Cover

Kate Atkinson

Ein Sommernachtsspiel

Roman

Aus dem Englischen von Anette Grube

Knaur e-books

Inhaltsübersicht

Über Kate Atkinson

Kate Atkinson, 1951 geboren, studierte Literaturgeschichte in Dundee. Neben ihrer Arbeit in der Sozialbetreuung und als Teilzeitlehrerin begann sie zu schreiben. 1996 erhielt sie für ihren Roman »Familienalbum« den angesehenen Whitbread First Novel Award. Es folgten die Romane »Ein Sommernachtsspiel«, »Die Ebene der schrägen Gefühle«, »Die vierte Schwester«, »Liebesdienste« und »Lebenslügen« sowie ein Band mit Erzählungen (»Nicht das Ende der Welt«). Kate Atkinson lebt in Edinburgh.

Über dieses Buch

Einst belegte die erste Lady Fairfax alle nachkommenden Generationen mit einem Fluch. Die junge Isobel spürt diesen noch immer. Ist ihre Mutter tatsächlich fortgegangen, oder hat ihr Vater seine schöne Frau aus Eifersucht umgebracht? Verzweifelt versucht Isobel Ordnung in die Geschichte ihrer Familie zu bringen.

Impressum

Die englische Originalausgabe erschien 1997 unter dem Titel »Human Croquet« bei Transworld, London.

 

eBook-Ausgabe 2013

Knaur eBook

© 1997 Kate Atkinson

Für die deutschsprachige Ausgabe:

© 1998 Diana Verlag AG, München und Zürich

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München

Coverabbildung: getty images

ISBN 978-3-426-42194-9

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Für meine Mutter

Myra Christina Keech

Diese lachende und grüne Welt, die er sieht,

Das Wasser, die Wiese, den Baum, der sich wiegt,

Gleitender Vogelflug und blaues Himmelsgewölbe.

Ode an den Frühling von 1814, Leigh Hunt

Anfang

Die Straßen der Bäume

Nennen Sie mich Isobel. (So heiße ich.) Das ist meine Geschichte. Wo soll ich anfangen?

 

 

Vor dem Anfang ist die Leere, und die Leere zählt weder zur Zeit noch zum Raum und ist deswegen jenseits unserer Vorstellungskraft.

 

 

Aus nichts kann nichts werden, außer es handelt sich um den Anfang der Welt. So beginnt es, mit dem Wort, und das Wort ist Leben. Die Leere wird durch einen gigantischen Feuerwerkskörper verwandelt, der die Dämmerung der Zeit und das Erwachen der Phantasie in Gang setzt.

 

Die ersten Nuklei tauchen auf – Wasserstoff und Helium –, ein paar Millionen Jahre später gefolgt von ihren Atomen und, wieder Millionen Jahre später, von ihren molekularen Formen. Äonen vergehen. Im Weltraum kondensieren die Gaswolken zu Galaxien und Sternen, darunter unsere Sonne. 1650 stellt Erzbischof James Ussher in seinen Annalen der Welt die Rechnung auf, daß Gott Himmel und Erde am Abend des 22. Oktobers 4004 v. Chr., einem Samstag, erschaffen hat. Andere machen weniger präzise Angaben und datieren das Ereignis zirka viereinhalb Milliarden Jahre zurück.

 

 

Dann wachsen Bäume. In den warmen, feuchten Sümpfen des Karbons wiegen sich Wälder aus riesigen Farnen. Die ersten Koniferen tauchen auf, und die großen Kohlelager entstehen. Wo immer man hinsieht, werden Fliegen in Tropfen aus Bernstein eingeschlossen – es sind die Tränen der Schwestern des armen Phaethon, die der Kummer in Schwarzpappeln (populus nigra) verwandelte. Die Blüten treibenden und breitblättrigen Bäume erscheinen zum erstenmal auf der Bildfläche, und schließlich kriechen die Bäume aus den Sümpfen auf das trockene Land.

 

Hier, wo diese Geschichte spielt (im rauhen Norden), hier war einst Wald, ein Meer von Wald, der große Wald von Lythe. Uralter Wald, ein undurchdringliches Dickicht aus Gemeiner Kiefer, Birke und Espe, Feldulme und Bergulme, Gemeiner Haselnuß, Eiche und Stechpalme, der Wald, der einst England bedeckte und der es eines Tages, wenn man es sich selbst überließe, vielleicht erneut bedecken würde. Lange Zeit gehört die Welt einzig dem Wald.

