Marlene Streeruwitz
Entfernung.
31 Abschnitte Roman
FISCHER digiBook
Marlene Streeruwitz, in Baden bei Wien geboren, studierte Slawistik und Kunstgeschichte und begann als Regisseurin und Autorin von Theaterstücken und Hörspielen. Für ihre Romane erhielt sie zahlreiche Auszeichnungen, zuletzt den Bremer Literaturpreis und den Niederösterreichischen Kulturpreis. Ihr Roman ›Die Schmerzmacherin.‹ stand 2011 auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis. Zuletzt erschienen die Romane ›Nachkommen.‹ und unter dem Pseudonym Nelia Fehn ›Die Reise einer jungen Anarchistin in Griechenland.‹.
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Selma (49) ist zu ihrem Vater zurückgezogen. Die Wohnung riecht wie in der Kindheit, von der Mutter sind aber nur noch die Blumen da. Aus dieser Welt von vorgestern bricht Selma auf, um es noch einmal zu versuchen. Jeder Schritt führt in immer neuere und stärkere Sinneseindrücke. In einer solchen Verlorenheit ist das Fremde erträglicher als das Bekannte.
Marlene Streeruwitz hat eine heutige Odyssee geschrieben und ihr Projekt des Subjekts im Neoliberalen weitergedacht. In einem virtuos komponierten Kaleidoskop in 31 Abschnitten beleuchtet der Text jeden Augenblick des Abenteuers der Heldin. Die Sprache zeichnet die scharfen Umrisse der Suchenden gegen die Welt, die sie zu verschlingen droht.
Erschienen bei FISCHER E-Books 2016
© 2006 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main
Covergestaltung: Gundula Hißmann und Andreas Heilmann, Hamburg
Coverabbildung: John Marshall/Getty Images
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-490128-2
Was sollte sie tun. Sie stand auf der Schwelle der Wohnungstür. Zwischen den beiden Türflügeln. Was sollte sie tun. Er hatte seinen Wohnungsschlüssel vergessen. Sie hatte die äußere Wohnungstür aufgemacht. Hatte nach ihrem Schlüssel gegriffen. Hatte ihren Schlüssel aus der Silberschale auf der Biedermeier Eckkonsole genommen. Wollte hinausgehen. Die innere Tür hinter sich zumachen. Und hatte seinen Schlüssel liegen gesehen. Silbern gegen den silbernen Boden der Schale. Er hatte den Schlüssel liegen gelassen. Wieder. Schon wieder. Sie stand. Lehnte sich gegen den Türstock. Das Holz kühl durch das Leinen der Jacke. Der Rucksack war über die Schulter gerutscht. Der Riemen. Ein tiefer Schnitt in den Oberarm. Sie konnte ins Café »Eiles« gehen. Sie konnte ihm den Schlüssel bringen. Ihm den Schlüssel nachtragen. Sie konnte an seinen Tisch treten. Den Schlüssel auf den Marmortisch legen. Sie konnte sich zu ihm setzen. Sie konnte sich eine der auf der Sitzbank gestapelten Zeitungen nehmen. Die Süddeutsche. Die Neue Zürcher. Die Herald Tribune. Sie konnte einen kleinen Schwarzen bestellen. Zeitunglesen. Und mit ihm wieder nach Hause. Sie konnte ihm den Schlüssel bringen und gleich wieder gehen. Den Schlüssel auf den Marmortisch. Ihm einen Kuss auf die Wange. »Ich fahre jetzt. Pass auf dich auf.« Und weg. Zum Auto. Zum Flughafen. Und weg. Warum ließ er den Schlüssel liegen. War das schon länger so. War das seit kurzem. Diese Vergesslichkeit. Sie stand da. Auf dem Gang. Die Sonne hatte die riesigen Fenster erreicht. Mittag. Ein schmaler Streifen Sonnenlicht fiel unter den Fenstern auf den Boden. Ließ die gelblichen Specksteinplatten weiß aussehen. Das Licht warf wässrige Wellen an die Wand links. Es war noch nicht heiß. Es war gerade noch nicht heiß. Die Hitze erst noch flirrend. Beweglich. Bis Abend fest. Bis zum Abend der Gang ein Hitzetunnel wurde. Im Sommer. Im Stiegenhaus dann ein Luftzug und im Hauseingang unten war es wieder kalt. Zwischen dem Tor zum Hof und dem Haustor. Die Luft noch vom Winter und schwer. In der Wohnung. Sie schaute zurück. Die Zimmer dämmrig. Alle Türen zum Balkon offen. Der Blick in die Linden. Die Baumkronen. Ein Gewirr von Grün. Die Sonnenstrahlen in das Grün und verschwanden und in zackigen Flecken auf den Boden des Balkons fielen. Schwimmende zittrige Flecken auf dem Holzrost. Sie konnte auch auf den Balkon gehen. Sie konnte in ihr Zimmer gehen. Den Rucksack auf dem Bett abstellen. Die Jacke aufhängen. Auf den Balkon gehen. Sich auf ihren Liegestuhl legen. Und ein Buch. Oder Musik. Oder nur liegen. Im leisen Rascheln der Blätter liegen. In der mittäglichen Stille des Hofs. Vor den Stadtgeräuschen. Sie konnte sich ausstrecken und sich weit weg fühlen. Von den Stadtgeräuschen. Und sie die Einzige sein würde. Niemand sonst auf einem der Balkone. Alle anderen im Urlaub. Im Job. Beschäftigt. Sie. Sie konnte lesen. Oder Musik hören. Sie konnte einen kostbaren Augenblick an den anderen reihen. Einen kostbaren Augenblick an den anderen fügen. Und auf den Vater warten. Ihm aufmachen, wenn er klingelte. Aber er würde mit der Sydler kommen. Die Sydler würde ihm mit dem Ersatzschlüssel aufsperren. Er war gar nicht vergesslich. Er wollte die Sydler sehen. Das Ganze war eine Ausrede, die Sydler in die Wohnung