Stefan Klein
Da Vincis Vermächtnis
oder
Wie Leonardo die Welt neu erfand
FISCHER E-Books
Stefan Klein, geboren 1965 in München, ist der erfolgreichste Wissenschaftsautor deutscher Sprache. Er studierte Physik und analytische Philosophie in München, Grenoble und Freiburg und forschte auf dem Gebiet der theoretischen Biophysik. Er wandte sich dem Schreiben zu, weil er »die Menschen begeistern wollte für eine Wirklichkeit, die aufregender ist als jeder Krimi«. Sein Buch »Die Glücksformel« (2002) stand über ein Jahr auf allen deutschen Bestsellerlisten und machte den Autor auch international bekannt. In den folgenden Jahren erschienen die hoch gelobten Bestseller »Alles Zufall«, »Zeit«, »Da Vincis Vermächtnis oder Wie Leonardo die Welt neu erfand« und »Der Sinn des Gebens«, das Wissenschaftsbuch des Jahres 2011 wurde. 2003 erschienen die ersten Wissenschaftsgespräche unter dem Titel »Wir sind alle Sternenstaub. Gespräche mit Wissenschaftlern über die Rätsel unserer Existenz«. Stefan Klein lebt als freier Schriftsteller in Berlin.
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Coverabbildung: Bildarchiv Preußischer Kulturbesitz / Museo Nazionale della Scienza e della Tecnica Leonardo da Vinci, Mailand / Scala
Erschienen bei FISCHER E-Books
© 2008 Stefan Klein
Für die deutsche Ausgabe:
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2008
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ISBN 978-3-10-403201-6
Zit. nach Richter 1970
CA 76 s-a (ex 280 r-a)
Anonimo Gaddiano, zit. nach Richter 1970
Pater 1873. Der Zeilenfall stammt von dem irischen Dichter W.B. Yeats, die deutsche Übersetzung von mir.
Vecce 1990
Vecce 1998
Feldmann Schwartz 1995, Feldmann Schwartz 1988
Sassoon 2001
Anregungen mag Leonardo aus Flandern erhalten haben. Jan van Eyck (um 1390–1441) zeigt Porträtierte in Dreivierteldrehung und mit Blick zum Betrachter. Doch es fehlt die Landschaft im Hintergrund ebenso wie die auf dem Bild der Mona Lisa so bedeutenden Hände. Dass Leonardo die flämischen Darstellungsweise kannte, ist wahrscheinlich: Der Maler Rogier van der Weyden etwa war in den Gemäldesammlungen des Hofes von Mantua vertreten; auch Drucke kursierten. Siehe z.B. Keele 1983
Kemp 1981 S. 266
TP 68 und B N 2038 20r, siehe auch Kemp 1971. Die Passage findet sich fast wortgleich bei Alberti in seinem Buch über die Malkunst: »Wir Maler wollen die Affekte des Gemüts durch die Bewegungen der Glieder ausdrücken.« -(Alberti 2000, S. 272)
TP 61 v
Genauer gesagt haben die vom italienischen Neurophysiologen Giacomo Rizzolatti und Mitarbeitern in den frühen 1990er-Jahren zuerst an Affen entdeckten Neuronen eine Doppelfunktion: Erstens steuern sie die Muskulatur des eigenen Körpers. Manche geben Impulse zum Heben des Arms, andere dazu, den Mundwinkel zu einem Lächeln nach oben zu ziehen, wieder andere erzeugen im Gesicht einen Ausdruck der Trauer. Zweitens aber geben die Spiegelneuronen genau dieselben Signale, wenn wir nur zusehen, wie ein anderer Mensch den Arm hebt, fröhlich oder bedrückt aussieht – sie machen uns dazu bereit, dasselbe zu tun. Die eigentliche Muskelbewegung wird dann auf einer späteren Stufe der Signalverarbeitung im Gehirn unterdrückt; dabei bleibt aber das Signal für die entsprechende Emotion erhalten. Rizzolatti, Fogassi, und Gallese 2006. Für eine leicht zugängliche Darstellung auf Deutsch siehe Bauer 2005
TP 289, TP 290
B 29r, B 38v, B 42 v (Lücke S. 73f, 81f und 84)
Nicholls et al 2004
Ekman 1983
Selbst wenn es uns gelänge, mit dem Auge auf einer bestimmten Gesichtspartie zu verweilen, könnten wir den Ausdruck der Mona Lisa noch immer nicht zweifelsfrei erkennen. Denn ausgerechnet die Bereiche um die Augen und um die Mundwinkel, aus denen wir die meisten Informationen über die Stimmungslage eines Menschen ziehen, erscheinen besonders verwischt. Schatten, die über diesen Partien liegen, machen es unmöglich, Mona Lisas Mimik zu lesen: Perfekt lebensnah wirkt dieses Gemälde gerade dadurch, dass Leonardo es absichtlich undeutlich hielt.
