Sex and Crime

Thomas Fischer

Sex and Crime

Über Intimität, Moral und Strafe

Knaur e-books

Inhaltsübersicht

Über Thomas Fischer

Thomas Fischer, Jahrgang 1953, war bis April 2017 Vorsitzender Richter am Bundesgerichtshof in Karlsruhe. Sein jährlicher Kommentar zum Strafgesetzbuch gilt als die Bibel des Strafrechts. Mit seiner ZEIT-ONLINE-Kolumne wurde er einer breiten Öffentlichkeit bekannt, seit 2019 schreibt er wöchentlich die Kolumne »Recht haben« für den SPIEGEL, zudem ist er Experte des True-Crime-Podcasts des SWR.

Impressum

© 2021 Droemer eBook

Ein Imprint der Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit
Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

Covergestaltung: hißmann, heilmann, hamburg

ISBN 978-3-426-46068-9

Endnoten

Liu Dalin, »Die heutige Situation der Sexualforschung in China«, in: Gindorf/Haeberle (Hrsg.), Sexualwissenschaft und Sexualpolitik. Spannungsverhältnisse in Europa, Amerika und Asien, Berlin / New York 1992, S. 395–396.

Claude Lévi-Strauss, Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft, Frankfurt 1981 (1948), S. 653 f.

Siehe dazu allgemein Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, Tübingen 1972 (1922), Kap. III, §§ 10, 11.

Sigmund Freud, Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie, Leipzig [u. a] 1905.

Michel Foucault, Der Wille zum Wissen (Sexualität und Wahrheit, Bd. 1), Berlin 1987.

Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, Tübingen 1980 (1922), S. 245.

Ausführlich und erhellend dazu Carel von Schaik/Kai Michel, Das Tagebuch der Menschheit. Was die Bibel über unsere Evolution verrät, Reinbek 2017.

Bundestags-Drucksache 19/23707.

Bundestags-Drucksache 19/23707, S. 20.

Constantin van Lijnden, »Alle wegsperren!«, FAZ-Einspruch, 3.11.2020.

Aktenzeichen: 4 SS 58/20.

Offizieller Titel: Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt vom 11.5.2011.

Bundestags-Drucksache 18/8210.

Bundestags-Drucksache 18/9097.

Aktenzeichen: 33 KLs 1105 Js 5120/17.

Beschluss vom 21.11.2018, Aktenzeichen: 1 StR 290/18.

BGH, Urteil vom 25.1.2006, Aktenzeichen: 2 StR 345/05.

BGH, Urteil vom 2.7.2020, Aktenzeichen: 4 StR 678/19.

BGH, Urteil vom 26.7.1961, Aktenzeichen: 2 StR 204/60.

BGH, Urteil vom 25.10.2000, Aktenzeichen: 2 StR 242/00.

BGH, Beschluss vom 29.9.2009, Aktenzeichen: 1 StR 426/09, abgedruckt u. a. in Neue Zeitschrift für Strafrecht (NStZ) 2012, S. 212.

Monika Becker-Fischer/Gottfried Fischer, Sexueller Mißbrauch in der Psychotherapie – was tun? Orientierungshilfen für Therapeuten und interessierte Patienten, Heidelberg 1996.

Häufig mit dem lateinischen Wortlaut »In dubio pro reo« zitiert, obwohl er nicht aus dem römischen Recht stammt. Im deutschen Strafprozessrecht und auch in der Verfassung (Grundgesetz) findet sich dieser Grundsatz im ausdrücklichen Wortlaut nicht. Er steht aber in Art. 6 Abs. 2 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK): »Jede Person, die einer Straftat angeklagt ist, gilt bis zum gesetzlichen Beweis ihrer Schuld als unschuldig.« Als allgemeiner menschenrechtlicher Grundsatz eines fairen rechtsstaatlichen Verfahrens hat er allgemeine Geltung. Dass Beschuldigte als unschuldig »gelten«, bedeutet, dass sie vom Recht (Staat) nicht so behandelt werden dürfen, als seien sie schuldig.

BGH, Urteil vom 22.7.1969, 1 StR 456/68, BGHSt 23, 40 (»Fanny-Hill-Fall«).

BGH, Urteil vom 21.6.1990, 1 StR 477/89, BGHSt 37, 55 (»Opus-Pistorum-Fall«).

BGH, Urteil vom 11.2.2014, 1 StR 485/13, BGHSt 59, S. 177.

Entwurf eines Gesetzes zur Bekämpfung sexualisierter Gewalt gegen Kinder (Bundestags-Drucksache 19/24901; dazu auch Bundesrat in Bundesrats-Drucksache 634/20).

BGH, Beschluss vom 23.3.2017, 3 StR 260/16, BGHSt 62, S. 96.

Siehe dazu BGH, Urteil vom 22.4.2005, 2 StR 310/04, BGHSt 50, S. 80 (»Kannibale von Rotenburg«).

