Eddie Jaku
Der glücklichste Mensch
der Welt
Ein hundertjähriger
Holocaust-Überlebender erzählt,
warum Liebe und Hoffnung stärker sind
als der Hass
Deutsch von Ulrike Strerath-Bolz
Knaur e-books
Eddie Jaku, vor über hundert Jahren in Leipzig geboren, wurde 1938 als Jude nach Buchenwald und später Auschwitz deportiert. Während seine Eltern ermordet wurden, überlebte er den Holocaust. In den 1950er Jahren wanderte er nach Australien aus, wo er bis heute im Kreise seiner Familie lebt.
Die australische Originalausgabe erschien 2020 unter dem Titel
»The Happiest Man on Earth« bei Pan Macmillan Australia.
Knaur eBook
© Eddie Jaku 2020
© 2021 der deutschsprachigen Ausgabe Knaur eBook
Ein Imprint der Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit
Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.
Redaktion: Christiane Bernhardt
Covergestaltung: Isabella Materne
nach der Originalausgabe von Laura Thomas
Coverabbildung: Thomas Bauer
ISBN 978-3-426-46224-9
Den künftigen Generationen gewidmet
Geh nicht hinter mir, vielleicht führe ich nicht.
Geh nicht vor mir, vielleicht folge ich nicht.
Geh einfach neben mir und sei mein Freund.
Anonym
Mein lieber neuer Freund, meine liebe neue Freundin,
ich lebe jetzt schon ein Jahrhundert lang und weiß, was es heißt, dem Bösen ins Antlitz zu blicken. Ich habe die größten Übel der Menschheit gesehen, das Grauen der Todeslager, den Versuch der Nazis, mein Leben und mein ganzes Volk auszulöschen.
Doch heute betrachte ich mich als den glücklichsten Menschen der Welt.
In all meinen Jahren habe ich gelernt: Das Leben kann schön sein, wenn wir es schön machen.
Ich will dir meine Geschichte erzählen. Es ist eine in Teilen traurige Geschichte mit großer Finsternis und großem Kummer. Aber am Ende ist es doch eine glückliche Geschichte, weil Glück etwas ist, wofür wir uns entscheiden können. Es liegt an dir.
Ich werde dir zeigen, wie es geht.
Ich wurde im Jahr 1920 geboren, in einer Stadt namens Leipzig im Osten Deutschlands. Mein Name war Abraham Salomon Jakubowicz, aber meine Freunde nannten mich kurz Adi. Im Englischen wurde später Eddie daraus. Du darfst mich also gern Eddie nennen.
Wir waren eine liebevolle Familie. Eine große Familie. Mein Vater Isidor hatte noch vier Brüder und drei Schwestern, und meine Mutter Lina war eins von dreizehn Kindern. Stell dir nur vor, was für eine starke Frau meine Großmutter gewesen sein muss, die so viele Kinder großzog! Einen Sohn hatte sie im Ersten Weltkrieg verloren – ein Jude, der sein Leben für Deutschland opferte. Und auch ihr Mann, mein Großvater, kam nicht aus dem Krieg zurück. Er war Militärgeistlicher gewesen.
Mein Vater war ein ausgesprochen stolzer deutscher Staatsbürger. Er war aus Polen gekommen und hatte sich in Deutschland niedergelassen. Damals war er Feinmechanikerlehrling bei der Schreibmaschinenfirma Remington gewesen. Weil er gut Deutsch sprach, bekam er eine Stelle auf einem deutschen Handelsschiff und fuhr bis nach Amerika.
Dort ging es ihm wirtschaftlich sehr gut, doch er vermisste seine Familie und beschloss, zurück nach Europa zu reisen, um sie zu besuchen. So fuhr er mit einem anderen Handelsschiff wieder über den Ozean – und geriet in den Ersten Weltkrieg. Da er mit polnischem Pass reiste, wurde er als feindlicher Ausländer von den Deutschen interniert. Doch als man in der Haft feststellte, dass er ein qualifizierter Mechaniker war, wurde er entlassen und in einer Fabrik in Leipzig angestellt, in der schwere Kriegswaffen gebaut wurden.
