Sebastian Leitner
Wunder über Wunder
FISCHER E-Books
Sebastian Leitner wurde 1919 in Salzburg geboren und wuchs in Wien auf. Nach dem Krieg arbeitete er als Journalist und schrieb einige Bücher. Von 1972 an verfaßte er die täglich erscheinende Kolumne »Menschlich gesehen« im Wiener ›Kurier‹. Die vorliegenden Kurzgeschichten entstanden erst spät – im Ruhestand. Sebastian Leitner starb im Jahre 1989.
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Covergestaltung: buxdesign, München
Dieses E-Book ist der unveränderte digitale Reprint einer älteren Ausgabe.
Erschienen bei Fischer Digital
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2016
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Impressum der Reprint Vorlage
ISBN dieser E-Book-Ausgabe: 978-3-10-560752-7
»EXCALIBUR, verballhornt von ›Caliburn‹, war König Arthurs Schwert. Er zog es aus einem Stein, aus dem es sonst kein anderer entfernen konnte. Das Wort ist gleichbedeutend mit ›Stahlschneider‹. Als Arthur in der letzten Schlacht tödlich verwundet wurde, befahl er Sir Bedivere, Excalibur ins Wasser zu werfen. Eine Hand hob sich aus dem Wasser, fing das Schwert und verschwand.«
The Oxford Companion to English Literature
»Zweimal schmiedete der Zwerg Regin ein Schwert, und es zersprang beim ersten Hiebe Sigurds. Da ging dieser zu seiner Mutter und bat sie um die Schwertstücke, die sein Vater ihr sterbend übergeben hatte. Die brachte er dem Zwerg, und der schmiedete daraus das Schwert Gram: Damit zerschlug Sigurd Regins Amboß auf einen Schlag und durchschnitt mit der Schneide eine Wollflocke, die auf dem Wasser floß …«
Aus der nordischen Siegfried-Sage, deren Held Sigurd und sein Weib Kriemhild noch Gudrun heißt
»Wer das Schwert nimmt, wird durch das Schwert umkommen.«
Matthäus 26, 52
Mein Rechtsanwalt und Steuerberater Dr. Siegfried Seidl war ein pedantischer, grauhaariger Hagestolz mit einem Gesicht wie zerknittertes Kanzleipapier und einem an Verfolgungswahn grenzenden Notwehrkomplex.
Seine Kindheit hatte er als Bleichgesicht am Marterpfahl durchlitten oder als Versuchsobjekt für die Judogriffe und Karateschläge seiner Spielgefährten. Den Tick, der sich daraus ergab, war er auch in den folgenden Jahrzehnten nicht losgeworden.
Noch immer träumte er, daß Männer mit eisernen Muskeln und boshaftem Kindergrinsen in seine Wohnung eindrangen, um ihn zu foltern und zu berauben. Dem Alptraum folgte stets sein Wunschtraum. Er sehnte sich nach einer Waffe, die auch der brutalsten Körpergewalt überlegen wäre, nach einem unbesiegbaren Instrument gerechter und würdiger Selbstverteidigung.
Ein Revolver durfte es nicht sein. Wegen seines Ehrgefühls verbot sich der Gebrauch einer Schußwaffe als unfair und feige. Dr. Seidl meinte, ein ehrlicher Kämpfer müsse das Weiße im Auge des Feindes sehen, bevor er ihn niedermache. Zudem: ein Schießeisen hatte er einmal ausprobiert. Sein Knall war ihm so pöbelhaft laut in die Ohren gefahren, daß er sich lieber mit anderem, durch Tradition geadeltem und weniger lärmerregendem Kampfgerät versah.
So hing denn auch, als sammle er derlei als Kunstkenner, an den Wänden im Vorzimmer seines Wiener Kanzleibüros nur altehrwürdiges Mordwerkzeug: gleich neben der Tür zwei griffbereite Morgensterne, ein malaiischer Kris, ein arabischer Krummdolch. Weiter drinnen im Zimmer befanden sich, paarweise gekreuzt, Husarensäbel, Kosakensäbel, Türkensäbel und Samuraischwerter.
Die Klingen dieser Schlachtmesser waren blitzblank und scharf geschliffen. Ihre Anordnung folgte den strategischen Überlegungen des geordneten Rückzugs, der sich den vorwärtsstürmenden Angreifer möglichst weit vom Leib halten will, weshalb am Ende des Vorraums auch noch zwei Hellebarden und im nächsten Zimmer ein Bogen mit Köcher und Pfeilen an der Mauer baumelten.
