Lian Hearn
Die Legende von Shikanoko
Herrscher der acht Inseln
FISCHER E-Books
Lian Hearn wurde 1942 geboren und wuchs in Nigeria und Großbritannien auf. Sie studierte moderne Sprachen und arbeitete als Filmkritikerin und Redakteurin. Lian Hearn hat zahlreiche Kinder- und Jugendbücher verfasst und wurde für diese mit mehreren Preisen ausgezeichnet. Sie lebt heute in Goolwa, Australien.
Weitere Informationen zum Kinder- und Jugendbuchprogramm der S. Fischer Verlage finden sich auf www.blubberfisch.de und www.fischerverlage.de
Nach dem Welterfolg der ›Otori‹-Saga: Bestseller-Autorin Lian Hearn ist zurück mit einem neuen monumentalen Epos!
Shikanoko ist eigentlich nur der Sohn eines einfachen Vasallen. Dann kommt er in den Besitz einer magischen Maske, die ihn mit außerordentlichen kämpferischen Fähigkeiten ausstattet, und er gerät ins Zentrum eines erbitterten Kampfs um die höchste Macht im Land: Der Krieg um den Lotusthron des Kaisers der acht Inseln ist auf seinem Höhepunkt. Doch die Legende des Shikanoko nimmt erst ihren Anfang.
Die australische Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel ›The Tale of Shikanoko - Emperor of the eight islands‹ bei Hachette Australia
© 2016 Lian Hearn Associates Pty Ltd.
Für die deutschsprachige Ausgabe:
© 2016 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main
Covergestaltung: MT-Vreden, Vreden
Coverabbildung: © FinePic.de
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-7336-4966-1
Kumayama no Kazumaru, später Shikanoko oder Shika genannt
Nishimi no Akihime, die Herbstprinzessin, Aki
Kuromori no Kiyoyori, Fürst von Kuromori
Fürstin Tama, seine Gattin, Herrin von Matsutani
Masachika, Kiyoyoris jüngerer Bruder
Hina, manchmal Yayoi genannt, Kiyoyoris Tochter
Tsumaru, Kiyoyoris Sohn
Bara oder Ibara, Hinas Dienerin
Yoshimori, auch Yoshimaru, der Verborgene Kaiser, Yoshi
Takeyoshi, auch Takemaru, Sohn von Shikanoko und Akihime, Take
Die Hexerin Tora
Shisoku, der Berghexer
Sesshin, ein alter Weiser
Der Fürstabt
Akuzenji, König des Berges, Räuberhauptmann
Hisoku, Diener von Fürstin Tama
Fürst Aritomo, Oberhaupt des Clans, auch bekannt als Fürst von Minatogura
Yukikuni no Takaakira
Fürstin Yukikuni, seine Gattin
Takauji, deren gemeinsamer Sohn
Arinori, Kapitän und Fürst der Region Aomizu
Yamada Keisaku, Masachikas Adoptivvater
Gensaku, ein Bediensteter von Takaakira
Yasuie, ein Gefolgsmann von Masachika
Yasunobu, Yasuies Bruder
Fürst Keita, Oberhaupt des Clans
Hosokawa no Masafusa, ein Verwandter von Kiyoyori
Tsuneto, ein Krieger von Kiyoyori
Sadaike, ein Krieger von Kiyoyori
Tachiyama no Enryo, ein Krieger von Kiyoyori
Hatsu, Enryos Frau
Kongyo, Kiyoyoris ältester Gefolgsmann
Haru, Kongyos Frau
Chikamaru, später Motochika, Chika, deren Sohn
Kaze, deren Tochter
Hironaga, Bediensteter in Kuromori
Tsunesada, Bediensteter in Kuromori
Taro, ein Diener in Kiyoyoris Haus in Miyako
Der Kaiser
Prinz Momozono, der Kronprinz
Prinzessin Shinmei’in, seine Gattin, Yoshimoris Mutter
Daigen, Prinz Momozonos jüngerer Bruder, später der Kaiser
Fürstin Natsue, Daigens Mutter, Schwester des Fürstabts
Yoriie, ein Bediensteter
Nishimi no Hidetake, Akis Vater, Ziehvater von Yoshimori
Kai, Hidetakes Adoptivtochter
Gessho, ein Kriegermönch
Eisei, ein junger Mönch, später einer der Verbrannten Zwillinge
Shigetomo, Shikanokos Vater
Sademasa, sein Bruder, Shikanokos Onkel, jetzt Herrscher über Kumayama
Nobuto, einer seiner Krieger
Tsunemasa, einer seiner Krieger
Naganori, einer seiner Krieger
Nagatomo, Naganoris Sohn, Shikas Kinderfreund, später einer der Verbrannten Zwillinge
Sadako und Masako, Hinas Lehrerinnen
Saburo, ein Stallbursche
Fuji, die Herrin der Lustboote
Asagao, Musikerin und Unterhaltungskünstlerin
Yuri, Sen, Sada und Teru, junge Mädchen im Kloster
Sarumaru, Saru, ein Akrobat und Affendresseur
Kinmaru und Monmaru, Akrobaten und Affendresseure
Kiku, später Meister Kikuta, ältester Sohn der Hexerin Tora
Mu, ihr zweiter Sohn
Kuro, ihr dritter Sohn
Ima, ihr vierter Sohn
Ku, ihr fünfter Sohn
Tsunetomo, ein Krieger und Kikus Diener
Shida, Mus Gattin, eine Fuchsfrau
Kinpoge, deren Tochter
Unagi, ein Kaufmann in Kitakami
Tadashii, ein Tengu
Hidari und Migi, Schutzgeister von Matsutani
Das Drachenkind
Ban, ein fliegendes Pferd
Gen, ein künstlicher Wolf
Kon und Zen, Werhabichte
Nyorin, Akuzenjis weißer Hengst, später Shikanokos Pferd
Risu, eine launische braune Stute
Tan, deren Fohlen
Jato, Schlangenschwert
Jinan, Zweiter Sohn
Ameyumi, Regenbogen
Kodama, Echo
Hinfällig ihr Sein
Fäden aus Reif verwoben
Mit Garnen des Tau
Denn Brokat in den Bergen
Entsteht um zu verwehen
aus Kokin-wakashū
»Konntest du sehen, was vorgefallen ist?«
»Wo ist dein Vater?« Zwei Männer ragten über ihm auf. Ihre Umrisse zeichneten sich dunkel vor dem Abendhimmel ab. Einer der beiden war sein Onkel Sademasa, der andere Nobuto, den Kazumaru nicht leiden konnte.
»Wir haben ein merkwürdiges Geräusch gehört.« Kazumaru imitierte das Klacken von Steinen auf einem Brett. »Klack, klack, klack. Vater sagte mir, ich solle hier warten.«
Die beiden Männer hatten den siebenjährigen Jungen im hohen Gras entdeckt, an einer flachgetretenen Stelle, wie Hirsche sie für ihre Kälber anlegen. Fast wären die Pferde auf Kazumaru getreten. Als Sademasa den Jungen hochnahm, sah er, dass die Gräser tiefe Abdrücke auf seiner Wange hinterlassen hatten. Er musste viele Stunden dort gelegen haben.
»Wer nimmt denn ein Kind zum Kundschaften mit?«, fragte Nobuto leise.