 

 

Wusch. Werkzeuge aus Stein und Flint läuteten das Ende vom Anfang ein, den Anfang vom Ende. Die Alchimie von Kupfer und Zinn schuf neue Äxte aus Bronze, die noch mehr Bäume von der Erdoberfläche rasierten. Dann kam das Eisen (der große Zerstörer), und die Eisenäxte fällten den Wald schneller, als er nachwachsen konnte, und die eisernen Pflugscharen ackerten das Land um, das einst Wald gewesen war.

Die Holzfäller schlugen und kappten und fällten Eschen und Buchen, Eichen, Weißbuchen und Dornengestrüpp. Die Bergleute bauten ab und schmolzen ein, während die Köhler hohe Meiler errichteten. Bald schon konnte man kaum mehr ungestört durch den Wald gehen wegen all der Zimmerleute, die Buchenholz suchten, wegen der Holzschuhmacher, der Faßbinder und der Weidenflechter. Wildschweine wühlten im Boden, Hausschweine schnüffelten, Gänse schnatterten, und Wölfe heulten, und das Wild erschrak an jeder Biegung des Weges. Wusch! Aus Bäumen wurden andere Dinge – Holzschuhe, Traubenpressen, Fuhrwerke und Werkzeuge, Häuser und Möbel. Die englischen Wälder segelten über die Weltmeere und entdeckten neue Länder voll Wildnis und mehr Wäldern, die darauf warteten, gefällt zu werden.

Aber mitten im tiefsten Wald war ein unergründliches Geheimnis verborgen. Als der Wald abgeholzt wurde, wo blieb da das Geheimnis? Manche sagen, es habe Feen im Wald gegeben – ärgerliche, schlechtgelaunte Geschöpfe (Evas ungewaschene Töchter), vom Mondlicht nicht wohlgelitten, die vorsätzlich auf dem wilden Thymian herumlungerten und wütend auf die unberechtigt eindringenden Äxte horchten. Wohin gingen sie, als der Wald nicht mehr existierte? Und was war mit den Wölfen? Was geschah mit ihnen? (Nur weil man etwas nicht sehen kann, heißt das noch lange nicht, daß es nicht doch da ist.)

 

 

Wo der Wald schrumpfte, entstand das kleine Dorf Lythe – verstreute Hütten und eine Kirche mit quadratischem Glockenturm. Die Bewohner trugen ihre Eier und Kapaune und gelegentlich ihre Tugend zu Markte nach Glebelands, der nächsten, nur zwei Meilen entfernten Kleinstadt – einem geschäftigen Marktplatz und einer Brutstätte von Handschuhmachern, Metzgern, Schmieden und Weinhändlern, Gaunern und Gegnern der anglikanischen Kirche.

 

Etwa um 1580 ritt ein Fremder nach Lythe, ein gewisser Francis Fairfax, von so dunkler schwärzlicher Gesichtsfarbe wie ein Mohr. Francis Fairfax, erst kürzlich von der Königin zum Ritter geschlagen, hatte aus ihrer Hand ein großes Stück Land nördlich des Dorfes erhalten, am Rande dessen, was vom Wald noch übrig war. Dort baute er Fairfax Manor, ein modernes Haus aus verputzten Ziegeln und Holz, das von den nun ihm gehörenden Eichen stammte.

Dieser Francis war Soldat und Abenteurer. Er hatte sogar das große graue Meer überquert und die neu entdeckten Länder und jungfräulichen Territorien mit den dreiköpfigen Ungeheuern und gefiederten Wilden gesehen. Manche sagten, er sei der Spion der Königin, der den Kanal in geheimer Mission so oft überquere wie andere das Grüne Moor von Glebelands.

Manche sagten auch, daß er eine wunderschöne Kindfrau, die ihrerseits bereits ein Kind in sich trage, im Dachgeschoß von Fairfax Manor gefangenhalte. Andere sagten, die Frau im Dachgeschoß sei nicht seine Kindfrau, sondern seine verrückte Frau. Es ging überdies das Gerücht, daß in seinem Dachgeschoß lauter tote Frauen an Fleischerhaken hingen. Es gab sogar welche, die behaupteten (was noch unwahrscheinlicher ist), daß er der Liebhaber der Königin sei und die große Gloriana ihm heimlich ein Kind geboren habe, das in Fairfax Manor aufwachse. Selbstverständlich im Dachgeschoß.

