Alfred Döblin
November 1918
Eine deutsche Revolution. Erzählwerk in drei Teilen. Erster Teil: Bürger und Soldaten 1918
FISCHER E-Books
Mit einem Nachwort von Helmuth Kiesel
Alfred Döblin, 1878 in Stettin geboren, arbeitete zunächst als Assistenzarzt und eröffnete 1911 in Berlin eine eigene Praxis. Döblins erster großer Roman erschien im Jahr 1915/16 bei S. Fischer. Sein größter Erfolg war der 1929 ebenfalls bei S. Fischer publizierte Roman ›Berlin Alexanderplatz‹. 1933 emigrierte Döblin nach Frankreich und schließlich in die USA. Nach 1945 lebte er zunächst wieder in Deutschland, zog dann aber 1953 mit seiner Familie nach Paris. Alfred Döblin starb am 26. Juni 1957.
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Alfred Döblin
Gesammelte Werke
Herausgegeben von Christina Althen
Bd. 15.1
Covergestaltung: bilekjaeger, Stuttgart
Coverabbildung: ›Philipp Scheidemann (mit erhobenem Arm) auf einem Balkon des Reichstagsgebäudes‹/bpk
Erschienen bei FISCHER E-Books
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2013
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ISBN 978-3-10-402778-4
Sie blickte mit einer kleinen Kopfbewegung in die Stube zurück. Der Mann saß an seinem Platz am Tisch, die Krücken neben sich, das Käppchen auf dem Kahlkopf, die Zeitung ausgebreitet vor sich. Er putzte sich die Stahlbrille und prüfte das graue Morgenlicht, das durch das Hoffenster hereinfiel. Sie sagte: »Kannst dir Licht machen.« Er: »Wird schon gehen.« Dann zog sie die Tür hinter sich zu.
Es regnete nicht mehr, aber der Hof stand voller Lachen. Im Hausflur an der Wand, wo es stockfinster war, schürzte sie ihre Kleider, tastete mit einem Fuß herum und stieg in die schweren spitzen Holzpantinen hinein. Sie klapperte ab.
Der Mann kratzte seine kurze Holzpfeife aus, schnüffelte in eine blecherne Teebüchse hinein und breitete ein paar Griff Tabak auf der Zeitung aus. Die groben Stengel zerknickte er Stück für Stück, einige große Blätter zerbrach er. Dann stopfte er alles fest in den Pfeifenkopf, die Staubreste vom Papier schüttete er oben auf. Dann rauchte er. Und als er die ersten Züge getan hatte, nahm er die Pfeife mit der linken Hand aus dem Mund und sprach laut in den grauen schmalen Raum hinein, wie jeden Morgen, wenn seine Frau weggegangen war. »So. Es ist der 10. November«, und qualmte behaglich weiter. Die Zeitung war vom Achten, der Pfarrer vom Vorderhaus gab sie neuerdings unregelmäßig weiter. Der Mann machte sich, die Arme breit aufgelegt, an die Arbeit und studierte Familiennachrichten, Verkäufe von Mobiliar, Meldung vom Obst- und Gemüsemarkt. Er bewegte die Lippen ein wenig. Manchmal unterbrach er sich, las nochmal, sagte laut: »Kleine Reinetten, zwei fünfzig. Oh, das ist viel«, tat ein paar ernste Züge, sah zum Fenster hin, runzelte die Stirn, seine Frau ging wahrscheinlich jetzt über den Wasserturmplatz, der wird ein Sumpf sein, man müßte ihn pflastern, aber wer hat im Krieg dafür Geld. Er las weiter von den Apfelsorten.
Die Frau ging wirklich gerade über den Wasserturmplatz. Den braunen Familienschirm klemmte sie unter den linken Arm, der Arm drückte zugleich das große schwarze Umschlagetuch an der Brust fest, das sie über ihren grauen Kopf und die Schultern gezogen hatte. Sie sah nur mit einem Auge durch einen Spalt hinaus. Ihr rechter Arm trug einen Holzeimer, in dem eine breite Holzschippe steckte. Sie näherte sich den Gerüsten am Ausgang des Platzes, man baute schon seit Jahren nicht weiter, die Raben hatten auf den Balken ihr Standquartier, sie flogen von hier nach dem Wald und in die Straßen, die zu den Kasernen führten. Sie streifte sich die Tuchfransen vom Gesicht, um zu sehen, ob die Raben noch auf dem Gerüst saßen. Und als sie suchte und nichts fand, beeilte sie sich, denn das war das Zeichen, sie waren unterwegs.
In der langen niedrigen Schule an der Straßenkreuzung lagen Rekruten. Das große Tor zum Schulhof war verschlossen. Man hörte schreien, laute Männerrufe. Die Frau, die gerade das Trottoir vor der Schule verließ, horchte hin. Sie runzelte mißbilligend die Stirn, aber hielt sich nicht auf. Sie war auf dem Sprung. Da saßen schon die Raben, den ganzen Damm vor der Schule bedeckten sie und hackten und krächzten, und dazwischen flatterten die grauen Sperlinge, und alle hielten sich an ihre Beute, als wenn es ein Gerstenfeld wäre. Es war der Pferdemist, den sie für ihr Gemüsegärtchen brauchte. Die Frau, noch mißgestimmt über das Schreien der jungen Soldaten, dieser ungezogenen Kinder, hatte schon ihren Schirm in die linke Hand gleiten lassen, ein Windstoß blähte ihr Schultertuch auf, der Knoten auf der Brust löste sich, die alte Frau achtete aber nicht darauf. Sie schlug mit ihrem Schirm auf die Raben ein, die mit wütendem Krächzen an ihr hochflatterten, sie kannten die Alte schon. Die Spatzen stoben in einer Wolke davon und setzten sich abwartend und schimpfend auf die Regenrinne des Schuldaches. Unten auf dem Fahrdamm knotete die Alte, der der Wind die Kleider zerzauste, das Tuch vor der Brust fest, den Schirm legte sie auf die Bordschwelle, den Eimer stellte sie neben sich. Sie schimpfte auf das Rabenpack, das den Pferdemist über den Damm zerstreute, sie schimpfte über diese unmanierliche Art, sich zu sättigen, und ging dann ihren Eimer füllen. Die Raben hielten sich in respektvoller Entfernung. Als sie mit dem Schaufeln fertig war und sich mühselig aufrichtete, saßen die kleinen Räuber, die Spatzen, schon wieder bei den dicken Raben und pickten und lärmten. Sie stieß die Schippe in den Eimer und holte den Schirm.
