Ich glaub, mich trifft der Schlag

Ulrich Dirnagl / Jochen Müller

Ich glaub,
mich trifft der Schlag

Warum das Gehirn tut, was es tun soll
oder manchmal auch nicht

Mit Illustrationen von Oliver Wünsch

Knaur e-books

Inhaltsübersicht

Über Ulrich Dirnagl / Jochen Müller

Ulrich Dirnagl,geboren 1960, ist einer der führenden Neurowissenschaftler Deutschlands, internationaler Schlaganfallexperte und Professor an der Charité Berlin. Er leitet dort die Abteilung für Experimentelle Neurologie und das Zentrum für Schlaganfallforschung. »Ich glaub, mich trifft der Schlag« ist sein erstes Buch für ein breites Publikum.

 

Jochen Müllerwurde 1976 in Kassel geboren. Nach dem Biologie-Studium in Göttingen, promovierte er in medizinischen Wissenschaften in Berlin. 2011 war er mit seinem besten Freund Peer Bergholter auf Weltreise, gemeinsam haben sie darüber ihr erstes Buch »Mittendurch statt drüber weg« geschrieben. Jochen Müller lebt in Berlin, organisiert und moderiert Science Slams im In- und Ausland und schreibt u.a. für dasgehirn.info und ZEIT Wissen.

Impressum

© 2016 der eBook-Ausgabe Droemer eBook

© 2016 Droemer Verlag

Ein Imprint der Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit

Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

Covergestaltung: semper smile Werbeagentur

Coverabbildung: Gehirn-Illustration © Shutterstock/Macrovector,
Office-Illustration © Oliver Wünsch

Illustrationen Innenteil: © Oliver Wünsch

ISBN 978-3-426-43830-5

Hinweise des Verlags

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Endnoten

Howard Gardner: Dem Denken auf der Spur. Stuttgart 1989, S. 285.

www.gbe-bund.de, Stand: 21.04.2016

Uta von Debschitz, Thilo von Debschitz: Fritz Kahn. Köln 2013.

www.kompetenznetz-schlaganfall.de/fileadmin/download/news/heuschmann_zahlen_zum_schlaganfall10.2010.pdf, Stand 05.05.2016

www.worldstrokecampaign.org/de/weltweite-kampagne-gegen-den-schlaganfall/fakten-und-zahlen.html, Stand 05.05.2016

Hansjörg Schneble: Krankheit der ungezählten Namen. Ein Beitrag zur Sozial-, Kultur- und Medizingeschichte der Epilepsie anhand ihrer Benennungen vom Altertum bis zur Gegenwart. Hans Huber Verlag, Bern 1987, S. 10.

Ebd., S. 34.

Ebd., S. 36.

laut uniklinik-freiburg.de, Stand: 08. 10. 2015

laut epilepsien.de Stand: 08. 10. 2015

Christof Kessler im Interview: http://www.berliner-zeitung.de/magazin/gespraech-sei-vernuenftig-sagt-das-frontalhirn,10809156,24455094.html

laut uniklinik-freiburg.de, Stand: 08. 10. 2015

Schneble: Krankheit der ungezählten Namen. Bern 1987, S. 8.

Infobroschüre »Epilepsie und Führerschein« der Deutschen Epilepsievereinigung: http://www.epilepsie-vereinigung.de/wp-content/uploads/2013/09/Epilepsie-und-F%C3 %BChrerschein.pdf

Harro Albrecht: »Beim Knobeln zuckt’s«. Die Zeit No 48, 26. 11. 2015, S. 46.