Tatsache und kein Gerücht ist, daß sich die Königin während ihrer Flucht vor dem Ausbruch der Pest in London, irgendwann im Sommer 1582, in Fairfax Manor aufhielt und dabei beobachtet wurde, wie sie die buttergelben Quitten und die blühenden Mispelsträucher bewunderte und sich an der Ausbeute einer herrlichen frühmorgendlichen Jagd gütlich tat.

Fairfax Manor war berühmt für seine aufregenden Hetzjagden auf Rotwild, die Weichheit seiner mit Gänsedaunen gefüllten Matratzen, das exzellente Essen, den Einfallsreichtum seiner Lustbarkeiten. Sir Francis wurde ein namhafter Gönner von Dichtern und aufstrebenden Stückeschreibern. Manche sagen, daß sogar Shakespeare eine Zeitlang in Fairfax Manor weilte. Es wäre eine Erklärung für die berühmten fehlenden Jahre in seiner Biographie. Eifrige Anhänger dieser Erklärung – es gibt mehrere Erklärungen, und die meisten sind verrückt – führen als Beweis die Initialen »WS« an, die in die Rinde der großen »Lady Oak« eingeritzt und für scharfe Augen bis heute erkennbar sind. Gegner dieser Theorie wenden ein, daß ein weiteres Mitglied des Fairfax-Haushaltes dieselben Initialen aufwies, nämlich der Hauslehrer von Sir Francis’ Sohn, ein gewisser Walter Stukesly.

Vielleicht war Master Stukesly der Autor jenes grandiosen Maskenspiels (Die Maske des Adonis), das Sir Francis zum Zeitvertreib der Königin aufführen ließ, als diese im Hochsommer Lythe besuchte. Man kann sich ausmalen, wie die Aufführung vonstatten ging, mit dem mächtigen Wald als Hintergrund, den Lampen in den Bäumen und der aufwendigen Bühnentechnik, die für diese tragische Geschichte aufgeboten wurde, und man sieht es vor sich, wie der jugendliche Adonis in den Armen der Venus, dargestellt von einem Knaben, unter der Lady Oak – einer jungen, gutgewachsenen Eiche, ziemlich genauso alt wie Francis Fairfax, die einst mitten im tiefsten Wald gestanden hatte und nun dessen Eingang bewachte – verschied.

Nicht lange, nachdem die Königin aus Lythe abgereist war, erschien zum erstenmal Francis’ Frau auf der Bildfläche, eine richtige Frau aus Fleisch und Blut, die nicht im Dachgeschoß gefangengehalten wurde, aber trotzdem ein rätselhaftes Geschöpf war, dessen Auftauchen und Verschwinden unter dem Schleier eines Geheimnisses verborgen lagen. Sie stand, so wurde gemunkelt, eines unwirtlichen, sturmgepeitschten Abends vor der Tür von Fairfax Manor, trug weder Schuhe noch Strümpfe, noch Unterrock, war mit nichts weiter bekleidet als mit ihrer seidenweichen Haut – und doch war kein Tropfen Regen an ihr und kein rotes Haar auf ihrem Kopf vom Wind verweht.

Sie komme, sagte sie, aus einem noch rauheren Norden, und ihr Name sei Mary (wie der der gefürchteten kaledonischen Königin höchstpersönlich). Sie bestand nicht darauf, nackt zu bleiben, und ließ zu, daß ein eifriger Sir Francis sie in Seide und Pelze und Samt kleidete und mit Juwelen behängte. Am Morgen ihres Hochzeitstages schenkte Sir Francis ihr das berühmte Fairfax-Kleinod – nach dem sowohl Metalldetektoren als auch Historiker seit langem suchen –, glaubhaft dokumentiert in Sir Thomas A’hearnes berühmten Reisen durch England, jedoch seit fast vierhundert Jahren nicht mehr gesehen. (Um es der Vollständigkeit halber zu erwähnen: ein rautenförmiges goldenes Medaillon, besetzt mit Smaragden und Perlen, das, wenn man es öffnet, den Blick freigibt auf eine Totentanz-Miniatur, von der manche annehmen, Nicholas Hilliard habe sie als Hommage an seinen Mentor Holbein gemalt.)