Herr Dr. Seidl war über alle Maßen gebildet. Er konnte die halbe Odyssee aus dem Kopf hersagen. Dabei bevorzugte er die Schilderung des Gemetzels, das Odysseus unter den Freiern angerichtet hatte, den Massenmord an den frechen und gefräßigen Hausbesetzern, Sozialschmarotzern und Erbschleichern, die ihm die Frau und die Herrschaft entreißen wollten.
Ein glatter Notwehrfall, behauptete Dr. Seidl – sonst hätten die Freier Odysseus umgebracht.
Oder die Blendung des einäugigen Riesen Polyphem, der des Odysseus Gefährten fraß und schließlich auch ihn gefressen hätte – Notwehr, was sonst?
Gerne rezitierte er auch aus Wagners Ring der Nibelungen: »Wer meines Speeeres Spiiitze füüürchtet, durchschreite dies Feuer niiicht …« – Wotans Schwur, er werde die unbefugte Behelligung einer auf seinem Grundeigentum ordnungsgemäß (und sogar flammend) eingezäunten Walküre notfalls mit scharfem Stahl verhindern. Ein durchaus legales Unterfangen, zumindest ebenso rechtmäßig wie eine Tafel mit der Aufschrift »Achtung, bissiger Hund!«
Im Laufe der Jahre hatten Siegfried und ich Freundschaft geschlossen – ich beichtete ihm meine Steuersorgen, er mir seine Lebensangst, und wenn er davon erzählte, starrte er stets wie hypnotisiert auf einen überschweren goldenen Siegelring an seinem rechten Mittelfinger. »Auch eine Waffe«, sagte er einmal, »er ist so schwer wie ein Schlagring.«
Sein Vater, gestand er in einer dunklen Stunde, hätte ihn nie Siegfried nennen dürfen. Auch das Waffenarsenal in seiner Behausung könne die Urfurcht seiner Minderwertigkeit nicht bannen, denn für den Umgang mit Morgenstern und Dolch, Säbel oder Lanze sei immer noch Muskelkraft nötig – über die verfüge er allerdings leider nicht.
»Ich brauche«, sagte Siegfried, »ein schwereloses Schwert, das von jeder Kinderhand geführt werden kann und das doch auch Felsen zerteilt, wenn es nur von einem Hauch bewegt wird. Erst dann bin ich sicher.«
Er träumte den ältesten aller Männerträume, den Traum von einer magisch verlängerten Faust, die alles vor sich zertrümmert und wegfegt, was Recht und Ordnung verhöhnt, von einem Schwert wie weiland jenes seines Namensvetters Siegfried oder König Arthurs Excalibur – den Wahntraum von einem Schwert für Mutlose, Kraftlose, Willenlose, die sogar in äußerster Not am liebsten keinen Finger rühren.
Meine letzte Steuererklärung war abgeliefert. Ich hatte von Siegfried lange nichts gehört, als eines Vormittags ein Oberarzt der Psychiatrischen Klinik anrief.
»Doktor Rausch«, meldete er sich, »Hans Rausch, wir kennen uns …«
Ich kannte ihn von einem Symposion über das Thema, ob Schizophrenie nun wirklich eine Geisteskrankheit oder nur eine einkommenssteigernde Erfindung von Berufspsychiatern sei. Er bat mich, einen gewissen Dr. Seidl bei mir aufzunehmen, der keine Verwandten habe und mich als einen hilfsbereiten Freund bezeichne. Der Patient sei wieder wohlauf, doch wolle er ihn nicht ganz ohne Beistand in seine Wohnung entlassen.
»Kann ich ihn erst einmal zu Ihnen bringen?« fragte der Doktor. »Ich komme mit …«
Ich war zwar ein wenig verwundert, erklärte mich aber einverstanden, und wir verabredeten uns noch für denselben Abend bei mir.
Beim Eintreten konnte oder wollte mir Siegfried Seidl nicht in die Augen schauen. Ich sorgte dafür, daß er es sich im Wohnzimmer bequem machte und begleitete den Arzt hinaus. »Was war denn los mit ihm?« fragte ich draußen.
Der Psychiater, in Eile und noch im weißen Mantel, berichtete kurz, Herr Seidl sei vor vier Wochen in den frühen Morgenstunden auf einer Brücke über den Donaukanal aufgefunden worden, wo er schreiend und um sich schlagend zwischen den Straßenbahnschienen gelegen war. Eine dreiwöchige Schlafkur in der Psychiatrie sei nötig gewesen, um seinen Zustand zu normalisieren: »Jetzt ist er harmlos.«
Ich ging zurück zu meinem Freund und Steuerhelfer. Ich kochte ihm Kaffee und buk Spiegeleier. Dann machte ich mein Gästezimmer für ihn zurecht, und er legte sich hin. Allmählich begann er zu erzählen, zuerst noch stockend und wirr, dann immer flüssiger.