Wie sie mit dem vollen Eimer auf das Schilderhaus zuging, neben der breiten Schultreppe, staunte sie. Sie suchte. Sie wollte ihren Eimer wie jeden Morgen der jungen Schildwache zur Aufbewahrung geben, bis Mittag, wenn sie von der Arbeit kam. Der Bursche war nicht da. Drin schrien sie hinter dem geschlossenen Tor unentwegt weiter, es war schon ein Gebrüll. Die Alte, ihren Eimer in der Hand, war drauf und dran, an das Tor zu klopfen und Ruhe zu fordern. Sie stand schon mit einem zornigen Ausdruck da und hielt den Schirm erhoben. Dann erschreckte sie das Brüllen, sie drehte sich und zog ärgerlich ab. Um ihrem Groll Luft zu machen, marschierte sie schimpfend durch den Vogelschwarm hindurch. Sie bog in die stille lange Kasernenstraße ein.
An einer Straßenecke wurde sie jeden Morgen von dem blinden Artilleriehauptmann erwartet, der ebenso früh aufstand und einen festgelegten Spaziergang um mehrere Häuserblocks machte. Er kannte genau die Schrittzahl von einem Straßenübergang zum andern, mit einer genau innegehaltenen Schrittlänge zog er Punkt sieben ab, den dünnen Spazierstock in der Rechten wie eine Antenne vor sich, er gab der Frau seinen Wohnungsschlüssel, sie ging dann zu ihm und machte ihm Kaffee, bevor sie ins Lazarett wanderte. Die gerade Straße war leer, die Alte kämpfte sich unter ihrem Tuch gegen den Sturm vorwärts. Ab und zu schlug sie die Fransen zurück, um sich zu orientieren. Der Fahrdamm war breit mit Wasser überschwemmt.
Da stand der Hauptmann, lang und steif wie er war, im schwarzen Wintermantel, die Krempe des schwarzen Schlapphutes aus der Stirn geweht, so daß er dem Licht sein sehr weißes schmales Gesicht, das angehobene Kinn und die scharfen Halsfalten hinhielt. Er hatte den Kopf nach links gedreht, er hörte nur links, derselbe zu früh abgeprotzte Kanonenschuß auf dem Schießplatz, der ihm die Augen kostete, hatte auch das Gehör auf dem rechten Ohr zerstört. Sie erzählten in der Stadt, der Hauptmann sei ein böser Mann und verhaßt bei seiner Batterie gewesen, seine Leute hätten ihm zum Tort zu früh geschossen. Seine weißen Augäpfel funkelten unruhig. Er hörte die Frau in ihren Pantinen und rief soldatisch: »Frau Hegen.« Sie klapperte an, bot ihm guten Morgen und machte die übliche Bewegung nach seiner linken Hand, wo er den Schlüssel hielt. Aber er hielt ihn fest. »Haben Sie nachmittag Zeit?« »Heut nachmittag? Warum?« »Sie müssen mir sagen, ob Sie Zeit haben.« Er war immer eigensinnig, sie aber auch. »Ja Sie wollen wohl heute keinen Kaffee trinken. Geben Sie mir Ihren Schlüssel.« Er gab ihn nicht. »Wenn Sie nachmittag keine Zeit haben, muß ich mich woanders umsehen.« Die Alte fixierte ihn, heute hatten alle Dummheiten im Kopf, sie ging schon elf Jahre zum Hauptmann. »Ich muß packen«, erklärte der Hauptmann, als er nichts von ihr hörte. Sie dachte nach: »Wann soll ich kommen?« »Um zwei.« »Gut.« Da gab er ihr den Schlüssel, und sie gingen wie immer ohne Wort auseinander, er in Richtung auf den Wasserturm, sie in seine Wohnung, um ihren Eimer abzustellen und Kaffee zu machen.
Die Tore des Schulhofes öffneten sich, das Geschrei tönte über die Straße, auf der Gegenseite sammelten sich Menschen, und drin formierten sich junge Soldaten ohne Waffen, manche rauchten Zigaretten. An die Spitze traten mehrere mit Gewehren. Lärmend und ohne Schritt zogen sie durch die Wasserfluten die Schulstraße herauf in die kleine Stadt ein, die noch im Schlaf lag. Hinter ihnen verließen Lastwagen und Automobile den Hof, voller schreiender und singender Soldaten, die Mützen und rote Bänder schwenkten, dabei auch bärtige Landstürmer. Sie sausten in der anderen Richtung die lange Allee nach dem Flugplatz hinunter.
Im Lazarett, nahe dem Flugplatz, in einem Einzelzimmer der Chirurgischen Station lag ein Flieger. An der Kopftafel stand lateinisch Bauchschuß. Er dämmerte aus weiten Augen. Die große Krankenschwester in Weiß, die den klappernden Verbandwagen neben sein Bett ans Fenster schob, beugte sich über ihn: »Es geht heute besser, Herr Leutnant?« Er suchte zu lächeln, und sie erschrak. Er hatte tiefe Falten um den Mund, die Nase war dünn, ein graubläulicher Hauch über dem Gesicht. Er sprach langsam und verwaschen: »Danke – schön, Schwester.« Er bewegte den Kopf hin und her, seine Finger spielten. »Wollen Sie trinken, Herr Leutnant? Sie haben Durst? Ich bringe etwas.« Ach Gott.
Sie lief in den Hauptsaal, die Stationsschwester trug Temperaturen auf Kurven ein. Sie flüsterten miteinander. Die Stationsschwester kalt: »Ja sehen Sie zu, wo Sie einen Doktor herbekommen« – sie zuckte die Achsel, schrieb ruhig weiter. Dann ließ sie die Hand mit der Füllfeder auf der Kurve liegen und blickte der Jüngeren voll ins Gesicht: »Wozu wollen Sie eigentlich einen Doktor bei dem? Sie fahren lustig mit Ihrem Wagen in das Zimmer. Er hat doch schon heut nacht den Kuratus gehabt.« Die Verbandschwester machte Augen. Die Ältere: »Wo ist übrigens der Wagen?« »Noch da, in seinem Zimmer.« »Ich bin hier bald durch, noch drei Betten. Wir fangen dann drüben bei dem Empyem an, der hat’s sehr nötig, die Nachbarn beschweren sich, riecht.«
Die Große entfernte sich rasch, die Ältere studierte wieder mit gerunzelter Stirn ein Thermometer: »Sie haben doch schon wieder nicht runtergeschlagen, Kunz.«
Im Einzelzimmer war es ein Tag wie jeder. Seitdem das Zimmer da war und seine Fenster öffnete, wurde es morgens grau, hell und heller. Das Sonnenlicht fiel um elf herein, wenn die Bäume auf der anderen Seite des Hofs ihren Schatten kürzer werden ließen. Dann wich die Sonne, die Helligkeit dauerte noch eine Stunde, während die Menschen in dem Zimmer atmeten und litten, es wurde dunkel, finster, die Nacht war da. Jetzt lag einer im Bett und war im Vergehen. Der Verbandwagen stand da, als die Schwester auf Spitzen wieder eintrat. Der Verbandwagen am Fenster neben dem Bett sah freundlich, friedlich und hoffnungsvoll aus mit seinen weißgedeckten Glasplatten. In seinen Becken und Schalen lagen sterilisierte blanke Messer, Pinzetten, Scheren, Gefäßklemmen, Nähzeug. Die hohen Glasbüchsen waren mit Tupfern vollgestopft. Unten lagen offen Gipsscheren und Binden. So wartete der liebe Verbandwagen am Fenster, und sein Metall blinkte. Er war auf weißen Beinen, auf kleinen roten Gummirollen hereingelaufen. Die große hellblonde Schwester stellte sich vor den Wagen am Bett, um ihn zu verdecken. Die Schwester war genötigt, hier zu stehen, sie floh nicht, der Tod rief sie an.
