Virginia Woolf
Zum Leuchtturm
Die Geschichte des Romans als Geschichte ihres Lebens
Aus dem Englischen von Maria Bosse-Sporleder, Hannelore Faden, Marianne Frisch, Karin Kersten, Brigitte Walitzek und Claudia Wenner
Mit einem Vorwort von Hermione Lee
FISCHER E-Books
Virginia Woolf wurde am 25. Januar 1882 in London geboren. Bereits in jungen Jahren bildete sie zusammen mit ihren Geschwistern den Mittelpunkt der intellektuellen Bloomsbury Group. Zusammen mit ihrem Mann, dem Kritiker Leonard Woolf, gründete sie 1917 den Verlag The Hogarth Press. Ihre Romane stellen sie als Schriftstellerin neben James Joyce und Marcel Proust. Zugleich war sie eine der lebendigsten Essayistinnen ihrer Zeit und hinterließ ein umfangreiches Tagebuch- und Briefwerk. Virginia Woolf nahm sich am 28. März 1941 in dem Fluß Ouse bei Lewes (Sussex) das Leben.
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Virginia Woolf ist ein Wunder. Ganz gleich, was sie schrieb, immer schien es aus dem gleichen Kern zu kommen. An welchen Schreibtisch sie sich auch setzte, um ihre Romane, Erzählungen, Essays, Briefe oder ihr Tagebuch zu schreiben, immer war sie ganz bei sich.
An keinem ihrer Romane kann man das so genau studieren wie an ›Zum Leuchtturm‹. Denn zum einen gilt er als der innovativste und vollkommenste ihrer Romane, zum anderen gibt es kein Buch von ihr, in dem ihr Nachdenken über die Kindheit, ihre über alles verehrte Mutter und den unnahbaren Vater so klar Kontur gewinnt. Aus dem reichen Fundus der von Klaus Reichert herausgegebenen Gesamtausgabe werden Tagebucheinträge, Briefe, Erzählungen und ein Essay neben den Roman gestellt, dessen Kunst sich erst in der Vielfalt der Stimmen und Perspektiven entfaltet – die Neuentdeckung eines der größten Kunstwerke des 20. Jahrhunderts.
Originalausgabe
Die englische Ausgabe erschien 1927 unter dem Titel ›To the Lighthouse‹ im Verlag The Hogarth Press, London.
Für die deutschsprachige Ausgabe und diese Zusammenstellung:
© 2016 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main
Für das Vorwort:
© 1992 Hermione Lee
Weitere Angaben in der Bibliographischen Notiz am Ende des Bandes.
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-403661-8
Im April 1926, in den ersten Phasen der Arbeit an Zum Leuchtturm, schrieb Woolf einen Essay mit dem Titel »Das Kino«, in dem sie sich ein Kino der Zukunft vorstellte, das seine »bildschaffende Kraft« einsetzt, um Gedanken sichtbar zu machen wie Rauch, der aus dem Vesuv quillt.
Zitiert von Lyndall Gordon in Virginia Woolf: Das Leben einer Schriftstellerin, S. Fischer Verlag, Frankfurt /M. 1987, S. 147, die diesen Zusammenhang zwischen der Form von Zum Leuchtturm und Woolfs Erblicken der Hagia Sophia herstellt.
Beides in Augenblicke des Daseins, deutsch von Brigitte Walitzek, S. Fischer Verlag, Frankfurt /M. 2012.
Tagebücher 2, 1920–1924, S. Fischer Verlag, Frankfurt /M. 1994, S. 457.
Nicht ins Deutsche übersetzt (Anm. d. Übs.).
»Das neue Kleid«, deutsch von Brigitte Walitzek, in Virginia Woolf, Das Mal an der Wand, S. Fischer Verlag, Frankfurt /M. 1989, S. 214.
»Vorgestellt werden«, deutsch von Dieter E. Zimmer, ebenda, S. 227.
»Ein Resümee«, deutsch von Marianne Frisch, ebenda, S. 256.
»Eine einfache Melodie«, deutsch von Marianne Frisch, ebenda, S. 248.
Tagebücher 3, 1925–1930, Mittwoch, 8. April 1925, S. Fischer Verlag, Frankfurt /M. 1999, S. 25.
»Über das Kranksein«, deutsch von Hannelore Faden, in Virginia Woolf, Der Augenblick, S. Fischer Verlag, Frankfurt /M., S. 14/15.
Brief an Vanessa Bell, 29. September 1925, Letters III, S. 217 (nicht in der deutschen Briefauswahl enthalten, d. Übs.).
Brief an Lady Ottoline Morell, 15. Mai 1927 in Letters III, S. 310 (nicht in der deutschen Briefauswahl enthalten, d. Übs.).
Brief an Angus Davidson, 25. Dezember 1926, Letters III, S. 310 (nicht in der deutschen Briefauswahl enthalten, d. Übs.).
Augenblicke des Daseins, deutsch von Brigitte Walitzek, S. Fischer Verlag, Frankfurt /M. 2012, S. 230.
Es gab zwei Erstausgaben, die amerikanische und die englische, die beträchtliche Unterschiede aufweisen. Selbst während der Fahnenkorrektur nahm sie noch Veränderungen vor.
Manuskript, S. 29.
Manuskript, S. 136.
Manuskript, S. 137.
Manuskript, S. 148.
Manuskript, S. 152.
Manuskript, S. 216.
Manuskript, S. 316.
Wie der Name Bast andeutet, gibt es eine Ähnlichkeit zu E.M. Forsters Wiedersehen in Howards End und Forsters Gefühl, daß die Mittelschicht durch eine Injektion des Lebens von unten gerettet werden könnte. Mrs Ramsay besitzt eine entfernte Ähnlichkeit mit Mrs Wilcox und das verlassene Haus der Ramsays mit »Howards End«.
Augenblicke des Daseins, S. 178.
Ebenda, S. 236.
Brief an Vita Sackville-West, 16. März 1926, in Briefe 1, 1888–1927, S. 433.
Manuskript, S. 290.
Manuskript, S. 197.
»Die Fenstertür«, Kapitel 19, erste amerikanische Ausgabe von To the Lighthouse, Harcourt, Brace Co., 5. Mai 1927.
Brief an Vanessa Bell, 25. Mai 1927, Letters III, S. 383 (nicht in der deutschen Briefauswahl enthalten, d. Übs.).
Brief an Vita Sackville-West, 31. Januar 1926, Briefe 1, S. 421.
Tagebücher 3, 7. Dezember 1925, S. 86.