Die seltsame Geschichte, die er mir in den nächsten Tagen und Nächten anvertraute, versuche ich hier so kurz wie möglich wiederzugeben, doch ohne Wichtiges zu verschweigen.
Das Abenteuer des Dr. Siegfried Seidl begann, als ihn ein Klient namens Lancelot Perceval mit einem großzügigen Geschenk überraschte.
Der Mann, aus Tintagel in Cornwall stammend, war vom Zoll ertappt worden, als er eine Schatulle voll alter Goldmünzen über die Grenze bringen wollte.
Sein Gold wäre beschlagnahmt, er selbst empfindlich bestraft worden. Aber ein Steueranwalt ist auch für Zollsachen zuständig, und Seidl, durch den sich Mr. Perceval vertreten ließ, konnte zweifelsfrei nachweisen, daß es sich nicht um Schmuggel handelte. Die Münzen waren als Leihgabe einer gewissen Gudrun Queen für das Heimatmuseum der niederösterreichischen Gemeinde Pöchlarn gedacht, deren Bürgermeister Hagen Rüdiger sich die Übernahme des Schatzes bereits von allen zuständigen Ämtern hatte genehmigen lassen.
Der Schriftkram der Affäre war in Seidls Kanzlei erledigt worden, wobei Perceval natürlich auch Siegfrieds schimmernde Wehr zu Gesicht bekam.
Und so besuchte er vor seiner Rückreise, mit einem Geigenkasten in der Hand, seinen Rechtsfreund und Nothelfer nochmals. Er wolle sich persönlicher bedanken als nur mit einem Scheck, meinte er.
Mr. Perceval öffnete den Geigenkasten. Darin lag weder eine Geige noch eine Maschinenpistole, sondern ein Kurzschwert, das an zwei Eisenklötzen klebte.
»Die sind magnetisch«, sagte Perceval, »das Schwert läßt sich nur an der Breitseite festhalten. Es kann nicht anders transportiert werden. Die Klinge würde eine normale Scheide sofort zerstören.«
Er hob das Schwert mit einem Ruck aus seiner Verankerung.
»Ein Erbstück«, sagte er, »schon mein Vater, mein Großvater, mein Urgroßvater haben es besessen. Es ist das schärfste, das es je gab. Es durchsticht, durchschneidet Elefantenhaut, Büffelleder, Kettenhemden und jeden Harnisch schon bei der leisesten Berührung …«
»Auch eine Feder?« fragte Siegfried höchst interessiert.
»Versuchen Sie’s.«
Der Anwalt riß ein Kissen von seiner Sitzgruppe auf und nahm eine Handvoll Federn heraus. Perceval hielt das Schwert waagrecht vor sich hin, die Schneide nach oben, und Siegfried ließ die Federn fallen. Die meisten taumelten an der Klinge vorbei. Vier aber, die zufällig genau darauf niedersanken – sie teilten sich wundersam gemächlich und widerstandslos in zwei Hälften.
»Geben Sie her«, sagte Siegfried.
»Seien Sie vorsichtig. Sie dürfen es nie an der Schneide berühren, nicht einmal mit dem Daumen, sonst ist er weg. Sie dürfen es niemals fallen lassen, es schlägt Ihnen die Zehen oder das Bein ab. Sie dürfen auch nie dulden, daß es ein anderer anfaßt, wenn Sie ihn nicht töten oder verstümmeln wollen.«
Perceval legte das Schwert sorgfältig auf die beiden Magnetklötze zurück und schloß den Deckel: »So, und jetzt machen Sie den Kasten auf, nehmen Sie’s heraus, nur am Griff … Jetzt wieder zurück, langsam, sachte. Das müssen wir ein paarmal üben … Vorsicht, nicht so schnell, noch einmal …« Er sprach wie ein Feldwebel, der seinen Rekruten das Sichern und Entsichern des Gewehrs beibringt.
Als Siegfried das Ablegen und Herausnehmen zum dritten Mal wiederholte, berührte die Schwertschneide den gläsernen Schirm seiner Schreibtischlampe. Ein Stück davon fiel ab und zerschellte. Die Schnittstelle am Glas aber war so glatt und sauber, als sei sie sorgfältig zurechtgeschliffen worden – kein Splitter, kein Sprung, keine Unebenheit.