Wired Magazin, Deutsche Ausgabe, September 2015

Pro Jahr sterben in Deutschland etwa 350 Menschen während eines Status epilepticus, 0,04 Prozent der Epilepsiepatienten. »Epidemiologie der Epilepsien«, Informationszentrum Epilepsie. Im Netz unter: www.izepilepsie.de/home/showdoc,id,387,aid,4163.html

Wired Magazin, Deutsche Ausgabe, September 2015

JF Bach: »The effect of infections on susceptibility to autoimmune and allergic diseases«. N Engl J Med, 2002; 347(12):91120. Online unter: www.fortressbiotech.com/pdfs/bach%20nejm%202002.pdf

Ed Young: »There Is No ’Healthy’ Microbiome«. New York Times, 01. 11. 2014

http://perspectivesinmedicine.cshlp.org/content/1/1/a008 862.full

http://perspectivesinmedicine.cshlp.org/content/1/1/a008 862.full

bfr.bund.de/cm/343/pestizidexposition_und_parkinson_bfr_sieht_assoziation_aber_keinen_kausalen_zusammenhang.pdf

Ebd.

http://stm.sciencemag.org/content/4/147/147ra111

Wer sich für die Funktionsweise des Gehirns interessiert, dem fallen zwei Dinge auf. Erstens: Es gibt eine schier unendliche Menge an Büchern, die das Gehirn behandeln. Das ist gut, denn das Gehirn ist sehr komplex. Zweitens fällt jedoch auf, dass sie auf bestimmte Fragen keine Antworten liefern. Fachbücher tun es zum Teil, kaum ein Leser versteht sie jedoch, es sei denn, er weiß bereits mindestens so viel wie der Autor.

Wir, die Autoren dieses Buches, beschäftigen uns seit langer Zeit forschend und lehrend mit dem Gehirn, genauer gesagt mit seinen Krankheiten. Dabei stellen wir uns Fragen, die sich auch jeder Leser stellt: Warum brummt der Schädel? Wieso mahnen Ärzte, wenn es um den Schlaganfall geht, immer so ausdrücklich zur Eile? Was ist eigentlich Multiple Sklerose und warum wird sie nur so schwer diagnostiziert? Warum zittern Parkinsonpatienten und auch manche Epileptiker? Warum kann man Alzheimer noch immer nicht heilen? Und, ganz allgemein, warum werden in regelmäßigen Abständen Forschungserfolge verkündet, von denen man dann nie wieder etwas hört?

Um diese und andere Fragen soll es in unserem Buch gehen. Dabei wollen wir Antworten geben, für deren Verständnis man kein Vorwissen braucht. Abgesehen von den genannten Fragen behandelt dieses Buch die sechs bekanntesten Krankheiten des Gehirns: Kopfschmerz, Schlaganfall, Epilepsie, Multiple Sklerose, Parkinson und Alzheimer. Es erklärt aber auch das gesunde Gehirn und seine Funktionsweise. Diese kann man gerade dadurch verstehen, indem man sich anschaut, wie das Gehirn fehlfunktioniert.

Wir laden Sie, liebe Leserin und lieber Leser, auf eine Reise quer durch die Neurologie und Neurobiologie ein. Fragen Sie sich mit uns, was das Gehirn ist und was es eigentlich den

Beginnen wir mit der vielleicht grundsätzlichsten Frage der Neurowissenschaften: Wofür braucht man eigentlich ein Gehirn?

Das ist keine Scherzfrage. Jeder weiß, dass die Funktionsweise des Gehirns sehr komplex und zum Teil noch unerforscht ist. Bei all der Komplexität merkt der gesunde Mensch im Alltag nicht einmal, dass er eins hat. Es juckt und rumort nicht, ihm wird nicht zu kalt oder zu warm, man kann sich nicht daran stoßen, es zwickt und zwackt nicht. Quasi unbemerkt verbraucht es aber eine Menge Energie, genauer gesagt etwa ein Viertel des täglich verstoffwechselten Zuckers. Das tut es auch, wenn wir uns keinen Millimeter bewegen. Liegen wir den ganzen Tag im Bett und lösen schwere Denkaufgaben, fühlen wir uns abends genauso erschöpft, als hätten wir einen Garten umgegraben. Denken kostet Kraft, und nicht gerade wenig.