In dieser Zeit verliebte er sich in meine Mutter Lina und in Deutschland, sodass er nach dem Ende des Krieges dort blieb. Er gründete eine Fabrik in Leipzig, heiratete meine Mutter, und kurz darauf wurde ich geboren. Zwei Jahre später konnten wir meine kleine Schwester Johanna auf dieser Welt willkommen heißen. Wir nannten sie Henni.
Nichts konnte den Patriotismus meines Vaters und seinen Stolz auf Deutschland erschüttern. Wir betrachteten uns in erster Linie als Deutsche, dann noch einmal als Deutsche und erst dann als Juden. Unsere Religion war uns nicht so wichtig, wir wollten vor allem gute Leipziger Bürger sein. Wir hielten uns an unsere Traditionen und Feiertage, aber unsere Treue und Liebe gehörten Deutschland. Ich war stolz auf meine Heimatstadt Leipzig, die seit achthundert Jahren ein Zentrum der Kunst und Kultur war. Die Stadt beherbergte eines der ältesten Symphonieorchester der Welt, hatte Johann Sebastian Bach, Clara Schumann, Felix Mendelssohn und viele andere inspiriert: Schriftsteller, Dichter und Philosophen wie Goethe, Leibniz und Nietzsche.
Seit Jahrhunderten waren die Juden aus der Leipziger Stadtgesellschaft nicht wegzudenken. Schon seit dem Mittelalter fand der große Wochenmarkt am Freitag statt, damit die jüdischen Händler daran teilnehmen konnten. Wir dürfen ja am Samstag, dem jüdischen Sabbat, nicht arbeiten. Bekannte jüdische Bürger und Wohltäter trugen zum Gemeinwohl bei, ebenso die jüdische Gemeinde, die einige der schönsten Synagogen Europas errichten ließ.
Es war ein harmonisches Leben. Und ein sehr gutes Leben für ein Kind. Der Zoo, weltberühmt für seine Sammlungen und seine einzigartigen Zuchterfolge bei Löwen, lag nur fünf Minuten zu Fuß von unserem Haus entfernt. Kannst du dir vorstellen, wie aufregend das für einen kleinen Jungen war? Zwei Mal im Jahr gab es eine riesige Handelsmesse, die ich mit meinem Vater besuchte. Diese Messe hatte Leipzig zu einer der kultiviertesten und reichsten Städte in Europa gemacht. Die Lage und die Bedeutung als Handelsstadt sorgten dafür, dass sich von hier aus neue Technologien und Ideen verbreiteten. Außerdem beherbergte die Stadt die zweitälteste Universität Deutschlands, die 1409 gegründet worden war. 1650 war in Leipzig die erste Tageszeitung der Welt erschienen. Es war eine Stadt der Bücher, der Musik, der Oper. Als Junge war ich fest davon überzeugt, ich sei Teil der aufgeklärtesten, kultiviertesten und höchstentwickelten, auf jeden Fall aber der gebildetsten Gesellschaft der Welt. Was für ein Irrtum!
Ich war zwar nicht sehr religiös, aber wir gingen regelmäßig in die Synagoge. Meiner Mutter zuliebe hielten wir auch die Speisegebote ein. Sie wollte gern so traditionell wie möglich leben, um ihrer eigenen Mutter einen Gefallen zu tun, meiner Großmutter, die bei uns lebte und sehr religiös war. Am Freitagabend trafen wir uns immer zum Schabbes-Essen, beteten und aßen die traditionellen Speisen, die meine Großmutter liebevoll für uns zubereitete. Sie kochte auf dem riesigen Holzofen, der auch das ganze Haus heizte. Ein geniales Netz von Rohrleitungen durchzog unser Haus, sodass kein bisschen Wärme verschwendet wurde und der Rauch sicher nach draußen gelangte. Wenn wir durchgefroren von draußen hereinkamen, saßen wir auf Kissen an diesem Herd, um uns aufzuwärmen. Ich hatte einen Hund, eine kleine Dackelhündin namens Lulu, die sich an kalten Abenden auf meinem Schoß zusammenrollte. Ich liebte diese Abende!