Tagebücher 2, 16. Januar 1923, S. 330.
Brief an Vita Sackville-West, 23. September 1925 in Briefe 1, S. 412.
John Middleton Murry, der Mann von Katherine Mansfield, war Herausgeber der Literaturzeitschrift »The Adelphi« (Anm. d. Übs.).
Brief an Vita Sackville-West, 3. Februar 1926, Letters III, S. 238 (nicht in der deutschen Briefauswahl enthalten, d. Übs.).
In Augenblicke des Daseins (Anm. d. Übs.).
Die Woolfs wohnten von 1924 bis 1939 Tavistock Square Nr. 52.
William Shakespeare, Hamlet, 1. Aufzug, 5. Szene, übersetzt von August Wilhelm Schlegel, Philipp Reclam jun, Stuttgart 1969, 1990 (Anm. d. Übs.).
Woolf hat wahrscheinlich im Buch ihrer Freundin Jane Harrison, Prole-gomenta to the Study of Greek Religion (CUP, 1903, 1908, 1922) darüber gelesen.
Augenblicke des Daseins, S. 221.
Lyndall Gordon, Virginia Woolf – A Passionate Apprentice, »Diary 1905«, S. 282. Gordon schreibt, daß Woolf noch einmal nach Talland House zurückfuhr, im Sommer 1936, als sie Die Wellen schrieb und kurz vor einem Nervenzusammenbruch stand.
Alfred Tennyson: »Enoch Arden«, aus dem Englischen übertragen von Dr. H.A. Feldmann, vierte neu nachgesehene Auflage, Hamburg, Hermann Grüning 1881, S. 35 (Anm. d. Übs.).
Alfred Tennyson, In Memoriam – Zum Gedächtnis, aus dem Englischen übersetzt von Agnes von Bohlen, Gebr. Borntraeger, Ed. Eggers, Berlin 1874.
»Von der Unkenntnis des Griechischen«, deutsch von Hannelore Faden, in:- Virginia Woolf, Der gewöhnliche Leser 1, S. 39.
Manuskript, S. 69.
Manuskript, S. 309.
Die Ersetzung der mütterlichen, rhythmischen Sprache durch das Gesetz des Vaters erinnert sehr an Jacques-Marie Emile Lacans Feststellung über den Eintritt des Kindes in die symbolische Ordnung der Sprache.
Manuskript, S. 303.
VW hatte bereits im Herbst zuvor mit der Idee gespielt, ihren Vater, Leslie Stephen, zum Gegenstand einer ›Szene‹ zu machen (siehe VW Tagebücher 2, 17. Oktober 1924); daraus sollte To the Lighthouse werden. Der Professor (»Professor Brierly«) ist in Mrs Dalloway eingegangen. (Deutsch von Walter Boehlich, Frankfurt /M.: S. Fischer Verlag, 1997, S. 171f.)
Mrs Dalloway wurde am 14. Mai 1925 bei der Hogarth Press veröffentlicht.
Aus der Schlußstrophe eines Gedichts (über einen über Bord gegangenen und ertrunkenen Matrosen) von William Cowper, ›The Castaway‹:
»No voice divine the storm allayed,
No light propitious shone,
When, snatched from all effectual aid,
We perished, each alone:
But I beneath a rougher sea,
And whelmed in deeper gulfs than he.«
(»Keine göttliche Stimme gebot dem Sturm Einhalt,
Kein gnädiges Licht leuchtete,
Als, weggerissen von jeglicher tätigen Hilfe,
Wir untergingen, jeder allein:
Doch ich war unter rauh’rer See
Und verschlungen von tieferen Abgründen als er.«)
Auf diese Strophe wird mehrfach in To the Lighthouse angespielt.
Das verdrießliche Wort »sentimental« ist das Schlüsselwort der Kritik über VW in The Calendar (siehe oben, 19. Juli, Anm. 4). – Ann Watkins war eine New Yorker Literaturagentin.
Robert (Bob) Calverly Trevelyan (1872–1951), Dichter und Altphilologe, ein Cambridge Apostle und ein alter Freund.
Vermutlich ein Manuskript des Schriftstellers und Akademikers Bonamy Dobrée (1891–1974), den die Woolfs in ihrer ›Hoghart Essays Series‹ ver-öffentlichten; sie publizierten jedoch erst 1932 einen Roman von ihm.
Sie wollte im Mai aus Persien zurückkommen.
Gwen Raverats Vater und vier Onkel waren die Söhne des großen Charles Darwin; siehe ihr Buch Period Piece. A Cambridge Childhood, 1952.
Dies war eine überarbeitete Fassung des Vortrags, den sie am 30. Januar in Hayes Court gehalten hatte; er wurde in der Yale Review im Oktober 1926 veröffentlicht. S. S. 350ff.
Violet Dickinson (1865–1948) war eine von VWs ältesten Freundinnen; es- war eine Freundschaft, die jetzt mehr durch Loyalität als Interesse aufrechterhalten wurde. VW schrieb ihr am 26. Juli (siehe III VW Letters, no. 1658). – ›Suspiria de Profundis‹ war eine von de Quinceys ›Traumvisionen‹, erstmals 1845 im Blackwood’s Magazine veröffentlicht. VWs Essay ›Impassioned Prose‹ erschien am 16. September 1926 und wurde in Granite and Rainbow nachgedruckt.
Die Malerin Lily Briscoe, die bis zum Ende von To the Lighthouse an einem Bild arbeitet.
VW schreibt »hyphens«, also Binde- oder Gedankenstriche, meint aber wohl Anführungszeichen.
Siehe Eintrag vom 7. Februar 1931, wo sie auf das Bild von der Flosse zurückgreift.
Vielleicht The waves oder moths (Okt. 1929).
Der mittlere Teil von To the Lighthouse, »Time Passes«, war in der Übersetzung von Roger Frys Freund Charles Mauron in Commerce (Winter 1926) erschienen. Fry schrieb an seine Frau: »Um die Wahrheit zu sagen, ich glaube nicht, daß dieses Stück zu ihren besten gehört.« Sowohl die englische wie auch die amerikanische Ausgabe von To the Lighthouse erschien am 5. Mai 1927. Diese Tagebucheintragung legt nahe, daß mehrere Fahnenabzüge gemacht worden waren (von R. & R. Clark, Edinburgh), von denen wenigstens drei nach Amerika geschickt wurden. Es bestehen Abweichungen zwischen dem Text der englischen und der amerikanischen Ausgabe (die für Harcourt Brace von Quinn & Boden Company, N.J., gedruckt wurde), besonders in dem Abschnitt »Time Passes«. Es scheint also wahrscheinlich, besonders im Hinblick auf Roger Frys zitierte Meinung, daß VW in ihren Fahnenabzug Änderungen eintrug, die von der Druckerei Clark ausgeführt, nicht aber nach Amerika weitergegeben wurden, und daß somit die englische Ausgabe die endgültig revidierte Fassung darstellt.