Dem jungen Menschen war nicht viel geschehen. Er war als Beobachter zu einer Erkundung aufgeflogen, das Maschinengewehr eines feindlichen Fliegers spielte in der Nähe, von den Kugeln nahm eine, während sie über hundert Kilometer flogen, ihren Weg in seinen Leib. Sie hätte eine Sekunde vorher, als er sich noch nicht zurechtgesetzt hatte, den leeren Platz getroffen. Nun schwirrte das runde Blei durch den Gurt, die Jacke, die Hose des jungen Menschen und fand keinen Widerstand, und auch an der weichen Haut, die noch nie eine Liebende berührt hatte, fand sie keinen Widerstand. Glatt senkte sie sich ein, als wäre dies ihr Platz. Sie wuchs aus der Welt in diesen weichen Leib hinein wie eine Wurzel aus einer Pflanze in die lockere Erde. Sie traf auf ihrem Weg das spiegelglatte Bauchfell und machte einen kleinen Riß hinein. Die langen dünnen Därme bewegten sich, sie zogen sich nicht zusammen, als die Kugel kam, es ging zu schnell, sie nahm ihren Weg durch sie und prüfte im Vorübergehen den dünnen Speisebrei, der sich da fand vom Frühstück, die Kugel nahm nichts weg. Sie durchquerte den Darm. Da wogte gewaltig ein großes Gefäß, in ihm ruckte und schlug das Blut, das vom Herzen kam, die Kugel nippte daran, sie pflanzte sich in den Knochen dahinter ein, einen Wirbel, in ihm blieb sie stecken. Sie war inzwischen mit dem Mann, in dem sie saß, und mit dem Flugzeug viele Meter von dem kleinen Geschütz entfernt, aus dem sie gespritzt war. Man band den Mann, als er ankam, aus den Riemen los und tat an ihm vieles, was er nicht merkte. Man holte die Kugel aus ihrem Versteck, die Risse konnte man finden und schließen. Der kleine, immer zum Scherz geneigte Operateur blickte auf, als er die Kugel zwischen zwei Fingern rollte, seine Hände steckten in hellbraunen Gummihandschuhen: »Also wer kriegt sie heute?« Zwei assistierende Schwestern riefen hintereinander: ich. Der Doktor, während er schon in der Tiefe des Leibes weiterarbeitete – die Kugel hatte er in ein Eiterbecken fallen lassen –, brummte: »Also wird wieder gelost.« Die eine seufzte: »Oh, ich verliere immer.« Der Operateur ließ sich den Stirnspiegel zurechtrücken, er murmelte hinter seiner Mullbinde: »Sie sind nicht die einzige, die verliert.« Der Krieg verloren, wir verloren, der Mann hier verloren, also spülen, Bauchfell waschen, Kochsalzinfusion, vielleicht schlägt er sich durch.
Die große blonde Schwester im Einzelzimmer hielt sich, die Hände rückwärts, am Verbandwagen fest. Sie hatte schon genug sterben sehen, im Osten, in Rumänien und im Westen. Aber jetzt noch immer, wo alles schon vorbei war, noch immer. Sie überwand sich, faßte eine zuckende feuchte Hand auf der Bettdecke und hielt sie. Zum Schutz, falls einer plötzlich hereinkäme, drückte sie einen Finger auf den Puls – aber sie hatte hier nicht Puls zu zählen –, mit beiden Händen hielt sie die eine des Kranken, der unentwegt angespannt zum Fenster hinaussah. Sie wußte nicht, was sie trieb, die Hand so lange zu fassen und ein ungestümes Gefühl in ihre Hände zu legen. Was kann ich tun, dachte sie, bangte sie, sie wollte ihm von ihrem Atem mitgeben. Der Krieg ist ja aus, es ist ja alles vorbei. Er blickte jetzt an die Decke hinauf. Sie ließ seine Hand los, das Gefühl überwältigte sie. Du wirst nicht sterben, ich halte dich, du sollst nicht, wie heißt du, sie las auf der Tafel: Richard, komm, Richard, halt fest, preßte seine Hand, der Kranke nahm sie wahr, sein Blick flog zu ihr.
In diesem Augenblick öffnete sich mit einem Ruck die Tür, ein großer rotbäckiger junger Mann im gestreiften Leinenanzug des Lazaretts stürmte herein, die rechte Schulter dick gepolstert unter der Jacke, er schmetterte sofort in den Raum: »Richard, das Neuste, sie sind da, die Matrosen. Alles, was Beine hat, rennt.« Die Schwester hatte sich im Moment zu ihm umgedreht, die Hand des Kranken in ihrer, als zählte sie Puls. Der Besucher war am Bettgestell, einen starren Blick auf den Kranken, dessen weite Augen unverändert an der Schwester hingen. Er ließ das Eisengestell los, faßte sich an den Mund, sagte: »Oh, oh.« Die Schwester: »Schütteln Sie bitte nicht am Bett.« Er rannte hinaus. Auch sie ging, auf den Spitzen, den Verbandwagen vor sich.
Der Kranke dämmerte allein. Die feinen Pflänzchen, die die Bleikugel aus der Luft und von der Jacke in seinen Leib getragen hat, durchwucherten seinen Leib. Sie überzogen alle Därme mit einem trüben Hauch und machten ihren Glanz blind. Graue Flocken sanken in die Nischen zwischen den Därmen, die sich noch zusammenzogen, hoben und senkten. In die Adern des Mannes waren die Pilze gewandert und hatten sich fröhlich von dem warmen Strom des Blutes forttreiben lassen, wie fühlten sie sich selig in dem süßen Saft, das war etwas anderes als das Leben an der kalten Luft und auf dem Tuch. Wie ein Orchester, das auf den Wink seines Kapellmeisters wartet, setzten sie sich rauschend in Bewegung. Und nun war der Mensch ein hohles gewaltiges Gewölbe geworden, durch das ihre Musik scholl. Er lag da, schlaff, schwitzend.
An den Wänden des Gewölbes kriechen Schlingpflanzen, sie hängen in den Raum hinein, es ist ein Urwald, und dies sind die Tropen, und da klettern Affen, Untiere mit schrumpfligen Hälsen, sie steigen aus dem Morast, Kolibris schwirren mit gewundenen Schnäbeln, die Blumen halten ihnen ihre grellen Blüten hin und schnellen schmale rote Zungen heraus. Nun spielt eine Orgel, und von den Tonleitern steigen ernste Männer herunter im Talar. Lange Schleppen ziehen sie hinter sich her, sie predigen und ermahnen, es ist ein langes schwarzes Lied.