zu holen. Und wahrscheinlich war das ihretwegen. Wahrscheinlich war das seine taktvolle Art. Er wollte ihr nicht sagen, dass er die Sydler sehen wollte. Sah. Dass er die Sydler sah. Und dass die Sydler und er. Sie stieß sich vom Türrahmen ab. Griff nach dem Schlüssel. Sie musste den Schlüssel vom Boden der Schale ablösen. Die Fingernägel über das kalte Metall. Sie erschauerte. Sie musste die Schulterblätter nach oben ziehen. Gegen den Schauer. Sie schloss die weiße Innentür. Trat auf den Gang. Schob die Außentür zu. Versperrte das Türschloss und das Balkenschloss. Sie rüttelte an der Klinke. Vergewisserte sich. Wohnungseinbrüche hatten ein neues Hoch erreicht. In diesem Sommer. In Wien. Sie sah die Tür an. Dr. Karl Brechthold. Türschild. Briefschlitz. Drehklingel. Türknauf. Das Messing war stumpf und schartig. Die Tür abgewetzt. Der braune Anstrich matt und zerkratzt. Alle anderen im Haus hatten Alarmanlagen installiert. Wenn die Tür so arm aussähe. Das würde die Diebe decouragieren. Meinte der Vater. Das Balkenschloss hatte die Mutter einbauen lassen. Aber ein einziger Schlüssel musste alle Schlösser sperren. Der Vater wollte keinen Schlüsselbund. Auf einem einzigen Schlüssel für alle Schlösser hatte er bestanden. Damit er ihn bequem im Täschchen in der Weste tragen konnte. Und jetzt ließ er ihn liegen. Sie drehte sich von der Tür weg. Sie ging zum Asparagus zwischen den Fenstern. Der Blumenstock auf einem niedrigen schmiedeeisernen Tischchen mit hellgrünen Kacheln als Tischplatte zwischen den Fenstern. Das grün durchsichtige Gewirr der nadeligen Zweige reichte bis hoch in die Mitte der Fenster hinauf. Fielen in großen Bögen fast bis zum Boden hinunter. Sie beugte sich zu dem Blumenstock. Griff in den Topf. Die Asparagusnadelchen sanft stichelig auf dem Handrücken. Sie fühlte die Erde. Nass. Die Erde war nicht feucht. Die Blumenerde war nass. Die Sydler war also wieder gegangen und hatte den Blumenstock gegossen. Nachdem sie ihn schon gegossen hatte. Also auch der Asparagus eingehen würde. Auch dieses Blumentischchen würde auf die anderen Blumentischchen gestapelt werden. Das Blumentischlager in der Dienstmädchenkammer hinter der Küche würde dann vollständig sein. Dann waren alle da gelagert. Die hohen Blumentischchen mit den Blechwannen aus dem 19. Jahrhundert. Die niedrigen art-déco-Tischchen. Helles Holz und abgerundete Tischbeine. Die schmiedeeisernen Blumentische mit den Kacheln. Aus den 50er Jahren. Wenn der Asparagus tot war. Dann waren alle Blumentische in der Kammer gelandet. Dann war der letzte Blumenstock von der Mutter tot. Und Asparagus. Da gab es eine Regel. Asparagus durfte nicht gegossen werden. Irgendwann. Sie wusste nicht mehr, wann das sein sollte. Sie griff noch einmal in den Topf. Griff in die feuchte Erde. Sie konnte sich nicht erinnern. Sie konnte sich an keine dieser Regeln erinnern. Sie war hier gestanden. Sie hatte ihre kleine Kindergießkanne gehabt. Sie war mit der Mutter hier gestanden und hatte Blumen gießen dürfen. Sie konnte sich fühlen. Wie sie da gestanden war. Die Spannung in den Füßen vom Auf-den Zehenspitzen-Stehen. Vom Sich-Hochrecken, um alle diese Blumen erreichen zu können. Es war nicht aus den Fenstern zu sehen gewesen. Vor Blumen. Sie konnte sich fühlen. Klein. Angespannt. Sich hochstreckend. Begierig, das Wasser in die Blumentöpfe zu leeren. Dem Wasser zuzusehen, wie es in die Erde rann. Wie es in der Erde verschwand. Die Mutter hinter ihr. Die Mutter stand hinter ihr. Sie konnte sie fühlen. Hinter sich. Ein Wesen. Vorstellen konnte sie sie nicht. Vorstellen konnte sie sich die Mutter nicht mehr. Und der Asparagus hatte nun schon lange überlebt. Sie stand da. Sah hinaus. Sie sah auf den Schönborn-Park. Auf die Feuermauern dahinter. Die Dächer. Die Hügel des Wienerwalds. Weit hinten. Dunstig verschleiert. Sie musste aufpassen. Sie durfte nicht verbittert werden. Verbitterung. Das sah man in den Gesichtern. Und sie hatte diese Linien von der Mutter geerbt. Diese Linien von den Nasenflügeln zu den Mundwinkeln. Die die Mundwinkel nach unten zogen. Sie richtete sich auf. Zog die Schultern nach hinten. Vielleicht war es ja gut, wenn der Asparagus so viel Wasser bekam. Bei dieser Hitze. Die Pflanze sah nicht krank aus. Und man musste alles innen behalten. Es durfte nichts zu sehen sein. Außen. Auch in der Haltung nicht. Sie trat an das Fenster. Sah hinunter. Die Autos auf der Lange Gasse Grün hatten. Die Ampel an der Kreuzung zur Florianigasse auf Grün umgeschaltet. Sie sah die Autodächer anfahren. Eine Prozession von silbernen und grauen Autos zwischen den parkenden Autos durch. Die Gehsteige fast leer. Sie schob den Riemen des Rucksacks über die Schulter zurück hinauf. Sie ging den Gang entlang. Am Stiegenhaus vorbei. Sie trat immer nur einmal auf eine der großen Specksteinplatten. Als Kind hatte sie hüpfen müssen. Jetzt musste sie nur längere Schritte machen. Aus dem