Für Yasmine

Vorwort

 

Populäre Darstellungen einzelner Rechtsgebiete, anschauliche Schilderungen von Rechtsfällen, insbesondere von Kriminalfällen, sowie Ratgeber jeder Art für die Orientierung im Dschungel des Rechts gibt es viele. Warum also ein Buch über »Sex and Crime«? Der Titel ironisiert ein wenig jene dokumentarische und fiktionale Literatur, in der diese beiden Ingredienzien als Spannungsgaranten schlechthin gelten. Der Untertitel »Über Intimität, Moral und Strafe« lässt aus dem Luftballon von »Sex and Crime« aber die Luft ein wenig heraus. So geht es in diesem Buch gerade nicht um das Spektakuläre der Form, der Abseitigkeit oder des Grusels, auch nicht um die Reize der Erotik und der Geschlechtlichkeit als solche. Andererseits muss eine populäre Darstellung über den Zusammenhang von sexuellem Verhalten und Verbrechen natürlich da ansetzen, wo die Leser sind, und dieser Ort sind nicht wissenschaftliche Abstraktionen der juristischen Dogmatik oder feinste Abgrenzungen in höchstrichterlichen Entscheidungen, sondern die Fälle des Alltags, die eigenen Ängste, Beurteilungen und Fragen.

Eine Fülle von Themen aus dem Bereich von Sexualität und Strafrecht steht fast ständig im Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit. Nicht erst die MeToo-Debatte seit 2017 hat die Frage aufgeworfen, ob die Zahl der Angriffe auf die sexuelle Selbstbestimmung in Deutschland tatsächlich höher oder ob vielleicht nur die Aufmerksamkeit für sie größer geworden ist. Stimmt es, dass die statistischen Zahlen der Sexualdelikte zurückgehen, oder treffen die Meldungen zu, dass in manchen Kriminalitätsbereichen die Dunkelziffern besonders hoch sind oder gar steigen? Trifft der Eindruck zu, dass die Verbreitung kinderpornografischer Inhalte, insbesondere im Internet, immer mehr zunimmt? Gibt es mehr, kriminellere oder skrupellosere Banden von Tätern sexuellen Kindesmissbrauchs, wie es die Aufdeckung spektakulärer Fälle der letzten Jahre nahelegen könnte? Steigt die Zahl der sexuell motivierten Übergriffe im öffentlichen Raum? Sind Vorkommnisse wie die Kölner Silvesternacht 2015 an der Tagesordnung, haben sie zugenommen, oder sind sie eher ein mediales als ein tatsächliches Phänomen? Und anders, sind die Alarmmeldungen und Befürchtungen, die uns fast täglich erreichen, übertrieben und am Ende gar Ausdruck einer fast hysterischen Stimmungsmache, sind sie das Produkt einer überdrehten Sensationsmedienbranche? Ist das Leben wirklich so gefährlich geworden, wie in zahllosen Alarmberichten und Schockgeschichten behauptet wird?

Den Fragen nach den Straftaten schließen sich die Fragen nach der Strafverfolgung an. Stimmt es, dass Polizei und Justiz einer Flut von immer schwereren Sexualdelikten nicht Herr werden? Sind die Tatbestände des Strafgesetzes zu eng, die Strafen zu milde, die Richter zu unverständig, die Präventionsmaßnahmen zu unentschlossen? Hat die Gesellschaft wirklich kein Mitleid mit Opfern und stellt einseitig die Interessen von Tätern oder Beschuldigten in den Vordergrund? Oder ist das Sexualstrafrecht mit seiner hohen emotionalen Signalwirkung und seinem starken Einfluss auf die emotionale Verfassung der Bevölkerung nur ein trojanisches Pferd, mit dem ein polizeistaatliches Überwachungssystem sich – sei es planvoll oder auch nur aus unreflektierter, nicht genügend hinterfragter Sachlogik – in die letzten freien Räume der Privatheit und Intimität einschleicht?

* * *

Diese und viele andere Fragen werden gestellt. Man kann dazu intuitive, spontane Meinungen und Ansichten haben, die zu Hunderttausenden in Internetforen und Chaträumen geäußert werden, oft in der Form bloßer Gegenüberstellungen von begründungslosen Überzeugungen und Abwertungen der jeweiligen angeblichen Gegenseite. Wer mehr wissen und substanziell mitreden will, muss sich ein wenig anstrengen. Er oder sie muss zunächst verstehen, dass das Sexualstrafrecht und die Sicherheit der geschützten Rechtsgüter nicht Gegenstände oder Phänomene sind, die jeden Tag sozusagen neu erfunden werden und von spontanen Überzeugungen oder Intuitionen leben. Auch bloße Empörungen, Mitleid mit Opfern oder Versuche, die Täter in ihren Motivationen und ihrer Gefährlichkeit zu verstehen, reichen nicht aus, um den Überblick zu behalten. Sexualstrafrecht ist ein Teil des großen, ständig in Bewegung befindlichen sozialen Systems der Verhaltenskontrolle. Es hat tiefe Wurzeln in der Moral und der Ethik, und es verändert sich ständig, so wie sich auch die Struktur der Gesellschaft, in welcher es gilt, ständig wandelt. Rechtsgüter, die vor hundert oder vor fünfzig Jahren überragend wichtig schienen, zum Beispiel die »Sittlichkeit«, haben ihre Bedeutung verloren. Andere, etwa das Recht auf Selbstbestimmung, haben an Bedeutung und Präsenz im allgemeinen Bewusstsein außerordentlich zugenommen. Solche Bewegungen und Veränderungen sind kein Zufall, sondern haben Ursachen und Muster, deren Verständnis erlaubt, etwas differenzierter und ruhiger auf die Dinge zu schauen, als es möglich ist, wenn man nur von einem tagesaktuellen Verbrechen zum nächsten klickt, zappt oder blättert.