»Er will nicht von dem Jungen getrennt sein«, sagte Sademasa.
»So einen närrischen Vater habe ich noch nie erlebt!«
»Und ich noch nie so ein verwöhntes Kind. Wenn das mein Sohn wäre …«
Kazumaru gefiel der Tonfall der beiden nicht, sie schienen sich über ihn lustig zu machen. Er schwieg vorerst, nahm sich aber vor, seinem Vater davon zu erzählen, wenn er ihn wiedersah.
»Irgendein Hinweis auf sein Pferd?«, fragte Sademasa Nobuto.
Der ältere Mann blickte zu den Bäumen hinüber. »Die Spuren führen dort entlang.«
Ein paar verkrüppelte Bäume klammerten sich ans Vulkangestein des Bergs. Einige kümmerten, andere waren schon abgestorben. Die Luft roch nach Schwefel, und Dampf zischte aus Spalten im Boden. Vorsichtig gingen die Männer weiter, die Bögen gespannt. Kazumaru folgte ihnen.
»Sieht aus, als läge ein Fluch über diesem Ort«, bemerkte Nobuto.
Die großen Baumstümpfe waren von schmalen Rissen durchzogen. Am Boden lagen einige schwarze Steine und eine Handvoll weißer Muscheln verstreut.
»Hier ist Blut.« Nobuto deutete auf einen Fleck an einem hellen Felsen, ging in die Hocke und berührte die Stelle. »Noch feucht.«
Das Blut war dunkel, fast purpurrot.
»Ist es seines?«, flüsterte Sademasa.
»Sieht nicht menschlich aus«, antwortete Nobuto und roch an seinem Finger. »Der Geruch ist auch anders.« Er wischte das Blut am Felsen ab, stand auf, blickte sich um und rief: »Fürst Shigetomo! Wo seid Ihr?«
Ihr, ihr, ihr hallte das Echo von den Bergen wider, gefolgt von einem Rauschen, das wie Flügelschlagen klang.
Kazumaru blickte zum Himmel auf. Eine Schar seltsamer Wesen flog über sie hinweg. Sie hatten Flügel, Schnäbel und Krallen wie Vögel, waren aber mit roten Jacken und blauen Beinlingen bekleidet. Die Wesen deuteten auf Kazumaru und lachten. Eines von ihnen schwenkte ein Schwert in der einen Kralle, einen Bogen in der anderen.
»Das sind seine Waffen!«, rief Nobuto aus. »Das ist Ameyumi!«
»Dann ist Shigetomo tot«, sagte Sademasa. »Den Bogen hätte er niemals hergegeben, wenn er noch am Leben wäre.«
Später wusste Kazumaru nicht mehr, was Erinnerung und was Traum war. Sein Vater und seine kluge geistreiche Mutter hatten während der langen schneereichen Winter in Kumayama gerne und oft Go gespielt. Kazumaru war mit dem ruhigen Klacken der Steine auf dem Spielbrett groß geworden, ihrem Klappern in den Schalen aus Holz. An diesem Tag hatten sein Vater und er diese Laute gemeinsam vernommen. Sie waren weit vor den anderen geritten. Sein Vater übernahm immer gerne die Führung, und sein schwarzes Pferd war kraftvoll und lebhaft. Es war ein Geschenk von Fürst Kiyoyori, zu dessen Vasallen die Familie gehörte und auf dessen Befehl die Gruppe so weit nach Norden geritten war.
Sein Vater zügelte das Pferd, stieg ab und hob Kazumaru herunter. Das Pferd begann zu grasen. Sie streiften durchs hohe Gras und traten beinahe auf das Hirschkalb, das dort in einer Mulde lag. Kazumaru sah noch die dunklen Augen und die weichen Lippen, dann sprang das Kalb auf und lief davon. Er wusste, dass die anderen Männer es getötet hätten, wenn sie hier gewesen wären. Doch sein Vater lachte nur und ließ das Tier entkommen.
»Das ist Ameyumis Zeit nicht wert«, sagte er. Ameyumi war der Name seines gewaltigen Bogens, einem kostbaren Familienerbstück, das aus vielen Holzschichten mit feinster Bindung gefertigt war.
Sie schlichen auf die Bäume zu, zwischen denen die Laute hervordrangen. Kazumaru erinnerte sich noch, dass es ihm wie ein Spiel vorkam, lautlos durchs Gras zu pirschen, das so hoch war wie er selbst.
Dann blieb sein Vater plötzlich stehen und hielt die Luft an, als habe er etwas Erschreckendes entdeckt. Rasch nahm er Kazumaru hoch, und dabei sah er die Tengu, die unter den Bäumen Go spielten, sah die Flügel, die Gesichter mit den Schnäbeln, die Krallenhände.
Dann trug sein Vater ihn schnell zurück zu der Stelle, wo sie das Hirschkalb gefunden hatten. Kazumaru spürte den pochenden Herzschlag seines Vaters.
»Warte hier«, sagte er und legte seinen Sohn auf dem zerdrückten Gras nieder, wo das Hirschkalb gelegen hatte. »Sei wie das Kind des Hirschs. Rühr dich nicht.«
»Wohin gehst du?«
»Ich werde Go spielen«, antwortete sein Vater mit einem Lachen. »Wie oft bekommt man schon Gelegenheit, Go gegen Tengu zu spielen?«
Kazumaru wollte das nicht. Er hatte Geschichten über die Tengu gehört, Berggeister, die als gerissen und grausam galten. Doch sein Vater war furchtlos und folgte immer nur seinem eigenen Willen.
Später an jenem Tag fanden die Männer Shigetomos Leiche. Kazumaru wurde nicht erlaubt, sie zu sehen, doch er hörte das erschrockene Raunen und erinnerte sich an die scharfen Schnäbel und Krallen, als die Tengu über sie hinwegflogen. Sie haben mich gesehen, dachte er. Sie kennen mich.
Als sie nach Hause zurückkehrten, berichtete Sademasa, dass sein älterer Bruder von wilden Stämmen des Nordens getötet worden war. Doch wer ihn auch tatsächlich getötet haben mochte – Kazumaru jedenfalls wusste, dass sein Vater gestorben war, weil er mit den Tengu Go gespielt und dabei verloren hatte.
Die Nachricht vom Tod ihres Mannes stürzte Kazumarus Mutter in so tiefe Trauer, dass jeder fürchtete, sie würde nicht am Leben bleiben. Sademasa bat sie inständig, ihn zu heiraten, und erklärte, er wolle Kazumaru großziehen wie seinen eigenen Sohn. Auf einen heiligen ochsenköpfigen Talisman schwor Sademasa sogar einen Eid.
»Ihr beide erinnert mich nur immerzu an Shigetomo«, sagte sie. »Nein, ich muss mir das Haar scheren und Nonne werden. Ich muss mich so weit von Kumayama entfernen wie nur irgend möglich.« Sobald der Winter vorüber war, brach sie auf und sprach kaum Worte des Abschieds. Sie ermahnte Kazumaru nur, dass er seinem Onkel gehorchen solle.