»Ich habe Sie gewarnt«, murrte Perceval. »Mit etwas mehr Pech hätte das Ihr Kopf sein können.« Er steckte das Wunderding in seinen Kasten und schob ihn Siegfried zu. »Das Schwert gehört Ihnen. Nein, keine Widerrede. Es ist schon zu lange in meiner Familie …«
Sein Abschied glich einer Flucht. Siegfried war allein mit der unheimlichsten Waffe der Welt. Damit kein Unbefugter sie berühre, verbarg er sie und den Geigenkasten im Aktentresor. Er gab seinen beiden Sekretärinnen unbefristeten Urlaub. Er schloß seine Kanzlei. Er saß an seinem Schreibtisch und sann darüber nach, wofür, vom Töten abgesehen, er dies Geschenk sonst noch verwenden könnte, und fühlte sich wie einer der Väter der Atombombe auf der Suche nach der friedlichen Nutzung der Kernenergie.
Am nächsten Morgen öffnete er den Geigenkasten abermals. Er nahm das Schwert behutsam, mit spitzen, ängstlichen Fingern – zu ängstlich und zu wenig fest. Es fiel ihm, mit der Spitze nach vorn, aus der Hand. Das Schwert verfehlte nur knapp seinen Fuß, und er erschrak, als hätte ihn ein Kanonenschuß verfehlt.
Die Spitze durchschlug den Spannteppich und das Parkett des Fußbodens. Das Schwert hätte alle drei Stockwerke, den Betonboden des Kellers und sämtliches Gestein darunter bis hin zum Mittelpunkt der Erde durchbohrt, wenn nicht der Handschutz des Schwertgriffs im Teppich hängengeblieben wäre.
Doch hatte die Klinge die Wasserleitung durchschlagen, die Wohnung darunter wurde binnen Minuten überflutet. Ihr Mieter, dessen Dackel beinahe ertrunken wäre, vermutete den Bosheitsakt eines Tierquälers. Die Handwerker, die sich zum Rohrbruch durchstemmten, betrachteten Siegfried mit scheeläugigem Mißtrauen, und der rotznäsige junge Gutachter von der Versicherung erklärte keck, er könne sich solch einen Schadensfall nicht ohne kriminelles Eigenverschulden vorstellen.
In dieser Nacht schlief Dr. Seidl schlecht. Die furchterregenden Muskelmänner, die ihn bisher zur Geisterstunde herumgestoßen hatten, blieben zwar aus. Statt dessen plagte ihn der Gedanke an das Schwert. Es fraß sich knirschend aus dem Aktentresor, sprang dann behend wie eine Katze vorwärts und schnellte hoch, um schließlich freischwebend über seiner Brust haltzumachen.
Es pendelte dort an einem seidenen Faden hin und her, der weder aus Seide noch überhaupt vorhanden war, wobei die Spitze immer tiefer sank, bis sie beinahe Siegfrieds Nase streifte und er von seinem eigenen Wehgeschrei erwachte.
In den folgenden Nächten erlebte er noch grausigere Heimsuchungen. Das Schwert zerfleischte ihm die Wangen, schlug ihm die Zähne aus, schnitt ihm die Ohren ab und öffnete ihm Brust und Bauch, so daß er nachher Mühe hatte, seine Innereien wieder einigermaßen einzusortieren.
Nun hatte Siegfried auch bei Tage kaum noch Zweifel, daß das mörderische Scheusal bald nicht mehr nur träumerisch herumspielen, sondern blutigen Ernst machen werde.
Was tun? Er hätte das Teufelszeug beim Fundamt abgeben, an einen besonders geliebten Todfeind weiterschenken oder irgendwo auf einem Abfallhaufen deponieren können. Doch wären dadurch sicherlich Schuldlose in Gefahr geraten, vielleicht sogar steuerzahlende Mitbürger, die noch nicht seine Klienten waren.
Ins Meer, in einen Fluß damit? Er senkte die Klinge in einen mit Wasser gefüllten Kochtopf. In wenigen Sekunden begann der Kessel zu summen, das Wasser zu brodeln: Er hatte einen perfekten Tauchsieder vor sich, mit dem man einen Boiler wärmen oder sogar ein Dampfkraftwerk betreiben konnte.