Am Grunde jeder rationalen Beurteilung muss ein Verständnis der tatsächlichen und normativen Bedingungen liegen. Wer das Strafgesetz nicht kennt oder kennen will, kann nicht sinnvoll darüber sprechen, ob es richtig, ausreichend und nützlich ist. Deshalb ist es das Ziel dieses Buchs vor allem auch, den Lesern einen ersten systematischen Einblick in die Zielsetzungen, die Systematik und die Inhalte des heute geltenden Sexualstrafrechts zu vermitteln. Dabei kann ein Blick auf die Entwicklung und auf frühere gesetzliche Regelungen derselben Fragen und Sachverhalte nützlich sein.

Das Verständnis und die Beurteilung des Strafrechts setzen voraus, dass man sich auch mit Einzelheiten näher befasst. Das ist für Nichtjuristen nicht immer einfach, weil die gesetzlichen Regelungen außerordentlich kompliziert und unübersichtlich sind und zudem ständig verändert werden. Außerdem sind stets zahlreiche allgemeine Regeln und Grundsätze zu beachten, die in den einzelnen Vorschriften nicht mehr gesondert aufgeführt sind, weil sie als bekannt vorausgesetzt werden oder im Allgemeinen Teil des Strafgesetzbuchs sozusagen vor die Klammer gezogen sind. Sie spielen auch in der journalistischen Darstellung meist keine Rolle, nicht selten deshalb, weil die damit befassten Journalisten sie nicht kennen oder die Systematik nicht verstanden haben, die dem Strafgesetz zugrunde liegt.

Strafrecht ist also nicht ganz leicht und auf den ersten Blick überschaubar. Es ist aber auch keine Geheimwissenschaft und darf nicht nur Fachleuten verständlich sein. Es muss zumindest im Grundsatz für die Bürgerinnen und Bürger transparent bleiben, die von ihm betroffen sind. Das gilt für die Regelungen der einzelnen Tatbestände, aber auch für die allgemeinen Grundsätze etwa über die Täterschaft, den Versuch, die Schuld oder die Strafzumessung. All das findet nicht willkürlich oder je nach Stimmung der Gerichte Anwendung, sondern aufgrund und nach Maßgabe von Rechtsregeln, die man verstehen kann und verstanden haben sollte, bevor man darüber urteilt, ob man sie richtig oder falsch, gut oder schlecht findet. Wenn aber das Sexualstrafrecht nur anhand weniger, öffentlich skandalisierter Fälle und Entscheidungen rezipiert wird, die dann eine Welle intuitiver Zustimmungen oder Ablehnungen mit dem Hinweis, der jeweilige Autor finde das Urteil entweder zu milde oder zu hart oder genau richtig, nach sich ziehen, dann bleibt der Erkenntnisgewinn auf Dauer gering. Auch die Forderung nach weniger Sexualstraftaten und einem besseren Schutz der Menschen vor ihnen ist sekundär für ein Verständnis des Strafrechts. Schließlich gibt es niemanden, der diese Ansicht nicht teilt, und es ist einfallslos, wenn sich unterschiedliche rechtspolitische Positionen gegenseitig vorwerfen, dieses Ziel nicht oder nicht genügend anzustreben. Die gesellschaftliche Kontrolle und Sanktionierung von abweichendem, rechtsgutsverletzendem und strafbarem Verhalten ist keine Frage des Glaubens und der Hoffnung, sondern eine komplizierte, aber verstehbare und rational steuerbare Aufgabe. Wie beinahe überall hilft auch hier Sachkenntnis.

Es soll den Lesern daher eine kleine Reise in die Systematik und Dogmatik des Strafgesetzbuchs (StGB) zugemutet werden, in der Hoffnung, manchen von ihnen ein paar neue und interessante Gegenden zeigen zu können. Damit die Darstellung nicht allzu lehrbuchmäßig und abstrakt bleibt, sind im zweiten Teil eine Reihe von fiktiven Beispielsfällen dargestellt und im Einzelnen besprochen, in denen die Tatbestände des Sexualstrafrechts, die praktischen und rechtlichen Probleme ihrer Anwendung gezeigt werden. Natürlich können nur einige Grundkonstellationen und häufige Fragen behandelt werden. Das wirkliche Leben ist außerordentlich vielgestaltig, und kein Fall ist genau wie andere. Dass es auf Einzelheiten, Differenzierungen und Grenzbereiche ankommt, ist eine der Botschaften, welche das Buch gern vermitteln würde.

Weder der allgemeine Anfangsteil noch die Darstellungen der geltenden Rechtslage und die Fallbesprechungen sind auf eine möglichst schnelle, praktisch-effektive Lösung von Fallfragen ausgerichtet. Sie schweifen ab, wo es sich nach Ansicht des Verfassers lohnen könnte, einen Seitenblick auf Grundlagen, Voraussetzungen, verwandte Probleme oder Weiterungen zu werfen. Damit soll auch gezeigt werden, dass Sexualität und der strafrechtliche Umgang mit ihr ein Feld sind, das an Weite und Vernetztheit in der Persönlichkeit, der Gesellschaft und der Lebenswelt kaum zu überbieten ist. Dieses Buch soll einen kleinen Einblick in den aktuellen Stand dieses Feldes geben, aber auch die Einsicht vermitteln, dass und wie sich die Dinge in einem stetigen Fluss befinden. Das Recht, gerade auch das Strafrecht, wirkt auf die Gesellschaft ein und beeinflusst das Verhalten. Aber das Recht bringt Gesellschaft nicht hervor. Es ist umgekehrt: Das soziale Leben bringt das Recht hervor, und beides ändert sich miteinander.