Der Familie war von Fürst Kiyoyori eine kleine Parzelle Land zugesprochen worden, an jener Bergseite, die als Kumayama bekannt war. Diese Gegend bestand aus schroffen Felswänden und Tälern, in denen niemals die Sonne schien. Man hatte ein paar Reisfelder angelegt an den Ufern der Flüsse, die den Berg hinabrauschten, durch Wälder aus Zypressen und Sicheltannen, reich an Bären, Wölfen, Serauziegen, Hirschen und Wildschweinen, vorüber an Bambushainen, in denen Wachteln und Fasane nisteten. Von der Hauptstadt aus erreichte man Kumayama in sieben Tagen, von der Festung der Miboshi in Minatogura in vier Tagen.
Als die Jahre ins Land gingen, zeigte sich, dass Sademasa nicht daran gelegen war, seinen Schwur einzuhalten. Es gefiel ihm, Fürst von Kumayama zu sein, und er hatte nicht die Absicht, darauf zu verzichten. Die Macht, gepaart mit Unbehagen ob seiner eigenen Treulosigkeit, brachte seine gewalttätige Seite zum Vorschein. Er ging grob mit seinem Neffen um, unter dem Vorwand, ihn zum Krieger ausbilden zu wollen. Noch bevor Kazumaru zwölf Jahre alt wurde, hatte er verstanden, dass sein Onkel jeden Tag aufs Neue darüber enttäuscht war, dass sein Neffe noch unter den Lebenden weilte.
Einige von Sademasas Kriegern, allen voran ein gewisser Naganori, dessen Sohn ein Jahr älter war als Kazumaru, bedauerten zutiefst die gnadenlose Behandlung des einstigen Fürstensohns. Andere, wie Nobuto, bewunderten Sademasa für seine Grobheit und Gefühllosigkeit. Den anderen war es gleichgültig, vor allem nachdem Sademasa heiratete und eigenen Nachwuchs bekam. Man nahm ohnehin an, dass Kazumaru seine Jugend nicht überleben, geschweige denn sein Erbe antreten würde. Allerdings waren die meisten dann erstaunt darüber, dass er die grausame Behandlung in seiner Kindheit nicht nur überstand, sondern sogar daran zu wachsen schien. Denn er übte unermüdlich das Bogenschießen, und aus seiner Wut bildeten sich übermenschliche Kräfte heraus. Mit zwölf Jahren schon war er hoch aufgeschossen und konnte eine Sehne aufspannen und den Bogen handhaben wie ein erwachsener Mann. Dennoch war Kazumaru scheu und wild wie ein Wolf. Einzig Naganoris Sohn, der in seinem Initiationsritual den Namen »Nagatomo« erhielt, war sein Freund.
Er war auch der Einzige, von dem Kazumaru sich verabschiedete, als sein Onkel im Herbst von Kazumarus sechzehntem Lebensjahr verkündete, man werde gemeinsam in den Bergen auf die Jagd gehen.
»Wenn ich nicht zurückkomme«, sagte Kazumaru zu seinem Freund, »dann weißt du, dass er mich getötet hat. Nächstes Jahr würde ich volljährig sein, aber mein Onkel wird mir niemals die Nachfolge überlassen. Er ist viel zu besessen davon, Herr über Kumayama zu bleiben. Gewiss will er mich in den Wäldern umbringen.«
»Wenn ich dich doch nur begleiten könnte«, sagte Nagatomo. »Doch dein Onkel hat es ausdrücklich verboten.«
»Was nur bestätigt, dass meine Vermutung zutrifft«, erwiderte Kazumaru. »Aber selbst wenn er mich nicht töten sollte, werde ich nicht zurückkommen. Hier gibt es kein Leben für mich. Manchmal erinnere ich mich verschwommen daran, wie es früher war, als ich geliebt und bewundert wurde und nicht immerzu Angst hatte. Und am Tage träume ich manchmal davon, was geschehen wäre, wenn mein Vater nicht gestorben wäre, wenn meine Mutter mich nicht verlassen hätte, wenn die Männer hier mir die Treue gehalten hätten … aber es ist nun einmal so und nicht anders gekommen. Trauere nicht um mich. So kann ich nicht mehr leben. Jeden Tag bete ich, entfliehen zu können – und wenn das nur durch den Tod gelingen kann, dann soll es so sein.«
Die Sommerstürme hatten nachgelassen, und von Tag zu Tag überzog das leuchtende Rot der Blätter größere Flächen der Berghänge. Die Hirschkälber dieses Jahres waren beinahe ausgewachsen, folgten jedoch noch immer ihren Müttern durch die lichtgesprenkelten Wälder.
Dort lebte ein berühmter alter Hirsch mit einem prachtvollen Geweih, das Sademasa schon lange begehrte. Jener Hirsch aber war schlau und vorsichtig und hatte sich bislang nie umzingeln lassen. Doch in diesem Jahr, verkündete Sademasa, werde er ihn erlegen.
Sademasa nahm seinen Neffen, seinen meistgeschätzten Diener Nobuto und einen weiteren Mann mit auf die Jagd. Sie gingen zu Fuß, denn das Gelände war selbst für die kletterkundigen Pferde, die für gewöhnlich an den unteren Hängen von Kumayama weideten, zu unwegsam. Die Männer lebten wie Waldbewohner, sammelten Nüsse und Beeren, erlegten Fasane und stellten Fallen für Hasen auf. Tag für Tag drangen die Männer weiter in die Wildnis vor, erhaschten ab und an einen Blick auf die begehrte Beute, verloren sie aber wieder aus den Augen, bis sie erneut auf Hufspuren in der weichen Erde oder die feste braune Losung stießen. Kazumaru erwartete, dass sein Onkel ungeduldig werden würde. Doch stattdessen war Sademasa so heiter, als würde er bald eine Bürde loswerden, die ihn schon lange belastete. Abends erzählten die Männer Geistergeschichten über Tengu und Berghexer und heranwachsende Jungen, die auf geheimnisvolle Weise verschwunden waren. Kazumaru schwor sich selbst, dass er am Leben bleiben würde. Er wagte es kaum zu schlafen, sank aber immer wieder in eine Art Wachtraum, in dem er das Klacken von Go-Steinen hörte und die Adleraugen der Tengu vor sich sah.
Als die Männer eines Nachmittags den Gipfel eines steilen Felskliffs erreichten, stand der Hirsch vor ihnen. Sein Geweih schimmerte im Licht der Abendsonne am westlichen Himmel, seine Flanken hoben und senkten sich heftig von der Anstrengung des Aufstiegs. Die Männer keuchten. Ein Augenblick der Stille entstand. Sademasa und Kazumaru hatten ihren Bogen gespannt, die beiden anderen Männer zückten ihre Messer. Sademasa wies seinen Neffen an, nach links zu treten. Kazumaru wollte auch gerade seinen Bogen spannen und auf das Herz des Hirschs zielen. Das Tier starrte ihn an, die Augen weit aufgerissen vor Angst. Dann huschte sein Blick zu Sademasa. Kazumaru folgte der Bewegung mit den Augen. In diesem kurzen Augenblick sah er, dass sein Onkel auf ihn zielte, nicht auf den Hirsch. Der sprang jetzt vorwärts, um zu flüchten. Der Pfeil flog, der Hirsch prallte auf Kazumaru und riss ihn mit sich in den Abgrund.
Das Tier dämpfte Kazumarus Sturz. Als sie beide reglos dalagen, spürte Kazumaru das heftige Pochen des Herzens unter sich. Er hielt sich am Geweih des Hirschs fest, stand auf und griff nach seinem Messer. Das Tier war schwerverletzt, seine Läufe waren gebrochen. Mit starrem Blick sah es ihn an. Kazumaru sprach ein kurzes Gebet. Dann schnitt er dem Hirsch die Kehle durch, und heißes Blut sprudelte heraus, während das Tier verendete.