Stiegenhaus ein Lufthauch. Kein Geräusch. Ihre Schuhe lautlos. Die Pradaschuhe hatten Gummisohlen. Sie hatte sie genommen, weil sie »Prada« in Weiß auf ein schmales glänzend rotes Bändchen auf der Zunge unter den Schuhbändern geschrieben hatten und an der Sohle. Die Ferse herauf. Für Jonathan Gilchrist waren solche Signale wichtig. Und wenn es regnete. Dann hielten diese Schuhe die Nässe aus. Die Wettervorhersage hatte nichts von Regen gesagt. Aber in London wusste man nie. Sie blieb vor der Tür am anderen Ende des Gangs stehen. Die Tür weiß. Neu gestrichen. Ein Spion über dem Namensschild. Dr. Evelyn Sydler. Psychotherapie. Über der Tür links oben der kleine beige Kasten mit der orangeroten Lampe der Alarmanlage. Sie läutete. Ein Summen. Sie wartete. Stand da. Zögerte, ein zweites Mal zu läuten. Wenn die Sydler nicht da war. Sie hatte gar nicht daran gedacht, dass die Sydler nicht daheim sein könnte. Dann musste sie ihm den Schlüssel bringen. Dann musste sie ins »Eiles«. Und wenn er nicht da war. Dann musste sie nach Hause und warten. Der Ärger ballte sich kurz um die Mitte. In der Magengrube. Alles spannte sich um diesen Punkt. Dann zerfiel ihr innen gleich wieder alles. Sie konnte spüren, wie ihre Schultern nach vorne sackten. Wie die Rippen sich über den Oberbauch stülpten. Wie sie gleich flacher atmete. Wie die Hoffnungslosigkeit sich ausbreitete. Die Arme schwer machte. Vor Schwere baumeln machte. Und der Kopf seitlich nach vorne sackte. Der Spion wurde von innen aufgemacht. Sie hörte die Klappe wieder schließen. »Ach. Selma. Warte. Einen Augenblick.« Schlüssel wurden umgedreht. Die Tür ging auf. Sie trat zur Seite. Dr. Sydler machte die Tür weit auf. Sie stand in der Tür. »Fährst du also doch.« sagte sie. Sie lächelte zu Selma hinauf. Selma nickte. Sie lächelte. Sie zwang sich zu lächeln. Ja, sie mache sich auf den Weg. Sie stellte die Tasche ab, nahm ihren Schlüsselbund in die linke Hand. Hielt den einzelnen Schlüssel der Frau hin. Die lachte leise. Zufrieden. Selma dachte, die Sydler lache zufrieden. Sie nahm den Schlüssel. Sie nahm den Schlüssel Selma von der Handfläche. Nahm ihn mit 2 Fingern. Selma spürte die Finger in der Handfläche. Seidig. Sie nahm ihre Handtasche wieder auf. Behielt den Schlüsselbund in der Linken. Hob den Rucksack über die Schulter. Hielt den Riemen da fest. Sie fände das gut, dass Selma reise, sagte die Sydler. Und London. London. Das wäre doch eine der schönsten Städte. Oder. Sie legte den Kopf zur Seite. Sah Selma fragend an. Lächelte. Sie, sagte sie. Sie habe sehr interessante Zeiten gehabt. In London. Sie sah Selma in die Augen. Selma trat einen Schritt zurück. Wollte die Sydler ihr Geschichten erzählen. Von sich. Wollte die Sydler von Frau zu Frau mit ihr reden. Die Frau schaute an ihr vorbei. Lächelte an ihr vorbei. Das Theater in London. Das wäre in den 70er Jahren international richtungsweisend gewesen. Sie wüsste ja nicht, wie das heute wäre. Und Selma wüsste überhaupt das alles besser. Ganz sicher. Aber damals. Damals wären alle nach London gefahren. Wegen des Theaters. Peter Hall und Peter Brook hätten da gearbeitet. Und die Ausstellungen. Wien war damals noch ein richtiges Provinznest gewesen. Selma nickte. Sie machte sich an ihrer Tasche zu schaffen. Öffnete den Zippverschluss. Verstaute ihren Schlüsselbund. Sie fühlte sich ertappt. Sie fürchtete, es wäre ihrem Gesicht anzusehen. Es wäre ihrem Gesicht abzulesen, dass sie dachte, die Sydler wüsste ganz genau, was sie gerade dachte. Dass die Sydler wusste, dass sie Angst gehabt hatte, die Sydler würde sich auf eine Affäre beziehen. Von sich. Auf eine Liebesgeschichte. Dass Selma befürchtete, dass die Sydler ganz genau wüsste, dass Selma nichts wissen wollte. Von ihr. Über sie. Und schon gar nichts Genaueres. Intimes. Womöglich. Dass es eine Grenze gab. Eine Grenze von ihr zu dieser Frau. Dass sie fürchtete, diese Frau überschritte diese Linie. Und dass sie dann zu weinen beginnen müsste und dann nicht aufhören könnte. Sie zog den Zippverschluss der Tasche wieder zu. Sie sah wieder auf. Das wäre doch alles sehr interessant. Das sollte sie einmal genau hören. Das sollte sie ausführlich erzählt bekommen. Jetzt. Ja jetzt. Jetzt müsse sie weiter. Der Weg zum Flughafen. Man könne ja nie wissen. Der Verkehr. Wenigstens habe sie kein Gepäck aufzugeben, sagte Dr. Sydler und nickte. Sie stand in der Tür und sah zu Selma auf. Die Arme locker hinunterhängend. Weißer Leinenrock. Mintfarbener Pullover. Helle Schuhe. Strümpfe. Weiße Schuhe mit einer winzigen Goldschnalle. Klein. Zart. Hübsch. Die Haare fast weiß. Sie war immer so gestanden. Sie war sicher immer so dagestanden. Selma konnte sich vorstellen, wie diese Frau schon als kleines Mädchen so dagestanden war. Ruhig. Erwartungsvoll. Abwartend. Delikat. Selma fühlte sich verschwitzt. Dunkel und eckig. Sie beneidete die Frau. Sie konnte das nicht. So ruhig dastehen. Sie hätte