Die wichtigsten im Text genannten gesetzlichen Regelungen sind im Anhang abgedruckt. Die schlechte Verständlichkeit, ja der abschreckende, unübersichtliche Charakter vieler Gesetzestexte für Nichtjuristen ist ein Ärgernis. Wer aber rechtliche Regelungen und ihre Anwendung kritisieren will, muss ein gewisses Maß an eigener Bemühung und Einarbeitung in eine zunächst fremd erscheinende Materie aufwenden. Das genaue Lesen von gesetzlichen Texten ist Voraussetzung dafür, ihren Inhalt sowie die Fragen zu verstehen, die sich in der praktischen Anwendung stellen und von der Rechtsprechung und der Strafrechtswissenschaft erörtert und beantwortet werden. Im Buchtext wird daher, wenn gesetzliche Bestimmungen erklärt oder besprochen werden, auf den Anhang verwiesen. Über das Sachverzeichnis kann man sich einen ersten Zugriff auf spezielle Begriffe und Themen erschließen.

Einleitung 
Über einige Regeln der Rechtssprache

 

Über Sexualität ist unendlich viel geschrieben worden, und dasselbe gilt für Verbrechen. Die Genre-Bezeichnung scheint mit dem Titel »Sex and Crime« inhaltlich einigermaßen klar. Tatsächlich sind aber weder »die Sexualität« noch »das Verbrechen« ohne Weiteres verständliche Begriffe, und ihre scheinbar intuitive Evidenz täuscht. Das bemerkt man, sobald man sich einem der Begriffe mit der schlichten Frage annähert, was er eigentlich inhaltlich bedeute. Denn Sexualität kann etwa sowohl eine menschliche Eigenschaft, Fähigkeit und seelisch-körperliche Struktur bezeichnen als auch deren lebenspraktische Verwirklichung. Sie kann explizit und plakativ, aber auch verborgen und sozusagen sublimiert erscheinen. Und Verbrechen ist nicht allein ein rechtstechnischer Begriff für bestimmte Arten von gesetzlich mit Strafe bedrohten Handlungen, sondern auch eine im Alltagsumfeld angesiedelte, auf moralische und ethische Annahmen gestützte inhaltliche Qualifizierung.

Die große Faszination, die beide Lebensbereiche und vor allem auch ihre Kombination bestimmt, rührt zum einen aus ihrer Außeralltäglichkeit, zum anderen aus der untrennbaren Verbindung mit der individuellen und kollektiven Moral und daher mit den bewussten unbewussten Grundlagen jeder menschlichen Gesellschaft. Jedenfalls für die Sexualität kommt hinzu, dass sie in einem im Prinzip offenkundigen, aber vielfach vermittelten, unklaren und sich wandelnden Verhältnis zur Natur des Menschen als Säugetier, also namentlich zur arterhaltenden Fortpflanzung steht, von der sie zugleich auf vielfältige Weise entkoppelt ist. Die Verbindung von Natur, Gesellschaft, Moral, Konformität und Sanktionierung von Abweichungen macht daher die besondere Bedeutung und den besonderen thematischen Reiz von »Sex and Crime« aus.

Es gibt zahllose Fachpublikationen über Sexualität, Sexualverhalten, sexuelle Störungen, ihre Ursachen und Therapie. Und es gibt viele Fachpublikationen über das geltende Sexualstrafrecht, namentlich seine materiellrechtliche Dogmatik sowie die Besonderheiten, die für das Strafverfahren gelten. Zwischen dieser fachspezifischen Literatur und der gleichermaßen auf Sensationalität ausgerichteten belletristischen und Sachliteratur aus der Lebenswelt sexuell motivierter und sexualisierter Straftaten besteht eine Lücke. Sie mag dazu beitragen, dass trotz einer teilweise geradezu obsessiv anmutenden medialen Aufmerksamkeit für Themen sexuell auffälligen, abweichenden oder als strafwürdig angesehenen Verhaltens in weiten Teilen der Bevölkerung ein erstaunlich geringes Kenntnisniveau besteht. Hierauf beruht die Idee, eine nicht für Fachleute bestimmte Darstellung des in Deutschland aktuell geltenden Sexualstrafrechts, seiner Grundlagen, Geschichte, Entwicklungen und Probleme zu schreiben.

* * *

Gesprochen wird ständig über Sexualität – über ihre Bedeutung für das soziale Leben, die moralischen, informellen und formellen Grenzen ihrer Betätigung und über Notwendigkeit und Voraussetzungen, Ziele und Folgen ihrer Regulierung durch Strafe. Dies geschieht in vielerlei Formen auf allen Ebenen der Gesellschaft und häufig mit hoher emotionaler Beteiligung. In den letzten Jahrzehnten konnte man den Eindruck gewinnen, dass die Bedeutung des Sexualstrafrechts, also einer formellen Verfolgung von abweichendem, verbotenem sexuell motivierten Verhalten, in der Gesellschaft deutlich zugenommen hat, während umgekehrt die Kommunikation über Sexualität und Sexualverhalten eher an öffentlicher Bedeutung verloren und sich auf eher allgemeine Themen des Verhältnisses von »Geschlecht« und »Gender« verschoben hat. Beides mag miteinander zusammenhängen.