Mein Vater arbeitete schwer, um für uns zu sorgen, und es fehlte uns an nichts. Dennoch ließ er uns immer wieder wissen, dass es um mehr geht im Leben als um materiellen Besitz. Jeden Freitag buk unsere Mutter drei oder vier Laibe Challah fürs Abendessen, das besondere, köstliche Feiertagsbrot mit Eiern und Weizenmehl, das wir nur zu besonderen Gelegenheiten bekamen. Als ich sechs Jahre alt war, fragte ich meinen Vater, warum sie so viele Brote buk, obwohl wir doch nur vier Personen waren, und er erklärte mir, die übrigen Brote würde er in die Synagoge bringen, wo sie an bedürftige Juden verteilt wurden. Er liebte seine Familie und seine Freunde. Ständig brachte er Freunde mit zum Abendessen. Meine Mutter protestierte immer wieder und sagte, mehr als fünf dürften es aber nicht sein, sonst würden wir nicht mehr alle um den Tisch passen.
»Wenn du das Glück hast, genug Geld und ein schönes Haus zu besitzen, kannst du es dir auch leisten, anderen zu helfen, die nicht so glücklich sind«, sagte er immer wieder zu mir. »Darum geht es im Leben, dein Glück mit anderen zu teilen.« Er betonte oft, dass im Geben viel mehr Freude läge als im Nehmen und dass die wichtigen Dinge im Leben – Freunde, Familie, Freundlichkeit – viel kostbarer seien als Geld. »Der Wert eines Mannes bemisst sich nicht nach seinem Bankkonto.« Damals hielt ich ihn für ziemlich verrückt, aber heute, nach allem, was ich erlebt habe, weiß ich, er hatte recht.
Eddie (vorne rechts) im Kreise seiner Familie, 1932. Als einziger der hier Fotografierten überlebte er den Holocaust.
Doch unser Familienglück war von dunklen Wolken überschattet. Deutschland erlebte unruhige Zeiten. Der Erste Weltkrieg war verloren, die Wirtschaft lag am Boden. Die Siegermächte verlangten höhere Reparationszahlungen, als Deutschland jemals aufbringen konnte, und darunter litt das gesamte Volk von damals achtundsechzig Millionen Menschen. Lebensmittel und Brennmaterial waren knapp, und überall herrschte Armut, was die stolzen Deutschen empfindlich zu spüren bekamen.
Wir lebten als Mittelschichtfamilie zwar recht angenehm, doch selbst wenn man genug Geld hatte, waren manche Notwendigkeiten einfach nicht zu bekommen. Meine Mutter legte weite Wege zurück, um auf dem Schwarzmarkt Handtaschen und Kleidung aus besseren Tagen gegen Eier, Milch, Butter oder Brot einzutauschen.
Als mein Vater kurz vor meinem dreizehnten Geburtstag wissen wollte, was ich mir wünschte, bat ich ihn um sechs Eier, einen Laib Weißbrot – das schwer zu bekommen war, weil die Deutschen meistens Roggenbrot aßen – und eine Ananas. Etwas Beeindruckenderes als sechs Eier konnte ich mir nicht vorstellen, und eine Ananas hatte ich noch nie gesehen. Tatsächlich trieb er eine auf.
Ich habe keine Ahnung, wie er das gemacht hat, aber so war mein Vater. Er machte das Unmögliche möglich, nur um mir eine Freude zu bereiten. Ich war so aufgeregt, dass ich an meinem Geburtstag alles sechs Eier und die Ananas auf einen Sitz verdrückte. So viel Reichhaltiges auf einmal hatte ich noch nie gegessen. Meine Mutter warnte mich und sagte, ich solle nicht so schlingen. Ob ich auf sie gehört habe? Natürlich nicht!
