildung und Wissenschaft übernahm. Ich kannte sie als äußerst engagierte stellvertretende CDU-Bundesgeschäftsführerin in den siebziger Jahren und von ihrer Arbeit in der Bundestagsfraktion, der sie wie ich seit 1976 angehörte. Wenn wir die Bundestagswahl 1976 nicht knapp verloren hätten, wäre sie schon damals Kabinettsmitglied geworden. Jetzt gelangte sie endlich zu Ministerwürden.
Bei dieser Kabinettsliste hatte ich neben der fachlichen Qualifikation natürlich auch auf die landsmannschaftliche Zugehörigkeit geachtet, also darauf, dass die jeweiligen Landesverbände der Partei und auch die CDU-Arbeitsgemeinschaften gebührend berücksichtigt waren. Anders als bei manchen meiner Vorgänger im Kanzleramt spielte die Konfession bei meinen personellen Überlegungen dagegen so gut wie keine Rolle.
Dennoch blieb es nicht aus, dass bei der Berufung in Ministerämter nicht alle Seiten zufriedengestellt werden konnten. So gehörten beispielsweise Blüm und Geißler dem rheinland-pfälzischen CDU-Landesverband an, der damit überproportional stark im Kabinett vertreten war. Dafür versuchte ich bei der Ernennung von Staatssekretären einen angemessenen Ausgleich zu schaffen, allen voran im Bundeskanzleramt und im Auswärtigen Amt. Philipp Jenninger, seit 1973 Parlamentarischer Geschäftsführer der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, holte ich als Staatsminister ins Bundeskanzleramt, wo sein Arbeitsschwerpunkt der Deutschlandpolitik gelten sollte, und als Staatsminister für Bundesratsangelegenheiten gewann ich Friedrich Vogel, den langjährigen Rechtsexperten der Unionsfraktion. Eine ganze Weile hatte ich sogar überlegt, wieder ein eigenes Bundesministerium für die Angelegenheiten des Bundesrats einzurichten. Nicht zuletzt aus Kostengründen war ich jedoch wieder davon abgekommen, obwohl dies einer langjährigen Tradition der Union sehr wohl entsprochen hätte. Die Pflege der Beziehungen zur zweiten Kammer sah ich trotzdem immer als außerordentlich wichtig an. Wie sehr mir an einem gelebten kooperativen Föderalismus gelegen war, machte ich darum auch dadurch deutlich, dass ich gleich die erste Bundesratssitzung nach meiner Amtsübernahme besuchte.
Staatsminister im Auswärtigen Amt wurden der langjährige außenpolitische Experte der Unionsfraktion Alois Mertes und Jürgen Möllemann, der auf Wunsch Hans-Dietrich Genschers berufen wurde.
Dann ging es Schlag auf Schlag an jenem denkwürdigen Montag: Gegen 13 Uhr stellte ich dem Bundespräsidenten mein erstes christlich-liberales Bundeskabinett vor. Karl Carstens überreichte den Ministern in einer feierlichen Zeremonie die Ernennungsurkunden, und anschließend fand die Vereidigung der kompletten Regierungsmannschaft im Bundestagsplenum statt.
Es stand für mich außer Frage, dass mich meine erste Auslandsreise als Bundeskanzler nach Frankreich führen musste. Um ein deutliches Zeichen der Völkerfreundschaft zu setzen und die besondere Bedeutung der deutsch-französischen Beziehungen zu unterstreichen, machte ich noch am 4. Oktober 1982, dem Tag der Regierungsbildung, einen Antrittsbesuch beim französischen Staatspräsidenten. François Mitterrand hatte an jenem Montag zwar einen Staatsbesuch geplant und wollte Paris verlassen, doch er verschob seine Reisepläne, um mich zu empfangen.
Ich erinnere mich noch gut an diesen ersten Flug, den ich als Bundeskanzler mit einer Maschine der Flugbereitschaft der Bundeswehr machte. Gegen 19 Uhr starteten wir vom Köln/Bonner Flughafen, von wo aus ich in den kommenden sechzehn Jahren noch unzählige Male zu Flügen ins In- und Ausland aufbrechen sollte.
Im Élysée-Palast gab es dann ein Abendessen im kleinen Kreis. Neben den Außenministern Hans-Dietrich Genscher und Roland Dumas nahmen daran auch die beiden Botschafter unserer Länder teil. An diesem Abend begegnete ich zum ersten Mal François Mitterrand – jenem Mann, der in deutscher Kriegsgefangenschaft gewesen war, aktiv in der Résistance mitgewirkt und als Kommunalpolitiker und Minister in zahlreichen Pariser Regierungen politische Verantwortung übernommen hatte. Ich begegnete einem Politiker, der als Oppositionspolitiker und Parteivorsitzender schon manche Höhen und Tiefen erlebt hatte und schwere Niederlagen einstecken musste, bevor er das einflussreichste Amt erringen konnte, das die französische Republik zu vergeben hat. Ich lernte einen Menschen kennen, der wie ich aus einem toleranten katholischen Haus stammte, in einer bürgerlichen Großfamilie mit sieben Geschwistern aufgewachsen war und zielstrebig an die Spitze der französischen Sozialisten gelangt war. Mitterrand war ein hochgebildeter und feinsinniger Mann, der sich in den verschlungenen Pfaden der Europapolitik blendend auskannte und über die innenpolitischen Probleme in der Bundesrepublik ebensoviel wusste wie über die Querelen innerhalb der SPD.