Das graue Tageslicht draußen hellt sich auf. Die Stunden rücken vor. Ein Tag hat sich in Bewegung gesetzt, der 10. November, Sonntag. Kleine Sonnenstrahlen schleichen über das Bett.
Schwestern kommen, stützen den Kopf des Fliegers, halten Wein vor seinen Mund. Sein Gesicht – wessen Gesicht – wird länger und länger. Seine Lippen fallen auseinander. Er öffnet den Mund nicht. Sie rufen. Sie rufen ihn an.
Aber der Urwald hat ihn verschlungen.
Das Nebenzimmer, das dem Oberleutnant Becker und dem jungen Leutnant Maus gehörte, dem rotbäckigen, der in das Zimmer des Fliegers gedrungen war.
Maus öffnete, als er zurückkam, langsam die Tür und schloß sie langsam. Von seinem Liegestuhl her, am Fenster, sah ihm Becker zu. Er wartete, bis Maus an den kleinen Tisch geschlichen war, der quer vor ihren beiden Betten stand. Als Maus noch immer nichts sagte, drehte Becker brüsk den Kopf zum Fenster und fragte geschäftsmäßig: »Was gibt es Neues?« Maus, den verstörten Blick auf den Tisch: »Mit Richard ist es aus.« Becker: »So?« und fixierte wieder die kahlen Äste draußen. Dann sagte er zu Maus: »Setz dich.« Der ließ sich automatisch auf den Stuhl am Tisch nieder. »Du sitzt auf Zeitungen«, bemerkte Becker. Maus, den Kopf aufgestützt, antwortete nicht. »Du sitzt auf Zeitungen, Maus«, wiederholte Becker. Trompetentöne drangen vom Garten herein, tiefe, langsame, einer probierte sein Instrument. Leise sprach Maus: »Nun geht es auch mit Richard zu Ende.« »Ich höre, mein Sohn«, antwortete Becker kühl, »der Krieg ist eine gefährliche Sache.« Maus: »Wir hatten gestern mittag noch Karten gespielt. Ich habe noch seinetwegen in der Stadt Karten gekauft.« »So ist es«, bemerkte Becker.
Als aber Maus wieder zum Fenster sah, waren die Augen Beckers zornig auf ihn gerichtet. Beckers feines, pergamentweißes, ganz schmales, fleischloses Gesicht verzerrte sich, aber er sprach nicht.
Becker sagte sehr ruhig: »Du warst draußen und hast dich erkundigt? Was ist mit dieser Revolte?« »Ich will mir den Mantel anziehen. Ich geh’ nach der Inneren Station.« »Tu das.«
An der Tür sah Maus seinen Freund mit gerunzelter Stirn unbeweglich liegen. Ihm fiel ein, Becker war so lange und entsetzlich krank gewesen, er hätte ihm nicht vom Tod sprechen sollen. Wie zur Entschuldigung rief Maus mit unsicherer Stimme ins Zimmer zurück: »Ich bin bald wieder da. Vielleicht treffe ich den Chef.«
Im Garten des Lazaretts blies einer Trompete unter den schwarzen Bäumen. Er fing ein Lied an, dann freute ihn ein Ton, er hielt ihn fest, blies ihn lang aus und ließ ihn erst nach einer Weile frei, dann schwenkte er in eine Melodie ein. Das Trompeten brach ab. Der Mann, der übte, ein großer Magerer ohne Mütze, in einem grauen Militärmantel über der Lazaretttracht, nahm die Trompete vom Mund und bückte sich an dem Baumstamm, ganz langsam. An dem Gartengitter, das unten Lücken hatte, zeigte sich etwas Braunes, ein kleines Tier, es schlüpfte in den Garten, ein wildes Kaninchen, es suchte Futter bei den Abfalleimern neben dem Hauptgebäude. Wo kriegt man einen Stein her, hier liegen Äste, vielleicht läßt sich mit einem dicken was machen. Er hockte, tastete über dem Boden nach einem Knüttel.
In diesem Augenblick klatschte und prasselte es am Gitter, aus einem Fenster vorn lachte man, das Kaninchen heidi durch das Loch hinaus, sie hatten es begossen, der Trompeter erhob sich, setzte seine Trompete an, fing wieder an zu blasen: »Kennst du das Land, wo die Zitronen blühn.«
Der Oberstabsarzt schritt langbeinig durch das Hauptportal, in feldgrauer Uniform, mit Mütze, ohne Säbel, ein langer freundlicher Herr, mager. Er hinkte leicht, man hielt es für eine Kriegsverletzung, aber es waren enge Stiefel und Hühneraugen, die ihm das Leben verbitterten. Er war überhaupt ein Hypochonder, sie hatten ihn wegen seines Herzens, Arteriosklerose, zurückgeschickt. Das wilde Kaninchen hatte er gesehen, wie es grade im Wald verschwand. Ihn beschäftigte jetzt, wo und wie es aus dem Lazarett kam. Als er suchend am Gitter entlangging, schlossen sich oben krachend die Fenster. Er blickte auf, erkannte den Wärter, machte ihm ein Zeichen, der Wärter riß das Fenster wieder auf. »Wo ist es durchgekommen, Kralik?« Der Wärter: »Mehr seitwärts, Herr Oberstabsarzt. Da kommen sie immer.« Mächtiges Loch. Der Arzt stand schweigend davor, übrigens tat ihm die Luft wohl, alle Räume waren überheizt. Er grüßte und ging mit gezwungener Straffheit am Gitter zurück ins Verwaltungsgebäude.