Über strafrechtliche Regelungen kann man nur vernünftig sprechen, wenn man ihren Inhalt kennt und versteht. Was für Juristen selbstverständlich erscheint, stellt sich für viele Menschen, die weder Strafrecht gelernt haben noch einen juristischen Beruf ausüben, als erhebliche Hürde dar. Das hat mehrere Gründe, die zum Teil naheliegen und der Natur der Sache, also dem Recht an sich, geschuldet sind, zum Teil Kritik herausfordern. Der offensichtlichste Grund sind die Ungewohntheit, Sperrigkeit und geringe Alltäglichkeit der juristischen Fachsprache, insbesondere auch der Gesetzessprache. Wer probeweise einmal einen Blick in den Text des § 177 StGB wirft (s. Anhang), kann spontan verzweifeln. Die verschachtelten, in Absätze, Sätze, Ziffern und Varianten differenzierten Handlungsbeschreibungen, die Konstruktionen mit »und« und »oder«, die Verweisungen und Strafrahmen sind beim bloßen Durchlesen schon von erfahrenen Juristen kaum entwirrbar und für Laien vollkommen unverständlich. Sie sind zwar in deutscher Sprache verfasst, ihr Sinn erschließt sich aber auch dem Gutwilligen und Sprachkundigen nur mühsam.

Die Probe aufs Exempel kann man machen, indem man Juristen mit jahrelanger Leseroutine bittet, den Gesetzestext zu lesen und sodann anzugeben, wie viele unterschiedliche Tatvarianten schwerer Straftaten die Vorschrift eigentlich enthält. Die Antworten, die man hierauf erhält, variieren erfahrungsgemäß zwischen 10 und 50 und sind mit einer sehr hohen Wahrscheinlichkeit durchweg falsch. Die Erwartung, die potenziell von den Strafdrohungen Betroffenen, also alle strafmündigen Bürger, könnten die ins Extrem gesteigerte Ansammlung von Schachtelsätzen verstehen, für sich übersetzen und auf dieser Grundlage sämtliche Regeln befolgen, erscheint annähernd absurd. Gleichwohl haben Beschuldigte, die sich auf einen sogenannten Verbotsirrtum (§ 17 StGB) berufen, also behaupten, sie hätten bei der Tatbegehung die Strafbarkeit ihres Handelns nicht gekannt, kaum eine Chance. Die Schuld ist beim Verbotsirrtum nämlich nur ausgeschlossen, wenn dieser »nicht vermeidbar« ist. Und die Rechtsprechung der Strafgerichte ist sich durchweg einig, dass praktisch jeder Irrtum vermeidbar wäre, wenn der Täter sich bei einer rechtsgelehrten Person erkundigt hätte.

Hier treffen sich also zwei ungünstige Bedingungen, einerseits eine Verselbstständigung professioneller Sprachformen, andererseits eine verbreitete Scheu und Abwehr weiter Teile der Bevölkerung gegen »Juristensprache«. Das Letztere liegt nur teilweise an der Sprache selbst. So sind andere Fachterminologien viel schwieriger, werden aber nicht abgelehnt, man denke etwa an die Sprache der Medizin und der Ingenieurwissenschaften, der Kunst oder Psychologie. Deren Benutzung gilt vielfach sogar als Demonstration einer sozial gehobenen Stellung und als erstrebenswerter Nachweis von Allgemeinbildung.

Die verbreitete Abneigung gegen die Juristensprache stammt aus der Sache selbst, um die es geht. Verbindliche, letztlich mit staatlicher Macht und Gewalt durchsetzbare Regeln müssen, um Anforderungen der Verfassung, aber auch der Lebenswirklichkeit zu genügen, meist sehr abstrakt gefasst sein. Die Denkstruktur, die ihnen zugrunde liegt, ist überwiegend deduktiv, das heißt, sie führt vom Allgemeinen ins Spezielle. Es gibt also eine möglichst klare Hierarchie von Ober- und Unterbegriffen und eine möglichst zwingende Systematik der Regelungsebenen. Ein Beispiel: In der Strafvorschrift gegen Diebstahl (§ 242 StGB) heißt es nicht: »Wer einem anderen einen Geldschein wegnimmt«, sondern: »Wer eine fremde bewegliche Sache wegnimmt«. In dieser kurzen Formulierung finden sich gleich vier Begriffe (nämlich »fremd«, »beweglich«, »Sache« und »wegnehmen«), über deren Bedeutung man nachdenken und lange diskutieren kann.

Die Lebenswirklichkeit ist unendlich vielgestaltig und kann sprachlich nicht einfach abgebildet, sondern muss in begrifflichen Abstraktionen beschrieben werden. Die Menschen, die in konkreten Situationen leben und betroffen sind, wollen aber keine Abstraktionen, sondern jeweils hochspezifische konkrete Auskünfte oder Anweisungen. Sie möchten nicht darüber nachdenken, ob ihr Dackel eine Sache ist oder ob »Wegnehmen« auch gegeben ist, wenn heimlich ein 20-Euro-Schein gegen zwei Zehner ausgetauscht wird. Wenn auf solche Fragen dann Juristen antworten, es »komme darauf an«, fühlen sich die meisten Laien in der Annahme bestätigt, dass man mit Menschen, die Jura studiert haben, nicht vernünftig reden kann. Sie vermuten oft, dass Juristen auch in ihrem privaten Lebensbereich ständig so sprechen und denken. Das stimmt ebenso wenig wie die Annahme, Zahnärzte würden beim Abendessen stets über das Kariesrisiko referieren, genauso wenig therapieren Psychologen zum Glück nicht rund um die Uhr ihre soziale Umgebung.

