Ilse Aichinger
Zu keiner Stunde
Szenen und Dialoge
FISCHER E-Books
Ilse Aichinger, geb. 1921 in Wien, veröffentlichte 1948 ihren Roman über die Kriegszeit in Wien, ›Die größere Hoffnung‹, und ihre ersten berühmten Geschichten. Für ihren Roman, ihre Gedichte, Hörspiele und Prosastücke, die in viele Sprachen übersetzt wurden, erhielt sie zahlreiche literarische Auszeichnungen, u. a. 1952 den Preis der Gruppe 47, 1982 den Petrarca-Preis, 1983 den Franz-Kafka-Preis, 1995 den Österreichischen Staatspreis für Literatur. Ilse Aichinger lebt in Wien.
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Von einem »zierlichen Meisterwerk, das Fülle und Geheimnis des Lebens enthält«, sprach Günter Blöcker 1957, als die Szenen und Dialoge ›Zu keiner Stunde‹ erstmals erschienen. Innerhalb der Gruppe 47 allerdings waren diese Szenen umstritten: Allzu »österreichisch« ging es hier scheinbar zu in diesen – durch die Erfahrungen der Avantgarde gebrochenen – Minidramen. Mit jedem Satz durchbricht Ilse Aichinger die Alltagswirklichkeit. Da werden Wiener Straßen und Plätze beschworen – da wird aber auch das Bedrohliche, untergründig Unheimliche evoziert. In ihrer mikroskopisch präzisen Dialogtechnik gelingt es Ilse Aichinger, Augenblicke, Orte und Charaktere scharf herauszumeißeln und gleichzeitig ins Schweben zu bringen. Nirgends sonst sind die Themen ihres Werks – die Bedeutung von Ort und Zeit, die Liebe zu Alten, Außenseitern, Verschrobenen, die Gefahren durch Erstarrung und Verdrängung, Tod und Verschwinden – in ein so gebrochenes Licht gerückt wie in diesen Szenen und Dialogen.
Erschienen bei FISCHER E-Books
© 2015 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main
Covergestaltung: Büro Aicher, Rotis
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ISBN 978-3-10-403442-3
Meiner Schwester
POLIZIST AN DER BOTSCHAFT
Wieder mit den Hunden spazieren?
DAS DIENSTMÄDCHEN VON GEGENÜBER
Ja.
POLIZIST
Schöner Tag heute!
MÄDCHEN
O ja.
POLIZIST
Oder vielleicht nicht?
MÄDCHEN
Ein sehr schöner Tag.
POLIZIST
Die Windhunde von der Gnädigen nehmen sich dann gleich besser aus: gegen den blauen Himmel.
MÄDCHEN
Freilich.
POLIZIST
Das schöne weiße Fell!
MÄDCHEN
Komm, Josias!
POLIZIST
Josias?
MÄDCHEN
Ein Phantasiename.
POLIZIST
Und der andere?
MÄDCHEN
Rosendorn.
POLIZIST
Josias und Rosendorn.
MÄDCHEN
Alles Phantasie.
POLIZIST
Das ist auch viel wert.
MÄDCHEN
Ja.
POLIZIST
Aber ein so schöner Tag heute!
MÄDCHEN
Die Gnädige ist ausgefahren. Kommissionen.
POLIZIST
Und der Herr?
MÄDCHEN
Ist im Amt. Mir tun die Kinder leid, die in der Schul sitzen müssen.
POLIZIST
Mir nicht.
MÄDCHEN
Die Stadt ist heut so still, als wär gar niemand drin.
POLIZIST
Das tät auch gut.
MÄDCHEN
Als wär man ganz allein.
POLIZIST
Stört Sies?
MÄDCHEN
Die Jahreszeit –
POLIZIST
Keine Wolke am Himmel.
MÄDCHEN
Es wird bald zum Eislaufen für die Kinder.
POLIZIST
Als blieb der Vormittag stehen!
MÄDCHEN
Der bleibt nicht.
POLIZIST
Die alten Propheten hätten sichs auch nicht träumen lassen, daß sie aus Stein in die Kirchsäulen gehauen werden, mitten im Reden.
MÄDCHEN
Komm, Josias!
POLIZIST
Wohin?
MÄDCHEN
Der Jüngste von den Herrschaften hat ein Dreirad, mit dem fährt er im Park um den Brunnen.
POLIZIST
So.
MÄDCHEN
Den hol ich jetzt.
POLIZIST
Ich möcht mir die Eile für was Besseres sparen.
MÄDCHEN
Wüßt nicht, wofür.
POLIZIST
Ich wüßts.
MÄDCHEN
Freilich.
POLIZIST
Die alten Propheten –
MÄDCHEN
Die sollen mich in Ruh lassen!
POLIZIST
Ich wollt auch was anderes sagen.
MÄDCHEN
Was?
POLIZIST
Sie und ich –
MÄDCHEN
Sonst nichts?
POLIZIST
Der blaue Himmel –
MÄDCHEN
Komm, Rosendorn!
POLIZIST
Der Tag, die Hunde, das Eck hier an der Botschaft –
MÄDCHEN
O je!