Kontsevich und Tyler 2004
Zit. nach Zubov 1968 S. 190
CA 1002r-1004r (ex 360r)
CA 527v (ex 195v)
Dass es optische Täuschungen gibt, war Leonardos Zeitgenossen nicht neu. Immerhin kursierte in den Bibliotheken das siebenbändige »Buch über Optik« des Ali al-Hasan Ibn Al-Haitham, eines Wesirs am Hof in Kairo im 11. Jahrhundert, den man ihm Westen Alhazen nannte. Doch niemand außer Leonardo schien dieses Erbe weiterentwickeln zu wollen. Die einzigen ausführlichen Schriften über die Grundlagen der Optik, die wir aus dem 15. Jahrhundert kennen, sind seine. Alhazen ging es darum, die Gesetze der Lichtausbreitung und der Wahrnehmung zu verstehen, Leonardo wollte sie anwenden, um ein perfektes Kunstwerk zu schaffen. Zu Leonardos Rezeption von Alhazen siehe Arasse 1999, Ackermann 1978.
CA 207r (ex 76r)
CA 34r-b (ex 9v-b)1480-82, CA 17v (ex 4v-a)1478–80, CA 5r (ex 1 bis r-a). Nach Keele datieren diese Zeichnungen aus den Jahren 1480–82.
A 8v (1492.) Veltman 1986, S. 91f
Leic 10v
Leonardo hat weder Farbperspektive (entfernte Dinge erscheinen bläulich) noch die Luftperspektive (sie erscheinen verschwommen) erfunden. Wohl aber hat er als Erster die Gründe für diese Phänomene verstanden und sie mit nie dagewesener Virtuosität in seiner Kunst eingesetzt.
T P 262.
BN 2038 18r, deutsch Lücke S. 677f
RL 12604r
Lücke S. 763
D 3v
F 25v
Die Fehlurteile, die Leonardo überwand, um zu einer realistischen Vorstellung vom Akt des Sehens zu gelangen, sind eine Geschichte für sich: Als junger Mann glaubte er noch, dass die Strahlen nicht von außen ins Auge hineinfallen, sondern umgekehrt von ihm ausgesandt werden. So erklärten es die antiken Autoritäten: Gleich einem Radar würde der menschliche Sehsinn seine Umgebung abtasten. Erst nach Jahren des Zweifelns überzeugte ihn schließlich ein Argument des Alhazen, dass die Strahlen für ihren Weg vom Auge zu den Dingen sicher eine gewisse Zeit brauchen würden. Öffnet man aber unter dem Nachthimmel die Augen, sieht man die Sterne sofort. Das Licht muss also von außen her kommen, das Auge nimmt es nur auf. Darum scheint auf der Zeichnung von 1508 als Ausgangspunkt der Strahlung die Kerze. (CA 545r (ex 204r); siehe auch Ackerman 1978) Auch hielten die Zeitgenossen an der mittelalterlichen Auffassung fest, dass die Augenlinse eine Art Spiegel sei. Von jedem Ding aus, das wir sehen, kehre genau ein Strahl zur Linse zurück; so setzten sich die gesehenen Bilder zusammen. (Alle Teile des Auges hinter der Linse dienten nach dieser Auffassung nur noch dazu, das fertige Bild ins Gehirn weiterzuleiten.) Doch mit einem ingeniösen Experiment, das jeder sofort nachvollziehen kann, bewies Leonardo, dass die Dinge so einfach nicht sein konnten: Er kniff ein Auge zu, hielt sich eine Nadel dicht vor das Gesicht und fixierte einen Punkt in der Ferne. Ein Spiegel würde jetzt die Nadel zeigen, die einen Teil des Hintergrunds verdeckt. Das Auge hingegen sieht den Hintergrund unverändert lückenlos, während die Nadel so blass und verschwommen erscheint, als wäre sie durchsichtig. Dafür gibt es, so Leonardo, nur eine Erklärung: Von jedem Ding aus fallen viele Strahlen, und nicht nur einer, ins Auge. Wenn die Nadel nun ein paar dieser Strahlen abdeckt, macht es nichts, denn dank der übrigen Strahlen lässt sich der Hintergrund weiter erkennen. Also ist die Linse mehr als nur ein Spiegel. So kam Leonardo später auf den Gedanken, die Außenhaut des Auges mit der Wand einer Glasschüssel zu vergleichen. Gleich nach dieser Entdeckung allerdings stand er vor dem nächsten Rätsel: Warum sehen wir die Dinge nicht größer, wenn die Pupille sich weitet? (Leonardo gebraucht in seinen frühen Schriften das Wort »popilla« allerdings für die Augenlinse, erst später verwendet er es in dem heute üblichen Sinn.) Denn der mittlerweile 40 Jahre alte Leonardo hatte zwar verstanden, dass die Augenlinse kein Spiegel ist. Er dachte aber noch immer, dass das Bild irgendwie auf ihr entsteht. In diesem Fall würde das Bild eine größere Fläche einnehmen können, wenn sich die Iris zurückzieht und einen größeren Teil der Linse freigibt (F 32v). Muss das Gesehene dann nicht auch größer erscheinen? Erst um das Jahr 1495 begriff Leonardo, wozu die Iris wirklich dient: »Wenn das Auge der Eule in der Finsternis seine Pupille um das Hundertfache vergrößert, dann wird sein Sehvermögen hundertmal stärker …« (CA 704c (ex 262r-d), deutsch: Lücke S. 115). Die Iris regelt also nicht die Größe des Bildes, sondern die Lichtmenge im Auge.