Er zitterte plötzlich vor Freude, doch plötzlich verschwand, verdächtig glucksend, das Wasser aus dem Topf und tropfte – ein Schrei entrang sich seiner Kehle – siedendheiß auf seine noch morgendlich nackten Zehen. Das Schwert hatte den Boden des Gefäßes und zugleich die Platte des Küchentischs durchlöchert.
Trotzdem gab er nicht auf. Er durchlebte den Tag zwischen Todesangst und Todesmut, wie einer jener Urmenschen, die als erste das Feuer gezähmt, das Wildpferd gebändigt und einen Wolf an die Kette gelegt hatten. Tollkühn begann er die Schärfe des Schwerts an toten Gegenständen zu messen, zuerst an den klobigen Holzbeinen seines Schreibtisches. Er glaubte, die Beine entbehren zu können – er konnte: Vier lässige Handbewegungen, und der Schreibtisch stand auch ohne sie.
Einen Hocker zerlegte er in wenigen Augenblicken zu einem Häufchen Brennholz. Eine grüne, blöde glotzende Glaseule und eine Zwergenfigur aus Porzellan zerschnitt er im Nu zu dünnen Scheibchen und einen großen, gußeisernen, im Keller verwahrten Kohlenofen in kleine Würfel.
Er fuhr hinaus zu einem aufgelassenen Steinbruch, der jetzt als Autofriedhof diente. Einen schweren Schlagbaum am Eingang fegte er wie ein Spinnennetz beiseite. Dann ruhte er erst, nachdem er drei rostige Personenwagen und einen Omnibus zu handlichen Portionen zerkleinert und, um sich sein Werk von oben zu besehen, in die Wand des Steinbruchs eine steile, aber gut begehbare Treppe geschnitzt hatte.
Er fuhr zurück in sein Büro. Dort nahm er das beste seiner Schwerter von der Wand, einen Zweihänder aus dem japanischen Mittelalter, und führte seine Schneide gegen die von Excalibur. Die vordere Hälfte des Samuraischwerts fiel ab wie eine geköpfte Lilie. Dann lenkte er, im hintersten Büroraum, die Spitze seiner Zauberwaffe gegen die Tür seines Tresors. Excalibur drang ein, als wäre der Panzerstahl aus Butter.
Es war vollbracht.
An diesem Abend ging er stillvergnügt zur Ruhe. Er malte sich aus, wie vielfältig sein bissiges Untier dem Fortschritt und dem Frieden dienen könnte: Beim Straßen-, Tunnel- und Kanalbau oder bei der Beseitigung etwa der drei häßlichen und aus sonst unerschütterlichem Beton errichteten Flaktürme, die Wien seit dem Zweiten Weltkrieg verunzieren.
In den nächsten Tagen erweiterten sich Siegfrieds Pläne zu größenwahnsinnigen Dimensionen. Er dachte daran, mit seiner Wunderwaffe zwecks Rettung des Weltfriedens Löcher in die Chinesische Mauer zu schneiden.
Die Überlegung aber, daß er damit Excalibur in fremde Hände geben müsse, erschreckte ihn. Er wollte nie wieder hilflos den Quälereien seiner Kinderzeit ausgeliefert sein – und er begann sich auszumalen, wie er, dank dieses Schwertes wehrfähig geworden, jetzt endlich seinen Peinigern entgegentreten konnte.
Er würde ihre Mißhandlungen nicht nochmals stumm oder weinend erdulden. Er würde nie mehr um Gnade winseln, mit zusammengebissenen Zähnen den nächsten Schlag erwarten und verzweifelt hoffen, daß er der letzte sei – niemals nachher, geduckt und demütig, nach Hause schleichen und den Eltern sagen müssen, das Kinderspiel sei schön gewesen.
Er erinnerte sich an die Ballade vom Kreuzritter, der einen mordgierigen Sarazenen mit einem einzigen Schwertstreich längsgeteilt aus dem Sattel schlug: »Da sah ich zur Rechten und zur Linken – einen halben Türken heruntersinken …«
Jetzt können sie kommen, dachte er. Aber sie kamen nicht.
Sie waren nie mehr gekommen, seit er aus der Hölle ihrer Spielplätze zu Büchern, Papier und Paragraphen entwichen war. Gewiß, es gab sie noch, die kleinen und die großen Triebtäter der Grausamkeit. Doch waren sie ihm all die Jahrzehnte ferngeblieben, weil er sich wie ein scheues Tier von ihnen ferngehalten hatte.