POLIZIST
Die Tauben!
MÄDCHEN
Ich weiß nicht, was die bedeuten.
POLIZIST
Marie!
MÄDCHEN
Und was Sie reden.
POLIZIST
Mir ist der Kirchbaumeister heut nacht im Traum erschienen.
MÄDCHEN
Die Träum von andern Leuten –
POLIZIST
Unten an der linken Säule wär noch ein Platz frei!
MÄDCHEN
unsicher Ich muß den Kleinen holen, die Gnädige –
POLIZIST
Und wie ich Sie heut früh über die Straßen hab gehen sehen, Marie – da ist mir der Gedanke gekommen, Sie und ich und die Hunde –
MÄDCHEN
Wir gehen jetzt!
POLIZIST
Und die Botschaft dahinter. Wir kämen gut ins Bild. Marie!
MÄDCHEN
So heiß ich nicht!
POLIZIST
Dem Kirchbaumeister wär geholfen. Und uns auch! Der letzte freie Platz, der Himmel ohne Wolken!
MÄDCHEN
Ich möcht nicht.
POLIZIST
Kein Mittag mehr, Marie, kein Abend, keine Nacht; nein, nur der Vormittag und immer elf vorbei und Sie und ich. Die Hunde –
MÄDCHEN
erschrocken Josias, Rosendorn!
POLIZIST
Es wär ein linder Vormittag, um drin zu bleiben!
MÄDCHEN
Da wär mir keiner lind genug.
POLIZIST
Die Sonne!
MÄDCHEN
schaut auf den Himmel Jetzt kommt bald Wind auf.
POLIZIST
Der bringt den Schnee. Sie gehen dann mit dem Kleinen, der nicht der Ihre ist, im Kalten spazieren.
MÄDCHEN
Das kann schon sein.
POLIZIST
Ein Wort, Marie, und nichts –
MÄDCHEN
schüttelt den Kopf.
POLIZIST
Wir bleiben dann für immer zusammen! Das Wort!
MÄDCHEN
beharrlich auf den Himmel schauend Ich seh schon Wolken.
POLIZIST
Bevor sie über uns sind!
MÄDCHEN
zu den erstarrenden Hunden Wir gehen jetzt.
POLIZIST
Marie!
MÄDCHEN
Ich will auf keine Säulen.
DER KLEINE IM PARK
Du hast kalte Hände, Marie!
MÄDCHEN
Es wird bald zum Eislaufen Zeit.
Der Prophet Elias fährt in einem roten Wagen am Himmel über ihnen vorbei.
STUDENT
betritt den Dachboden, schließt hinter sich ab und geht auf den Bücherkorb hinter dem Holzpfeiler zu. Er beugt sich darüber und beginnt zu suchen.
ZWERG
Immer fleißig?
STUDENT
zerstreut Ja. Bemerkt erst jetzt den Zwerg, der in einer grünen hohen Mütze auf der Kiste steht und durch die Luke halb über die Stadt schaut Was suchen Sie hier?
ZWERG
Nichts. Ich schaue über die Stadt. Zur grünen Kuppel des Schlosses hinüber. Deutet auf seine Mütze Ich ziehe Vergleiche zwischen grün und grün. Das nimmt kein Ende. Um so mehr als diese Gegend auch noch von Gärten überzogen ist.
STUDENT
über seinen Korb gebeugt, antwortet nicht.
ZWERG
Immer zwischen drei und vier. Das gibt meinen Tagen Rhythmus. Das bringt mich zur Überzeugung, daß ich immer hier stehe. Und Sie?
STUDENT
Ich suche Skripten.
ZWERG
Auch immer zwischen drei und vier?
STUDENT
Wann ich sie brauche.
ZWERG
Und wann brauchen Sie sie?
STUDENT
Wenn ich sie unten nicht finde. Ich studiere Schiffsbau.
ZWERG
Um welche Zeit?
STUDENT
Immer.
ZWERG
Zu keiner Stunde?
STUDENT
Zu allen.
ZWERG
Schade. Wir träfen uns sonst öfter hier heroben.
STUDENT
Da käme ich nicht weit.
ZWERG
Wie weit wollen Sie kommen?
STUDENT
So weit als möglich. Auf ein Schiff –
ZWERG
Ich sehe hier öfter welche auf dem Fluß vorbeigleiten, wenn ich das Grün der Auen mit dem meiner Mütze vergleiche – ich könnte Sie empfehlen.
STUDENT
Ich muß erst fertig werden. Ich will auch weiter.
ZWERG
Ich vergleiche auch das Grün des Horizonts mit dem meiner Mütze. Ich hätte auch da Verbindungen.
STUDENT
Ich muß erst –
ZWERG
Sie haben heute eine Prüfung bestanden.
STUDENT
Ja. Woher wissen Sies?
ZWERG
Als ich das Grün der Patina, mit dem das Dach der Technik sich immer mehr zu überziehen beginnt, mit dem meiner Mütze verglich, bekamen Sie gerade Ihre Auszeichnung.
STUDENT
Es war die vorletzte Prüfung. Erst nach der letzten –
ZWERG
Wenn Sie sich dann an mich wenden wollen.