VW erhielt den Preis 1928 für To the Lighthouse.
Gegen Ende von To the Lighthouse wird mehrfach auf ein Gedicht von William Cowper (1731–1800), »The Castaway«, Bezug genommen.
Die TLS-Besprechung von To the Lighthouse erschien unsigniert am 5. Mai 1927, dem Tag der Veröffentlichung.
Vita Sackville-West hatte geschrieben: »Alles verschwimmt wegen Deines Buchs zu einem Nebel … Ich kann nur sagen, daß ich geblendet und verzaubert bin« (11. Mai 1927).
Zusätzlich zu dem richtigen Buch hatte VW ihr ein Exemplar von To the Lighthouse zugeschickt, mit der Widmung »Meiner Meinung nach der beste Roman, den ich je geschrieben habe«. Drinnen fand Vita nur leere Seiten.
Vanessa Bell war sehr gerührt über das Portrait ihrer Eltern in der Gestalt der Ramsays.
Roger Fry hatte an VW geschrieben, für ihn sei To the Lighthouse »die beste Sache, die Du je gemacht hast, sogar besser als Mrs Dalloway. Du läßt Dich nicht mehr von der Gleichzeitigkeit der Dinge verwirren und bewegst Dich mit einer außergewöhnlichen Bereicherung jedes Augenblicks des Bewußtseins in der Zeit vor und zurück. Ich bin sicher, daß es vieles- gibt, was ich nicht verstanden habe … zum Beispiel, daß das Ankommen am Leuchtturm eine symbolische Bedeutung hat, die mir entgeht.« (Quentin Bell, Virginia Woolf: A Biography, II, S. 128f.; deutsche Ausgabe S. 392.)
Forsters Brief ist vom 5. Juni 1927 datiert. »Es ist furchtbar traurig, sehr schön …; es regt mich viel mehr an, nach ob & warum zu fragen, als irgend etwas anderes, was Du geschrieben hast … Ich neige zu der Meinung, es könnte Dein bestes Werk sein.«
VW hat diese Eintragung irrtümlich Mittwoch, 9. Aug. datiert.
Spender hatte am 4. Juli geschrieben: »Es ist der einzige Roman mit Ausnahme von Krieg und Frieden, den ich vier oder fünf Mal gelesen habe. Ich finde, es ist das wundervollste Buch, das ich mir vorstellen kann.«
Winifred Carritt (geb. Etty), Frau von E.F. Carritt (1876–1964), Philo-sophiedozentin in Oxford. Spender und seine Freunde waren der Meinung, sie besitze Ähnlichkeiten mit Mrs Ramsay in To the Lighthouse.
Nachdem VW 1913 ihren ersten Roman The Voyage Out abgeschlossen hatte und er vom Verlag angenommen worden war, geriet sie in eine langandauernde Depression und Krankheit, während der sie, am 9. September 1913, einen Selbstmordversuch unternahm. Zur Depression nach Beendigung von To the Lighthouse siehe VW Tagebücher 3, 15., 28. und 30. September 1926.
»… dies ist ein Buch, das man in anspruchsvolleren Zeiten vielleicht ein Meisterwerk genannt hätte … Vor zehn Jahren hat Mrs Woolf in To the Lighthouse gezeigt, daß sie dem Leser mehr – von ihrem Geist und seinem eigenen – zu geben hatte als die anderen zeitgenössischen Schriftsteller. Wieder setzt sie die Phantasie frei, regt sie an und weckt sie mit ihrer wunderbar sparsamen und einfallsreichen Prosa … Mrs Woolfs unvergleichlich fruchtbarer [Roman] …« etc.
Aus der dritten Strophe von Alfred Lord Tennysons Gedicht über den Reiterangriff von Balaclava bei Sebastopol am 25. Oktober 1854, ›The Charge of the Light Brigade‹. Aufgrund eines mißverstandenen Befehls waren die Soldaten der Leichten Brigade in die Schlacht gezogen; von den 637 Mann waren 247 gefallen oder verwundet worden. Im Bericht der Times über den Vorfall findet sich der Satz »Someone had blundered« (»Da hatte sich einer geirrt«), den Tennyson in sein Gedicht übernahm und der im folgenden mehrfach zitiert wird. Wir geben hier das ganze Gedicht – samt einer wörtlichen und einer zeitgenössischen Übersetzung – wieder, weil es für den Zusammenhang wichtig ist:
The Charge of the Light Brigade.
I.
Half a league, half a league,
Half a league onward,
All in the valley of Death
Rode the six hundred.
›Forward, the Light Brigade!
Charge for the guns!‹ he said:
Into the valley of Death
Rode the six hundred.
II.
›Forward, the Light Brigade!‹
Was there a man dismay’d?
Not tho’ the soldier knew
Some one had blunder’d:
Their’s not to make reply,
Their’s not to reason why,
Their’s but to do and die:
Into the valley of Death
Rode the six hundred.
III.
Cannon to right of them,
Cannon to left of them,
Cannon in front of them
Volley’d and thunder’d;
Storm’d at with shot and shell,
Boldly they rode and well,
Into the jaws of Death,
Into the mouth of Hell
Rode the six hundred.
IV.
Flash’d all their sabres bare,
Flash’d as they turn’d in air
Sabring the gunners there,
Charging an army, while
All the world wonder’d:
Plunged in the battery-smoke
Right thro’ the line they broke;
Cossack and Russian
Reel’d from the sabre-stroke
Shatter’d and sunder’d.
Then they rode back, but not
Not the six hundred.
V.
Cannon to right of them,
Cannon to left of them,
Cannon behind them
Volley’d and thunder’d;
Storm’d at with shot and shell,
While horse and hero fell,
They that had fought so well
Came thro’ the jaws of Death,
Back from the mouth of Hell,
All that was left of them,
Left of six hundred.
VI.
When can their glory fade?
O the wild charge they made!
All the world wonder’d.
Honour the charge they made!
Honour the Light Brigade,
Noble six hundred!
Wörtliche Übersetzung:
Der Sturm der leichten Brigade.
I.
Eine halbe Meile, eine halbe Meile,
Eine halbe Meile weiter voran,
Alle ins Tal des Todes
Ritten die Sechshundert.