Dichte Sträucher verbargen Kazumaru vor Blicken von oben. Er hörte die Rufe der Männer, gab aber keinen Laut von sich. Ob sein Onkel das prächtige Geweih so sehr begehrte, dass er Kazumaru folgen würde, wusste er nicht. Doch von dem hohen Felsen konnte man nicht herabklettern, nur springen oder fallen. Als es schließlich still wurde oben, schleifte Kazumaru den Hirsch mit sich, so weit er konnte, und entdeckte schließlich eine kleine Höhle unter einem Felsvorsprung, in der sich trockene Blätter angesammelt hatten. Kazumaru legte sich hin, umschlang das tote Tier und löschte seinen Durst mit dem warmen Blut. Dabei sah er die Szene auf dem Felsen erneut vor sich. Mühelos hätte Kazumaru sich einreden können, es sei ein Unfall gewesen, fand es jedoch wichtig, die Wahrheit zu kennen. Sein Onkel hatte auf ihn gezielt, doch der Pfeil hatte den Hirsch getroffen. Das Tier hatte Kazumaru das Leben gerettet. Und dann erlebte er im Geiste den Sturz aufs Neue. Seine Hand hatte den Bogen umklammert, als könne der ihn auffangen. Kazumaru war zu jung, um seiner Sterblichkeit ins Auge zu blicken, und doch hatte er ungläubig gefürchtet, dass er nun sterben werde.
In der Nacht spürte er die wilden Tiere, die umherschlichen, angelockt vom Geruch des frischen Blutes. Er hörte das Tappen von Pfoten, das Rascheln von Blättern. Zahllose Sterne funkelten in der Dunkelheit, und der Himmelsfluss leuchtete milchig weiß.
Im Morgengrauen war der Kadaver des Hirschs kalt geworden. Kazumaru zog ihn auf die Lichtung und begann, ihn zu häuten. Sorgsam schnitt er das Geweih mitsamt der Schädeldecke heraus und fand es schmerzlich, wie schnell das Leben aus den Augen des Tiers gewichen war. Dennoch war er erfüllt von Dankbarkeit.
Mit scharfen Steinen schabte er das Fleisch von der Haut. Am Vormittag erreichten die Sonnenstrahlen das Tal, und eine Zeitlang wurde es heiß. Nachmittags schnitt Kazumaru das Fleisch von der Keule des Hirschs in dünne Streifen, damit sie schnell trockneten, und fädelte sie, durch Blätter getrennt, auf einen Stab, den er sich aus Eichenholz geschnitzt hatte. Den Rest des Kadavers überließ er Füchsen und Wölfen und machte sich auf Richtung Norden.
Er nutzte vor allem die Nacht für den Marsch; der Mond nahm zu und brachte den ersten Frost mit sich. Um die Mittagszeit schlief Kazumaru ein wenig, nachdem er die Haut des Hirschs mit Wasser und seinem eigenen Harn weicher gemacht und zum Trocknen ausgelegt hatte. Er begegnete keinem einzigen Menschen, doch am dritten Tag merkte er, dass ein Tier ihm folgte. Hinter sich hörte er Rascheln und das Tappen von Pfoten und sah grün leuchtende Augen. Mehrmals spannte er den Bogen, doch dann verschwanden die grünen Augen jedes Mal, und Kazumaru schoss nicht, weil er im Dunkeln keinen Pfeil einbüßen wollte.
Das Tier schien ihn zu leiten, oder vielleicht eher zu treiben, dachte er unbehaglich. Ab und an glaubte er, es sei verschwunden, doch bei Einbruch der Dämmerung erschien es von neuem. Einmal bekam er es kurz zu Gesicht und erkannte an Größe und Farbe, dass es ein Wolf war, wohl angelockt vom Geruch des Fleisches und der Hirschhaut. Die Jäger hatten den Hirsch verfolgt bis zu dessen Erschöpfung, und nun tat dieser Wolf dasselbe mit Kazumaru. Tiefer und tiefer in die Wälder wurde er getrieben, und wenn er erschöpft und vor Hunger geschwächt wäre, würde der Wolf ihm an die Kehle springen. Kazumaru versuchte, ihn zu überlisten, indem er sich schlafend stellte und dann lautlos aufstand und eine andere Richtung einschlug. Doch der Wolf schien seine Absichten bereits zu kennen, und unversehens leuchteten die grünen Augen erneut in der Dunkelheit.
Eines Morgens in der Dämmerung rastete Kazumaru an einem Bach, der aus einer Quelle weiter oben am Berg entsprang und durch eine Lichtung floss. Den Rest des Trockenfleischs hatte Kazumaru am Vortag verzehrt. Im Gras war ein Pfad niedergetrampelt, der zum Ufer führte, und Kazumaru sah, dass das Gewässer Hirschen, Füchsen und Wölfen als Tränke diente. Hastig löschte er seinen Durst, indem er Wasser aus der hohlen Hand schlürfte. Dann suchte er sich ein gegen den Wind gerichtetes Versteck, den Bogen in der Hand.
Er musste wohl eingedöst sein, denn eine plötzliche Bewegung weckte ihn. Was er sah, war ein Bild wie aus einem Traum. Zwei Tiere staksten nebeneinanderher, einander zugewandt, und trugen gemeinsam etwas im Maul. Ihr Gang war seltsam steif, als seien sie nicht lebendig. Die Köpfe waren mit Lack überzogene knöcherne Schädel, die Augen schimmernde Lapislazulisplitter. Die Haut umspannte kein Fleisch, sondern schien mit Stroh und Zweigen angefüllt zu sein. Als Kazumaru ein durchdringender Geruch nach beißendem Rauch und Verwesung in die Nase stieg, wurde ihm übel, und sein Magen hob sich.
Die beiden Wesen kamen näher, und Kazumaru konnte sehen, dass sie einen Wasserkrug mit zwei Griffen festhielten. Dann traten die seltsamen Wesen in die flache Senke und tauchten den Krug in das strömende Gewässer. Als er gefüllt war, machten sie kehrt und trugen ihn den Pfad entlang, wobei sie ab und an stolperten und Wasser verschütteten.
Kazumaru folgte den Kreaturen wie im Traum, widerstandslos, doch nicht ohne Furcht. Er spürte das Pulsieren seines Bluts in Kopf und Brustkorb, weil er wusste, dass er sich der Behausung eines Berghexers näherte. Die Begleiter seines Onkels hatten davon erzählt. Kazumaru wäre gern geflüchtet, wurde aber nicht nur von seiner eigenen Neugier und von seinem Hunger vorwärtsgetrieben, sondern auch von dem Wolf, der jetzt deutlich sichtbar hinter ihm hertrabte.
Ein Felsen ähnelte einem Bären, ein gespaltener Baumstumpf schien Hasenohren zu haben. Als Kazumaru sich einer kleinen Hütte unter einem Kaiserbaum näherte, ließen sich die Figuren aus Stein oder Holz ringsum besser erkennen: Einige hatten lackierte Schädel wie die beiden anderen Wesen, waren mit Häuten behängt oder mit Geweihen versehen. Es gab künstliche Eulen, Adler und Kraniche mit Gefieder und Fledermäuse mit ledrigen Flügeln.