STUDENT
Ich habe schon verschiedene Aussichten.
ZWERG
Ich empfehle Sie gerne.
STUDENT
Zuerst fahre ich in meine Heimat. Dort werde ich heiraten. Und dann –
ZWERG
Ich bin immer zwischen drei und vier Uhr hier!
STUDENT
Ich habe Aussichten in Deutschland und Amerika. Die Frage ist nur –
ZWERG
Immer zwischen drei und vier.
STUDENT
Die Frage ist –
ZWERG
Und ich kann mich für Sie verwenden, wo immer es Schattierungen von Grün gibt. Die sind auf Schiffen auch nicht selten.
STUDENT
Auf neuen wohl.
ZWERG
Die See hat viel davon.
STUDENT
Ich werde nicht an der See bauen, sondern an Booten.
ZWERG
Die Flüsse!
STUDENT
Flußschiffe kommen nicht in Frage.
ZWERG
Ich möchte gerne alle meine Verbindungen zu Grün für Sie spielen lassen!
STUDENT
richtet sich auf und streift sein Haar zurück Hier ist mein Skriptum.
ZWERG
Sie haben keine Ahnung, wieviel es davon auf der Welt gibt, nicht nur das Grün der Dächer und der Gärten, auch das des Tangs, der Algen, des Meeresgrundes, ablesbar in Vergleichen –
STUDENT
Ich muß jetzt gehen!
ZWERG
Ich könnte es Ihnen beweisen, nur an meiner Mütze, an dem Turm der polnischen Kirche, an diesem Zwiebelturm – oder an dem Grün der Wipfel um das Waffenarsenal –
STUDENT
im Gehen Leider –
ZWERG
Wenn Sie nur hie und da zu mir heraufkämen –
STUDENT
Es ist mein letztes Semester.
ZWERG
Nur zwischen drei und vier –
STUDENT
Da habe ich meine Vorlesungen oder Laboratoriumsübungen. Und wenn ich frei habe, so muß ich mich zur letzten Prüfung vorbereiten und meinen Schiffsquerschnitt zu Ende zeichnen.
ZWERG
Oder am letzten Tag, am Tag nach Ihrer letzten Prüfung! Zwischen drei und vier.
STUDENT
Da packe ich meine Koffer.
ZWERG
Es wird ein dunstiger Tag sein, die Augen grau, die Zwiebel gelb, die Dächer schwarz. Sie haben überall Auszeichnung.
STUDENT
Gott soll es geben!
ZWERG
Von Ihren Freunden haben Sie schon Abschied genommen.
STUDENT
Dann fahre ich zur Bahn!
ZWERG
Es bleibt noch eine Stunde, eine gute Stunde. Sie erinnern sich, daß hier oben noch ein Korb mit Büchern steht. Vielleicht, daß Sie das eine oder andere noch brauchen könnten? Sie öffnen die Bodentüre. Sie gehen zum Bücherkorb, Sie beugen sich darüber und suchen, nein, Sie brauchen kein Buch mehr, alles liegt weit zurück. Sie richten sich auf –
STUDENT
ungeduldig, mit dem Skriptum in der Hand Und?
ZWERG
Sie sehen zur Dachluke herüber – Sie seufzen –
STUDENT
in der offenen Tür Seufzen werde ich nicht!
ZWERG
Ich versichere Sie! Sie seufzen. Und dann –
STUDENT
Ich gehe jetzt!
ZWERG
Dann empfehle ich Sie an das Grün der See.
Die Bodentür schlägt zu.
ZWERG
kichert und schaut weiter durch die Dachluke über die Stadt.
DER KOMIKER AUF DER PLATTE
Bald schmeckts ma, bald schmeckts ma net – bald –
1. MÄDCHEN
Enten!
2. MÄDCHEN
Das ist gut! Man erkennt sie.
3. MÄDCHEN
Wenn es nicht Möwen sind.
2. MÄDCHEN
Möwen!
1. MÄDCHEN
Weil du sie nie gehört hast!
2. MÄDCHEN
Da gibt es Flußmöwen, Seemöwen –
1. MÄDCHEN
Dies hier sind Enten.
3. MÄDCHEN
Die Platte habt ihr schon lange.
1. MÄDCHEN
Mein Vater und meine Mutter brachten sie voriges Jahr zu Ostern mit.
2. MÄDCHEN
Karfreitags!
3. MÄDCHEN
Wir waren auch gerade bei dir.
2. MÄDCHEN
Erinnerst du dich?
1. MÄDCHEN
Vielleicht, daß mein Vater und meine Mutter in diesem Jahr wieder eine Platte bringen.
2. MÄDCHEN
Tauben!
1. MÄDCHEN
Und nächstes Jahr wieder.
3. MÄDCHEN
Möwen!
2. MÄDCHEN
Immer eine komische Platte mit Tieren.
3. MÄDCHEN
Wenn du hundert Jahre alt bist, hast du genügend Auswahl. Da kommt dein Vater, denn deine Mutter ist schon tot, dein Vater kommt über den Flur –