Die Fähigkeit zu denken macht uns zu Menschen. Aus Sicht der Evolution jedoch sind komplexe Gedanken unerheblich. Der Evolution geht es nicht um die Weltformel oder um existenzphilosophische Weisheiten, sondern nur darum, dass Gene in die jeweils nächste Generation weitervererbt werden. Und das geht definitiv auch ohne Gehirn. So gesehen erscheint das Gehirn wie Luxus, und Luxus wird von der Evolution meist rigoros aussortiert. Die Evolution hat aber zur Entwicklung des menschlichen Gehirns geführt, also muss es für etwas gut sein. Nur wofür?

Nun könnte man durch allerlei Untersuchungen und Experimente versuchen, eine Antwort auf diese Frage zu finden. Doch das ist nicht immer nötig, denn manchmal kommt man

Die Antwort ist eindeutig: Nein. Pflanzen leben, haben aber kein Gehirn. Auch Bäume haben nicht einmal ein einfaches Nervensystem. Nur Tiere haben Gehirne, aber – stopp! – nicht alle Tiere. Einen Schwamm zum Beispiel könnte man für eine Pflanze halten, weil er am Meeresgrund festgewachsen ist. Doch der Schwamm ist ein Tier ohne Gehirn. Ist also die Fähigkeit zur Bewegung der Schlüssel?

Um diese Aussage zu überprüfen, muss man ein Tier beobachten, das beides kann: mobil und sesshaft sein. Die Seescheide ist ein solches Tier, sie lebt als Larve frei schwimmend in den Weltmeeren, und am Ende ihrer Entwicklung zum erwachsenen Tier sucht sie sich eine Stelle am Meeresgrund aus, die sie nicht mehr verlässt. Dies ist der Zeitpunkt, an dem die Seescheide ihr Gehirn verliert. Genauer gesagt isst sie es auf. Die Seescheide, die ihr einfaches Gehirn zusammen mit der Fähigkeit, sich zielgerichtet fortzubewegen, aufgibt, stärkt also unser Argument, dass Gehirn und Bewegung untrennbar miteinander verbunden sind.

Eine Pflanze, ein Schwamm oder eine Seescheide sitzen an einer günstigen Stelle, um an Licht oder an Schwebstoffe im Wasser zu kommen. Sie müssen sich daher nicht bewegen und brauchen somit auch keine schnellen und detaillierten Informationen über ihre Umwelt. Alles, was diese Lebewesen interessiert, geschieht so langsam, dass sie kein Gehirn brauchen, um darauf zu reagieren.

Sich bewegende Tiere haben eine alternative Strategie entwickelt, um Nahrung zu suchen oder anderen Tieren auszuweichen, von denen sie für Nahrung gehalten werden könnten, und um Fortpflanzungspartner zu finden. Bei den Tieren geht es hektischer zu als bei den Pflanzen. Sie bewegen sich schnell und zielgerichtet. Und dafür brauchen sie ein Gehirn.

Bewegung bedeutet, auf Informationen angewiesen zu sein.

Vor vielen hundert Millionen Jahren haben sich komplizierte, intelligente Systeme entwickelt, bei denen eine Art Computer für die Signalverarbeitung und zielgerichtete Bewegung sorgt. Klingt nach viel Aufwand, dient aber alles der Weitergabe der eigenen Gene. Bakterien, Pilze und Pflanzen können das auch, aber eben ohne ein Nervensystem oder ein Gehirn, und in der Regel läuft dadurch alles ein bisschen einfacher und entschleunigter ab.

Für Bewegung braucht es aber nicht nur ein Gehirn, sondern auch Sinnesorgane, Muskeln und noch mehr. Ein Organismus wird dann nicht nur recht kompliziert, er verbraucht dabei auch jede Menge Energie. Und dafür wiederum braucht es weitere Organe, zur Aufnahme und Verdauung von Nahrung und Sauerstoff sowie zur Ausscheidung dessen, was vom Stoffwechsel übrig bleibt.

Und damit wären wir beim nächsten Problem. Ein solch komplexer Organismus, in dem viele Organe dafür arbeiten, das Gehirn und den Bewegungsapparat zu ernähren, muss auch wissen, was in ihm selbst vorgeht. Zu der Frage: Wie sieht es da draußen aus? gesellt sich die Frage: Wie sieht es in mir aus?