Die Lieblingsfarbe der frischvermählten Lady Fairfax war Grün – Rock und Unterröcke sowie Mieder waren so grün wie das Dickicht, das das Wild vor dem Jäger verbirgt. Nur ihr Hemd aus Kambrik war weiß – diese Information verbreitete die Hebamme, die aus Glebelands geholt wurde zur Entbindung von Fairfax’ erstgeborenem Kind. Einzigem Kind. Es handele sich, so berichtete sie, als sie in die Stadt zurückkehrte, um ein vollkommen normales Baby (einen Jungen), aber Sir Francis sei ein Irrer, der darauf bestanden habe, daß der armen Hebamme in jedem Raum außer dem Zimmer der Niederkunft die Augen verbunden wurden, und sie habe schwören lassen, Stillschweigen zu bewahren über das, was sie in dieser Nacht alles sehen würde. Was immer die arme Frau gesehen hatte, es blieb ihr Geheimnis, denn sie wurde praktischerweise vom Blitz erschlagen, als sie eben einen Humpen Bier hob, um auf das Wohl des Babys zu trinken.

 

Lady Fairfax, so wurde berichtet, hatte die seltsame Vorliebe, in den Wald zu spazieren, gewandet in grünen Damast und grüne Seide, ihr Jagdhund Finn ihr einziger Begleiter. Manchmal saß sie unter dem grünen Schutzschild der Lady Oak und sang ein unerträglich liebliches Lied über ihre Heimat, wie eine Ruth zwischen fremdem Grün. Öfter als einmal erschrak Sir Francis’ Wildhüter halb zu Tode, weil er sie, als sie in einem grünen Aufblitzen vor ihm Reißaus nahm, mit einem furchtsamen Hirschen verwechselte. Was wäre, wenn er eines Tages einen Pfeil in ihren makellosen grünen Busen schießen würde?

Dann verschwand sie – so plötzlich und geheimnisumwittert, wie sie einst aufgetaucht war. Sir Francis kehrte eines Tages von der Jagd zurück, mit einem schönen dicken Reh, dem er ins Herz geschossen hatte, und sie war nicht mehr da. Eine Küchenmagd, ein dummes Mädchen, behauptete, sie hätte gesehen, wie Lady Fairfax unter der Lady Oak verschwand, immer mehr verblaßte, bis ihr grünes Brokatkleid nicht mehr vom Grün der Umgebung zu unterscheiden war. Während Lady Fairfax immer blasser wurde, so das Mädchen, belegte sie die Fairfaxes, dahingegangene wie zukünftige, mit einem schrecklichen Fluch, und ihre ungeheuerlichen Schreie hallten noch wider, als sie längst nicht mehr zu sehen war. Die Köchin schlug dem Mädchen ob seiner phantastischen Vorstellungen mit einem Suppennapf auf den Kopf.

 

Francis Fairfax erfüllte alle Verpflichtungen eines verfluchten Mannes – 1605 verbrannte er in seinem eigenen Bett, und mit ihm ging nahezu sein gesamter Haushalt zugrunde. William, sein Sohn, wurde von Dienstboten gerettet und wuchs zu einem kränklichen jungen Mann heran, der gerade lange genug lebte, um seinesgleichen zu zeugen.

Die Fairfaxes gaben die verkohlten Überreste von Fairfax Manor auf und zogen nach Glebelands, wo es mit ihnen bergab ging. Fairfax Manor zerfiel zu Staub, die schöne Parklandschaft überließ sich der Natur, und nach ein paar Jahren sah keiner mehr, daß sie jemals existiert hatte.

Während der nächsten hundert Jahre wurde das Land parzelliert und versteigert. Im achtzehnten Jahrhundert verlor ein Fairfax, Thomas, das letzte Stück Land im Zusammenhang mit Spekulationsgeschäften der South Sea Company, und die Fairfaxes waren so gut wie vergessen – abgesehen von Lady Mary, die gelegentlich gesichtet wurde, grün gekleidet, untröstlich und schwermütig, und bisweilen trug sie um der besseren Wirkung willen ihren Kopf unter dem Arm.