Gleich rechts an der Treppe lag sein Zimmer mit dem Blick auf die Landstraße. Er deponierte Mütze und Handschuhe auf dem Schreibtisch, befreite sich mühsam von seinem Mantel und wischte sich ächzend die Stirn. Er klingelte. Fast im Augenblick war Kralik da, diensteifrig, ein Bauernbursche in Sanitätertracht, untersetzt, mit einem braunen, gesträubten Schnurrbart. Der alte Sanitätsoffizier saß schon und streckte ihm die Beine entgegen. Wortlos streifte ihm Kralik die Hosen hoch, zog die Stiefel aus, die Strümpfe, und frottierte die Füße, einen nach dem andern, vorsichtig über seinem Knie, denn er hatte sich hingehockt. »Sie sind schon weicher, Herr Oberstabsarzt.« »Finden Sie?« »Immer mit Kleie baden.« »Es sind die Stiefel, Kralik.« »Ja, die Stiefel.«
Der Wärter holte aus dem Aktenschrank ein Paar breite gelbe Militärstiefel und half dem Herrn hinein. »Sie können mir glauben, Kralik, der Schuster, der diese Dinger gebaut hat, war ein Meister. Ein Polack übrigens, an der Ostfront.« Dabei fiel ihm ein: Wo ich mir das mit dem Herzen geholt habe, und zugleich die beruhigende Versicherung: Vielleicht habe ich gar nichts am Herzen, man simuliert sich was vor. »Alle im Dienst, Kralik?« »Eigentlich ja, Herr Oberstabsarzt«, der Mann grinste, »bloß die beiden neuen Schwestern aus der Stadt, die bleiben zu Hause, ist ihnen am sichersten.«
Der Oberstabsarzt notierte, wie der Mann heraus war, auf seinem Kalenderblock den Stand des Barometers, las die Zimmertemperatur ab und notierte sie gleichfalls. Darauf machte er in der linken Ecke des Kalenders, wo man den Sonnenaufgang und -untergang meldete, einen kleinen Kreis und einen Pfeil mit zwei Spitzen. Das bedeutete allgemeines Wohlbefinden und zweimal Herzstiche. Das mit dem Fuß notierte er nicht. Wie immer blickte er dann links auf die Wand, wo einige Zettel mit Reißnägeln befestigt waren. Es waren Aufrufe für die Kriegsanleihen, kernige Sinnsprüche: »Nicht sorgen und quälen, nicht die Feinde zählen, tu entschlossen still, was die Stunde will! Zeichnen Sie Neunte.« Daneben ein anderes Blatt: »Um Deutschlands Freiheit! Neid und Eroberungsgier verbinden die Feinde in Ost und West zum Überfall auf das emporstrebende Deutschland. Im Osten zerschlugen wir den eisernen Ring, und im Westen trotzen wir erfolgreich der feindlichen Flut. Mag der Kampf heiß werden, die vergeltende Gerechtigkeit wird uns die Kraft geben, auch diese Woge zu brechen! Deutsches Gut für deutsches Blut.«
Der Oberstabsarzt las es jeden Morgen Wort für Wort und stärkte sich daran. Darauf machte er es sich an seinem Schreibtisch bequem, bevor er den Sanitätsfeldwebel zum Rapport befahl und gab sich wohltuenden Phantasien hin. Ich habe es doch eigentlich schon geschafft, ich bin heil, mit dem Herzen ist es nichts, der Krieg ist aus, in jedem Fall werden sie mir meine Pension geben, den Obstgarten bei unserm Häuschen werde ich erweitern, vielleicht nehm’ ich ein Nachbarstück zu. Er griff nach den Gärtnereikatalogen, die er unter seinen Akten versteckte.
Da rasselte wieder ein Lastwagen mit johlenden Soldaten vorbei, der fuhr nach dem Flugplatz.
Was geht hier vor? Sie sollen einen zufrieden lassen und keine Dummheiten machen. Die auch noch. Er öffnete das Fenster. Hier ist es auch überheizt.
Als es klopfte und er unwirsch »herein« sagte, war es der dicke Stabsarzt aus Offenbach, Augenspezialist, der den Aufklärungsunterricht gab. Unsicher und gestört bewegte sich der Chef auf seinen Stuhl hin: »Setzen Sie sich, Herr Kollega. Sie erlauben, daß ich das Fenster offenlasse.« Der Stabsarzt setzte sich. »Ach so«, murmelte der Chef, »ich habe noch vergessen, Ihnen für den großartigen Vortrag zu danken, den Sie in der Baracke gehalten haben. Meinen Glückwunsch. Sie haben wohl gemerkt, den Leuten gefiel das. Land muß verteilt werden. Wir brauchen Boden. Eine gute Idee. Wissen Sie, daß schon die alten Römer den Soldaten Land gegeben haben.« Der Offenbacher verneigte sich geschmeichelt. Er hielt ein Blatt in der Hand: »Das sind die Themen, die ich für die nächsten Kurse aufgeschrieben habe, entsprechend der Anweisung. Wenn Herr Oberstabsarzt nicht beschäftigt sind …« »Zeigen Sie mal her.« »Es ist die Einteilung bis zum 12. Dezember. Den Kurs vom 12. Dezember bis 11. Januar 1919 habe ich wegen der vielen Urlaube in dieser Zeit, Weihnachten, Neujahr, nicht skizziert.« »Schön, schön, Herr Kollega. Sehr fleißig. Der Posten gefällt Ihnen, habe ich gleich gemerkt. Es zieht Ihnen doch nicht hier? So. Man muß die Leute ermutigen.« Er kratzte sich den Kopf und nuschelte vor sich: »Waren Sie eigentlich schon auf der Straße, Herr Kollega? Was sagen Sie dazu?« Der Offenbacher verbeugte sich fröhlich. »Na, was meinen Sie?« »Sehr freundlich, Herr Oberstabsarzt, sehr geehrt.« Der Chef: »Na was?« Der Offenbacher wurde rot, machte kleine verlegene Verbeugungen: »Ich habe mich noch nicht damit beschäftigt.« »Sie können ruhig reden, wenn ich Sie frage.« »Sehr schmeichelhaft, Herr Oberstabsarzt.« Der Stabsarzt lächelte stolz, ja er strahlte: »Ich denke, man wird der Sache spielend Herr werden, mittags haben wir Truppen aus Straßburg hier.« Der Chef machte große Augen: »Aus Straßburg? Wer hat das erzählt?« »Ich denke, aus Straßburg oder von der Front. Von irgendwo werden sie doch kommen.« Mißbilligend betrachtete der Chef den Mann: »Straßburg. Da wird es nicht anders sein als hier.« »Zu Befehl.« »Und von der Front. Da können Sie lange warten. Die haben mehr zu tun, als Landsturm und Rekruten bändigen.« »Zu Befehl.«
Der Oberstabsarzt zog sein Taschentuch und schneuzte sich umständlich: »Waren Sie im Wachsaal? Was Neues?« Der Kollege sagte: »Zehn neue Grippe. Zwei Todesfälle, ein Moribunder.«
Als der Chef allein saß, irrten seine Gedanken zu den Gärtnereikatalogen. Aber während seine linke Hand sie unter den Akten suchte, tastete seine rechte nach dem Telephon, er hob ab: »Meine Wohnung, Albert. – Frauchen? Ich bin’s. Was hast du für Mittag vorbereitet?«
Drüben zwitscherte eine jüngere hübsche Frau, rundlich, lebendig: »Grade wollte ich anrufen. Unsere Leitung hat eine Störung. Ich telephoniere und telephoniere nach dir, und bekomme keinen Anschluß.« »Ich habe gleich Verbindung bekommen.« »Vielleicht ist es der Sturm.« »Ja, er ist furchtbar. Also ich werde es für dich übernehmen. Beim Schlächter?« »Überall. Ich habe doch nichts. Dein Bursche läßt sich von mir Aufträge geben, nimmt das Geld, es sind schon zwei Stunden, und kommt nicht. Wann soll ich mit dem Kochen anfangen. Und heute ist doch dein salzfreier Tag!« »Mein Gott, was machen wir.« »Männe, reg dich nicht auf, es wird eine halbe Stunde später fertig, der Blumenkohl braucht nicht viel.« »Ich schicke gleich einen Mann. Was sagst du, dein Bursche ist vor zwei Stunden weg, mit Geld? Das ist ja unerhört.« »Die Kaserne meldet sich nicht. Soll ich rübergehen?« »Nein, bitte nicht. Halte dich im Haus. Laß keinen rein.« »Aber Männe, so aufgeregt.«
Er schrieb sich das Gemüse und Obst auf, das die Frau diktierte, klingelte nach Kralik, der sofort abzog, verlangte die Artilleriekaserne. Antwort: »Meldet sich nicht.« »Rufen Sie nochmal, sagen Sie, ich bin am Apparat und wünsche Herrn Oberst Zinn zu sprechen.« Nach einer Pause: »Die Artilleriekaserne meldet sich nicht.« Er schleuderte den Hörer hin.