Er kannte die Foltersucht und ihr Gehabe, das vorgestreckte Kinn, die forsch gewölbte Brust, die locker halb geschlossenen Fäuste. Er mied die Gassen und die Plätze, wo solches Gelichter lungerte, und wenn er trotzdem dort entlanggehen mußte, überquerte er die Plätze witternd, um sich spähend, Haken schlagend und stets bedacht auf Deckung und Rückzug. All diese Finten ständiger Fluchtbereitschaft hatten sich so tief in seiner Seele eingefressen, daß er sie längst für ganz normal, vernünftig, ja selbstverständlich hielt.
Nun erst, Excalibur an seiner Seite, durchschaute er die Schande dieser Lebenslüge. Wo blieben sie, seine Todfeinde? Er kam zu der Überzeugung, daß sich die Satansbrut vor ihm versteckte und, feige, andere Opfer wählte.
Wenn ihr nicht zu mir kommt, dann komme ich zu euch, entschloß er sich. Durch seinen Kopf geisterten die Legenden von fahrenden Rittern, die gefangene Prinzessinnen aus der Gewalt von Zauberern und Riesen erlösten, vom Helden Theseus, der den Menschenwürger Minotaurus erschlug, vom heiligen Georg und selbstverständlich auch von seinem Vorbild Siegfried alias Sigurd, zu deren sozialpolitischen Aufgaben die Vertilgung feuerspeiender Drachen gehörte.
So zog er am Abend mit seinem Geigenkasten aus, um Gutes zu tun und der Unschuld beizustehen. Doch traf er weder einen Lindwurm noch Hexer oder Menschenfresser, und keine schmachtende Jungfrau kreuzte seinen Weg. Der erste Unhold, dem er begegnete, war ein kaum zehnjähriger Junge, der mit dem Taschenmesser einen Zigarettenautomaten aufbrechen wollte und schon bei Siegfrieds Anblick davonlief. Auch Excalibur hätte ihn nicht einholen können.
Dann hörte er, in einer finsteren Seitengasse, gar jämmerliches Geschrei – die Wehklage eines mageren und offenbar nur halbstarken Jugendlichen, der mit erhobenen Händen in einem Haustor stand. Ein Polizist hielt ihn mit der Pistole in Schach, ein zweiter schlug mit dem Gummiknüppel nach seinen hochgestreckten Fingern. Als Siegfried sich der Gruppe näherte, wollte dieser zweite gleich auch auf ihn losprügeln, doch sein Kollege hielt ihn zurück: »Den hau nicht, der ist was Besseres …«
Nachdem ihm so in aller Kürze die Grundregeln der Klassenjustiz zur Kenntnis gebracht worden waren, erklärten ihm beide Polizisten, sie hätten da eben einen Einbrecher gefaßt, doch dessen Komplize sei leider entwischt. Jetzt werde der Festgenommene zur Identität des Geflüchteten befragt – er aber, Siegfried, solle sich hinwegbegeben, hier störe er eine Amtshandlung.
Der nächste Abend versprach schon mehr. Der Steueranwalt mit dem Schwert der Gerechtigkeit marschierte eine Straße entlang, deren Gehsteigrand von Personen offenbar weiblichen Geschlechts gesäumt war. Sie trugen, obwohl das Wetter kühl war, enge Stiefel und noch engere Beinkleider aus knallfarbigem Elastic-Satin, die von der Ferne wie Reithosen oder neumodische Gymnastikhosen wirkten. Doch Siegfried war nicht so naiv, sie deshalb für Reiterinnen oder Sportlerinnen zu halten.
Schon wollte er, stolz abgewandten Blickes, an diesen lebenden Schandmalen sexueller Marktwirtschaft vorüberschreiten, da sprang aus einem Auto der Urtyp seines Feindbilds hervor: ein Bizeps-Protz mit fliehender Stirn und tückisch tiefliegenden Augen. Doch griff er nicht Siegfried an, sondern eine der Reiter- oder Sportlerinnen. Er packte sie an ihrem hauchdünnen Top, das sofort riß und jene Organe herabsinken ließ, die die Natur zum Säugen von Kleinkindern geschaffen hatte, und dann an den Haaren.
Mit der anderen Hand begann er sie zu ohrfeigen – das abstoßende Musterbeispiel eines gegenwärtigen, rechtswidrigen, brutalen, sadistischen und wohl auch räuberischen Angriffs auf ein zartes, empfindsames und vielleicht sogar treu liebendes Wesen, das gewiß nur durch die Irreleitung ihres Geschlechtstriebs zur Lüsternheit verführt und auf die schiefe Bahn gebracht worden war.