Leser, die strafrechtliche Fälle vor allem aus fiktiven oder medialen Darstellungen kennen, sich aber mit rechtlichen, speziell strafrechtlichen Fragen noch nicht näher befasst haben, müssen daher eine gewisse Schwelle überwinden, um dieses Buch mit Gewinn zu lesen. So gilt es, sowohl die Intuition, also die spontane, gefühlsgestützte Beurteilung, als auch die Sensation, also das emotionale Erlebnis spektakulärer, bedrückender, jedenfalls ganz konkreter Geschehnisse, beiseitezulassen, um zu einer distanzierteren und analytischen Betrachtung der Fälle zu kommen. Zugleich versuche ich, mich so »unjuristisch« und lebensnah auszudrücken, wie es geht, ohne dabei die notwendige begriffliche Schärfe zu vernachlässigen, die die Sache und mein Anliegen erfordern. Es kann also weder auf Fachbegriffe noch auf die Erläuterung systematischer Zusammenhänge verzichtet werden, auf denen die Gesetze und ihre Anwendung beruhen. Wenn man den Unterschied zwischen einem Motor und einem Getriebe, einer Kurbelwelle und einer Starrachse weder kennt noch kennenlernen möchte, könnte man auch ein Buch über die Geschichte der Automobiltechnik nicht sinnvoll lesen. Das Gleiche gilt für das Strafrecht: Wer ihre lebenspraktischen Folgen verstehen und kritisieren will, muss die dahinter liegende juristische Mechanik kennen.

Kapitel 1 
Was ist Sexualität?

Moralische Affen oder triebgesteuerte Maschinen:
die Trennung von Natur und Kultur

Dass der Mensch eine Sexualität hat, scheint selbstverständlich, jedenfalls zählt diese Feststellung zu den allgemein akzeptierten Grundlagen der Verständigung. Allerdings ist es so einfach nicht. Denn wenn man den Satz formulieren sollte: »Der Schimpanse hat eine Sexualität«, oder gar: »Der Hund hat eine Sexualität«, käme man wohl ins Grübeln darüber, was und wie die Sexualität von Tieren eigentlich beschaffen ist und was sie von der des Menschen unterscheidet. Gemeinhin sprechen wir, wenn es um tierisches Verhalten geht, nicht von Sexualität, sondern über Fortpflanzung. Denn mit dem Begriff Sexualität bezeichnen wir nicht die biologische Fortpflanzung einer Art durch Neukombination von Erbinformationen, sondern in der Regel ein Verhalten zwischen Geschlechtspartnern oder zumindest von Individuen in Bezug hierauf.

Dieses Buch handelt von menschlicher Sexualität, geschlechtlichem Empfinden, Verlangen und Verhalten von Menschen. Es ist nicht auf Fortpflanzung beschränkt und weit überwiegend auch nicht darauf bezogen. Daher ist auch nicht erforderlich, dass sexuelles Verhalten sich zwischen verschiedenen Personen ereignet. Auch Empfinden und Verhalten einzelner Menschen ist sexuell, wenn und soweit es sich auf geschlechtliche Betätigung und Befriedigung geschlechtlicher Bedürfnisse bezieht.

Für dieses Verhalten ist die Fortpflanzungsfähigkeit und -form nur eine allgemeine Grundlage, hat aber keine unmittelbare, zwangsläufige Verbindung zum sexuellen Verhalten, das vielmehr sozialen Zwecken dient. Zugleich setzt sexuelles Verhalten aber keine spezifisch sozialen Emotionen voraus. Der Begriff kann vielmehr unabhängig von einem Bezug auf soziale Bindungen, emotionale Nähe oder Partnerschaft verwendet werden für jede Art von Verhalten, das auf eine an die biologischen Voraussetzungen der Fortpflanzungsfähigkeit (nur) anknüpfende Erlangung von (»sexueller«) Lust gerichtet ist. Sogar das ist aber nicht zwingend erforderlich. Sexualitätsbezogen wird auch ein Verhalten genannt, das einen Lustgewinn nur formal vorspiegelt oder nur mittelbar, gegebenenfalls auch unbewusst anstrebt, oder das sich als sexuell geltender Formen bedient, um andere Motive zu verfolgen. Der erstmals 1820 von dem schlesischen Botaniker August Wilhelm Henschel geprägte Begriff der Sexualität hat sich damit von seiner ursprünglich rein biologischen Bedeutung weit getrennt und führt heute ein überaus vielgestaltiges, schwer eingrenzbares Eigenleben.