Woher soll ich wissen, dass ich mich bewegen muss, wenn mein Magen mir nicht sagt, dass es an der Zeit ist, sich nach einer Mahlzeit umzusehen? Auch das mit der Fortpflanzung klappt nur beim erfolgreichen Zusammenspiel einer Reihe von Organen. Auch das will koordiniert sein. Und daraus ergibt sich eine weitere Funktion von Gehirn und Nervensystem:

Nun haben wir also eine Vorstellung davon, WAS das Gehirn macht. Aber WIE macht es das?

Um eine Antwort darauf zu finden, reicht es nicht, ein Tier mit Gehirn mit einem Tier ohne Gehirn zu vergleichen. Dazu müsste man ein voll funktionierendes Gehirn mit einem zum Teil funktionierenden Gehirn vergleichen. Wenn infolge des Ausfalls einer Gehirnregion eine Körperfunktion ausfällt, könnte man daraus schlussfolgern, dass die betroffene Gehirnregion für diese Körperfunktion zuständig ist. Aber Vorsicht, denn hierbei kann man in einige Fallen tappen. Der britische Hirnforscher Richard Gregory hat es so ausgedrückt: »Wenn man aus einem Radiogerät irgendeinen von mehreren Widerständen ausbaut, kann dies dazu führen, dass es merkwürdige Geräusche von sich gibt, aber daraus kann man nicht schließen, die Aufgabe der Widerstände sei es, das Pfeifen zu unterdrücken.«[1]

Man muss also schon einige Vorkenntnisse haben, um »reverse engineering« betreiben zu können, also umgekehrte Ingenieurskunst, das heißt, jemand baut ein Gerät auseinander und entfernt Bauteile wie etwa elektrische Widerstände, um zu verstehen, wie das Gerät funktioniert. Das geschieht meist mit dem Zweck, das Gerät nachzubauen, was wir an dieser Stelle nicht versuchen wollen. Aber verstehen wollen wir auf jeden Fall. Und darum soll es in diesem Buch gehen: Wie macht das Gehirn das, was es macht?

Da man vieles erst versteht, wenn etwas nicht mehr richtig funktioniert, haben wir uns entschieden, das, was das Gehirn eigentlich macht, dadurch zu verdeutlichen, indem wir uns genau ansehen, was passiert, wenn das Gehirn einzelne Dinge NICHT mehr machen kann. Aus nachvollziehbaren Gründen

Wir werden uns also in den nächsten Kapiteln damit befassen, was wir derzeit über einige der wichtigsten Gehirnerkrankungen wissen. Dabei wird so manches zur Sprache kommen, das uns vielleicht schon als eigenes Leiden oder als Leiden von Freunden und Familienangehörigen beschäftigt hat. Wir schreiben jedoch keinen Ratgeber für Patienten, wir sind Forscher und beschäftigen uns mit dem Gehirn als Forschungsobjekt. Nehmen wir also das Organ, das uns in seiner Form zum Menschen macht, gemeinsam unter die Lupe!

Anatomische Darstellung des Gehirns als große Firma

Mehrere Gebiete und ihre Verbindungen (grau) bilden gemeinsam den Schmerzpfad. Dazu gehören: Nozizeptoren (Späher), Nervenzellen, die auf Schadensreize reagieren. Sie sind über den Trigeminusnerv mit dem Hirnstamm (Pförtner) verbunden. Der Thalamus (Vorzimmerdame) liegt relativ mittig im Gehirn. Der Kortex (CEO) ist Sitz höherer Geistesfunktionen und des Bewusstseins. Abseits des Schmerzpfads liegt der Hypothalamus (Hausmeister), er regelt die Homöostase und vegetative Aspekte wie Hunger und Durst. Weitere wichtige Gehirngebiete, die in den folgenden Kapiteln auftauchen werden, sind:

Der Hippocampus (Vermittlung) ist Relaisstation zwischen Kurz- und Langzeitgedächtnis. Die Kerngebiete (Jury) sind mehrere Bereiche unterhalb der Großhirnrinde, die für die Steuerung und Koordination von Bewegung unerlässlich sind. Das Kleinhirn (Trainer) gleicht fortlaufend die geplante mit der tatsächlichen Bewegung ab und greift ein, falls eines vom anderen abweicht.