Das Dach der Hütte war mit Knochen gedeckt, die Wände mit Tierhäuten bespannt. Aus einem Eimer am Eingang stieg durchdringender Harngeruch auf. Damit macht er wohl die Tierhäute geschmeidig, dachte Kazumaru in irgendeinem entlegenen Winkel seines Gehirns. Auch er selbst hatte die Hirschhaut mit Harn weicher gemacht. Zwei echte kleine Füchse zankten in der Nähe um einen toten Hasen. Der Wolf hockte sich hechelnd hin, und die beiden Wesen mit dem Krug blieben vor der Hütte stehen und winselten. Nach wenigen Sekunden kam der Hexer heraus. Er nahm den Wesen den Krug ab und befahl ihnen mit einer Geste, sich zu setzen, als seien sie Hunde. Die Haut des Hexers sah wie gegerbtes Leder aus, seine langen Haare und sein dünner Bart waren schwarz ohne jede Spur von Grau. Der Mann wirkte alt und jung zugleich, und seine Bewegungen waren so geschmeidig und kraftvoll wie die eines Tiers. Doch als er zu Kazumaru sprach, war seine Stimme menschlich.
»Willkommen zu Hause. Du bist also zurückgekehrt zu Shisoku.«
»War ich schon einmal hier?«, fragte Kazumaru. Der Wolf hinter ihm heulte.
»In diesem oder einem anderen Leben.«
Und vielleicht war es so. Wer wusste schon, wo die Seele umherstreifte, während der Körper schlief? Vielleicht war sie so fremd und vertraut zugleich wie Träume.
»Hast du die Schulterblätter mitgebracht?«, fragte der Mann namens Shisoku unvermittelt.
»Nein, ich –«, begann Kazumaru, doch der Hexer fiel ihm ins Wort.
»Einerlei. Sie werden eines Tages wiederauftauchen. Gib mir das Geweih. Wir haben noch Zeit.«
»Wofür?«
»Um das Kind des Hirschs aus dir zu machen. Deshalb bist du hier.«
»Was bedeutet das?«
»Dein Leben gehört dir nicht. Du wirst in dem einen Leben sterben und in einem anderen neu beginnen, um zu dem zu werden, der zu sein, du bestimmt bist.«
Kazumaru fuhr herum und wollte weglaufen, doch der Hexer sagte erst etwas in einer fremden Sprache und fügte dann hinzu: »Du wirst bleiben!« Die Worte umschlossen Kazumaru wie Gitter. Knochige Hände schienen seine Arme zu ergreifen, obwohl der Hexer ein Stück entfernt von ihm stand. Langsam ging er rückwärts, und Kazumaru folgte ihm willenlos in die Hütte.
Er konnte nicht ermessen, ob er sich in einer Behausung, einer Werkstatt oder einem Schrein befand. Der Geruch von Lack, Kampfer und Räucherwerk war durchdringend, überdeckte jedoch nicht den Gestank von Verwesung. Ein Eisenkessel hing über einem Feuer, in dem ein obskures Gebräu blubberte. Auf einer rußgeschwärzten Werkbank lagen Schnitzgeräte und Pinsel. Der Boden bestand aus festgetretener Erde, doch an einem Ende der Hütte waren Teppiche und Kissen vor einer Art Altar ausgebreitet, der von leuchtenden Kerzen und Lämpchen umgeben war. Auf dem Altar und daneben standen Statuen von Gottheiten mit lackierten Gesichtern, und an den Wänden hingen zahlreiche Masken und Tierköpfe mitsamt Fell. Kazumaru entdeckte auch zwei menschliche Totenschädel, und er verstand, dass er sich jetzt an einem jener Orte befand, wo die Welten ineinanderfließen; ähnlich jenem Ort, an dem sein Vater mit den Tengu Go gespielt hatte und der immer wieder bedrohlich in Kazumarus Kindheitsträumen erschienen war. Er begann zu zittern, aber es gab kein Entkommen. Draußen war die Hütte umzingelt von echten und zauberischen Tieren, im Inneren befand sich der Hexer.
Ohne sich zu erinnern, wie das geschehen war, lag Kazumaru unversehens nackt vor dem Altar, nur bedeckt von der Haut des Hirschs und wie jener mit Todesfurcht in den Augen. Shisoku verabreichte dem Jungen einen Trank aus Pilzen und Kiefernnadeln, gemischt mit Lack und Zinnober, der für gewöhnlich jeden Mann getötet hätte. Kazumaru dagegen sank in eine tiefe Trance, und die Zeit blieb stehen.
Er beobachtete, wie der Hexer das Geweih mit der Schädeldecke in eine Maske verwandelte und dabei ein geheimnisvolles Sutra sang, das Kazumaru noch nie zuvor gehört hatte. Nach und nach wich der Tag der Nacht. Draußen hörte man Tiere rumoren und rufen. Kazumaru schien es, als lege sich eine Frau zu ihm, und er fürchtete sich, denn er hatte sich noch nie mit einer Frau vereint. Den wissenden Blicken der Mädchen in Kumayama war er stets ausgewichen. Er misstraute dem, was sie anzubieten hatten, scheute die Verletzungen, die Menschen einander antun. Doch diese Frau brachte ihn dazu, mit ihr eins zu werden, viele Male in dieser Nacht und den kommenden Nächten, und seine Schreie klangen wie die Rufe der Tiere. Er wusste, dass sein Körper, seine Kraft, seine Männlichkeit gegen seinen Willen für Zwecke benutzt wurden, die er nicht verstand. Dennoch strömte seine eigene Lust, um der ihren zu begegnen.
Des Tags lag er nur da, unfähig, sich zu rühren, und sah zu, wie Shisoku die Maske Schicht um Schicht mit Lacken und den roten und weißen Flüssigkeiten der beiden Liebenden bemalte. Jede Schicht ließ der Hexer trocknen, indem er die Maske durch die Schwaden des Räucherwerks schwenkte und dazu jedes Mal einen anderen Zauber sang. Lippen und eine Zunge aus Leder, bemalt mit Zinnober, gestaltete der Hexer. Er höhlte Kuhlen für die Augen aus und versah sie mit schwarzen Wimpern aus Frauenhaar. Das Geweih polierte er, bis es schimmerte wie Obsidianstein. Der Mond nahm zu, wurde voll und nahm wieder ab, bis er verschwand. Beim nächsten Halbmond war die Maske vollendet.
Shisoku setzte die Maske auf Kazumarus Gesicht, und sie fügte sich an wie ein Handschuh an eine Hand. Kazumaru fühlte, wie ihn die Kraft des Hirschs und die uralte Weisheit der Wälder durchdrangen. Die Frau kam ein letztes Mal zu ihm, und seine Schreie klangen wie das Röhren des Hirschs im Herbst. Zärtlich hielt sie ihn umschlungen und flüsterte: »Nun lautet dein Name Shikanoko – Kind des Hirschs.« Eine entfernte Erinnerung durchwehte ihn – ein Hirschkalb, die Stimme seines Vaters –, und er wusste, dass er niemals einen anderen Namen annehmen würde. Dann sank er in einen tiefen Schlaf. Als er erwachte, war er wieder bekleidet, die Frau blieb verschwunden, und die Hirschmaske lag in einer Brokattasche aus sieben Schichten, die auf dem Altar stand. Es schien kaum glaubhaft, dass die Maske in eine solche Tasche passte. Doch auch das hatte Shisoku mit einem der vielen Zauber bewirkt.