Wütend stand er auf, Unruhstifter, Rädelsführer, aufhängen, mit Geld durchgehen. Er schrie in den Apparat: »Der Sanitätsfeldwebel zu mir.« Der bekam keinen Gruß, als er eintrat. Er half dem Chef in den weißen Mantel.
Auf der Treppe liefen Schwestern vor ihnen, der Chef sah sie nicht, er stürmte, ohne zu sehen und zu hören, ohne den ordinierenden Arzt der Station zu beachten, durch die ersten Krankensäle der Inneren Abteilung. Durch einen Seitenkorridor, dessen Boden rechts und links mit leichten Grippefällen belegt war, irrte eine Figur mit Schulterverband. Das Gesicht des Chefs entwölkte sich: »Leutnant Maus auf der Inneren?« »Entschuldigung, Herr Oberstabsarzt.« »Kein Grund, ich bin bald drüben.« »Wir waren neugierig, Becker und ich, wegen dieser« – er machte mit den Fingern eine zappelnde Bewegung – »Geschichte in der Stadt.« »So, Sie wissen was?« »Nein, ich dachte, Herr Oberstabsarzt.« »Nichts. Nur (er sann nach) die Artilleriekaserne meldet sich nicht.« »Telephonisch?« »Ja.« Sie waren plötzlich nicht mehr Oberstabsarzt und Patient, sondern zwei Offiziere. Als Maus schwieg, verabschiedete sich der Chef rasch.
Einige Schritte darauf stellte er sich vor seinen Feldwebel und sah ihn an, als ob er ihn fressen wollte: »Ist hier Unordnung? Brennt man hier auch durch?« Der Feldwebel blickte nach rechts und links, die Oberschwester entfernte sich rasch aus dem Gesichtsfeld, der Feldwebel flüsterte: »Die Leute hier auf der Station wissen ja noch nichts, Herr Oberstabsarzt, die sind zu krank. Aber unten auf der Infektion und auf der Chirurgischen.« Der Chef war sprachlos: »Was ist auf der Infektion? Die Bazillenträger?« »Reißen aus, als wenn nichts wäre. Fast die ganze Station ist weg.« »Und das sagen Sie erst jetzt?« »Befehl. Es steht im Rapport, der auf dem Tisch von Herrn Oberstabsarzt liegt, ich habe im Zimmer von Herrn Oberstabsarzt gebeten, Rapport zu erstatten.« »Und?« »Herr Oberstabsarzt haben mich nicht angehört und sind aus dem Zimmer gegangen.«
Der Chef glotzte ihn an, man setzt sein Leben aufs Spiel, sie verschwören sich gegen einen, Banditen, es ist mein salzfreier Tag (nur nicht aufregen, schadet dem Herzen). Der Sanitäter: Wenn er sich an mir ausläßt, brülle ich auch.
Die große blonde Schwester war im chirurgischen Hauptsaal grade mit dem letzten Verband fertig und wollte den Wagen in den Operationssaal zurückfahren, als draußen eine Tür klappte. Die Mutter Hegen arbeitete im Korridor, hinter ihr schoben zwei Wärter das Bett des Fliegers aus dem Einzelzimmer.
Sie rollten es in das kleine Zimmer dicht am Eingang, wo die Leichen auf Abholung warteten.
Im Operationssaal, dessen Tür sie hinter sich schloß – der Raum war leer –, stellte Hilde sich an die Wand. Die weißen Kacheln kälteten ihren Rücken. Sie bewegte sich von der Wand, besah sich in dem breiten viereckigen Spiegel über dem großen Waschbecken der Ärzte, sie hatte eine flache weiße Haube auf, über beiden Ohren hingen ihr hellblonde schlichte Haare, sie strich sie zurück.
Kein Blick auf das graublasse, jetzt schlaffe, volle Gesicht, in die leeren Augen. Wie verbraucht man ist mit seinen vierundzwanzig Jahren. Der Krieg. Erst jetzt, am Ende, fiel es über sie.
Langsam schleppte sie sich aus dem Operationssaal in den großen Saal zurück, wo die zerrissenen Reste des Krieges in den Betten lagen und sich wanden. Sie setzte sich an den mächtigen Mitteltisch, vor die Krankengeschichten, Thermometer und Salbentöpfe, und stierte ins Leere. Es war ein stürmischer, aber sonniger Tag geworden. Sie schlich schwerfällig in die Küche, hackte Eis für Eisbeutel und füllte zwei. Die hängte sie den beiden Hirnerschütterungen an die Schnur und legte die Handtücher über die Köpfe. Heute würde keine Visite kommen.
Frau Hegen war mit dem Korridor fertig. Sie klopfte links an das erste Einzelzimmer, die beiden Herrn, Becker und Maus, hörten mit ihrem Gespräch auf und nahmen die Beine beiseite. Maus setzte sich auf den kleinen Tisch und drängte sie zur Eile. Sie klopfte im Nebenzimmer an. Als keiner antwortete, öffnete sie. Der Raum leer, Medizinflaschen auf dem Tisch, die Temperaturkurve, ein Kartenspiel, Gläser, ein zerknülltes Handtuch, alles durcheinander. Das Fenster weit offen. Kein Bett, kein Kranker. Sie fing an zu schrubbern. Dann holte sie neues Wasser und begann die Leichenkammer.