›Vorwärts, die Leichte Brigade!
Stürmt die Kanonen!‹ sagte er:
In das Tal des Todes
Ritten die Sechshundert.
II.
›Vorwärts, die leichte Brigade!‹
War da ein Mann entsetzt?
Die Soldaten wußten ja nicht:
Da hatte sich einer geirrt.
Sie dürfen nicht widersprechen,
Sie dürfen nicht nach dem Grund fragen,
Sie dürfen nur handeln und sterben:
In das Tal des Todes
Ritten die Sechshundert.
III.
Kanonen zu ihrer Rechten,
Kanonen zu ihrer Linken,
Kanonen vor ihnen
Donnerten und dröhnten;
Bestürmt von Geschossen und Granaten
Ritten sie kühn und gut
In den Rachen des Todes,
In das Höllenmaul
Ritten die Sechshundert.
IV.
Sie zogen die Säbel blank,
Blitzten wie sie in der Luft schwangen,
Säbelten auf die Kanoniere ein,
Machten Sturm auf eine Armee, während
Die ganze Welt staunte:
Stürzten sich in den Pulverdampf
Und brachen durch die Linie;
Kosack und Russe
Wichen vor dem Säbelstreich
Zerschmettert und zerrissen.
Dann ritten sie zurück, doch nicht
Nicht die Sechshundert.
V.
Kanonen zu ihrer Rechten,
Kanonen zu ihrer Linken,
Kanonen vor ihnen
Donnerten und dröhnten;
Bestürmt von Geschossen und Granaten,
Während Roß und Held fielen,
Sie, die so gut gefochten hatten,
Kamen durch den Rachen des Todes
Zurück aus dem Höllenmaul,
Alles was von ihnen noch übrig war,
Übrig von den Sechshundert.
VI.
Wann kann ihr Ruhm verblassen?
O der wilde Sturm, den sie machten!
Die ganze Welt staunte.
Ehret den Sturm, den sie machten!
Ehret die leichte Brigade,
Die edlen Sechshundert.
Deutsche Übersetzung von Adolf Strodtmann (Leipzig/Wien 1868), ohne Strophe II, die Tennyson selbst in manchen Abdrucken des Gedichts weggelassen hatte:
Der Reiterangriff von Balaklava.
Schnell wie des Blitzes Strahl,
Stürmend und sausend,
Nieder ins Todesthal
Ritten die Tausend.
»Vorwärts!« der Führer spricht;
Sie aber fragen nicht,
Zittern und zagen nicht,
That und Tod ihre Pflicht,
Hin durch das Todesthal
Ritten die Tausend.
Rechts der Kanonen Schlund,
Links der Kanonen Schlund,
Vorn der Kanonen Schlund,
Donnernd und brausend;
Bomb’ und Kartätsche traf,
Sie aber ritten brav;
Kühn in der Hölle Schlund,
Kühn in den Todesschlaf
Ritten die Tausend.
Schwangen die Säbel all’,
Stürmten mit Donnerschall
Wider der Feinde Wall,
Nieder fiel Schlag auf Schlag,
Blitzend und sausend;
Mitten im Pulverdampf
Dröhnte ihr Hufgestampf;
Kühn war und kurz der Kampf,
Wankend ein Heer zerstob,
Wankend und grausend.
Dann ritten heim sie, doch
Nicht mehr die Tausend.
Rechts der Kanonen Schlund,
Links der Kanonen Schlund,
Hinten der Mörser Schlund,
Donnernd und brausend;
Bomb’ und Kartätsche traf
Sie, die gestürmt so brav;
Aufwärts vom Höllenschlund
Ritten durchs Todesthal
Heim wie des Blitzes Strahl
Alle, die übrig noch
Uebrig von Tausend.
Singt ihnen Ruhm und Preis!
Lang noch gekündet sei’s
Horchendem Enkelkreis
Staunend und grausend.
›The Charge of the Light Brigade‹, Strophe II: »Da hatte sich einer geirrt«.
Ungenau zitiert nach den Strophen III, IV und II aus Tennysons Gedicht.
»Best and brightest, come away! / Fairer far than this fair day.« (»Beste und strahlendste, komm mit fort! / Viel schönere als dieser schöne Tag.«), aus Percy Bysshe Shelleys Gedicht ›To Jane: The Invitation‹.
»Damn your eyes, damn your eyes«, vermutlich eine Art Kanon.
Middlemarch, a Study of Provincial Life (1871–2), Roman von George Eliot (1819–80). Siehe VWs Essay ›George Eliot‹, in Der gewöhnliche Leser. Band 1, Frankfurt /M. 1989, 196–208.
Archibald Philip Primrose, fifth earl of Rosebery (1847–1929), Außenminister der Gladstone-Regierung, Premierminister (1894–5), geschätzt als witziger Redner. Schrieb Bücher über Pitt, Sir Robert Peel, Napoleon, Cromwell. – Thomas Creevey (1768–1838), Politiker der fortschrittlichen Whig-Partei. Die 1903 veröffentlichten ›Creevey Papers‹ – Auszüge aus Briefen und Tagebüchern – werden wegen ihrer Klatschsucht und wegen der Lebhaftigkeit der Schilderungen berühmter Persönlichkeiten der georgianischen Epoche geschätzt.
Waverley Novels, Serie von Romanen, die Sir Walter Scott (1771–1832) seit 1814 veröffentlichte und mit denen er das Genre des historischen Romans begründete.
»Come out and climb …« die ersten Zeilen eines Gedichtes eines gewissen Charles Elton (1839–1900), das möglicherweise mündlich in der Familie Stephen kursierte. Es wurde erstmals veröffentlicht in Another World than this …, einer von V. Sackville-West and Harold Nicolson herausgegebenen Anthologie, London: Michael Joseph, 1945, in dem Abschnitt ›June‹, S. 108. Da das Gedicht als Ganzes für den Zusammenhang wichtig ist, geben wir es hier vollständig wieder, gefolgt von einer wörtlichen Übersetzung:
Come out and climb the garden path
Luriana, Lurilee.
The China rose is all abloom
And buzzing with the yellow bee.
We’ll swing you on the cedar bough,
Luriana, Lurilee.
I wonder if it seems to you,
Luriana, Lurilee,
That all the lives we ever lived
And all the lives to be,
Are full of trees and changing leaves,
Luriana, Lurilee.
How long it seems since you and I,
Luriana, Lurilee,
Roamed in the forest where our kind
Had just begun to be,
And laughed and chattered in the flowers,
Luriana, Lurilee.