nicht so in der Tür stehen bleiben können. Sie hätte jeden in die Wohnung bitten müssen. Oder sie wäre auf den Gang getreten. Sie kam immer zu nahe. Oder war gleich ganz weit weg. Sie war zu offen. Sie drängte sich auf. Deshalb erfuhr sie dann nie. Deshalb fand sie nie heraus, was jemand wollte. Was die anderen wollten. Sie überschüttete alle. Umarmte alle. Vertraute allen. Vertraute allen gleich in allem. Sie sah die Frau an. Die Frau blickte zu ihr hinauf. Sie sahen einander in die Augen. Einen Augenblick hatte Selma Vertrauen. Verstand die Frau. Fühlte sich von der Frau verstanden. Einen Augenblick. Ein großes, warmes Gefühl. Die Möglichkeit eines großen, warmen Gefühls. Sie kannte diese Person ihr Leben lang. Fast ihr ganzes Leben lang. Die Dr. Sydler konnte sich an sie erinnern. Die Dr. Sydler konnte sich an sie als kleines Mädchen erinnern. Die Dr. Sydler hatte sie schon als kleines Mädchen so angesehen. So aufmerksam. Abwartend. Freundlich. Und dann gleich der Druck um den Hals. Die Kehle verschlossen. Tränen aus dem Druck zu quellen drohten. »Ich gehe jetzt besser.« sagte sie. »Ja. Selma. Gib Acht auf dich.« Ganz kurz hätte sie die Frau umarmen können. Aber sie stand zu weit weg. Die Entfernung war zu groß. Sie ging. Sie wandte sich um. Schaute über die Schulter auf die Frau zurück. »Bis dann.« rief sie. Und sie wäre ja gleich wieder zurück. Sie ging schnell. Sie drehte sich an der Stiege um. Die Frau stand in der Tür. Sie nickte ihr zu. Hob die Hand mit dem Schlüssel. Hielt den Schlüssel in die Höhe. Selma winkte. Sie lief die Stiegen hinunter. Sprang die Stiegen hinunter. Ihre Sprünge nur einen dumpfen Widerhall von den Stufen. Die Schuhe lautlos. Sie fuhr nach London. Alles funktionierte. Sie flog nach London. Eine Reise. Sie konnte nachdenken. Unterwegs. Sie konnte unterwegs über alles nachdenken. Durchdenken. Alles durchdenken. Sie fuhr weg. Fort. Allein sein. Sie war in transit. Nicht erreichbar. Und das Allein-Sein ein Bestandteil der Reise. Das Allein-Sein richtig. Notwendig. Anerkannt. Von allen verstanden. Für die anderen verständlich. Es war nicht dieses Allein-Sein in Wien. Dieses Sich-in-die Ecken-Drücken. Sie musste nicht diesen Blick spielen. Sich ganz nach hinten setzen und dann so schauen, als erwarte sie noch jemanden. Sie musste nicht immer eine Zeitung oder ein Buch in der Tasche haben und sich beschäftigen. Unterwegs. Da durfte sie vor sich hin starren. Da durfte sie dösen. Da konnte sie in Anblicke versinken. Da kam niemand auf die Idee zu fragen, wo der Toni wäre. Sie durfte fraglos allein sein. Sie ging ja mittlerweile nur noch aus Trotz aus. Ging irgendwohin. Die meisten. Und das waren sogar die Netteren. Niemand wollte mit ihr reden. Nur die Monster mochten sich noch mit ihr abgeben. Mit ihrer Unglücksserie. Die Netteren fragten gar nichts mehr. Gingen einem aus dem Weg. Und sie hatte das ja auch immer getan. Sie war ja auch irgendwie verschwunden, wenn sie auftauchten. Die Beladenen. Die Verlassenen. Die Entlassenen. Sie sah sich selber. Nach hinten gehen. In die Menge verschwinden. Sich ein Glas holen. Ans Buffet gehen. Sich umdrehen. Langsam. So nebenbei. Den Blick weglenken. Langsam. Fließend. Die Person gerade noch in den Blick gekommen. Der Umriss. Und das Weggleiten hatte eingesetzt. Jetzt kannte sie diese Welle des Wegwendens als Umriss. Jetzt war sie eine Silhouette, deren Auftauchen dieses sanfte Abwenden auslöste. Es war auch komisch. Es war kitschig komisch. Und immer ein kleiner Funke, es verdient zu haben. Dass das alles verdient war. Ihr recht geschah. Aber sie war nicht schuld. Es war keine Schuld, Leuten zu vertrauen. Sie ging langsamer. Der Stiegenabsatz im 2. Stock dunkel. Beide Parteien hatten ihre Wohnungstüren an den Stiegenabsatz vorgeschoben. Hatten ihre Wohnungen verlängert. Um den Gang. Brachten die Hitze in ihre Wohnungen, sagte der Vater. Verstauten die Hitze hinter den vorgeschobenen Doppeltüren. Eine Reihe Glasziegel entlang der neuen Türen. Das Sonnenlicht verfing sich im Glas. Erreichte den Raum nicht. Es roch nach Knoblauch. Nach frisch geröstetem Knoblauch. Sie hatte gar nicht gewusst, dass bei den Dallmayers jemand zu Hause war. Sie hatte gedacht, die wären alle weggefahren. Sie ging die Steinbrüstung entlang. Da hatte sie schon nicht mehr zu Hause gewohnt. Diese Umbauten. Die hatte sie dann schon vorgefunden. Da war sie aus Mailand gekommen. Zu Weihnachten. Die Veränderungen abgeschlossen. Die Dallmayers sich die Sommerhitze schon in die Wohnung geholt hatten. Die Mutter über den Baustaub geklagt hatte. Und ihr war das alles gleichgültig gewesen. Vollkommen gleichgültig. Ihr Leben hatte gerade begonnen. Was hatte sie ein Umbau in diesem Haus interessiert. Oder wie die Eltern lebten. Beim Hinuntersteigen in den ersten Stock. Sie hob den Kopf. Sie zog das Genick hoch und schob den Kopf in die Rundung des Gelenks. Hob das Kinn. Ein Knacken. Ein