Besonders schlimm war die Inflation, die es unmöglich machte, länger haltbare Lebensmittel auf Vorrat zu kaufen oder Zukunftspläne zu machen. Wenn mein Vater abends nach Hause kam, hatte er einen Koffer mit Geld bei sich, das schon am nächsten Morgen nichts mehr wert sein würde. Er schickte mich damit zum Laden und sagte: »Kauf, was du kriegen kannst. Wenn sechs Brote da sind, kauf sie alle. Morgen gibt es nichts mehr dafür.« Selbst für wohlhabende Familien war es ein schwieriges Leben, und die Deutschen fühlten sich gedemütigt und waren sehr zornig. Viele waren so verzweifelt, dass sie jedem glaubten, der ihnen eine Lösung versprach. Die Nationalsozialisten und Hitler taten genau das: Sie versprachen den Deutschen eine Lösung ihrer Probleme. Und sie präsentierten den Menschen ein Feindbild.
Als Hitler 1933 an die Macht kam, segelte er auf einer Welle des Antisemitismus. Ich wurde gerade dreizehn Jahre alt und hätte meine Bar-Mizwa feiern sollen, die uralte religiöse Zeremonie, die den Übergang zum Erwachsenenalter markiert. Auf die Bar-Mizwa, was so viel bedeutet wie »Sohn des Gebots«, folgt normalerweise ein rauschendes Fest mit köstlichem Essen und Tanz. Zu anderen Zeiten hätten wir in der großen Leipziger Synagoge gefeiert, aber unter der Herrschaft der Nazis war uns das verboten. Stattdessen fand meine Bar-Mizwa in einer kleinen Synagoge dreihundert Meter die Straße hinunter statt. Der Rabbi unserer »Shul« (ein anderer Name für Synagoge, was wörtlich »Haus der Bücher« bedeutet) war ein kluger Mann. Er hatte die Wohnung unter der Synagoge an einen Nichtjuden vermietet, dessen Sohn in der SS war. Bei antisemitischen Angriffen sorgte dieser Sohn immer dafür, dass die Wohnung geschützt wurde, und so blieb auch die Shul verschont. Hätten sie die Shul zerstören wollen, hätten sie auch die Wohnung des Mieters angreifen müssen.
Dort fand nun also die religiöse Zeremonie statt, Kerzen wurden angezündet, wir beteten für meine Familie und alle Verstorbenen. Danach galt ich nach jüdischer Tradition als erwachsener Mann und war verantwortlich für mein Tun. Also fing ich an, über meine Zukunft nachzudenken.
Als kleiner Junge hatte ich Arzt werden wollen, aber tatsächlich war ich dafür nicht begabt. Es gab Einrichtungen, in denen Schüler getestet wurden, um ihre Fähigkeiten auszuloten – mit einer Reihe von Gedächtnisaufgaben und Tests zur manuellen Geschicklichkeit. Daraus ergab sich, dass ich eher optisch und mathematisch begabt war. Ich hatte sehr gute Augen, und meine Hand-Auge-Koordination war hervorragend. Also fand man, ich würde einen guten Ingenieur abgeben, und so beschloss ich, ein technisches Fach zu studieren.
Zu dieser Zeit besuchte ich eine sehr gute Schule in einem schönen Gebäude, die 32. Volksschule. Sie lag einen Kilometer von unserem Haus entfernt, mein Schulweg dauerte etwa eine Viertelstunde. Im Winter ging es freilich viel schneller. In Leipzig kann es sehr kalt werden, der Fluss war mehrere Monate im Jahr zugefroren. Dann konnte ich auf Schlittschuhen laufen und brauchte nur fünf Minuten bis zur Schule.
1933 beendete ich die Volksschule und sollte aufs Gymnasium wechseln. Wäre die Geschichte anders verlaufen, dann hätte ich dort bis zum Alter von achtzehn Jahren gelernt. Aber es sollte nicht sein.
Eines Tages sagte man mir, als ich morgens die Schule betrat, ich könne nicht länger am Unterricht teilnehmen. Weil ich Jude war, warf man mich hinaus. Mein Vater, ein echter Dickschädel und ein Mann mit guten Verbindungen, konnte das unmöglich akzeptieren. Und so dachte er sich bald schon einen neuen Plan aus, damit ich meine Bildung weiter ausbauen konnte.