How long since you and I went out,
Luriana, Lurilee,
To see the Kings go riding by
Over lawn and daisy lea,
With their palm leaves and cedar sheaves,
Luriana, Lurilee.
Swing, swing, swing on a bough,
Luriana, Lurilee,
Till you sleep in a humble heap
Or under a gloomy churchyard tree,
And then fly back to swing on a bough,
Luriana, Lurilee.
Übersetzung:
Komm heraus und steig den Gartenweg hoch,
Luriana, Lurilee.
Der Roseneibisch steht in voller Blüte
Und in ihm summt die gelbe Biene.
Wir werden dich schaukeln auf dem Zedernast,
Luriana, Lurilee.
Ich frag mich, ob es dir so scheint,
Luriana, Lurilee,
Daß alle Leben, die wir je lebten,
Und alle Leben, die sein werden,
Voller Bäume und wechselnder Blätter sind,
Luriana, Lurilee.
Wie lang es her zu sein scheint, seitdem du und ich,
Luriana, Lurilee,
Im Wald herumstreiften, wo unsereins
Gerade angefangen hatten zu sein
Und in den Blumen lachten und schwatzten,
Luriana, Lurilee.
Wie lang, seitdem du und ich hinausgingen,
Luriana, Lurilee,
Um die Könige vorbeireiten zu sehen
Über Wiese und Maßliebchenaue,
Mit ihren Palmblättern und Zedernsträußen,
Luriana, Lurilee.
Schaukle, schaukle, schaukle auf einem Ast,
Luriana, Lurilee,
Bis du schläfst, ganz schlicht zusammengekauert
Oder unter einem düsteren Kirchhofbaum
Und dann zurückfliegst, um auf einem Ast zu schaukeln,
Luriana, Lurilee.
Steer, hither steer your winged pines,
All beaten Mariners!
Here lie Love’s undiscovered mines,
A prey to passengers – …
(»Steuert, steuert hierher eure geflügelten Planken,
All ihr windgepeitschten Matrosen!
Hier liegen der Liebe unentdeckte Schätze,
Eine Beute den Vorüberfahrenden –«)
Aus dem ›Siren’s Song‹ von William Browne aus Tavistock (? 1590–1645). Browne schrieb vor allem Natur- und Liebesgedichte, auch Epitaphe, die nicht ohne Einfluß waren auf John Milton (1608–74) und John Keats (1795–1821).
Mucklebackit, Figur aus dem Roman The Antiquary (1816) von Sir Walter Scott.
Zeilen aus Shakespeares Sonett 98. Das ganze Sonett lautet:
From you have I been absent in the spring,
When proud-pied April, dress’d in all his trim,
Hath put a spirit of youth in every thing,
That heavy Saturn laugh’d and leapt with him.
Yet nor the lays of birds, nor the sweet smell
Of different flowers in odour and in hue,
Could make me any summer’s story tell,
Or from their proud lap pluck them where they grew:
Nor did I wonder at the lily’s white,
Nor praise the deep vermilion in the rose;
They were but sweet, but figures of delight
Drawn after you, you pattern of all those.
Yet seem’d it winter still; and, you away,
As with your shadow I with these did play.
In der Übersetzung von Stefan George:
Von dir war ich entfernt im vorfrühling
Als stolz april im bunten schmucke schritt
Und geist der jugend goss in jedes ding
Der schwere saturn lief und lachte mit.
Doch gab mir vogellied und süsser hauch
Von blumen reich an duft und glanz nicht lust
Mich zu ergehen nach des sommers brauch,
Sie zu entpflücken ihrer stolzen brust.
Das weiss der lilie nahm ich nicht in acht
Noch lobte ich der rose tiefes rot.
Sie waren süss, doch abglanz nur der pracht:
Nach dir gezeichnet der das vorbild bot.
Doch winter schien es, denn du kamest nie:
Wie deinen schatten so umspielt ich sie.
Aus der Schlußstrophe eines Gedichts über einen über Bord gegangenen und ertrunkenen Seemann, ›The Castaway‹, von William Cowper (1731–1800). Anfangs- und Schlußstrophe des Gedichts, die für das folgende wichtig sind, lauten:
Obscurest night involved the sky,
The Atlantic billows roared,
When such a destined wretch as I,
Washed headlong from on board,
Of friends, of hope, of all bereft,
His floating home for ever left.
[…]
No voice divine the storm allayed,
No light propitious shone,
When, snatched from all effectual aid,
We perished, each alone:
But I beneath a rougher sea,
And whelmed in deeper gulfs than he.
Übersetzung:
Dunkelste Nacht hüllte den Himmel ein,
Die Wogen des Atlantik brüllten,
Da ein vom Schicksal auserkorener Elender wie ich
Kopfüber vom Schiff gefegt wurde,
Von Freunden, von Hoffnung, von allem beraubt,
Sein schwimmendes Haus auf immer verließ.
[…]
Keine göttliche Stimme gebot dem Sturm Einhalt,
Kein gnädiges Licht leuchtete,
Als, weggerissen von jeglicher tätigen Hilfe,
Wir untergingen, jeder allein:
Doch ich war unter rauh’rer See
Und verschlungen von tieferen Abgründen als er.
Siehe vorige Anmerkung.
Siehe Anm. 13.
VW zitiert ungenau; siehe Anm. 13.
von Hermione Lee
Zum Leuchtturm ist die Geschichte einer Ehe und einer Kindheit, eine Klageschrift des Verlusts und der Trauer um einflußreiche, geliebte, tote Eltern. Virginia Woolf hätte das Buch lieber als »Elegie« (S. 288) denn als Roman bezeichnet. Auf weniger offensichtliche Weise handelt es auch von der englischen Klassengesellschaft und ihrem radikalen Bruch mit dem Viktorianismus nach dem Ersten Weltkrieg. Es bezeugt das drängende Bedürfnis nach einer Kunstform, die sich, wenn auch unter großen Schwierigkeiten, an diesen Bruch anpassen und auf ihn reagieren kann. Es ist all diese Dinge gleichzeitig.
Da die erzählende Literatur weder Musik ist noch Malerei, noch Film[1] oder unausgesprochener Gedanke, erfordert sie formale Strategien, wenn sie versuchen will, mehrere Dinge gleichzeitig zu sein. Diese Strategien können so komplex sein wie ein ganzes Kapitel, das aus der Perspektive der vergehenden Zeit geschrieben wird, oder so simpel wie ein Einschub in Klammern.