Knacksen. Der Arzt hatte ihr gesagt, wie das hieß. Wie diese Ablagerungen hießen. Weiter nicht schlimm. Altersgemäß. Sie hatte sich nicht daran gewöhnt, etwas von innen zu hören. Etwas von sich innen. Sie stieg vorsichtiger. Federte in den Knien. Der Gedanke, hier als Kind hinuntergehüpft zu sein. So spinnenleicht gewesen zu sein. Sie zog den Riemen des Rucksacks zurecht. Schwang die Handtasche auf die linke Schulter. Sie sollte den Rucksack richtig tragen. Mit beiden Riemen über die Schultern. Das Genick weniger belasten. Die Schultern entlasten. Aber sie war ja gleich beim Auto. Bis dahin reichte diese Art von Gleichgewicht. Musste diese Art von Gleichgewicht reichen. Sie musste hart bleiben. Härter. Sie durfte sich nicht so überwältigen lassen. Der Geschichtsträchtigkeit ihrer Probleme so viel Raum lassen. Kämpfen, sagte sie sich. Kämpfen. Vorsichtig und kämpfen. Alles war neu. Alle Reaktionen und Umstände unbekannt. Und niemandem zu vertrauen. Das war das Neueste. Daran konnte sie sich am schlechtesten gewöhnen. Das musste sie sich jeden Augenblick vorsagen. Immer wieder. Dass niemandem zu vertrauen war. Weil niemand das Ausmaß ihrer Zerstörung wissen durfte. Niemand durfte auch nur ahnen, dass sie wirklich alles verloren hatte. Keiner. Keiner wollte mit einer so unglücklichen Person auch nur reden. Sie sah sich selbst. Die Stiegen hinuntersteigen. Eine gut aussehende Frau. Eine interessante Frau. Eine Frau im schwarzen Strenesse-Hosenanzug und in Pradaschuhen auf dem Weg zum Flughafen. Eine dünne Schicht Haut konnte sie sich noch vorstellen. Glasdick diese Schicht Haut. Und dann hohl. Leer. Und der Weinanfall vor der Sydler Nachweis genug. Sie musste wirklich sehr vorsichtig sein. Wenn sie noch einen Augenblick länger an sich als Kind dachte. Und dass sie nun hierher zurückkommen hatte müssen. Mit nichts. Dass sie nichts vorzuweisen hatte. Für das ganze Leben bisher. Dass sie alles verloren hatte. Sie ging. Sie dachte nach, ob diese Außenhülle. Würde sie zerbrechen. Zerschellen. Wenn jemand es aussprach. Oder sie es laut sagte. Was für eine Versagerin sie war. Und wie bedrängt. Und dass das ihr Leben bedeutete. Ihr Leben bedrohte. Oder würde diese Hülle in sich zusammen. Dann doch nur die Kleider und ein Bündel auf dem Boden. Und was würde mit dem dunklen Inneren geschehen. Würde sie eine hautlose Dunkelheit sich weiter quälen müssen. Würde sie dann noch einen Sitz brauchen. Im Theater. Beim »Ottokar«. Bei den Salzburger Festspielen. Sie lachte auf. Sie hatte jetzt viele soziale Ideen. »You live and learn«, sagte sie sich vor. Sie ging wieder schneller. Im ersten Stock alles genau so wie bei ihnen oben. Der weite Gang. Die Helligkeit. Die Hitze. Die Wellen Licht an der beigen Wand. Das Licht auf dem Stiegenabsatz von beiden Seiten zusammenfloss und jede Linie und Farbtönung auf den Steinplatten genau zu sehen. Sie ging wieder mit den längeren Schritten. 5 Schritte waren das zwischen den Stiegen. Pass. Ticket. Kreditkarten. Handy. Sie hatte alles mit. Der Vertragsentwurf. Englisch und deutsch. Sie musste noch einen Kugelschreiber kaufen. Aber wahrscheinlich war im Hotel einer zu finden. Jonathan Gilchrist musste noch beim Abendessen festgenagelt werden. Und die Unterschrift durfte nicht am Fehlen eines Schreibgeräts scheitern. Bis man sich vom Kellner etwas zum Schreiben ausgeborgt hatte, hatte Jonathan sich das schon wieder überlegt. Und sie durfte ihre Probleme nicht auf das Projekt übertragen. Sie musste das auseinander halten. Jonathan wusste nichts von ihren Problemen. Er durfte nichts von ihren Problemen ahnen. Nicht einmal irgendetwas durfte er ahnen. Sie musste sich vorsagen, dass es immer schwierig gewesen war. Mit ihm. Mit dem Royal Court. Das waren immer jahrelange Verhandlungen gewesen. Das hatte immer nur jedes fünfte Mal funktioniert. Sie durfte auch nicht zu uninteressiert wirken. Sie musste das richtige Maß an Leidenschaft finden. Für ihr Projekt. Aber es durfte nie durchscheinen, dass es lebensnotwendig war. Für sie. »Sprezzata desinvoltura.« murmelte sie sich vor. »Gerade das richtige Maß an sprezzata desinvoltura. Meine Liebe.« Sie stieg hinunter. Federnd. Hielt sich am Geländer fest. Mit der Rechten hielt sie die Riemen ihrer Tasche und des Rucksacks zusammen. Hielt die Riemen mit der Faust vor dem Brustbein. Sie fuhr den Holzlauf entlang. Mit der Linken. Glatt und kalt. Die Rundung passte genau in ihre Hand. Wenn sie die Hand um den Holzlauf schloss, konnte sie unten das Metallband spüren. Ihre Fingerspitzen glitten die Metallkanten entlang. Das Metall einen Geschmack auslöste. Sie konnte sich vorstellen, wie das Metall schmeckte. Ihr Pass war gültig. Noch 2 Jahre. Die Engländer waren da genau gewesen. Aber da waren sie noch nicht in der EU gewesen, wie sie einen zurückgeschickt hatten. Wenn der Pass nur noch 2 Monate gültig gewesen war. Das passierte einem jetzt nicht mehr. Mit einem EU-Pass. Im Mezzanin standen 2 Männer vor der Tür zu den Büchelrieders. Die Männer standen ruhig da. Still. Zur Wohnungstür gewandt. Sie konnte nur die Rücken sehen. Anzüge. Dunkel. Dunkle Haare. Sie redeten nicht. Selma hatte die Männer nicht heraufgehen gehört. Waren diese Männer schon die ganze Zeit vor dieser Tür. Wer hatte diesen Männern aufgemacht. Wenn bei den Büchelrieders niemand aufmachte. Sollte sie sie fragen. Was sie wollten. Was sie da machten. Sie zögerte. Machte kleinere Schritte. Sie war schon wieder auf der Stiege, als sie die Frau Büchelrieder hörte. Sie hörte die Frau grüßen. »Ja. Kommen Sie herein.