Shisoku wandte seine Zauberkünste recht lässig und planlos an. Wenn er eine vage Geste Richtung Feuer machte, loderte es siebenmal von zehnmal auf, schwelte aber die anderen drei Male trotzig vor sich hin. Die echten Füchse und Wölfe traten ab und an in Erscheinung, wenn der Hexer sie zu sich befahl. Meist aber lebten sie in ihrer Wildnis, als weile Shisoku gar nicht unter ihnen. Die künstlichen Tierwesen erledigten manchmal, was von ihnen verlangt wurde. Aber zerbrochene Krüge am Bachufer ließen darauf schließen, wie oft die Wesen gescheitert waren. Das Holz fürs Feuer sammelte Shikanoko, und als der Winter andauerte, ging er auf die Jagd, damit sie etwas zu essen hatten. Er schnitzte neue Pfeile und befiederte sie mit Adlerfedern. Doch obwohl er viele Hirsche entdeckte und ihnen auf der Spur blieb, tötete er niemals einen von ihnen.
Shisoku aß wenig und brachte seine Tage damit zu, Tiere zu rupfen und ihnen die Haut abzuziehen, Federbalge und Häute mit Kampfer und Wilder Raute zu behandeln, Knochen und Schädel auszukochen, damit die letzten Fleischreste getilgt wurden. Dann erschuf er die toten Tiere nach und nach aufs Neue, als wäre er eine Art Schöpfergeist. Er stopfte die Häute mit Lehm und Stroh aus, fertigte aus Bambus und Schnüren Gerüste an, um die Skelette zu stützen. Seine Kreationen standen nebeneinander unter dem Dachrand, während der Schnee an ihnen vorüberwehte. Viele Wochen lang wurden sie durch die Kälte konserviert, doch mit dem Frühling kehrten auch die Insekten zurück. Aus Larven schlüpften Raupen, und die meisten der künstlichen Wesen waren so voller Getier, dass sie verbrannt werden mussten. Nur zwei überstanden alles, durch Glück, Geschick oder Magie, und wurden in Shisokus Sammlung eingereiht.
Dann schmolz der Schnee auf den Gipfeln der Berge, und der Bach schwoll so stark an, dass er beinahe die Hütte erreichte. Als das Hochwasser nachließ, war die Lichtung von Gräsern und Wildblumen bedeckt. Jeden Abend setzte der Hexer Shikanoko die Maske auf und lehrte ihn den Tanz der Hirsche.
»Dieser Tanz offenbart die Geheimnisse der Wälder und setzt ihren Segen frei. Es ist ein kraftvolles Bindeglied zwischen den drei Welten: der Welt der Tiere, der Welt der Menschen, der Welt der Geister. Wenn du den Tanz beherrschst, wird dir durch die Maske Wissen zufließen. Du wirst um alle Ereignisse der Welt wissen, wirst die Zukunft in Träumen sehen, und all deine Wünsche werden in Erfüllung gehen.«
Die Bewegungen des Tanzes erweckten etwas in Shikanoko, das er fürchtete und zugleich begehrte. Doch er dachte sich, dieses Gefühl sei wohl ebenso wenig verlässlich wie Shisokus Zauberei, und glaubte nicht recht daran.
Gleich nach dem Vollmond der Tagundnachtgleiche kam eine Schar von zehn Reitern auf die Lichtung.
»Das ist der König des Berges, Akuzenji«, sagte Shisoku, den das nicht weiter zu beunruhigen schien.
Shikanoko griff dennoch nach seinem Bogen. Die Frau, die mit diesen Männern ritt, war eindeutig dieselbe Frau, die Shikanoko bei seiner Mannwerdung und der Entstehung der Maske begleitet hatte, ließ es sich aber nicht anmerken. Shikanoko verlangte danach, mehr über die Frau zu erfahren, doch er fühlte sich auch scheu. Obwohl er ihr hundert Fragen hätte stellen wollen, fand er nicht einmal die Worte für eine einzige.
Akuzenji stieg vom Pferd, gab einen Strahl Harn in den Eimer am Eingang der Hütte und sagte: »Mein Beitrag zu Eurer Arbeit. Gewiss hat mein Harn zauberische Kräfte.« Der König des Berges war ein breitschultriger, vierschrötiger Mann mit wirrem Haar und Bart. Akuzenji trug eine abgewetzte Rüstung aus Lederplatten, die mit ausgebleichten grünen Schnüren verbunden waren, und hatte ein gewaltiges Schwert an der Seite. Beides sah aus, als habe er es einem Krieger geraubt. Zu Shisoku sagte der König des Berges: »Ich wollte mich nur davon überzeugen, dass Ihr den Schatz wohlbehütet, den ich Euch anvertraut habe.«
»Ich schütze ihn mit einem Bann«, antwortete Shisoku. »Soll ich ihn auflösen?«
»Noch nicht. Die Geschäfte sind gut, ich brauche ihn jetzt noch nicht. Aber ich möchte ihn gerne sehen.«
Shisoku nickte lässig, ließ den König in die Hütte ein und folgte ihm, während die anderen Männer vom Pferd stiegen, auch in den Eimer urinierten und sich dann ans Feuer hockten. Nach einer Weile kam Akuzenji aus der Hütte, ein zufriedenes Grinsen auf dem Gesicht, und schlenderte auf Shikanoko zu.
»Und wer magst du wohl sein?«
»Früher war ich Kumayama no Kazumaru. Aber jetzt heiße ich Shikanoko.«
»Der Junge, der letztes Jahr vom Berg gestürzt ist? Man wähnte dich tot.«
»Ich kam hierher, und der Hexer hat sich meiner angenommen.«
»Ach ja?« Akuzenjis listige schwarze Augen erfassten den Bogen und die gefiederten Pfeile. »Ob dein Onkel wohl ein Lösegeld für dich herausrücken würde?«
»Er würde wohl eher für die Nachricht von meinem Tod bezahlen«, erwiderte Shikanoko und überlegte dann, ob er den König des Berges damit gerade eingeladen hatte, ihn umzubringen.
»Und wie sieht es mit Fürst Kiyoyori aus? Er ist doch dein Lehnsherr, nicht wahr? Würde er etwas für dich bezahlen?«
»Das glaube ich nicht«, sagte Shikanoko. »Von welchem Nutzen soll ich für ihn sein?«
»Ein Pfand kann vielerlei Nutzen haben, solange es am Leben ist«, sprach die Frau.
Sie war es – Shikanoko erkannte ihre Stimme. Er spürte sowohl Zorn und Furcht in sich, weil sie und Shisoku ihn benutzt hatten, empfand jedoch auch Verlangen nach dieser innigen Nähe, als ihre Körper sich vereinigt hatten und ein Ding von großer Schönheit und Magie entstanden war.
Akuzenji runzelte die Stirn, kratzte sich am Kopf und musterte Shikanoko prüfend. »Wie alt bist du?«, fragte er.