D 10v
Darum blickt der Mann, der das Gesicht in die Schüssel hält, nicht direkt auf das am Boden stehende Wasser. Vor ihm schwebt vielmehr, an Seilen an den Schüsselrand gehängt, noch eine Glaskugel. Darin brechen sich die Lichtstrahlen ein weiteres Mal, sodass das Bild am Ende wieder aufrecht steht. Ein derartiges Organ konnte Leonardo bei seinen Sektionen von Tier- und Menschenaugen freilich niemals finden, weil es keine solche Sphäre gibt.
Gombrich 1999
Kemp, 1981, S. S 100
CA 656r-a (ex 240r-c) , CA 80r (ex 28r-b)
Lombardini 1872
Beltrame 1987
So argumentierte etwa William Barclay Parsons (1939), ein berühmter amerikanischer Wasserbauingenieur und Technikgeschichtler. Auch Dutzende andere Skizzen belegen, wie intensiv sich Leonardo mit der Schleusentechnik auseinandersetzte.
CA 656r-a (ex 240r-c)
Lücke S. 610
CA 127 (ex 46v-b)
Maschat 1989 S 25
In seinen späten Jahren hing sogar Leonardos eigener Reichtum am Wasser – der damals französische Herrscher über Mailand hatte ihm eine Konzession eingeräumt, Wasser an Bauern zu verkaufen.
Abgebildet in Della Peruta 1993
CA 1082r-a (ex 391r-a), Lücke S. 891
Zit. nach Garin 1989, S. 201
Vasari 2006
Leic 32a, Lücke S. 615
Leic 9v. S. auch Vaccari, Solmi und Panazza 1952, S. 70
I 71v, 72r
CA 327v (ex 119v-a) , zit. nach Lücke, S. VI
Als von Wasser umflossenes Idyll etwa stellt er sich einen Wohnsitz der Liebesgöttin Venus vor: »Auf den vier Seiten musst du Treppen errichten, über die man zu einer Wiese gelangt, welche die Natur auf einem Felsen geschaffen hat. Dieser soll ausgehöhlt und von vorn durch Pfeiler gestützt und unten durch einen Säulengang durchbrochen sein; dort soll Wasser in verschiedene Gefäße aus Granit, Porphyr und Serpentin fallen innerhalb von halbkreisförmigen Becken, in denen das Wasser überfließt. Auch in der Umgebung dieses Säulenganges gegen Norden zu sei ein See mit einer kleinen Insel in der Mitte, auf der ein dichter und schattiger Hain sein soll.« RL 12591r, deutsch: Lücke S. 267
CA 302r (ex 108v-b)
Zit. nach Arasse 1999 S. 107
CA 468r (ex 171r-a), Lücke, S. 500
CA 417r (ex 154r)
Oberhummer 1909
Alberti de Mazzeri 1995
Pedretti 2003
Büttner 2006
Kecks 1957, S. 197
Perrig 1987, S. 52
Neue Untersuchungen, sogenannte Infrarotreflektographien, beweisen, dass dieser Teil der Landschaft tatsächlich von Leonardo (und nicht von Verrochio) stammt. Das Bild wurde an dieser Stelle übermalt, in einer früheren Fassung zeigte es eine konventionellere Landschaft. Siehe Zöllner 2003, S. 215; Galluzzi 2006, S. 66
Galluzzi 1996. S 65
F 62v, Lücke, S. 618
I 73r , Lücke, S. 620
Ein Vorgänger Leonardos war der englische Franziskanermönch Roger Bacon, der im 13. Jahrhundert mit der Lichtbrechung und der Herstellung von Schwarzpulver experimentierte. In Italien gelang es dem Arzt und Mathematiker Paolo dal Pozzo Toscanelli, der auch die Möglichkeit eines Seeweges nach Indien vorhergesagt hatte, gegen Mitte des 15. Jahrhunderts, die Schiefe der Ekliptik mit 23°30’ zu bestimmen – damit lag er nur 14 Winkelminuten neben dem richtigen Wert. Toscanelli schaffte dies mit einem astronomischen Instrument, das er am Dom von Florenz angebracht hatte. Doch diese Männer waren außergewöhnliche Erscheinungen. (Für eine Übersicht siehe Walzer 1987)
Farago 1933, S. 13
CA 160a/160b (ex 57v-a/57v-b), siehe auch Macagno 1992
CA 812 (ex 296v), zitiert nach Farago 1999 S. 13
CA 407r (ex 151r-a)
F 2
Zit. nach Richter 1970
Royal Windsor Library Quaderni d’Anatomia A 2r, zit. nach MacCurdy 1958 S. 80
Die Zeichnung wird in der Pariser École Nationale des Beaux-Arts aufbewahrt (Zöllner 2003 Nr. 578); das Zitat findet sich im Manuskript B (vgl. Reti 1996 S. 189).