« hörte Selma sagen. Sie ging weiter. Sie hielt die Riemen mit beiden Händen vor ihrer Brust fest. Sie wollte nicht nachdenken, wer diese Männer waren. Was sie bedeuteten. Man stellte sich ja ohnehin nur vor, was einem einfallen konnte. Sie dachte, dass das die Leichenabholer von der Wiener Städtischen Bestattung waren. Und dass der Herr Büchelrieder von der Frau Büchelrieder heute Morgen tot im Badezimmer aufgefunden worden war. Während er sich seinen Schnauzbart gestutzt hatte, war er tot zusammengebrochen und die Bartschere hatte sich in ein Auge gebohrt. Beim Fallen. Und in Wirklichkeit waren das 2 Installateure gewesen, die den tropfenden Abfluss in der Küche reparieren sollten. Sie ging über den gekachelten Zwischenabsatz. Senffarbene Kacheln mit blauem Mäander rund um den Rand. Am Küchenfenster zur Hausmeisterwohnung vorbei. Ein Radio lief. »Theo, wir fahr’n nach Lodz.« Geschirr klapperte. Sie stieg die 3 Stufen zur Einfahrt. Das Stöckelpflaster weich. Wie federnd. Die Tür zum Hof geschlossen. Das blaue Glas in den Türfenstern das Licht draußen hielt. Beim Tor war es fast schon dunkel. Sie ließ die Handtasche von der Schulter gleiten. Warum hatte sie den Schlüssel in die Tasche gesteckt. Sie suchte nach dem Schlüssel. Sie musste den Rucksack abstellen. Auf dem Boden neben der Haustür. Die Haustür in das große Holztor geschnitten. Sie lehnte sich gegen das Tor. Hielt die Tasche vor sich. Griff in der Tasche herum. Tastete nach dem Schlüssel. Sie sah auf das Tor zum Hof. Die blauen Scheiben hatten grüne Mäander an den Rändern. Das Licht das Grün leuchten ließ. Das Blau stumpf. Sie fand den Schlüssel. Hielt ihn in der Tasche in der Hand. Sie ließ die Tasche sinken. Ließ die Tasche zu Boden gleiten. Hielt den Schlüsselbund in ihrer Hand. Das Gefühl war wieder da. Das Gefühl schon eine Erinnerung. Aber die Erinnerung. Sie war nach einem Mittagsschlaf aufgewacht. Sie war aus einem Dösen nach dem Mittagessen. Sie war auf dem Bett gelegen. Die Pölster hoch aufgetürmt. Sie war mehr gesessen als gelegen. Sie hatte das Buch weggelegt und die Augen zugemacht. Eine wohlige Schläfrigkeit. Wegsinken. Und beim Aufwachen. Beim Zu-sich-Kommen. Beim Wieder-an-sich-Denken. In ihrer Brust zog sich die Erinnerung an diesen Augenblick zusammen. Eine Schwere. Eine Schwere versammelte sich an der Stelle. An der Stelle zwischen Brustbein und Nabel. In der Bucht unter dem Brustbein. Aber auch in der Erinnerung sprach sich der Satz selber. An dieser Stelle. Sie spürte es wieder. Da. Eine Wiederholung war das. Eine Vorführung. Eine Wiederaufführung. »Das bist du, die sterben wird.« Hatte der Satz sich gesagt. Der Satz hatte sich selbst gesprochen. An dieser Stelle. Sie hatte im Dösen nach dem Mittagsschlaf auf diesen Satz an sich selber hinuntergesehen. Hinuntergehört. Die Betonung war auf dem Du gelegen. Auf diesem Du. In der Wiederholung hatte sie den Relativsatz verbessert. »Die sterben wird müssen.« sagte es sich vor. »Das bist du, die sterben wird müssen.« Mit der Erinnerung in der Wiederholung des Satzes an dieser Stelle. Dieses schwere Aufsprudeln im Oberbauch aufstieg. Immer gleich schwer. Zu schwer. Gleich eine Erschöpfung. Ein Zusammensinken über dieser Schwere. Um diese Schwere. Die Erinnerung nichts abschliff. Nichts lernen ließ. Keine Übung. Keine Gewöhnung. Sich gegen- über stand. Mit diesem Satz. Sich gegenüber lag. Sie hörte Schritte. Vor dem Tor. Jemand ging schnell. Mit hohen Absätzen. Jemand ging langsam. Sie richtete sich auf. Sie steckte den Schlüssel ins Schloss. Das kommt davon, dachte sie. Arbeitslose hatten eine 7-mal höhere Chance, eine Depression zu entwickeln, hatten sie in einem Fernsehmagazin gestern Abend behauptet. Die Moderatorin hatte bedeutungsvoll geschaut. Dazu. Ihre blonden Haare hatten sich keinen Millimeter bewegt, wie sie den Kopf auf die Seite gelegt hatte. Ihrem bedeutungsvollen Sehen noch mehr Bedeutung zu verleihen. Selma nahm den Rucksack auf. Hob ihn auf die Schulter. Sie zog die Tür auf. Lehnte sich gegen die Tür. Hielt die Tür offen. Sie schwang die Tasche über die rechte Schulter über den Rucksack. Schob den Daumen unter die Riemen. Sie trat auf die Straße. Die Hitze warm umfangend. Nach der kalten Hauseinfahrt. Sie ließ die Haustür hinter sich ins Schloss fallen.