Steckbrief Kopfschmerz

Klassifizierung: Die Internationale Kopfschmerzgesellschaft listet 257 Formen von Kopfschmerzen auf, die in primäre und sekundäre Formen unterteilt werden.

Häufigste sekundäre Kopfschmerzform: der Spannungskopfschmerz mit etwa 25 Millionen Betroffenen in Deutschland[2]

 

Steckbrief Migräne

Klassifizierung: primärer Kopfschmerz

Altgriechische Bezeichnung: hemicrania (halber Schädel)

Erste schriftliche Überlieferung: Etwa 200 n. Chr. beschrieb der römische Arzt Galen mit hemicrania einen Kopfschmerz, den wir aus heutiger Sicht als durch Migräne verursacht ansehen.

Weltweit betroffen: etwa 10 Prozent der Menschen

Ursache: Übersensibilität des Nervensystems gegenüber äußeren und inneren Reizen

Berühmte Betroffene: Vincent van Gogh, Charles Darwin, Thomas Jefferson, Albert Einstein, Elvis Presley

Es gibt kaum jemanden, der noch nie Kopfweh hatte. Tritt der Kopfschmerz anhaltend auf, ist ein Besuch beim Neurologen angeraten. Aber warum tut der Kopf weh? Um diese Frage beantworten zu können, müssen wir uns zunächst ansehen, was Schmerzen eigentlich sind.

Eine Krankheit kann als eine Störung in einem System betrachtet werden. Im »System Gehirn« existiert eine eingebaute Störungs-Meldefunktion: der Schmerz. Wenn also der Schädel brummt, will das Gehirn damit etwas sagen.

Der Kopfschmerz verrät, dass Sinnesempfindungen untrennbar mit der Aktivität von Nervenzellen verknüpft sind. Wer jedoch unter Kopfschmerz leidet, könnte meinen, die Störungsmeldung stört nur, das braucht kein Mensch. Doch das Gegenteil ist der Fall, denn ohne Schmerzen ginge es uns allen ganz schön schlecht. Drohende Schmerzen halten uns beispielsweise davon ab, Dummheiten zu machen, wie etwa die Hand auf die heiße Herdplatte zu legen, um unseren Freunden zu zeigen, wie lustig das riecht. Wir tun das nicht, weil wir gelernt haben, dass es höllisch weh tut!

Schmerzen sind nichts anderes als ein Warnsignal des Körpers vor drohendem Gewebeschaden. Andere Körpersignale wie Hunger oder Müdigkeit kann überhören, wer abgelenkt ist, keine Lust zu reagieren hat oder meint, es besser zu wissen. Schmerzen kann man nicht so leicht überhören. Daher kann sich jedes Körpersignal zu einem Schmerz steigern oder wandeln. Damit er nicht überhört werden kann, hat die Evolution, nach dem Motto »Wer nicht hören will, muss fühlen«, die Sinnesempfindung Schmerz stets mit einer (negativen) Emotion verbunden, weshalb auch von der »Dualität des Schmerzes« gesprochen wird. Durch die Abnahme des Wohlbefindens wird aus einer Sinnesempfindung etwas Unmissverständliches und aus einem Signal eine Warnung. Nur

Bedeutet dann Schmerz mit der Ortsangabe »Kopf«, dass etwas auf das Gehirn drückt? Oder anders ausgedrückt:

Kann das Gehirn weh tun?