Die Holde stieß inzwischen unsagbar häßliche Schimpfworte aus. Zugleich versuchte sie nach besten Kräften, dem bestialischen Gewalttäter mit spitzen Fingernägeln die Augen auszustechen, und sie versprach, ihm demnächst jenen Körperteil abzubeißen, der für seinen Beruf der wichtigste sei.
Ihr unziemliches Benehmen aber konnte Siegfried nicht irremachen – sie übte Notwehr, und das war Rechtfertigung genug. Entschlossen brüllte er den entmenschten Sexualfaschisten an: »Mein Herr, was erlauben Sie sich!«
Das Chauvi-Schwein flitzte in panischer Angst ins Auto zurück und donnerte wie eine Mondrakete davon. Ein berauschendes, bisher noch nie erlebtes Glücksgefühl durchflutete Siegfried von den Zehennägeln bis in die Haarwurzeln. Er hatte erstmals gesiegt und dazu nicht einmal sein Schwert gebraucht, nur seine Stimme …
Doch gleich darauf begann die Dame, die er so kühn errettet, grob undankbar auf ihn einzuschelten. Er habe eine geschäftliche Unterredung gestört und einen lieben Freund verprellt, er solle seine dreckige Nase nicht in fremde Angelegenheiten stecken, erklärte sie, wobei sie sich abermals einer Sprache bediente, deren Zügellosigkeit ihn hätte erbleichen lassen müssen. Doch er erbleichte erst, als er erkennen mußte, daß nun neben ihm statt des Zuhälterschlittens ein Streifenwagen stand und daß es nicht sein mannhaftes Wort, sondern die Polizei gewesen war, die den Abschaum der Unterwelt verscheucht hatte.
»Was gibt’s denn?« fragte der Polizist.
»Nichts, rein gar nichts«, versicherte die streitbare Frauenrechtlerin, »nur dieser Lustgreis da wird lästig …«
Es war schon zwei Uhr früh, als Siegfried müde nach Hause strebte. Er verfluchte sich, seinen absurden Opfermut und sogar sein Schwert. Gab es in dieser von Friedfertigkeit triefenden, verspießerten, verfaulten und langweiligen Stadt tatsächlich nichts mehr, wofür es zu kämpfen und notfalls zu sterben lohnte?
Sein Heimweg führte über eine Brücke. Er betrat sie in dumpfer Verzweiflung, als überschreite er eine schicksalhafte Grenze: zurück zu seinen abgegriffenen Aktenordnern, zu den Einnahmen und Werbungskosten, den Investitionen, den Abschreibungen und Selbstanzeigen seiner Klienten.
Da traten ihm drei Männer entgegen, die durchaus menschlich, ja bürgerlich dezent gekleidet waren, mit Blazern und Krawatten und grauen Hosen, und einer, wohl ihr Rädelsführer, sprach ihn an.
»Wir können«, sagte er mit sanfter Stimme, »wir können mit Ihnen jetzt alles mögliche machen. Wir können Ihnen die Nase, aber auch den Schädel einschlagen …«
»… oder die Zähne«, ergänzte der zweite, »oder die Rippen …«
»Wir können Ihnen auch das Kreuz, die Arme und die Beine brechen«, ließ sich der dritte vernehmen.
»Das wollen wir aber nicht, wir sind doch keine Ungeheuer«, setzte der erste fort. »Wir wollen nur Ihr Geld, ersparen Sie uns das Gemetzel …«
Er trug seine Forderung in bestem Deutsch und so höflich vor, daß Siegfried ihm widerstandslos die Brieftasche überreichte – ein hündischer Reflex, erinnerte er sich zu spät.
»Was haben Sie in Ihrem Geigenkasten?« fragte dann der Räuberhauptmann, »eine Stradivari?«
In Siegfrieds Hinterkopf begann ein kleines, rotes, heißes Pünktchen aufzuglimmen.
»Lassen Sie das«, sagte er.
»Her damit, sonst …«
Das Glühwürmchen im Kleinhirn des Raubopfers erwies sich als das brennende Ende einer Zündschnur, das sich unbeirrbar auf ein seit Jahren überfülltes Sprengstofflager vorwärtsfraß. Der Räuber griff nach Siegfried, doch der wich aus.
»Ich zeig’ euch, was da drin ist«, sagte er. Er öffnete den Verschluß des Kastens und legte die Hand an den Schwertgriff.