Sie wandte sich nach links. Wo stand das Auto. Sie ging. Steckte die Schlüssel in die Jackentasche. War das Auto in dieser Richtung. Hatte sie das Auto hier irgendwo geparkt. Wann hatte sie das Auto zuletzt gebraucht. Was hatte sie am Abend gemacht. Gestern. Sie ging auf das Eisgeschäft zu. Ein paar Tische besetzt. Sie zwang sich, geradeaus zu sehen. Nicht über die Straße zu gehen. Auszuweichen. Und wenn sie jemand aus dem Büro da sitzen sah. Sie musste nichts anderes tun, als zu grüßen. Freundlich zu grüßen. Sie hatte es eilig. Festen Schritts musste sie freundlich grüßend vorbeigehen. Sie ging. Die Hitze. Die Straße in der Sonne. Kein Schatten. Sie schwitzte. Die Luft beim Atmen. Dehnten sich die Lungen aus, wenn man so heiße Luft atmete. Sie fragte sich. Die Mosaiksteinchen an der Wand beim Eisgeschäft glitzerten in der Sonne. Gelb. Blau. Das Eisgeschäft schon ewig hier. Sie war beneidet worden. In der Schule. Ein Eisgeschäft gleich beim Haus. Sie konnten Eis holen. Sie hatten immer Eis essen können. Damals ja der Transport. Ohne Styroporschachteln. Das Eis war nach 5 Minuten schon ein Brei. Die Mutter hatte sie immer mit einer im Eiskasten gekühlten Schüssel Eis holen geschickt. 2 junge Frauen an einem Tisch. Sie bekamen gerade ihren Eiskaffee serviert. Sie schauten die hoch aufgetürmten Schlagobersgipfel an. Kicherten. Sie nahmen die langen Löffel. Die eine fuchtelte mit dem Löffel herum. Die andere lachte. Die jungen Frauen trugen Tops mit Spaghettiträgern. Dottergelb und rosa. Kurze bunte Röcke. Sandalen mit sehr hohen Absätzen. Sie waren gebräunt. Überall gleichmäßig. Nirgends eine Stelle weißer Haut. Ein weißer Streifen. Die Haare duftig hinaufgetürmt. Selma spürte den Schweiß im Genick. Sie hätte die Haare wenigstens. Sie fühlte sich dunkel. Beim Vorbeigehen. Sie ging auf die Kreuzung zu. Wie eine Witwe. Wie eine sehr alte Frau. Wie eine Person in Trauer. Sie ging schnell. Das Futter der Jacke bei jeder Bewegung klebriger. Sie hatte Grün. Sie musste nicht stehen bleiben. Sie ging weiter. Über die Florianigasse. Aber das bin ich ja, sagte sie sich. Ich bin eine Witwe. Die Witwe meines eigenen Lebens. Das Bild gefiel ihr. Sie trug dieses Bild in sich. Den Kopf hoch erhoben. Den Kopf ins Genick gestemmt. Die Schultern zurückgezogen. Sie ging. Wenigstens war niemand vom Büro im Eissalon gesessen. Sie war oft hier heraufgekommen. In der Mittagspause. Auf einen Eiskaffee. Mit der Puntschi. Und der Kathi. Und auch mit der Clara. Sie waren dagesessen und hatten genauso gekichert. Über die riesigen Schlagoberstürmchen. Und wie man das essen sollte. Sie hatten auch miteinander so geflirtet. Dass das zu viel wäre. So viel Schlagobers könne man nicht essen. Dass wäre nun wirklich tödlich für die Figur. Sie waren dagesessen und hatten dieses frauenfreundschaftliche Flirttraining absolviert. Hatten alle Argumente durchgespielt. Und die Clara war dann gegangen und hatte ihre Trainingseinheit auf den Intendanten angewandt. Der Ärger quoll so schnell hoch. Selma musste sich zwingen, nicht stehen zu bleiben. Sie ging weiter. Langsamer. Zwang sich Schritt für Schritt. Ruhe. Sie befahl sich Ruhe. Ruhig zu bleiben. Sich auf das Gehen zu beschränken. Den Ärger durch sie hindurch. Den rasenden Ball von Wut in den Bauch. Gegen den Nabel und sich dann ausbreiten. Alles zusammenballen lassen und dann langsam aus. Verebben. Zerfließen. Und nicht weinen. Nicht über die Ursache. Nicht über die Wirkung. Nicht weinen. Gehen. An der Reinigung vorbei. Am Biofriseur. Gehen. Atmen. Weiteratmen. Nicht den Atem anhalten. Am Anfang hatte sie vergessen zu atmen. Bei diesen Anfällen. Und dann in einen Taumel geraten. Und in Tränen. Weinkrämpfe. Ohnmachten auf dem Bett. Die Hilflosigkeit in bleischweren Schlaf und dann Schlaflosigkeit. Aber jetzt hatte sie keine Zeit. Sie hatte keine Zeit für einen ausführlichen Anfall. Sie musste zum Flughafen. Sie musste nach London. Sie musste eine Chance nutzen. Sie konnte sich nicht um sich selber kümmern. Und sie konnte sich nicht um die Reaktionen der anderen kümmern. Im Gegenteil. Sie musste die Reaktionen der anderen verdrängen. Sie musste sich vollkommen entfernen. Absetzen. Und dann alles selbst bestimmen. Sie musste begreifen. Sie war außerhalb geraten. Gestoßen. Und ihre Aufgabe war es jetzt, dieses Außerhalb. Sie musste lachen. Sie lachte laut auf. Die Straße leer. Kaum jemand ging. Aber sie sah sich gar nicht um. Es musste ihr gleichgültig sein, wie irgendwelche Passanten sie beurteilten. Sie musste zielgerichtet agieren. »Aber bitte keinen Psychotalk.