Ja und nein. Bei manchen Gehirnoperationen müssen die Patienten wach bleiben, spüren aber nicht, wenn der Operateur INS Gehirn schneidet. Das eigentliche Gehirngewebe ist nicht schmerzempfindlich. Andererseits kann man zeigen, dass jeder Schmerz mit dem Gehirn und damit im Gehirn gespürt wird. Wenn ich mir den Finger verbrenne, entsteht das Schmerzsignal zwar im Finger – wahrgenommen wird es aber im Gehirn! Die Ortsangabe »Finger«, die gemeinsam mit dem Schmerzsignal ins Gehirn geschickt und da wahrgenommen wird, ist der Grund, weshalb ich den Finger von der Herdplatte nehme und nicht den Kopf einziehe.

Insofern stimmt es, dass das Gehirn nicht schmerzen kann. Es gibt aber Strukturen am und im Kopf, die sehr wohl Schmerzen produzieren können, deren drohende Schädigung wir also als Kopfschmerz wahrnehmen. Dazu gehören die Kopfhaut auf dem Schädelknochen genauso wie die Hirnhaut darunter, die großen Blutgefäße sowie einige ihrer Ausläufer, aber auch die Spitze des Trigeminusnervs, der diese Strukturen versorgt. Es sind aber nicht nur die Verletzungen dieser Strukturen, die für Kopfschmerzen verantwortlich sind. Müdigkeit, Überanstrengung, Störungen der Homöostase, Entzündungen selbst außerhalb des Gehirns, muskuläre Verspannungen und vieles mehr können Schmerzen auslösen, die wir IM Kopf spüren.

Das Gehirn muss demnach an der Steuerung oder Regelung all dieser Prozesse beteiligt sein. Das klingt vielleicht etwas

Allerdings beweist, dass man im Gehirn operieren kann, ohne dass es weh tut, was das Gehirn nicht ist: Es ist kein Sensor. Das Gehirn sieht nicht, hört nicht, es fühlt, riecht und schmeckt nicht. Die Sensoren sind an Stellen ausgelagert, wo sie am meisten Sinn machen. Das Gehirn ist hinter dickem Knochen gut geschützt, es schwimmt in einer Flüssigkeit, dem Nervenwasser. Aber alle Informationen aller Körperbereiche gelangen ins Gehirn, es ist der Ort, an dem alle Reize verarbeitet werden, weshalb das Gehirn dann doch irgendwie sieht, hört, fühlt, riecht, schmeckt. Und weh tut.

Man kann sich den Körper als eine große Firma vorstellen. Die Körperzellen sind die Menschen, die in den verschiedenen Abteilungen arbeiten. Sie sind die unermüdlichen Angestellten, die den Betrieb »ich« am Laufen halten. Das Gehirn bildet die Verwaltung, und Nervenzellen sind die Verwaltungsangestellten. Ihre Aufgabe es ist, Informationen sowohl über die Außenbedingungen als auch über die Betriebsabläufe zu empfangen und sie an die richtigen Stellen weiterzuleiten. Durch ihre Arbeit kann sich der Betrieb mit all seinen Abläufen an veränderte Außenbedingungen anpassen oder sie in manchen Fällen gar selbst verändern. Für Informationen über den Betrieb laufen die Angestellten nicht durch die Produktionshallen. Und für Infos über die Außenwelt gehen sie nicht ans Fenster und schauen raus. Außeninformationen zu sammeln ist die Aufgabe anderer Angestellter. Für jede Art von Information gibt es spezielle Angestellte, die diese Information am Ort des Geschehens empfangen und weiter an die Verwaltung schicken. Visuelle Informationen erhält die Verwaltung beispielsweise von Angestellten in der Abteilung »Auge«, chemische Informationen liefern Angestellte aus den Abteilungen »Nase« und »Mund«. Erstere heißen »Photorezeptoren«, Letztere »Chemorezeptoren«.

Was sind Rezeptoren?