Der überzeugte Sozialist hatte 1981 vier kommunistische Minister im Kabinett zugelassen und gleichzeitig penibel darauf geachtet, dass die Außenpolitik nicht von der Kommunistischen Partei beeinflusst wurde. Schließlich trat Mitterrand, der die Sowjetunion wegen der Besetzung Afghanistans massiv angegriffen hatte, konsequent für die westliche Nachrüstung ein, und so kamen wir bei unserem äußerst angenehmen Gedankenaustausch unter vier Augen bald auch auf dieses Thema zu sprechen. Mitterrand unterstrich mit großem Ernst, am Nato-Doppelbeschluss festhalten und ihn mit allen Konsequenzen durchsetzen zu wollen. Der Präsident, ein politischer Realist wie kaum ein anderer, zeigte großes Interesse an meiner Einstellung zu dieser Schicksalsfrage und fragte mich direkt, ob sich die neue Bonner Regierungskoalition der Pariser Position anschließen werde. Ich spürte deutlich seine Genugtuung und Erleichterung, als ich ihm ein uneingeschränktes Ja zur Antwort gab. Es ist gut möglich, dass diese Aussage damals ein kleiner, aber wichtiger Beitrag war zur Begründung unserer langjährigen Freundschaft, die über ein Zweckbündnis zweier Regierungschefs weit hinausging.
Auch über unsere Vorgänger sprachen wir an diesem Abend im Élysée, über Helmut Schmidt und über Mitterrands ärgsten Widersacher Valéry Giscard d’Estaing, die eine innige Männerfreundschaft verband. Dann kam das Gespräch auf Charles de Gaulle, und selten in meinem Leben habe ich so viele freundliche Worte über de Gaulle gehört wie damals. Kein Wunder: Die Art und Weise, wie Mitterrand das Amt des Präsidenten ausfüllte, erinnerte mich sehr stark an de Gaulle, den ich mehrfach erlebt hatte.
Ausführlich erläuterte ich dem französischen Staatspräsidenten, dass ich im März 1983 auch deshalb Neuwahlen in der Bundesrepublik herbeiführen wollte, um in der Nachrüstungsfrage die Wähler entscheiden zu lassen und um von ihnen einen klaren Auftrag zu bekommen, den Nato-Doppelbeschluss durchzusetzen. Meine Risikobereitschaft schien Mitterrand zu gefallen, denn er ermunterte mich, die Legitimation für politisches Handeln bei einer Bundestagswahl einzuholen.
Als ich kurz nach Mitternacht den Heimflug nach Bonn antrat, hatte ich ein gutes Gefühl. François Mitterrand hatte meinen Antrittsbesuch in Paris so verstanden, wie ich es mir gewünscht hatte: als Geste, die ausdrücken sollte, wie wichtig mir die Fortsetzung und Intensivierung unserer Beziehungen und der Ausbau der deutsch-französischen Freundschaft im Geiste Adenauers und de Gaulles waren. Wir hatten nicht nur einen breiten Konsens in fast allen Fragen der internationalen Politik erzielt, sondern auch einen persönlichen Kontakt zueinander gefunden, der für die Zukunft unserer beiden Länder von nicht zu unterschätzender Bedeutung war.
Mein Blitzbesuch in Brüssel einen Tag nach diesem Treffen diente ebenfalls der Weichenstellung. Es galt von Anfang an, klare Prioritäten auch in der Außenpolitik zu setzen. Insbesondere wollte ich die Entschlossenheit der neuen Regierung unterstreichen, sich in der Europapolitik zu engagieren. Wenn wir in diesem Jahrzehnt nicht einen entscheidenden Fortschritt in Europa machten, würden wir die große Chance meiner Generation versäumen. Darum maß die neue Regierung den Problemen der europäischen Einigung und aktuellen Fragen, die das europäische Parlament betrafen, hohe Priorität bei. Mit meiner Brüssel-Reise wollte ich dem Europäischen Parlament meine Reverenz erweisen.
Noch am gleichen Tag telefonierte ich mit der britischen Regierungschefin Margaret Thatcher, mit der ich mich zu einem baldigen Besuch verabredete.
Eine ungewöhnlich freundschaftliche Botschaft erreichte mich vom amerikanischen Präsidenten. Ronald Reagan und seine Administration in Washington hatten hohe Erwartungen an uns. Auch deshalb sollte mein Amerika-Besuch nicht lange auf sich warten lassen.