« Sie sagte das laut. Die Tasche und der Rucksack schlugen bei jedem Schritt gegen ihr Schulterblatt. Die Riemen würden Striemen hinterlassen. Auf der Schulter. Auf Reisen war das immer so. Blaue Flecken. Striemen. Knieschmerzen vom verkrampften Sitzen im Flugzeug. Aber niemand würde sie nackt sehen. Niemand würde sie je wieder nackt sehen. Außer medizinischem Personal. Sie konnte sich das überhaupt nicht vorstellen. Sie konnte sich das nicht mehr vorstellen. Libido. Sie hatte keinen Platz für Lust. Das war gerade noch so wichtig gewesen. War das der eigentliche Verlust. Hatte die Kette von Schicksalsschlägen. Sie dachte nach. Konnte sie das so nennen. Aber es bot sich kein anderes Wort an. Schicksalsschläge. Hatte sie das die Lust gekostet. Hatte sie das auf die Seite der Todessehnsucht gestoßen. Ohne Umwege über die Lust gleich der Tod der Ausweg. Aber wenn sie es ernsthaft überlegte. Wenn jetzt noch etwas passierte. Dann blieb ihr nichts anderes übrig. Als Strotterin konnte sie sich nicht sehen. Noch nicht. Auch wenn die Bandion sicher war, den Prozess gegen den Anton zu gewinnen. Dass sie ihr Geld bekam. Dass sie ihr Geld bekommen sollte. Das war dann trotzdem noch nicht sicher. Sie ging. Es war einfach zu heiß, an irgendetwas zu denken. Und es war nur natürlich, diesen Teil von sich einmal stillzulegen. Das war wahrscheinlich sogar gesund. Irgendwie. Diese Stille im Körper. In der ihr der Körper nichts zuraunte. Kein Wollen. Kein Wünschen. Nur das Verlangen nach Ruhe und richtigem Schlaf. Nach tiefem Schlaf. Das hätte sie alles mit der Sydler besprechen können. Das hätte sie alles mit der Sydler besprechen sollen. Aber sollte sie wegen ihrer Umstände alle Vorhaben aufgeben. Sollte sie, weil ihr Chef und ihr Mann Schweine waren. Weil die Welt am Ende doch nur ein Schweinestall. Sollte sie deshalb auch. Sollte sie sich einreihen. Und der Mutter nicht mehr die Treue halten. Sie musste sich verändern. Sie musste alles ändern. Es war ihr alles umgestoßen worden, und sie musste einen neuen Weg finden. Die Schritte neu. Sie musste etwas lernen aus diesen neuen Umständen. Aber sie musste nicht gleich alles aufgeben. Und die Sydler wartete darauf, dass sie zusammenbrach. Dass sie sich ausweinen kam. Die Mutter war ja dann auch. Am Ende. Und sie musste der Mutter treuer sein als die Mutter sich selbst. Sie ging am Hafnermeister vorbei. In der schattigen Auslage ein Empirekachelofen. Weiß. Rund. Mit Füßchen. Schlank. Und jetzt im Sommer kühl beim Anlehnen. Der Hafnermeister war schon immer da. An diesem Geschäft war sie immer schon vorbeigegangen. Zur Schule. Zum Papiergeschäft an der Ecke zur Schmidgasse. Am Vorsprung zum Haus vom »Schnattl« ein bisschen Schatten. Zwei Schritte im Schatten. Aber gleich der dunkle Stoff weniger Last um den Oberkörper. In London war es nicht so heiß. In London hatte es heute 25 Grad. Das war für London ohnehin schon warm. Der schwarze Hosenanzug war für London gerade richtig. Jonathan hatte einen Tisch bei einem Italiener bestellt. Das konnte in London alles heißen. Aber Jonathan war stolz auf seine hohen Spesen. Jonathan erzählte einem immer, wie der kaufmännische Direktor des Royal Court sich aufregte. Über seine Rechnungen. Aber diesmal musste sie zahlen. Da konnte sie sicher sein, dass es sich um ein gutes Lokal handeln würde. Die Adresse war Kensington Highstreet. Das klang nicht nach Pizzeria. Und richtig sommerliche Kleidung. Das war nicht professionell. Jedenfalls nicht in ihrem Alter. Beim »Schnattl« stand das Schild auf dem Gehsteig. Das Mittagsmenu waren gefüllte Paprika für 7 Euro 20. Die Fenster zum Restaurant standen weit offen. Sie ging auf die andere Straßenseite. Im Restaurant gingen die Kellner in ihren schwarzen Jacken und weißen Hemden. Die Kellnerin in Zagreb fiel ihr ein. Wie die bei der Hitze hin und her gelaufen war. Schweißüberströmt. Freundlich. Da hatte sie noch gedacht, dass sie das nicht könnte. Dass sie sich so ihren Lebensunterhalt nicht verdienen könnte. Sie ging in den Schatten der Maria-Treu-Gasse. Das Auto musste da stehen. Sie hatte es doch gestern hier abgestellt. Nach dem Film. Sie hatte noch der Filmemacherin zugehört. Kurz. Sie war dann bald gegangen. Alle Frauen kämpften um ihre Positionen. Alle hatten es nicht leicht. Aber die, die zurückfielen. Die sich an die Väter anschmiegten. Wieder anschmiegten. Das konnte sie nicht aushalten. Das musste sie sich nicht anhö- ren. Das Publikum. Ein Publikum heute. Das war fürchterlich tolerant. Das fällte keine Urteile mehr. Das sagte nicht einmal seine Meinung. Das war nur mehr wie bei den kleinen Kindern und dem Onkel, der ihnen Zuckerln anbot. Die einen nahmen es. Die anderen nahmen es nicht. Aber niemand redete über die Onkels. Und die Onkels hatten die Zuckerln zum Verteilen. Sie sah ihr Auto vorne auf der anderen Straßenseite. Sie verließ den Schatten. Stieg auf die Straße. Zwängte sich zwischen 2 eng geparkten Autos durch. Überquerte die Gasse. Ein silberner BMW musste bremsen. Ihretwegen. Der Fahrer ließ das Auto aber weiterrollen. Bremste nicht ganz ab. Beim Gehen über die Straße rollte die Kühlerhaube in ihr Blickfeld. Rechts. Rollte auf sie zu. Wenn sie gestolpert wäre, der Fahrer hätte nicht mehr bremsen können. Sie hätte stehen bleiben wollen. Stehen bleiben und den Fahrer zwingen, doch noch. Eine Notbremsung. Das Fahrzeug zum Stehen zu bringen. Stillzustehen. Ihr Platz lassen. Platz machen. Das Auto hetzte sie. Trieb sie über die Straße. Rechnete mit ihrer Flucht. Sie hatte Lust, auf die Kühlerhaube einzuschlagen. Am liebsten mit einem Hammer. Einer Eisenstange. Sie lief die letzten Schritte über die Straße. Sprang zwischen 2GEA22SUV1101508017