Der Wald wurde nach und nach gefällt, der Rest während des Napoleonischen Kriegs, um Schlachtschiffe daraus zu bauen. Als das neunzehnte Jahrhundert so richtig in die Gänge kam, war von dem einst unermeßlichen Forest of Lythe nichts weiter übrig als ein großes Waldstück namens Boscrambe Woods, dreißig Meilen nördlich von Glebelands, und – knapp jenseits der Grenze von Lythe – die Lady Oak.

 

Im Jahr 1840 war Glebelands eine große Industriestadt, in der die Maschinen brummten und ratterten und Fabrikschlote schwarze Wolken aus zweifelhaften Chemikalien in den Himmel über den verstopften Straßen der Elendsviertel ausstießen. Der Besitzer einer dieser Fabriken, Samuel Fairfax, Philanthrop und Hersteller von Argandbrennern, wendete kurzzeitig die Familiengeschicke wieder zum Besseren, indem er es sich zur Aufgabe machte, die gesamte Stadt mit Gaslampen zu illuminieren.

Die Fairfaxes waren in der Lage, ein großes Stadthaus zu erwerben mit allem, was dazugehört – Dienstboten und eine Kutsche und Kredit in jedem Laden. Die Fairfax-Frauen trugen Kleider aus französischem Samt und Nottingham-Spitze und redeten den ganzen Tag Unsinn, während Samuel Fairfax davon träumte, das Stück Land zurückzukaufen, auf dem einst Fairfax Manor gestanden hatte, und einen Park daraus zu machen, in dem die Bewohner von Glebelands ihre rußigen Lungen lüften und ihre gebrechlichen Glieder stärken konnten. Er hoffte, sich damit ein mit Leben erfülltes Denkmal zu setzen – Fairfax Park, murmelte er glücklich, während er Entwürfe für das massive schmiedeeiserne Eingangstor betrachtete, aber als er auf eine extrem dem Rokoko verhaftete Zeichnung (»Restauration«) deutete, hörte sein Herz auf zu schlagen, und er fiel kopfüber auf das Buch mit den Vorschlägen. Der Park wurde nie angelegt.

Auf Gaslampen folgten elektrische Lampen, die Fairfaxes verpaßten den Anschluß an die neue Technologie und wurden langsam ärmer, bis 1880 ein Joseph Fairfax, Enkel von Samuel, gewahr wurde, wo die Zukunft lag, und das verbliebene Vermögen der Familie in den Einzelhandel investierte – in einen kleinen Laden in einer Nebenstraße, in dem er Lebensmittel und auch Alkohol verkaufte. Das Geschäft florierte im Lauf der Zeit, und zehn Jahre später zogen »Fairfax & Sohn – lizenzierte Lebensmittelhändler« in die Hauptstraße.

Joseph Fairfax hatte einen Sohn und keine Töchter. Der Sohn, Leonard, machte einem Mädchen namens Charlotte Tait, Tochter eines kleinen Emailwarenfabrikanten, den Hof und gewann sie zur Frau. Die Taits waren strenggläubige Nonkonformisten, und Charlotte war sich nicht zu gut, wenn nötig im Laden auszuhelfen, doch bald erwartete sie ihr ältestes Kind, ein häßliches Mädchen, das Madge genannt wurde.

 

Unterdessen warteten die Dorfbewohner von Lythe darauf, daß Glebelands über die verbliebenen paar Wiesen auf sie zukroch und sie sich einverleibte. Während sie warteten, fand ein Krieg statt, in dem drei Viertel der jungen Männer von Lythe ihr Leben ließen (drei, um genau zu sein), und als sich der Krieg seinem Ende näherte, nahm kaum jemand daran Anstoß, daß ein örtlicher Bauunternehmer den größten Teil des Dorfes und das Land, auf dem Fairfax Manor gestanden hatte, kaufte.