»Im neuen Jahr wurde ich sechzehn.«
»Kannst du mit diesem Bogen umgehen?«
»Ja, das kann ich, aber ich werde damit keine Hirsche töten.«
»Aber Männer?«
»Ich habe nichts dagegen, Männer zu töten«, antwortete Shikanoko.
»Dann werde ich dein Haar hochbinden, und du kannst mir Treue schwören und mit uns ziehen.«
Sollte er gehen oder bleiben? Shikanoko suchte den Blick des Hexers, doch der sah ihn nicht an.
So hatte sich Shikanoko seinen Treueschwur als Krieger nicht vorgestellt. Er hatte immer geglaubt, er werde vor Kiyoyori, dem Fürsten von Kuromori, knien, im Beisein des Onkels und der anderen Krieger. Stattdessen stand Shikanoko nun auf einer Waldlichtung, Rauch biss ihm in die Augen, und er gelobte einem räuberischen Bergkönig den Eid, umgeben von lebenden und künstlichen Tieren. Als das Ritual vollzogen war, steckte Shikanoku einige Pfeile in seinen Köcher, band den Rest seiner Habseligkeiten in ein Bündel und nahm seinen Bogen. Der Hexer verschwand in der Hütte, kehrte mit der Brokattasche, in der die Maske ruhte, zurück und reichte die Tasche Shikanoko.
Die Frau nahm Säcke voll Getreide, Reis, Hirse und Bohnenpaste von einem der Pferde und trug sie in die Hütte. Die Männer suchten sich brauchbare Häute und Federn aus. Akuzenji beäugte die Brokattasche.
»Was ist das?«
Shisoku antwortete nicht.
»Zeig her«, verlangte Akuzenji, und nach kurzem Zögern nahm Shikanoko die Maske aus der Tasche und hielt sie hoch.
Akuzenji wich unwillkürlich einen Schritt zurück, stumm und zornig. Als er die Sprache wiederfand, sagte er zu Shisoku: »Ein solches Ding wollte ich seit jeher von Euch haben. Wann werde ich es endlich bekommen? Seit Jahren schon bitte ich Euch darum. Ich will einen Zauberschädel, der mir alles kündet. Und Ihr kennt das geheime Handwerk und die Rituale. Wieso versagt Ihr mir das?«
»Ich bin es nicht, der Euch etwas versagt«, murmelte der Hexer, aber Akuzenji war in Rage.
»Ich habe Euch zahllose Schädel gebracht, gewiss mehr als jeder andere. Was hat dieser Junge Euch übergeben? Wieso habt Ihr ihn bevorzugt?«
»Er kam zur rechten Zeit«, antwortete Shisoku. »Tut mir leid.«
»Und wann ist die rechte Zeit?«
»Die rechte Zeit ist dann, wenn die Zeit recht ist. Die Schädel, die Ihr mir bringt, sind wertlos – sie stammen von dummen Bauern oder zügellosen Verbrechern oder Kriegsherren, die in Blut waten. Bringt mir den Schädel eines Weisen oder eines klugen Geistlichen, den Schädel eines Asketen oder eines mächtigen Königs.«
»So etwas hat dieser Junge Euch gebracht?« Akuzenji war fassungslos. »Wie denn nur?«
»Er ist Shikanoko, das Kind des Hirsches. Was der Junge mir gebracht hat, war nur für ihn bestimmt.«
Akuzenji schob die Unterlippe vor und kniff die Augen zusammen. »Und was wäre, wenn ich Euch den Schädel von Kiyoyori brächte?«
»Kiyoyori ist zweifellos ein großer Mann«, antwortete Shisoku. »Doch er wird nicht zulassen, dass du seinen Schädel erbeutest.«
Die Frau erhob wieder die Stimme. »Kiyoyoris Schädel ist nicht geeignet für Euch, Akuzenji. Wenn Ihr Euch den beschaffen wollt, werdet Ihr Euren eigenen verlieren.«
Shisoku und die Frau warfen sich einen kurzen Blick zu, verknüpft mit einem flüchtigen Lächeln, und Shikanoko schauderte, als er die geheimen Welten erahnte, in denen diese beiden sich bewegten und an denen er nun auch Anteil hatte.
Er kniete zum Dank vor dem Hexer, der jedoch nur lächelte und eine wegwerfende Handbewegung machte.
Shikanoko blickte noch einmal zurück, als sie losritten. Einer der Wölfe stand vor der Hütte, und die Hand des Hexers ruhte auf seinem Kopf.
Der Reiter neben Shikanoko lachte. »Der alte Vierbeiner! Hast du ein paar nützliche Kniffe von ihm gelernt?« Der Mann ließ vier Finger vor Shikanokos Gesicht zappeln. »Hat er dich auch in einen Vierbeiner verwandelt?«
Ein Blitz zuckte auf, ein krachender Donnerschlag folgte. Eine Kiefer am Weg borst entzwei, und Rauch vernebelte die Luft. Die Pferde bäumten sich auf und scheuten so heftig, dass sie ihre Reiter beinahe abwarfen.
»Wartet lieber, bis Ihr weit entfernt seid, wenn Ihr etwas Schlechtes über den Hexer sagen wollt«, sagte die Frau leise.
Der Mann sah betroffen aus, und Shikanoko freute sich, dass Shisokus Zauberei diesmal wirksam gewesen war. Er ritt hinter der Frau und spürte dabei, dass er sie so oft in Armen gehalten hatte, dass sie gemeinsam die Maske erschaffen hatten. Doch gleichzeitig konnte er nicht verstehen, wie das möglich gewesen war. Wie hatte die Frau Nacht für Nacht einen so weiten Weg zurücklegen können? Besaß sie Zauberkräfte, oder hatte er sich mit einer Geisterfrau vereint, die Shisoku herbeigerufen hatte? War er einer Dämonin erlegen?
Fürst Kiyoyori war mit seinen achtundzwanzig Lebensjahren in jenem Alter, in dem Männer den Höhepunkt ihrer körperlichen und geistigen Kräfte erreichen. Er entstammte dem Clan der Kakizuki, dessen Name vom khakiroten Herbstmond herrührte. Der Urvater des Clans war Sohn eines Kaisers gewesen, der sich von seiner kaiserlichen Abkunft losgesagt und einen bürgerlichen Namen angenommen hatte. Die Söhne und Enkel waren wohlhabende erfolgreiche Staatsmänner, begabte Dichter und starke Krieger geworden, während die Enkelinnen zu guten Ehefrauen und Müttern von Kaisern heranwuchsen.
Obwohl Kiyoyoris Familie aus jüngeren Söhnen von jüngeren Söhnen bestand und damit in Rang und Ansehen nicht so hochstehend war, hatte Kiyomasa, der Vater des Fürsten Kiyoyori, immer höchste Achtung vor seinem Namen gehabt und sich stets bemüht, ihm Würde angedeihen zu lassen. Kiyomasa hatte großen Wert darauf gelegt, seine Söhne zu exzellenten Kriegern auszubilden, die den Umgang mit Pferd, Bogen und Schwert beherrschten und ihrem Vater bedingungslos gehorchten.
Kiyomasa hielt sich häufig in der Hauptstadt Miyako auf und war immer auf dem Laufenden über Ereignisse und Intrigen bei Hofe. Der Kakizuki-Clan hatte viele bedeutungsvolle Posten inne. Doch das galt auch für die Widersacher der Familie, den Clan der Miboshi, die ebenfalls kaiserlicher Abkunft waren. Kiyoyoris Großmutter war eine Miboshi gewesen, denn in friedlicheren Zeiten hatten die beiden bedeutenden Familien untereinander geheiratet. Doch in jüngster Zeit war die Beziehung zwischen den beiden Clans weitaus weniger freundlich.