So zum Beispiel denkt Mr Bankes in Klammern an ein Telefongespräch. Er spricht mit Mrs Ramsay über eine Zugverbindung. Dann schaut er aus dem Fenster, »um nachzusehen, wie die Arbeiter mit dem Hotel vorankamen, das sie hinter seinem Haus bauten«. Die »Betriebsamkeit zwischen den unvollendeten Mauern« erinnert ihn an das Unpassende an ihr. Die Bauarbeiten draußen gehen innerhalb einer weiteren Klammer voran – »(sie trugen Ziegelsteine eine kleine Planke hinauf, während er sie beobachtete)« –, während er seine Version von Mrs Ramsays Idiosynkrasien ausbaut. Mehrere Dinge geschehen gleichzeitig: Was er am Telefon zu Mrs Ramsay sagt und was er gern sagen würde; was er von seinem Fenster aus sieht und was er vor seinem inneren Auge sieht; und vor seinem inneren Auge sieht er ihre Schönheit und das Unpassende an ihr. Es existieren auch mehrere Zeiten gleichzeitig: Die Zeit von Mr Bankes’ Erzählung, die unter dem Zwang steht, sich voranzubewegen (»Ja, er würde den um 10 Uhr 30 von Euston nehmen«; »Er mußte wieder an die Arbeit« [S. 74]); die Augenblicke, in denen er Mrs Ramsay vor seinem inneren Auge sieht; und, außerhalb von Mr Bankes’ Klammern, der Augenblick, in dem Mrs Ramsay an ihrem Strumpf strickt und mit James redet.
Vieles in Zum Leuchtturm spielt sich in Klammern ab: Stumme Gesten – »(sie warf ihm einen versonnenen Blick zu)« (S. 95); Identifikationen von Standpunkten – »(fand James)« (S. 46); Kommentare und Erklärungen – »(denn sie war in sie alle verliebt, in diese Welt verliebt)« (S. 66); Dinge, die sich jemand in Erinnerung ruft – »(und die Rechnung für das Gewächshaus würde sich auf fünfzig Pfund belaufen)« (S. 108); plötzliche Todesfälle; ein Weltkrieg. Der mittlere Teil, »Zeit vergeht«, liest sich wie eine lange Klammer zwischen erstem und letztem Teil. Seine eckigen Klammern umschließen die Fakten des Todes, als gehörten sie einer anderen Sprache an. Die letzten Teile von »Zeit vergeht« quellen geradezu über vor eingeklammerten Passagen über die Rückkehr von Leben ins Haus, die sich dann zum dritten Teil des Romans erweitern. Während Woolf den dritten Teil schrieb und zwischen Lily auf dem Rasen und den Ramsays im Boot hin und her pendelte, stellte sie sich vor, Lily und ihr Bild in Klammern zu Ende zu führen: »Könnte ich es in Klammern setzen? so daß der Eindruck entstünde, man würde beides gleichzeitig lesen?« (S. 301f.)
Klammern sind eine Möglichkeit, mehrere Dinge gleichzeitig geschehen zu lassen. Sie bewirken jedoch auch eine verunsichernde Zwiespältigkeit in bezug auf den Status der Ereignisse. Was ist »wichtiger«? Der Tod von Mrs Ramsay oder der Faltenfall einer grünen Stola in einem leeren Zimmer? Wenn der Roman uns an mehr als eine Sache gleichzeitig denken läßt und in mehr als einer Zeit existiert, was hat dann Vorrang? Wird das Leben der Ramsays im Garten und im Haus von der Welt umschlossen wie von Klammern, so wie der Leuchtturm vom Meer umschlossen ist? Oder sind die Ramsays das Eigentliche, und alles andere spielt sich in Klammern ab?
Oft dringt die Außenwelt in Form der alltäglichen Dinge britischen Lebens zu Anfang des 20. Jahrhunderts – U-Bahnen, Abendzeitungen, Autowerkzeuge, Bahnhofsansager, Zugfahrkarten, jene Ziegelsteine – in die Welt von Haus und Garten und Leuchtturm ein. Teils funktioniert das als historischer Gegensatz: Die viktorianische Familienszenerie ist verschwunden und zu einer Traumwelt geworden – das moderne Nachkriegsleben geht weiter. Aber Mr Bankes’ Ziegelsteine in Klammern ergeben nicht einfach nur einen Gegensatz zu seiner inneren Vision von Mrs Ramsay, die »in Galoschen über den Rasen [rennt], um eins der Kinder vor Schaden zu bewahren« (S. 74). Die Ziegelsteine und der Bau des Hotels sind wie das Unpassende an ihr – schön und geschäftig, ätherisch und zäh –, und sie sind wie die Art, wie er über sie denkt, eine Sache einer anderen gegenüberstellt, ein Bild konstruiert. Der Roman beharrt darauf, daß man seine strukturierenden Hilfsmittel bemerkt, seine Klammern und Abschnitte und Standpunktveränderungen.
Im Herbst 1925, in den Anfangsphasen der Arbeit an Zum Leuchtturm, bereitete Woolf einen Vortrag mit dem Titel »Wie sollte man ein Buch lesen?« vor (ein Auszug findet sich im Manuskript des Romans). Darin sagt sie, die zweiunddreißig Kapitel eines Romans seien »ein Versuch, etwas so Planvolles und Geformtes zu machen wie ein Gebäude; nur sind Worte ungreifbarer als Backsteine … Besinnen Sie sich also«, rät sie dem Leser, »auf irgendein Ereignis, das einen deutlichen Eindruck in Ihrem Gedächtnis hinterlassen hat … eine ganze Vision, eine in sich vollkommene Konzeption schien in jenem Augenblick enthalten … Doch wenn Sie versuchen, das innere Bild in Worten zu rekonstruieren, werden Sie finden, daß es in tausend widerstreitende Impressionen zerfällt« (S. 352).
Das klingt wie eine Notiz an sich selbst über das Verfassen ihres neuen Romans. Die Ziegelsteine werden die kleine Planke hinaufgetragen, die Bauarbeiten gehen weiter. Das Gebäude muß etwas »Planvolles und Geformtes« sein. Aber der unaufhaltsame Sog hin zu Zerbrechen und Fragmentierung – »Bilder zerfallen« – ist gewaltig. Und es wird noch schwieriger, weil sie nicht nur eine Basis der Stärke und der Struktur will, sondern auch Flüssigkeit und Transparenz. Der Roman muß folglich wie Mrs Ramsay sein, die unpassenden Dinge müssen sich in Balance halten.