* * *

Durch diese Trennung wird Sexualität über die Körperfunktion hinaus zu einem Mittel der Selbstreflexion und Individualisierung und damit Teil einer spezifisch menschlichen sozialen Struktur. Dabei stehen Instinkt (»Trieb«), Fortpflanzung, Partnerwahl, Emotionalität und soziale Ordnung nicht unverbunden funktional nebeneinander, sondern untereinander in engster, vielfach auch unreflektierter und unbewusster Weise in Zusammenhang. Beeindruckende Beispiele finden sich an vielen Stellen, etwa bei empirischen Untersuchungen des Partnerwahlverhaltens, bei dem scheinbar hochindividuelle, kulturell stark formbare und wandelbare Merkmale der körperlichen Attraktivität, des Alters sowie des sozialen Rangs eine konstant signifikante und mit hoher Sicherheit vorhersehbare Rolle spielen. Abweichungen ergeben sich insoweit vor allem auf der Ebene der Erwünschtheit, auch von sogenannten Traumvorstellungen angeblich angestrebter Partner. In projektiven Tests und in der statistischen Breite setzen sich zuverlässig Standardvorstellungen durch.

Die Entkopplung von Fortpflanzung und sexuellem Verhalten im Sinne einer sozialen Funktion ist nicht Menschen vorbehalten. Das bekannteste nichtmenschliche Beispiel ist die Menschenaffenart Bonobo. Hier spielt geschlechtliche Zuwendung eine wichtige Rolle als Mittel sozialer Konfliktvermeidung und -regulierung und hat sich insoweit von den daneben existierenden Abläufen und Regelungen der Reproduktion getrennt. Bonobo-Gruppen sind matriarchal strukturiert, die Weibchen wechseln vor der Geschlechtsreife die Gruppe, während die Männchen lebenslang in der Geburtsgruppe bleiben und starke Bindungen an die dominante Mutter haben. Aber auch bei anderen Tierarten lässt sich eine von bloßer Fortpflanzung getrennte, auf Bindung und Sozialverhalten orientierte Funktion geschlechtlichen Verhaltens in vielerlei Entwicklungs- und Übergangsstufen beobachten. Die Vorstellung, es gebe eine strikte, kategorische Trennung zwischen menschlichem und nichtmenschlichem Geschlechtsleben und Sexualverhalten, ist daher unzutreffend. Das entspricht den Erkenntnissen zur evolutionären Entwicklung von Empathie, sozialer Bindung und allgemein zum instinktunabhängigen Verhalten und ist als solches nicht verwunderlich. Schließlich sind Menschen als spezielle Säugetiere entstanden, nicht als qualitativ-kategorialer Gegenentwurf zur Natur. Um ein Bild des Primatenforschers Frans de Waal zu zitieren: Der Mensch teilt die Welt ein in Pflanzen, Tiere und Menschen. Ein Schimpanse würde zwischen Pflanzen, Tieren und Schimpansen unterscheiden.

Daher wirken in allen menschlichen Gesellschaften die Anknüpfungen an die Fortpflanzung und damit evolutionäre Funktionen der Arterhaltung und die in langen Zeiträumen entwickelten und ausdifferenzierten Verbindungen zwischen biologisch-evolutionären Notwendigkeiten, allgemeinen intellektuellen Voraussetzungen und sozialen Bezügen in vielfältiger Weise fort und bestimmen das gesellschaftliche und individuelle Leben in hohem Maß.

Damit sind nicht spezifische Formen der Organisation von Geschlechtlichkeit gemeint, denn diese sind von vielerlei Umständen abhängig, wandelbar und aufgrund der Entstehung freier Entscheidungsabhängigkeit stark differenziert. Diese Differenzierung entwickelt sich nicht naturwüchsig und ist keine bloße Funktion sexueller Natur. Erst recht nicht ist sie entkoppelt von den wirtschaftlichen und politischen Bedingungen der gesellschaftlichen Produktion und Reproduktion. Die sexuelle Differenzierung ist aber auch nicht frei im Sinn einer vollständig bewussten, reflektierten Emanzipation intellektuell, emotional und moralisch gesteuerter Entscheidungsprozesse von der triebhaft-tierischen Natur. Die Vorstellung, das menschliche Empfinden und Verhalten stelle sich wie eine Art Schichtentorte dar, in der sich analog zur naturgeschichtlichen Entwicklung des zentralen Nervensystems über den »wilden«, vor- und unbewussten Schichten des Triebs die reflektierten Schichten moralischer Verfeinerung und kultureller Sublimierung türmen, wird der Komplexität der Verhältnisse nicht gerecht. Dennoch findet es sich bis heute so oder ähnlich in allerlei Persönlichkeitsvorstellungen wieder, die zumeist auf Sigmund Freuds Entdeckungen über das Unbewusste zurückgehen und an das ursprünglich von ihm vertretene Schichtenmodell anknüpfen. Die analytische Psychologie befasst sich bis heute, in mal mehr, mal weniger plausiblen Theorien und Analogien, mit der Aufdeckung, Reflexion und Rekonstruktion sexualitätsbezogener Verbindungen von Natur und Sozialverhalten.