Seit vielen Jahren schlugen die Miboshi die Schlachten des Kaisers der acht Inseln, sowohl im Osten als auch im Norden des Landes. Sie errangen die Herrschaft über andere Clans und unterwarfen barbarische Stämme. Fürst Aritomo, das Oberhaupt des Miboshi-Clans, residierte in Minatogura im Osten, doch viele seiner Krieger ließen sich in Miyako nieder und verlangten für ihre Dienste Belohnung in Form von Staatsämtern, höheren Rängen und Land.
Doch von alldem war nicht genügend vorhanden.
Kriegerfamilien, die über Intrigen am Kaiserhof und der Regierung im Bilde waren, wetteiferten miteinander um Macht und Einfluss. Kiyomasa versuchte, seine Söhne taktisch klug zu verheiraten, und Kiyoyori ehelichte mit siebzehn eine Frau aus Maruyama im Westen, deren Vater eine Beraterstellung in der Kakizuki-Regierung innehatte. Die Ehe war glücklich, ein Kind wurde geboren und dann ein zweites, doch dieses Kind raubte der Mutter das Leben und folgte ihr über den Fluss des Todes. Kiyoyori war außer sich vor Trauer, denn er hatte seine Frau sehr geliebt und konnte sich nicht vorstellen, ihren Verlust jemals zu verkraften. Sein einziger Trost war das erste Kind, eine Tochter, deren Kosename Hina lautete.
Kiyoyoris jüngerer Bruder Masachika war ebenfalls eine vorteilhafte Ehe eingegangen mit der Tochter eines Nachbarn. Dieser nannte ein ganzes Tal sein Eigen, Matsutani, das Tal der Kiefern. Fürst Matsutanis Sohn sollte den Grundbesitz dereinst erben, doch am Tag nach der Hochzeit seiner Schwester versuchte der junge Mann, auf dem Heimweg mit seinem Pferd den reißenden Fluss zu durchqueren, wurde mitgerissen und ertrank. Andere Erben gab es nicht, und es sah aus, als würde das gesamte Vermögen an Masachikas neue Frau fallen. Masachika vermutete nun, dass sein Schwiegervater ihn adoptieren werde, so dass er um vieles reicher und vermögender sein würde als sein älterer Bruder.
Doch sein eigener Vater hatte andere Pläne, die er einige Monate nach dem Tod von Kiyoyoris Frau kundtat. Kiyoyori war zu diesem Zeitpunkt einundzwanzig, Masachika neunzehn. Die Brüder wurden zu einem Gespräch in einem Geheimzimmer im Haus in Kuromori einbestellt, dem aus Holz erbauten festungsartigen Anwesen. Es befand sich in uneinnehmbarer Position auf einem Berg, umgeben vom Schwarzen Wald, der dem Anwesen seinen Namen gegeben hatte. Es gab diverse geheime Räume im Haus; das Treffen fand im wärmsten von ihnen statt, der nach Süden ausgerichtet war. Aus diesem Grunde vielleicht wohnte dort ein Mann unbestimmbaren Alters mit unscheinbarem Äußeren, der als großer Gelehrter galt. Er brachte viel Zeit mit dem Studieren zu, und der Raum war angefüllt mit Schriftrollen und Handschriften in vielerlei Sprachen, die der Gelehrte aus allen acht Himmelsrichtungen zusammengetragen hatte. Der Mann trug einen mönchischen Namen, Sesshin, und manchmal hörte man ihn Gesänge intonieren. Niemand achtete weiter auf ihn, und Kiyoyori empfand seine Anwesenheit als angenehm beruhigend, wie die Nähe eines alten Hundes.
Es war ein regnerischer Herbsttag, Sturmböen fegten durchs Tal. Die Fensterläden waren geschlossen, und obwohl es noch früh am Nachmittag war, gab es kaum Licht im Raum. Der Gedanke an den nahenden Winter erfüllte Kiyoyori mit Schwermut. Die Traurigkeit, die er seit dem Tod seiner Frau empfand, konnte er nicht mehr abschütteln.
Er war draußen bei den Ställen gewesen, als sein Vater nach ihm gesandt hatte. Kiyoyori wollte Hina das Reiten beibringen und hatte mit Hilfe der Kinder des Anwesens Ausschau nach einem geeigneten Pony gehalten. Kurzfristig hatte Kiyoyori befürchtet, sein Vater wolle ihm eine neue Ehefrau vermitteln. Dann hätte Kiyoyori heiraten und einen Erben zeugen müssen, obwohl ihm derzeit viel eher der Sinn danach stand, sich den Kopf zu scheren und Mönch zu werden. Nur Hinas Dasein hatte ihn bislang von dieser Entscheidung abgehalten. Deshalb war Kiyoyori angespannt, als er sich bei seinem Vater einfand, und diese Stimmung verstärkte sich noch, während sie gemeinsam auf Masachika warteten. Die Läden klapperten, als der Sturm an ihnen zerrte und Regen aufs Dach prasselte. Der Vater blickte seinen Sohn immer wieder ungeduldig an und seufzte tief.
Schließlich erschien Masachika und entschuldigte sich wortreich für seine Unpünktlichkeit. Dabei wirkte er so erwartungsvoll, als würden sich nun in Kürze all seine Wünsche erfüllen.
Ihr Vater begann zu sprechen. »Ich weiß, dass ihr wie ich davon überzeugt seid, dass unser wichtigstes Ziel das Überleben unserer Familie und deren Zuwachs an Macht und Einfluss sein muss. Meiner Vermutung nach stehen uns äußerst gefährliche Zeiten bevor. Es gibt böse Omen in der Hauptstadt, und Weissager prophezeien Kriege und Wirrungen. Unser Besitz ist zu klein, um uns viele Krieger zu ermöglichen, mit denen wir mehr Macht erlangen könnten. Nun gibt uns das Schicksal die Gelegenheit, uns mit den Matsutani zu verbinden.«
Masachika nickte, und ein kleines Lächeln erschien auf seinen wohlgeformten Lippen.
»Doch ich kann meinen ältesten Sohn, den ich sehr hochschätze, nicht enterben«, fuhr ihr Vater fort, »und den Besitz an den jüngeren Sohn zu geben, schafft Hader und Zwietracht. Deshalb habe ich entschieden, dass du, Masachika, auf deine Gattin verzichten und fortan bei unseren Miboshi-Verwandten in Minatogura leben wirst. Mein Cousin hat nur eine Tochter und hat eingewilligt, dich als Sohn zu adoptieren. Kiyoyori wird deine jetzige Ehefrau heiraten und beide Besitztümer erben. Ihr Vater ist damit einverstanden. Falls also Krieg zwischen den Kakizuki und den Miboshi ausbrechen sollte, wird in jedem Fall einer meiner Söhne unter den Siegern sein.«
Ein paar Augenblicke herrschte Schweigen. Dann sagte Masachika, mühsam beherrscht: »Ich soll meine Ehefrau meinem Bruder überlassen? Ich soll sie und Matsutani zugleich verlieren?«