Mit Hilfe von Lilys Bild baut Woolf einen Kommentar über ihre eigenen Prozesse in den Roman ein. Lilys Bilder – »Sie sah die Farbe, die auf einer Stahlkonstruktion brannte; das Licht eines Schmetterlingsflügels, das auf den Bögen einer Kathedrale liegt« (S. 95) – gehen auf Virginia Stephens Besuch von Konstantinopel zurück, als sie die Hagia Sophia zum ersten Mal erblickte. In ihrem Tagebuch für 1906 hielt sie fest: »dünn wie in runden Bögen geblasenes Glas … ebenso stattlich wie eine Pyramide«[2]. Die Kuppelform taucht im Roman in den Vorstellungen von Nancy auf und in denen von Lily, für die Mrs Ramsay »eine erhabene Gestalt, die Gestalt einer Kuppel« (S. 99) hat. Die Kuppelform, die das Solide und das Ätherische vereint, war der wesentliche Kern ihres Plans für das Buch.
Dieser Plan stand Woolf von Anfang an klar vor Augen. Sie formulierte ihn in Listen und Aufstellungen von Bestandteilen oder Zutaten, die – wie bei der Zubereitung eines Bœuf en Daube – genau aufeinander abgestimmt und exakt auf den Punkt gebracht werden mußten. Als der Roman im Frühjahr 1927 erschien, blickte sie zurück auf die »unerwartete Art & Weise, in der diese Dinge sich plötzlich selbst hervorbringen – eins über dem andern im Lauf von etwa einer Stunde … so habe ich The Lighthouse ausgedacht, eines Nachmittags hier im Square« (S. 314).
Mag sein, daß sich ihr die Form des Ganzen urplötzlich eröffnete (»ohne jede Vorüberlegung, soweit ich es sehe«, sagt sie in einem Brief an Vanessa [S. 316]), aber die Zutaten hatten sich über Jahre angesammelt: seit ihrer Kindheit; seit den »Reminiszenzen«, die sie 1908 über ihre Eltern geschrieben hatte; seit den Erinnerungen an »Hyde Park Gate 22«[3], die zwischen 1920 und 1921 zu Papier gebracht wurden. Schon am 17. Oktober 1924, dem Tag, an dem sie die letzten Worte von Mrs Dalloway schrieb, gibt es einen kryptischen, ahnungsvollen Eintrag in ihrem Tagebuch: »Ich sehe bereits The Old Man«[4], als sei die Figur von Mr Ramsay das nächste, womit sie sich beschäftigen müsse. Als die Veröffentlichung von Mrs Dalloway immer näher rückte, kristallisierten sich die Zutaten für Zum Leuchtturm bereits heraus. In ihrem Notizbuch (»Notizen fürs Schreiben«[5]) stellte sie sich am 6. März 1925 eine Sammlung »der Geschichten der Menschen auf Mrs D’s Gesellschaft« vor und listete eine auf als »Das Bild – ich denke ans Meer«. Am 14. März dachte sie immer noch über ein Buch von Geschichten nach und ergänzte ihre Liste durch (eckige Klammern bedeuten Streichungen):
»Die Vergangenheit basierend auf [Bildern?] Vorfahrenverehrung /, worauf dies hinausläuft & was es bedeutet. / Eine Frau in mittleren Jahren / aus guter Familie; ihre Gefühle für ihren Vater & ihre Mutter -/[uralt?]«
Es folgt eine Liste von acht Themen für Geschichten, und dann:
»Mir kommt der Gedanke, daß alles mit einem Bild enden könnte. / Diese Geschichten über Leute würden / das halbe Buch füllen; & dann würde diese andere Sache / sichtbar werden; & und wir würden in einen ganz / anderen Ort & ganz andere Menschen eintreten? Aber was?«
Auf der nächsten Seite des Notizbuches beginnen die Notizen zu Zum Leuchtturm:
»Nur Charakter – keine Sicht der Welt.
Zwei Blöcke verbunden durch einen Korridor
Themen, die aufgegriffen werden könnten:
Wie ihre Schönheit durch den Eindruck vermittelt
werden soll, den sie auf all diese Leute
macht. Einer nach dem anderen fühlt es, ohne
genau zu wissen, was sie mit ihnen tut,
um ihren Worten Bedeutung zu verleihen.
Episode, Tansley zu einem Besuch bei den Armen mitzunehmen.
Wie diese sie sehen.
Der große Zwiespalt, in den die menschliche
Rasse geraten ist; weil die Ramsays
Mr Tansley nicht mögen.
Aber sie mochten Mr Carmichael.
Ihre Hochachtung vor Gelehrsamkeit und Malerei.
Gehemmt, nicht sehr persönlich.
Das Aussehen des Zimmers – [Geige?] und Strand[schuhe?] –
Große Photographien verdecken kahle Stellen.
Die Schönheit wird beim 2ten Mal enthüllt, da
Mr R Monolog
über Sentimentalität unterbricht.
Er zitierte The Charge of the Light Brigade (vgl. S. 273ff.)
& darüber legt sich das Bild
von Mutter und Kind.
Wieviel wichtiger Unterschiede zwischen
Menschen statt zwischen Ländern sind.
[Ev] Die Ursache allen Übels.
Sie versank in reine Empfindungen –
sah Dinge im Garten.
Das Brechen der Wellen. Klackern von Kricketbällen.
Das Bellen ›Wie ist der?‹
Sie redeten nicht miteinander.
Tansley abgeschüttelt
Tansley das Produkt von Universitäten mußte
die Macht seines Intellekts geltend machen.
Sie fühlt das Glühen von Gefühlen – & wie sie sich
aus lauter unterschiedlichen Dingen zusammensetzen – (was
sie gerade getan hat) & wünscht, daß irgendeine Glocke
schlägt & sagt, das ist es. Sie schlägt.
Sie hütet ihren Augenblick.«
Am 14. Mai 1925, dem Tag, an dem Mrs Dalloway veröffentlicht wurde, schrieb Woolf in ihr Tagebuch, sie stehe jetzt »sehr unter Spannung durch den Wunsch … mit To the Lighthouse anzufangen« (S. 286). Wieder zählt sie eine Liste von Zutaten auf, allerdings andere als im Notizbuch:
»Das wird ziemlich kurz sein: Der Charakter von Vater soll darin voll dargestellt werden; & der von Mutter; & St. Ives; & die Kindheit; & alles Übliche, was ich hineinzuschreiben versuche – Leben, Tod &c. Aber die Mitte ist der Charakter des Vaters, wie er in einem Boot sitzt & We perished, each alone rezitiert, während er eine sterbende Makrele zerquetscht –« (S. 286)
Als erstes jedoch hatte sie das Gefühl, die Erzählungen schreiben zu müssen, die sie im März geplant hatte. Am 14. Juni war sie damit fertig und hatte sich in dieser Zeit »vielleicht allzu klar, To the Lighthouse ausgedacht« (S. 287). (Wieso allzu klar? Weil die Struktur, die sie sich auferlegt hatte, ihr Probleme bereitete, oder weil sie das Gefühl hatte, es handele »allzu klar« von ihren Eltern? Diese mahnende Notiz sollte die Entwicklung des Romans beeinflussen.)