Der Bauunternehmer, ein kleiner Mann namens Maurice Smith, hatte eine Vision, träumte den Traum eines großen Baumeisters – eine Gartenstadt, eine Anlage moderner, komfortabler Häuser für die dienstbotenlose Nachkriegswelt der Kleinfamilien. Ganze Straßenzüge voll Ein- und Zweifamilienhäuser mit einem hübschen kleinen Vorgarten und einem großen Garten hinter dem Haus, in dem Kinder spielen, Väter Gemüse und Rosen züchten, Mütter den Kinderwagen mit Baby abstellen und nachmittags mit ihren ach so feinen Freundinnen Tee trinken konnten. Auf dem Land, auf dem einst Sir Francis mit seinem Haushalt lebte, da baute Maurice Smith seine Straßen voller Häuser. Häuser im Pseudo-Tudor-Stil und mit Kieselsteinverputz, Häuser mit Flügelfenstern und Veranden und gekachelten Eingangshallen. Häuser mit drei oder vier Schlafzimmern und modernsten sanitären Installationen, Waschbecken aus Porzellan und effizienten Heißwasserboilern, kühlen, luftigen Speisekammern und emaillierten Gasherden.

Straßen mit breiten Bürgersteigen und Bäumen, massenhaft Bäumen – ein Baldachin aus Bäumen über dem Pflaster, ein grüner Umhang um die Häuser und ihre glücklichen Bewohner. Bäume, die Freude bereiteten, denen man dabei zusehen konnte, wie sie Knospen und frische Blätter trieben, wie sie ihre grünen Finger über Straßen und Häuser streckten, wie sie ihre schützenden laubtragenden Arme über die Menschen breiteten, die in den Häusern wohnten. Für jede Straße andere Bäume – Eschenstraße, Kastanienallee, Stechpalmenweg, Weißdorngasse, Eichenstraße, Lorbeerhügel, Ebereschenstraße, Platanenstraße, Weidenweg. Der Wald aus Bäumen war im Lauf der Zeit zu einer Wildnis von Straßen geworden.

Aber nachts, in der Stille der toten Stunden, wenn man genau hinhörte, konnte man sich vorstellen, wie die Wölfe heulten.

Die Lady Oak, einsam und uralt, wuchs weiter auf der Wiese hinter dem Knick, den Weißdorngasse und Kastanienallee bildeten. Schwachstellen im Baum waren mit Zement gefüllt worden, und alte eiserne Krücken stützten seine müden Glieder, aber im Sommer war seine Blätterkrone nach wie vor grün und dicht genug zum Brüten, und in der Dämmerung flogen die Vögel krächzend in seine ausgebreiteten Äste.

Am Ende der Weißdorngasse stand das erste Haus des großen Baumeisters – Arden –, das er als Musterhaus erbaut hatte, auf den längst zerfallenen Fundamenten von Fairfax Manor. In Arden gab es schöne Parkettböden und Wandvertäfelungen aus heller Eiche, eine kunstvoll handgezimmerte Eichentreppe mit Knäufen in Eichelform, und seine skurrilen Türmchen waren mit runden blauen Schindeln aus Wales gedeckt, die übereinanderlappten wie die Schuppen eines Drachen.

Der Baumeister hatte das Haus eigentlich für sich selbst gedacht, aber Leonard Fairfax bot ihm einen so guten Preis, daß er es nicht über sich brachte, abzulehnen. Und so kehrte die Fairfax-Familie, ohne es zu wissen, auf ihren angestammten Grund und Boden zurück.

 

 

Charlotte Fairfax hatte (auch wenn es schwer vorstellbar ist) nach Madge noch zwei weitere Kinder auf die Welt gebracht, in der Reihenfolge – Vinny (Lavinia) und Gordon (»Mein Baby!«). Gordon war sehr viel jünger, ein Nachzügler (»Was für eine Überraschung!«). Als sie Arden bezogen, war Madge bereits mit einem ehebrecherischen Bankangestellten verheiratet und lebte in Mirfield, und Vinny war eine erwachsene Frau von zwanzig Jahren, Gordon dagegen war noch ein kleiner Junge. Charlotte verdankte Gordon ein neues Gefühl. Nachts schlich sie in sein neues kleines Zimmer unter dem Dachfirst, betrachtete sein schlafendes Gesicht im sanften Schein der Nachtlampe und war überrascht angesichts der überwältigenden Liebe, die sie für ihn empfand.

Aber die Zeit vergeht bereits wie im Flug, bald wird Eliza auftauchen und alles kaputtmachen. Eliza wird meine Mutter sein. Ich bin Isobel Fairfax, ich bin das A und das O des Erzählers (ich bin allwissend), und ich kenne den Anfang und das Ende. Der Anfang ist das Wort, und das Ende ist Schweigen. Und dazwischen liegen alle Geschichten. Diese ist von mir.

Gegenwart