Zwei weiß überzogene Betten standen da dicht nebeneinander, die Bettstangen, an denen sonst Kurve und Handtuch hingen, ragten leer in die Luft wie Fahnenstangen. Sie arbeitete an den Betten, so gut sie konnte. Ihr Sohn war längst umgekommen, vor zwanzig Jahren, bei Saarbrücken, Grubenunglück. Die jungen Leute von heute sterben im Krieg oder im Lazarett. Sie wirtschaftete unter den Betten mit ihrem Schrubber. Sie kam ins Gespräch mit den beiden, die da lagen: »Regt euch nicht auf, es ist ganz gut, wir machen’s alle so, meine Mutter ist schon lange weg, und die Großeltern.« Plötzlich unterhielt sie sich mit ihrem Sohn, er war zu Besuch nach Hause gekommen: »Was kochen sie in Saarbrücken? Hammelfleisch? Ihr mit euerm Hammelfleisch, Vater mag es auch, ich muß ihm das Fleisch kleinschneiden, er hat keinen Zahn. Was er sonst macht? Nicht viel. Sitzt in seiner Stube und raucht. Rauch nicht zuviel, macht die Zähne schlecht, er hat bloß Stummel.« Sie sah Albert, einen kleinen Jungen, unten in der Ecke, eine Kinderpeitsche im Händchen, einen Kreisel zwischen den Beinchen.
Sie schrubberte und stieß gegen die Bettfüße.
Als die jungen Soldaten mit roten Bändern um den linken Arm vor dem Lazarett aufzogen, ging sie im Verwaltungsgebäude die Treppe herunter, an dem Pförtner vorbei, der ihr aufgeregt zuwinkte: »Achtung, Mutter Hegen, kommen Sie rein zu mir.« Sie klinkte ruhig die Tür auf, ein heftiger Windstoß, sie schlug hinter ihr zu, die Leute zogen neben ihr die Klingel. Ein Schreien, Rufen, zwei von den Männern trugen Gewehre auf dem Rücken, den Kolben aufwärts, sie machten ihr Platz, sie knotete sich ihr Tuch auf der Brust fest und klapperte auf die andere Seite, kletterte über den Chausseegraben. Sie hatte eine Kaninchenfalle im Wald.
Die jungen Soldaten blieben auf der Treppe im Verwaltungsgebäude und verlangten den Chefarzt. Er mußte von der Infektionsstation geholt werden. Er ging mit zweien von den Männern und in Begleitung seines Sanitätsfeldwebels durch die Räume des Lazaretts. Die beiden Leute stellten sich als Soldatenräte der Garnison vor. Der Chefarzt wagte während der ganzen Visite weder seinem Feldwebel noch den Schwestern ins Gesicht zu blicken. Er dachte nicht an sein Herz noch an seine Stiefel. Er war betäubt. Er fühlte seinen Körper nicht. Er zeigte den Soldaten, was sie wollten, in einem automatisch apathischen Ton. Sie glaubten, er stelle sich schwerhörig, aber er hörte wirklich nicht. Der Himmel stürzte ein. Auf jede Bemerkung der Soldaten antwortete er: »Wie beliebt.« Beim Eintritt in jeden Krankensaal (die Wachsäle vermieden sie) rief der ältere der beiden Soldatenräte: »Hier ist der Soldatenrat der Garnison. Hat jemand etwas zu melden?« Worauf Totenstille eintrat, hier und da Grinsen und Kichern mit einem Blick auf den Oberstabsarzt und den Feldwebel. Die Räte fragten die Schwestern nach dem Essen. Sie erröteten, blickten hilflos den Chefarzt an.
Auf der Inneren Station war eine Tür verschlossen. »Was ist das?« Der Feldwebel: »Das Isolierzimmer.« »Aufschließen.« Es war eine geräumige Zelle, mit Bett und Stuhl, das Fenster oben vergittert. »Das ist ja eine Gefangenenzelle! Was ist mit ihm?« Der Chefarzt, während der Gefangene in einer Ecke der Zelle ihnen den Rücken drehte: »Zur Beobachtung. Ein Deserteur. Das Verfahren ist in Straßburg anhängig.« »Rufen Sie ihn her.« Der Feldwebel drehte den Gefangenen, einen kräftigen Menschen, um: »Walter, Visite.« Der eine Soldatenrat: »Wir sind der Soldatenrat der Garnison. Was ist mit dir?« Der Mann hatte sich Stirn und Backe schwarz beschmiert und unheimliche Kreise um seine Augen gezogen, er blickte stumpf auf den Boden. »Versteht er nicht?« Der Feldwebel wagte es, während der Chef ihm einen wilden Blick zuwarf, dem Gefangenen die Frage zu wiederholen. Der schien jetzt zu verstehen. Eine Bewegung kam in sein Gesicht, ein ängstlicher Zug erschien auf seiner Stirn. Er bekam seine Stimme nicht zum Tönen, er hatte seit Wochen kein Wort hervorgebracht. Der eine Soldatenrat trat näher, klopfte ihm auf die Schulter: »Soldatenrat der Garnison. Verstehst du? Wo bist du her?« »Kaiserslautern.« »Siehste. Es ist Revolution. Der Krieg ist aus.«
Der beschmierte Mann blickte von einem zum andern. Der Feldwebel gab sich einen Ruck und stellte sich neben den Gefangenen. »Es stimmt. Der Krieg ist aus.« Der Gefangene zog die Nase zusammen. Der Feldwebel nickte ihm zu. Da schob der beschmierte Mann ihm sein Gesicht entgegen und grunzte: »Du bist ein Schwein.« Der Feldwebel lächelte: »Das sagt er immer zu mir.« Die beiden Soldaten packten den Mann bei den Armen. »Na komm, Kerl, sei friedlich.« Sie zerrten ihn zur Tür heraus, er sträubte sich, schrie: »Hilfe! Mörder!«
Da pflanzte sich der Chef vor dem Gefangenen auf: »Sie können das Theater jetzt wirklich lassen. Der Krieg ist zu Ende.« Der ältere Soldatenrat grollte: »Wir haben Revolution.«
»Was willst du«, schrie der ältere Soldatenrat. »Mistvieh«, antwortete der Gefangene und wollte ihm an die Kehle. Der Feldwebel umfaßte ihn von hinten. »Zurück in die Zelle«, schnob der angegriffene Soldat.
Um dieselbe Zeit – es war weit über Mittag, und das bestellte salzfreie Menu wartete zu Hause vergeblich auf den Chefarzt –, um diese frühe Nachmittagsstunde, wo es sich täglich bewölkte und der Dauerregen einsetzte, der die Straßen überschwemmte, hielten sich in einer Villa, jenseits der Felder um das Lazarett, im Korridor der Parterrewohnung, ein Mann und eine Frau umschlungen.