Das Wort »Rezeptor« kommt aus dem Lateinischen und heißt »Empfänger«. Es gibt am und im Körper Rezeptoren für alles, was für uns wichtig sein könnte. Es gibt Rezeptoren auf einzelnen Zellen, eine ganze Zelle kann aber ebenso gut ein Rezeptor sein. Eine Zelle in der Netzhaut des Auges empfängt Licht, sie ist ein sogenannter Photorezeptor, ein »Lichtempfänger«. Auf Zellen in Zunge und Nasenschleimhaut

Durch die Rezeptoren erhält das Gehirn Informationen über die Außenwelt in Gestalt von elektrischen Nervenimpulsen. Erreichen die Impulse die Verwaltung, nehmen wir diese Informationen als Bild, Geruch beziehungsweise Geschmack wahr. Auch für den Zustand im Betriebsinneren gibt es Angestellte, die melden, was los ist. Die Abteilung »Magen« meldet, wann es Zeit für Energienachschub ist, die Abteilung »Darm« meldet, wenn die Reste der letzten Portion Energie entsorgt werden können oder dringend müssen. Auch das machen Chemorezeptoren. Und, wenn es ganz dringend wird, auch Mechanorezeptoren. Diese Empfänger für mechanische Reize melden zum Beispiel, wenn Magen oder Darm sich nach zu viel Essen dehnen. Bei ersterem Signal wäre die Handlungsanweisung »Hinlegen und bloß nichts mehr essen«, beim zweiten »Aufstehen und ganz schnell auf die Toilette gehen«.

Es gibt also spezialisierte Rezeptoren, die, je nach Spezialisierung, nur an bestimmten Stellen am und im Körper sitzen. Es leuchtet wohl ein, dass Photorezeptoren im Darm wenig Sinn machen, wo die Sonne eher selten scheint.

Alle Abteilungen der Firma liefern pausenlos Informationen an die Verwaltung, also das Gehirn. Das ist der Zustand, in dem wir alle uns tagtäglich befinden. Selbst wenn wir schlafen, ist das so. Wäre es nicht so, wir würden nie mehr aufwachen. Denn auch der Schlaf wird überwacht, und es erfolgt ein Signal, wenn er ausreicht. Daraus generiert das Gehirn die Handlungsanweisung: »Aufwachen!«

Was sind Nozizeptoren?

Zusätzlich zu all diesen Angestellten gibt es noch einen weiteren Angestellten-Typ. Einen, der in fast allen Abteilungen vertreten ist. Ich sage fast, denn dieser Angestellte, auch ein

Warum ist also das Gehirn nicht schmerzempfindlich? Warum gibt es keinen Nozizeptor, der etwa den Kortex überwacht? Weil der Nozizeptor doch wieder nur an den Kortex meldet! Das wäre, wie wenn meine Wohnung brennt, ich die Feuerwehr rufe und mein eigenes Telefon klingelt! Das macht einfach keinen Sinn! Wenn aber irgendetwas ein Loch in die Außenwand reißt, die Flure einstürzen, das Kabelnetzwerk durchschmort oder der Strom ausfällt, dann beeinträchtigt das die Arbeit der ganzen Verwaltung und behindert sie. Dann macht es Sinn, dass der Vorstand Signale empfängt, die ausdrücken, dass und wo etwas schiefläuft, damit er Alarm schlagen und Abwehrmaßnahmen einleiten kann.

In den vorliegenden Beispielen empfängt der Kortex über den Ort »Kopf« diverse Schadensmeldungen. Also brüllt er laut: »Kopfschmerz«, und Sie fassen sich an die Stirn, weil es weh

Ehre, wem Ehre gebührt!

Sorry, Jochen, dass ich mich hier kurz einmische. Ich denke, wir sollten an dieser Stelle kurz Fritz Kahn (18881968) einführen, einen Arzt und internationalen Bestsellerautor mit einem unglaublichen Lebenslauf. Von den Nazis zur Flucht gezwungen, seine Bücher wurden 1938 verbrannt, bereiste er viele Länder. Er wurde berühmt dafür, in seinen reichillustrierten Büchern komplizierte medizinische oder biologische Sachverhalte durch allgemeinverständliche Vergleiche zu veranschaulichen. Am bekanntesten ist sein Bild »Der Mensch als Industriepalast«[3], in dem er die verschiedensten Körperfunktionen mit der Arbeitsteilung in einer Fabrik vergleicht. Wir sollten ihn hier würdigen als den Pionier der »Mensch-Maschine-Analogie« und des Informationsdesigns!