Die hier zugrunde liegende Vorstellung, der Mensch trage in sich eine natürliche Palette von sogenannten Trieben, die sozusagen die animalische Grundlage der zivilisatorischen Kultur in Form von Moral, Ethik und Normen sowie deren Sanktionierung bilden, ist eine schematisierende Verzerrung. Seine Wurzeln hat dieses Denken in anthropologischen Vorstellungen des 19. Jahrhunderts, die den Menschen als eine Maschine konzipierten, in der soziale und individuelle Erscheinungen als strikt voneinander getrennte Funktionalitäten zusammenwirken. Nicht von ungefähr finden sich in der soziologischen und psychologischen Literatur bis nach dem Ersten Weltkrieg zahllose Metaphern von Motoren, Dampfkesseln oder Transmissionsriemen und von diesen in determinierte Bewegungen versetzten funktionalen Werkzeugen. Tatsächlich gibt es, wie wir heute wissen, keine natürlichen, nicht sozial geprägten und durch Erinnerung, Normativität, Empathie und Ich-Empfinden geformten Triebe. Dass der individuelle Mensch zum Überleben Wasser trinken oder schlafen muss, folgt nicht denselben Regeln wie das Bedürfnis nach Lust, Zärtlichkeit oder emotionaler Verbundenheit, noch weniger gilt dies für die sozialen Strukturierungen der Fortpflanzung. Auch Scham geht der Sozialität nicht voran, sondern ist ihr unterworfen. Das gilt auch dann, wenn die Robinson Crusoes der Weltliteratur allenthalben sich verhüllen, sei es aus Scham vor sich selbst oder vor fiktiven Zuschauern, die sie selbst in der menschenleeren Weite noch spüren. Denn sie sind ja, wie es Defoe beispielhaft zeigt, gerade nicht »zurückgekehrt in die Natur«.

Man kann also davon ausgehen, dass es neben oder im körperlichen Menschen samt seiner komplexen Funktionszusammenhänge nicht noch ein körperloses Etwas namens Seele gibt, das den Menschen anders als allen anderen Lebewesen eigen ist und ihr Wesen bestimmt. Bewusstsein und Reflexionsfähigkeit sind nicht Eigenschaften, die einem Naturwesen Mensch von außen hinzugefügt wurden und dadurch seinen Austritt aus der als Paradies gedachten Natur bewirkten. Sie sind vielmehr selbst Entwicklungsformen von Natur.

Sexualität und Sexualitätsempfinden ist somit stets auch Natur. Sie sind aber zugleich stets und von Anfang an auch spezifisch menschlich, das heißt sozial funktional, mit Zwecken und Gefühlen verbunden, reflektiert und normativiert. Eine freie Sexualität im Sinne einer im Wortsinn natürlichen, moralfreien, vorbewussten Spontanverbindung von Alltagsleben, sozialer Reproduktion, Sicherheit und Struktur und sexuellem Verhalten gibt es nicht und gab es nie – gewiss nicht in den im 17. bis 19. Jahrhundert als sogenannte Naturvölker romantisierten außereuropäischen Gesellschaften. Denn spätestens sobald in einer sozialen Gemeinschaft die Zuordnung von Kindern entweder über ihre Mütter (matrilinear) oder über ihre Väter (patrilinear) stattfindet und wichtig wird – beispielsweise für die Trennung von Familienclans zur Umsetzung exogamer Heiratsregeln und Installierung eines Inzest-Tabus –, muss der Sexualverkehr normativiert und Regeln unterworfen werden. Diese finden ihre Grundlagen zwangsläufig in zumeist religiös verstetigten Moralvorstellungen, ohne dass dem irgendeine überzeitlich-qualitative Bedeutung zukommt.

Es geht also nicht um richtige oder gute Moral, sondern um ihr Vorhandensein an sich. Die angeblich natürlichen und freien Gesellschaften, auf die die europäischen kolonialen Eroberer der vergangenen Jahrhunderte seit dem 15. Jahrhundert von Amerika bis Polynesien stießen, waren nicht natürlicher, sondern anders. Überdies aber waren die Kolonisierten in der Regel machtlos, sodass sie ihre Normen gegen die fremden Eindringlinge auf Dauer nicht aufrechterhalten und durchsetzen konnten.

Für die Zwecke dieses Buchs folgt aus dem Dargelegten die genauso fundamentale wie oft übersehene Feststellung, dass man die Sozialgeschichte und speziell die Geschichte der Normativierung von Fortpflanzung und Sexualität, das heißt die Frage nach dem historischen Grenzverlauf zwischen erwünschtem, erlaubtem, verachtetem und verbotenem sexuellen Verhalten, nicht nach Maßgabe von Moral darstellen oder bewerten kann. Vielmehr ist die jeweilige Moral ihrerseits wichtiger Gegenstand der Differenzierung und des Verständnisses.

Vereinfacht gesagt, es ist für eine im weitesten Sinne sozialhistorische Betrachtung des Sexualstrafrechts ohne Erkenntniswert, bäuerliche Familienstrukturen oder adelige Heiratsregeln vergangener Jahrhunderte nach dem Gesichtspunkt zu untersuchen und zu beurteilen, ob sie heute moralisch richtig und funktional erscheinen.

Sexualität als gesellschaftliche Form

Sexualität ist in Inhalt und Form individuell strukturiert und zugleich in hohem Maß sozial geprägt. Analog zu den Kategorien Natur und Kultur stehen auch diese Eigenschaften nicht einfach nebeneinander. Die Bedeutungen sind aufeinander bezogen und bedingt, sie befinden sich in einem Wechselverhältnis gegenseitiger Abhängigkeit und Beeinflussung. In zusammenfassender Form, wie sie für die Zwecke des Buchs hoffentlich ausreichend ist, sind im Folgenden insbesondere der kommunikative und der ordnungspolitische Aspekt dieses Verhältnisses zu nennen.