Ein Stoß vor die Brust warf ihn beinahe nieder. Das Munitionsdepot in seinem Kopf explodierte und tauchte den Himmel, die mondbeschienene Brücke und die drei Menschen vor ihm in flammendes Rot. Das Schwert in seiner Hand flog wie von selbst aus seiner Höhlung; die Faust, die seine Rippen getroffen hatte, lag abgetrennt auf der Fahrbahn. Der Mann, von dem sie eben noch ein Stück gewesen war, starrte sprachlos auf den blutspritzenden Stumpf.
Die nächsten Sekunden vergingen, erzählte er, für Siegfried wie Stunden oder Tage. Die Klinge führte seinen Arm, nicht umgekehrt. Sie schwebte, ganz langsam, in weitem Bogen auf den zweiten Wegelagerer zu, der ihr entkommen wollte, doch seine Bewegungen waren noch langsamer. Das Schwert berührte ihn an der Gürtellinie, drang zögernd, aber unaufhaltsam durch Kleidung, Haut und Fleisch, und trennte ihn in zwei Teile. Sein Blut versprühte in winzigen Tröpfchen zu einer dunklen Wolke.
Das Schwert zog weiter; in einer sanften Kurve erreichte es den dritten Mann. Es löste ihm das Bein vom Rumpf und wanderte, die Schulter umkreisend, durch seinen Nacken und seine Kehle.
Dann suchte Excalibur sein letztes Ziel, den Räuber, der bereits die Hand verloren hatte und jetzt zusammengekrümmt am Boden lag.
Der Mann wimmerte: »Nicht, bitte …«
Die Schwertspitze aber sank nieder, zerschnitt seine Rippen und sein Herz. Der Griff lag immer noch in Siegfrieds Hand. Nun endlich wußte er, daß auch zum Morden nicht mehr Kraft als nur ein Fingerdruck nötig sein mußte.
Mord … Der Vollmond war wieder strahlend weiß, der Mörder, denn das war er jetzt, fiel in der Blutlache zwischen den Leichen auf die Knie. Er versuchte sich einzureden, das Schwert allein sei schuld – wie denn auch jeder, der im Kriege tötet, gerne glaubt, daß nur die Waffe mordet, nicht der Mensch. Er hielt sie jetzt mit beiden Händen fest, als müsse er sie zügeln wie ein unbeherrschtes, wildes Tier. Er betete, was er sonst niemals tat, und flehte zu Gott, an den er nicht glaubte, er möge die Zeit zurückdrehen und alles, alles ungeschehen machen.
Dann ging er ans Brückengeländer und warf das Schwert voll Ekel in die Strömung. Da tauchten – er sah es überdeutlich, als hätte der Kanal zu leuchten begonnen – eine Hand und ein Haupt aus dem Wasser. Die Hand griff nach dem Schwert, als wolle sie es auffangen. Die Schneide aber fuhr durch das Handgelenk und den Hals des Wesens, das da unten schwamm, und Siegfried brach, von einem Weinkrampf geschüttelt, auf dem Asphalt der Brücke zusammen.
Soviel davon, was mir mein schüchterner, zeitlebens von Vorsicht, Rücksicht, Ängstlichkeit bedrückter und immer noch verstörter Freund in den drei Tagen nach seiner Entlassung aus der Psychiatrie anvertraute, den Ärzten aber verschwiegen hatte, um nicht für wahnsinnig gehalten und zu noch längerer Behandlung gezwungen zu werden: Für mich nichts weiter als die Gaukelbilder einer kranken Phantasie, ein Totentanz gespenstischer Halluzinationen, die Symptome einer schweren, zu lange unbemerkten Neurose.
Es konnte gar nicht anders sein. Wo wären sonst die Leichen geblieben, das Blut, das er vergossen, der mysteriöse Geigenkasten, den er auf der Brücke zurückgelassen haben wollte? Kein Polizist und kein Passant hatte von alledem auch nur eine Spur gefunden.
Ich brachte Siegfried in sein Anwaltsbüro zurück. Dort freilich zeigte sich, daß sein Teppichboden, der Tresor, ein Hocker und der Schreibtisch, sein Bett und ein Lampenschirm tatsächlich seltsame Beschädigungen aufwiesen.
Doch tröstete ich ihn (und mich) damit, daß sich für diese Schäden, wie für alles andere, gewiß auch eine völlig natürliche Erklärung finden ließe: »Ein Einbrecher vielleicht … Deine Schlafkur – du hast nur schlecht geträumt, vergiß es.«
Er dankte mir gerührt, aber immer noch ungläubig, und folgte meiner Empfehlung, ausgiebig Urlaub zu machen. Er reiste schon am nächsten Morgen in die Schweiz.