Wenn es viele mögliche Gründe für Schadensmeldungen gibt, bedeutet das im Umkehrschluss, dass nicht jeder Kopfschmerz gleich sein kann! Und genau das ist der Fall.

Selbst wenn das Wartezimmer eines Arztes vollbesetzt ist mit Leuten, die scheinbar das gleiche Problem – Kopfschmerzen – haben, kann nach der Untersuchung jeder mit einer anderen Diagnose und Behandlung nach Hause gehen. Auf die Frage, wie das sein kann, lautet die kurze Antwort: Weil es DEN Kopfschmerz nicht gibt. Es gibt aber 257 Gründe, warum der Kopf schmerzen kann. So viele Typen von Kopfschmerzen listet die Internationale Kopfschmerzgesellschaft auf. Darunter fallen unterschiedliche Probleme, aber alle mit demselben Symptom: Kopfschmerz.

Unterteilt werden sie in zwei Kategorien, primäre und sekundäre Kopfschmerzen.

Sekundäre Kopfschmerzen

Als sekundäre Kopfschmerzen werden Kopfschmerzen bezeichnet, die keine Krankheiten an sich sind, sondern Symptome anderer Erkrankungen oder Störungen. So zum Beispiel:

Primäre Kopfschmerzen

Bei den primären Kopfschmerzen ist der Kopfschmerz selbst das Problem, zum Beispiel bei:

Bevor wir näher auf die Migräne eingehen, folgen noch ein paar Worte zum Spannungskopfschmerz. Denn dieser kann chronisch werden und dann als »chronischer Spannungskopfschmerz« zu den primären Kopfschmerzen gezählt werden. Von allen Kopfschmerzformen ist der Spannungskopfschmerz der häufigste.

Warum wird der Spannungskopfschmerz chronisch?

Ich hatte bereits erwähnt, dass wir Menschen unsere Körpersignale gerne überhören, weil wir meinen, es besser zu wissen. Der chronische Spannungskopfschmerz ist der beste Beweis, dass das nicht immer schlau ist.

Nach acht Stunden verkrampfter Haltung am Computer spüren manche ein Spannungsgefühl im Nacken und einen Schmerz im Kopf. Genau betrachtet ist dies eine Aufforderung des Körpers, sich mal wieder zu bewegen. Es ist die Warnung der Nozizeptoren aus den überlasteten Muskeln, dass es

Auf den Mensch übertragen heißt das, dass die Ursache für den Schmerz weiter besteht. Das Signal hingegen wird ausgeschaltet. Nun ist die Situation, wie oben dargestellt, nicht damit zu Ende, dass der Kortex ein Signal empfängt. Nein, in der Bürokratie des Nervensystems geht es ordentlich zu, da gibt es eine Empfangsbestätigung, die zurückgesendet wird.

Was würden Sie, liebe Leser, machen, wenn auf Ihre Meldung, dass es brennt, keine Bestätigung erfolgt? Lassen Sie mich raten: Sie schicken noch eine Meldung, oder? Vielleicht schicken Sie auch zwei. Oder Sie schicken sie in Großbuchstaben. Auf jeden Fall werden Sie versuchen, auf sich aufmerksam zu machen. Und genau das ist es, was der Nozizeptor macht, der vor drohendem Schaden warnt, aber überhört wird. Genau wie alle Stationen zwischen ihm und dem letzten Empfänger, dem Kortex.

Der Körper versucht, sich Gehör zu verschaffen. Wer dann noch eine Tablette nachlegt, macht den ersten Schritt in Richtung chronischer Schmerz. Wir werden im weiteren Verlauf noch auf das Wie eingehen. Doch schon hier wird eines deutlich: Das Nervensystem reagiert nicht starr auf Signale. Es verändert sich, es passt sich an. Der Neurowissenschaftler bezeichnet es als »plastisch«, im Sinne von »formbar«. Man kann auch sagen, es ist lernfähig, was sich