Ein wohlig stiller Raum, Gaslicht brannte drin, auf dem runden plüschgedeckten Tisch stand ein Rosenstrauß in einer langen Glasvase, es war warm, eine große schwarze Standuhr tickte. An seinem Hals weinte sie. Sie war schlank, älter als er, ganz in Schwarz gekleidet. Er flüsterte: »Wenn du mir einen Gefallen tun willst, Hanna. Dein Vater hat grüne Wickelgamaschen. Ich brauch’ Zivil.« »Ich gebe sie dir.« »Lange kann ich nicht bleiben. Hanna, ich habe auf zwei geschossen. Sie suchen mich.« Sie ließ ihn nicht los, sah erst jetzt sein unrasiertes beschmutztes Gesicht, holte einen Strohhalm aus seinem Haar: »Du hast geschossen.« »Sie haben den Oberst niedergeschlagen mit dem Kolben. Er schlug ihrem Häuptling, als er frech wurde, ins Gesicht.« »Und du?« »Sie waren zu fünf, beim Oberst. Wie er umfiel, schoß ich. Zwei sind getroffen. Die andern rückten aus. Ich zum Fenster hinaus.« »Du bleibst hier!« »Deine Eltern?« »Ich bring dich in die Mädchenkammer.«
Sie gingen über den Teppich des Wohnzimmers, das Fräulein voran, er kehrte um: »Meine Sachen.« Dann über den Korridor, durch die Küche, die Hintertreppe hinauf, rechts die Tür, in der der Schlüssel steckte. Sie öffnete, es war eine schmale Kammer mit Fenster nach den Feldern hinaus, ein Bett, ein Stuhl, knarrende blanke Holzdielen, eine grüne Petroleumlampe auf dem Tisch. Sie schloß hinter sich: »Laß den Schlüssel stecken. Mach die Läden zu, dann sieht man das Licht nicht.« »Kommt das Mädchen nicht her?« »Wir haben keins.«
Sie war weg. Als sie mit dem Tablett wiederkam, zog er sie, da sie nicht sehen konnte, am Arm herein, nahm ihr das Tablett ab. »Wann kommen deine Eltern?« »Das kann bis zum Abend dauern. Sie sitzen in der Stadt zusammen.« »Ah, die Einheimischen, das Franzosenkomitee.« Sie zündete die Kerze an, die sie mitgebracht hatte. Er half ihr das Tablett abräumen. »Dank dir. – Du bist auch eine Einheimische. Du bleibst hier.« »Ich bin deine, Hans, und will es bleiben.« »Ich werde dich nicht in unser Unglück hineinziehen. Sei froh, daß du hierbleiben kannst. Bei uns wird es hoch hergehen.«
Ihr schwarzes Kleid raschelte auf den Boden. Sie weinte, wie sie zusammenlagen: »Du wirst mich vergessen.« »Du hast meine Adresse in Berlin. Schreib mir über die Schweiz, sonst fangen sie die Briefe ab. Ich hab’ einen Freund in Bern. Vielleicht bin ich schon übermorgen in Berlin.« »Und dann.« »Ich werde dich holen.« »Kann ich nicht gleich mitkommen?« »Sie suchen mich, Hanna.«
Gegen zehn ließ sie den Offizier zur Hintertür heraus. Sie flüsterte: »Da ist ein Pförtchen, brauchst nur aufzustoßen.« Er wanderte rasch ab unter dem geöffneten Regenschirm.
An der Flurtür, bevor sie sich die Kapuze überzog, hauchte sie einen Kuß auf die Backe des kleinen ernsten Mannes, der wie erstarrt war.
Als sie im Lazarett den Gefangenen, einen Hausdiener aus Kaiserslautern, ein paar Stunden allein in seiner Zelle hatten rumoren lassen und keiner ihm Essen brachte, fing er an, gegen die Tür zu hämmern. Die im Nachbarsaal hörten ihn, ließen ihn aber toben. Er hatte es wegen seines Verhaltens gegen den Soldatenrat mit ihnen verdorben. Schließlich, am Nachmittag, holten sie einen Sanitäter, der mit einem andern die Zelle öffnete. Der beschmierte Mann in der Ecke der Zelle hatte sein Bett hochgetürmt und schrie sie schwer erschöpft von hinten über seinen Berg hinweg an: »Fressen, Fressen!« Er sah grausig aus. Er roch furchtbar. Die beiden Sanitäter öffneten erst im Korridor die Fenster und ließen die Zelle auslüften. Währenddessen brüllte der Mann hinter seiner Barrikade. Dann meinte einer friedlich: »Ziweck, wozu machst du eigentlich noch Theater. Hast doch nicht mehr nötig.« Er schrie weiter. Die Sanitäter lächelten sich an. Sie fingen ihn, indem sie von beiden Seiten das Bett umgingen, zerrten ihn mit Hilfe zweier Kranken auf den Korridor, es war ein wilder Aufzug, stießen ihn vor das offene Fenster, das ging auf den Hof und die Baracken hinaus. Da hatten die Chirurgische und Infektionsabteilung rot geflaggt, ja aus dem Operationssaal hatte man zwei kleine Kinderfahnen gesteckt. Sie zeigten sie ihm. Er hielt die Augen zugekniffen.
Wie vom Blitz getroffen lag er auf dem Boden.
Im Finstern klapperte Frau Hegen, trotz ihres Schirms pitschnaß, über den Wasserturmplatz, über den Hof und stellte ihre Pantinen im Korridor ab. Sie war erstaunt, in ihrer Wohnung laut sprechen zu hören. Die tiefe Stimme des Pfarrers. Die Frau trug ihren Eimer hinter ihr Häuschen, unter das Vordach eines Schuppens, legte über den Eimer einen schweren großen Holzdeckel. Wie sie den Schirm im Hausflur offen hingestellt hatte und mit ihrem großen Tuch über dem Arm die Tür zur Wohnung aufklinkte, war es drin still.
Sie: »Fang du auch damit an.« Sie suchte in ihrem Rock, drei Mark und fünf Mark.
Auf dem Weg über den Hof warf der Pfarrer zwei Fetzen Papier, die er zufällig in seiner Jackentasche fand, in die Regentonne: ein altes Briefkuvert und ein zerknittertes Seidenpapier von einem Kuchen. In der Regentonne lagen sie vier Tage mit anderem Schmutz, bis die Tonne von der Frau neben den Müllhaufen hinter dem Haus entleert wurde. Da geriet das alte Kuvert mit der Schrift eines Sohnes des Pfarrers, der seinen baldigen Urlaub aus Polen ankündigte, und das Seidenpapier neben Kohlstrunk, Aschenreste, zerbogenes Blech. Das bildete einen kleinen langsam wachsenden Hügel. Das Kuchenpapier zerfaserte in der Nässe, die Trümmer sickerten in den Boden mit den Wassertropfen. Die Schrift des Pfarrersohnes war bald verwischt, das Kuvert lag noch monatelang in dem Abfall, als der Pfarrer schon längst im Hessischen, in seinem Heimatsort saß und auf neue Verwendung wartete. Damals standen auch seine Möbel noch im Vorderhaus am selben Fleck, und er führte einen Prozeß um die Auslieferung. Im Juli kam aus dem Wald eine wandernde Rattenfamilie am Haus vorbei, es lagen viel Obst- und Kartoffelschalen herum, sie fraßen auch Lederabfälle – denn der gelähmte Mann fühlte sich im Sommer kräftiger und schusterte –, bei dieser Gelegenheit zerknabberten die jungen Ratten auch das Briefkuvert an den Pfarrer aus Grodno.