Die acht Erzählungen, die die Brücke zwischen Mrs Dalloway und Zum Leuchtturm darstellen, ereignen sich alle auf Mrs Dalloways Gesellschaft, aber die Melodien von Zum Leuchtturm klingen bereits an. Mabel Waring in ihrem peinlichen neuen Kleid denkt voller Erleichterung an ihre »bezaubernden Augenblicke« am Meer zu Ostern und an »die Melodie der Wellen – ›Schsch – schsch‹, sagten sie, und die Rufe der Kinder beim Planschen«[6]. Ein Mädchen, das in die Welt der Erwachsenen mit ihrem Vorgestelltwerden und ihren Konversationen eintreten soll, hat das Gefühl, »in einen Strudel gestürzt zu werden, wo sie entweder unterginge oder aber gerettet würde«[7]. Mrs Latham, die hinter dem Haus im Garten sitzt, denkt an die Menschen im Haus als Überlebende, als ein »Trüppchen von Abenteurern, die, von Gefahren umlauert, weitersegeln«[8]. Mr Carslake betrachtet das tröstliche Bild einer Heidelandschaft und stellt sich vor, er mache einen Spaziergang; er ist verärgert, weil er dabei fast sagen möchte, daß er an Gott glaubt. »Ihm schien, als sei er den Worten auf den Leim gegangen. ›An Gott glauben.‹«[9] All diese Momente, in denen eine innere Stimme oder ein Gefühl die Charaktere aus ihrem gesellschaftlichen Kontext herauslöst, werden neuerlich in Zum Leuchtturm Verwendung finden.
Zwei Erzählungen nehmen Zum Leuchtturm noch vollständiger vorweg. In »Der Mann, der seinesgleichen liebte« (S. 342ff.) gibt es ein unerfreuliches Zusammentreffen zwischen einem Anwalt in mittleren Jahren, der stolz darauf ist, »die normalen Menschen« (S. 346) zu mögen, billigen Tabak zu rauchen und die Gesellschaft zu verachten, und einer Frau, die seinen Egoismus, seine Aggressivität und seine Faulheit verabscheut. Wegen Leuten seines Typs, so findet sie, »brachen Revolutionen aus« (S. 348). Diese Szene ist die Blaupause für den politischen und sexuellen Konflikt zwischen Lily und Charles Tansley, der noch nicht in der Zutatenliste für den Roman aufgetaucht ist.
Die andere Erzählung, »Vorfahren« (S. 338ff.), entspringt einer Notiz an sich selbst über »Vorfahrenverehrung«. Eine Frau in mittleren Jahren auf Mrs Dalloways Gesellschaft, Mrs Vallance, vergleicht die Party mit ihrem verlorenen Zuhause in Schottland. Tränen treten ihr in die Augen, als sie an ihre Eltern denkt, die alten Freunde ihres Vaters, die Blumen, die ihre Mutter liebte, die Ehrerbietung ihres Vaters Frauen gegenüber, sich selbst als Kind mit »dunklen wilden Augen« (S. 340), wie sie Steinkraut pflückt und ihrem Vater Shelleys »Ode an den Westwind« aufsagt. Die Eltern sind tot, aber wäre sie bei ihnen im Garten geblieben – wo es, wie es ihr jetzt scheint, »immer sternenhell« war, »und es war immer Sommer« (S. 341) –, wäre sie immer glücklich gewesen.
»Vorfahren« ist eine selbstmitleidige, wehleidige Geschichte und scheint für Woolf eine Warnung gewesen zu sein, als sie im Juni und Juli anfing, Zutaten aus diesen Geschichten in ihre Entwürfe für den Roman einzuarbeiten. Sie weiß inzwischen: »das Meer soll durchweg zu hören sein« (S. 288) und daß sie das Ganze lieber als »Elegie« denn als Roman bezeichnen möchte. Wieder listet sie die Zutaten auf (»Vater & Mutter & Kind im Garten: Der Tod; die Segelfahrt zum Leuchtturm«), fürchtet aber, das Thema könne »sentimental« sein. Wie es »anreichern« und »eindicken« (S. 288)? Eine weitere Liste folgt, in der, wie so oft, Themen und Prozesse vermischt werden:
»Es könnte alle Charaktere in kondensierter Form enthalten; & die Kindheit; & dann dieses Unpersönliche, zu dem mich meine Freunde immer anstacheln; das Verfliegen der Zeit, & infolgedessen den Bruch in der Geschlossenheit meines Entwurfes.« (S. 288)
Diese Ängste in Hinblick auf Sentimentalität und auf die Notwendigkeit, das Material »einzudicken«, sollten sie nie verlassen. Am Ende des ersten Entwurfs angelangt, fragte sie sich, ob das Ganze nicht vielleicht »recht dünn« (S. 302) sei, und bemerkte, sie habe »eine Heidenangst vor ›Sentimentalität‹« (S. 303). Am Tag der Publikation sorgte sie sich immer noch, die Leute könnten es ›sentimental‹ nennen, und stellte Vita Sackville-West, noch bevor die ersten Kritiken eintrudeln konnten, die Frage: »Hältst du es für sentimental?« (S. 318) Gleichzeitig interessiert sie sich für das »neue Problem«, das sie mit dem Vergehen der Zeit und dem »Bruch der Geschlossenheit« feststellt. Und sie liest Proust, der genau die Mischung aus Sensibilität und Hartnäckigkeit besitzt – »Er ist zäh wie Katzendarm & flüchtig wie Schmetterlingsstaub«[10]–, die sie für ihren Roman sucht. Im Juli schwankt sie zwischen »einem für sich stehenden & intensiven Charakterbild von Vater & einem sehr viel weiter angelegten langsameren Buch«. Es soll ruhig, aber nicht »fad« sein. Sie glaubt, sie könne »etwas in To the Lighthouse machen, um die Gefühle vollständiger voneinander zu trennen« (S. 289).
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