»Keine Bange«, sagte er zu mir. »Du wirst weiterlernen, dafür sorge ich.«
Ich bekam falsche Papiere und wurde mithilfe eines Freundes unserer Familie bei Jetter und Scheerer untergebracht, einem Unternehmen, das im schwäbischen Tuttlingen, weit weg von zu Hause, chirurgische Instrumente fertigte. Zu dieser Zeit war die Stadt an der Donau ein Epizentrum der Feinmechanik, das die ganze Welt mit Präzisionswerkzeugen versorgte. Alle möglichen unglaublichen Maschinen wurden hier hergestellt, komplizierte Medizintechnik und auch Industriemaschinen. Ich erinnere mich an eine Maschine, in die am einen Ende ein Hähnchen auf einem Förderband hineinkam und am anderen Ende gerupft, gewaschen und verpackt wieder heraus. Unglaublich! Und ich sollte lernen, wie man solche Maschinen baut, bei den besten Ingenieuren der Welt. Um an der dortigen Schule aufgenommen zu werden, musste ich eine ganze Reihe von Prüfungen bestehen. Ich war so nervös, dass ich mir ständig den Schweiß von der Stirn wischen musste, damit er nicht das Schreibpapier verdarb. Ich hatte große Sorge, ich könnte meinen Vater enttäuschen.
Doch ich bestand die Aufnahmeprüfung und wurde unter dem falschen Namen Walter Schleif eingeschrieben. Meine neue Identität war die eines nichtjüdischen deutschen Waisenknaben, der von Hitler weniger zu befürchten hatte. Walter Schleif existierte wirklich, war aber spurlos verschwunden. Vermutlich hatte seine Familie angesichts der Machtergreifung der Nazis in aller Stille Deutschland verlassen. Mein Vater hatte die Papiere des Jungen gekauft und so perfekt bearbeitet, dass die Fälschungen selbst die deutschen Behörden täuschten. Deutsche Personalausweise enthielten damals winzige Fotos, die so ins Papier eingeschlossen waren, dass man sie nur mit einer speziellen Infrarotlampe sehen konnte. Es war also ziemlich schwierig, so einen Ausweis zu fälschen, doch mein Vater, der ja mit Schreibmaschinen zu tun hatte, besaß Zugang zu den richtigen Werkzeugen und dem nötigen Know-how.
Mit den neuen Dokumenten konnte ich ein neues Leben beginnen und meinen Platz in der Schule einnehmen, wo ich zum Feinmechaniker ausgebildet wurde. Die Zugreise von Leipzig nach Tuttlingen dauerte neun Stunden. Ich würde dort für mich selbst sorgen müssen, für meine Kleidung und meine Ausbildung, und musste vor allem um jeden Preis mein Geheimnis bewahren. Ich besuchte jeden Tag die Schule und schlief in einem nahe gelegenen Waisenhaus, in einem Schlafsaal zusammen mit wesentlich älteren Jungen. Als Lohn für meine Arbeit im Rahmen meiner Ausbildung bekam ich ein kleines Gehalt, mit dem ich Kleidung und andere Notwendigkeiten kaufen konnte.
Mein Leben als Walter Schleif war sehr einsam. Ich konnte ja keinem sagen, wer ich wirklich war, konnte mich niemandem anvertrauen – wenn ich das getan hätte, wäre meine jüdische Herkunft ans Licht gekommen und ich hätte mich in große Gefahr gebracht. In den Toiletten und Duschen musste ich besonders vorsichtig sein, denn wenn einer der anderen bemerkt hätte, dass ich beschnitten war, wäre die Sache sofort aufgeflogen.
Mit meinen Lieben zu Hause hatte ich wenig Kontakt. Briefe waren zu gefährlich, und um zu telefonieren, musste ich den Münzapparat im Keller eines Kaufhauses benutzen, wobei ich einen verschlungenen Weg dorthin nahm, damit mir niemand folgte. Wenn ich, was selten genug vorkam, mit meiner Familie sprechen konnte, brach es mir jedes Mal das Herz. Ich finde gar keine Worte für meinen Schmerz als Junge, der so weit von zu Hause leben musste, aber es schien die einzige Möglichkeit zu sein, eine Ausbildung zu bekommen und mir die Zukunft zu sichern, die sich mein Vater für mich wünschte. Ja, es war schwer, so weit von meiner Familie entfernt zu leben, aber es wäre noch viel schlimmer gewesen, sie zu enttäuschen.
Wenn ich meinem Vater sagte, wie einsam ich mich ohne meine Familie fühlte, drängte er mich, stark zu bleiben. »Eddie, ich weiß, es ist schwer, aber du wirst mir eines Tages dankbar sein«, sagte er immer wieder. Viel später erfuhr ich, dass er bei aller Strenge, die er im Gespräch mit mir an den Tag legte, jedes Mal weinte wie ein kleines Kind, wenn er den Telefonhörer auflegte. Er spielte den Starken, um mich stark zu machen. Und er hatte recht. Ohne das, was ich auf dieser Schule lernte, hätte ich später nicht überlebt.
Fünf Jahre vergingen. Fünf Jahre voller Arbeit und Einsamkeit.
Ich weiß nicht, ob ich richtig erklären kann, wie es sich anfühlt, wenn man im Alter von dreizehneinhalb bis achtzehn Jahren ständig seine Identität verschleiern muss. Es ist eine schreckliche Last, ein solches Geheimnis über einen derart langen Zeitraum zu bewahren. Es gab keine Minute, in der ich meine Familie nicht vermisste, aber ich verstand, wie wichtig meine Ausbildung war, und biss mich durch. Es war ein furchtbares Opfer, so lange Zeit ohne meine Familie zu sein, doch die Ausbildung war wirklich ein großer Gewinn.
Im letzten Ausbildungsjahr arbeitete ich in einer Firma, die erstklassige Röntgengeräte baute. Zusätzlich zu der technischen und theoretischen Seite meiner Ausbildung ging es auch darum, zu zeigen, dass ich in der Lage war, gut und hart in meinem neuen Beruf zu arbeiten. Also arbeitete ich den ganzen Tag und nahm abends am Unterricht teil. Nur am Mittwoch hatte ich frei und konnte mich ganz der Theorie widmen.
Trotz der großen Einsamkeit liebte ich meine Ausbildung. Die Meister, bei denen ich lernte, gehörten zu den fähigsten Köpfen weltweit. Sie konnten mit ihren Werkzeugen praktisch alles herstellen, vom kleinsten Zahnrädchen bis zu riesigen Maschinen auf dem neuesten technologischen Stand. Für mich kam das alles einem Wunder gleich. Deutschland stand an der Spitze einer technologischen und industriellen Revolution, die die Lebensqualität von Millionen Menschen besser machen sollte, und ich war ganz vorn mit dabei.
1938, kurz nach meinem achtzehnten Geburtstag, legte ich meine letzten Prüfungen ab und wurde zum Jahrgangsbesten erkoren. Damit ging die Einladung einher, mich der Gewerkschaft anzuschließen. Die damaligen Gewerkschaften in Deutschland waren mit den heutigen nicht zu vergleichen. Sie hatten weniger mit Verhandlungen über Arbeitsbedingungen und Löhne zu tun, sondern waren eher so etwas wie Standesvereinigungen. Man wurde damals auch nur dann aufgenommen, wenn man richtig gut in seinem Beruf war und zu den absoluten Spitzenkräften gehörte. Dort versammelten sich die besten Köpfe auf einem beruflichen Gebiet, die zusammen daran arbeiteten, Wissenschaft und Industrie voranzubringen. Klassen- und Glaubenszugehörigkeit spielten keine Rolle, es ging um das Prestige der eigenen Arbeit. Es war eine große Ehre, dass man mich in so jungen Jahren einlud, dort Mitglied zu werden.
Bei der Aufnahmefeier wurde ich vor der Versammlung aufgerufen, die Empfehlung des Meisters der Feinmechanikergewerkschaft anzunehmen. Er trug die traditionelle blaue Robe mit einem aufwendigen Spitzenkragen.
»Heute nehmen wir den Lehrling Walter Schleif in eine der besten Gewerkschaften Deutschlands auf«, sagte er. Und in diesem Moment brach ich in Tränen aus.
Der Meister rüttelte mich an der Schulter. »Was ist denn?«, fragte er. »Heute ist einer der schönsten Tage deines Lebens! Du solltest stolz darauf sein!«