Turin, Bibliotheca Reale, Inv. 15583r
[Pedretti 2009 dà B 100r] Lücke S. 657
CA 158r (ex 56v-b), CA 518v (ex 217v-a), CA 979ii (ex 353r-c). Es ist allerdings umstritten, ob das erste Radschloss wirklich von Leonardo oder nicht doch von Nürnberger Uhrmachern stammt. Vgl. Reti 1996, S. 182
CA 1070r/1071r (ex 387r-a/b) und CA 498r (ex 182r-b)/CA 182v-b (ex 64v-b)
Zit. nach Gille 1968, S. 212
VU 13 r.Zit. nach MacCurdy 1958 S. 413
C 7 rzit. nach Reti 1996 S. 182
S. auch Ma I 147r. Beide Blätter stammen aus den Jahren um 1490.
RL 12275r
Keele 1983
Machiavelli 1986
TP 177
Leic 22v
CA 669r (ex 247)
CA 608v (ex 224v-b). Für die Deutung der Promemoria Ligny genannten, verschlüsselten Notiz s. Vecce 1998 und darin zitierte Literatur.
CA 638ii (ex CA 234r-b)
Vecce 1998.
Paolo Capello, zit. nach Burckhardt 2004 S. 147
L 2r
Masters 1995
CA 628e (ex 230v-c); RL 12277
Vecce 1998
Coulas 2005
Montanari 2000 S. 22
Pedretti 1980
CA 1br (ex 1r-b), siehe a. Farago 1999 S. 393
Kemp 1981 S. 230
L 80v
Dies sind die Umleitung des Arno, das Anghiarischlacht-Fresko und die Mission in Piombino.
Dass Leonardo zu dieser Zeit in Imola weilte, ist wahrscheinlich, aber nicht gesichert. Seine Nähe zu Borgia kann nach dem Oktober 1502 nicht mehr nachgewiesen werden; umgekehrt aber gibt es bis zum März 1503 auch keine Dokumente, die seinen Aufenthalt in Florenz belegen würden. Siehe Kemp 1981
L 43v, Marani 1984
Vasari 2006
CA 1033v (ex 370v-a)
Boffito 1921
Vgl. Solmi; zit. nach Boffito 1921
Cardano 1611, S. 816
Galluzzi 1996
Simon Magus gilt als erster Herätiker des Christentums. Die apokryphen Petrusakten berichten, wie er sich in die Luft erhoben haben soll, um seine Göttlichkeit zu beweisen.
Vom Gottesstaat 8,15
Siehe z.B. Behringer und Ott-Koptschalijski 1991
Für eine guten Überblick der neuplatonischen Renaissancephilosophie siehe Kristeller 1972
CA 186 (ex 66v-b) Lücke S. 908
Tansillo lebte von 1510 bis 1568 und damit eine Generation nach Leonardo vor allem in Neapel. Zit. nach Burke 1984 S. 231
24. Gesang, Z. 49–51. Bei Leonardo CA 43v (ex 12v-a)
Laurenza 2004
CA 747r (ex 276r-b)
CA 201r (ex 74r-a)
CA 844r (ex 308r-a)
RL 19115r
F 53v
Zit. nach Kemp 1981, K 2184
Siehe z.B. VU 15 (14) v
CA 434r (ex 161r-a)
CA 1006v (ex 361v-b)
B 74v
VU 17, Lücke S. 304f
Ma 64r
E 23, 45, 46, CA 1098r-b (ex 395r-b)
Giacomelli 1936 S. 181f
G 8r
Der Grund hierfür ist allerdings nicht, dass sich die Luft oberhalb des Flügels schneller bewegen muss, weil sie einen längeren Weg hat. Dass diese oft gehörte Vorstellung falsch ist, lässt sich im Windkanal zeigen. Vielmehr entsteht dadurch, dass die Strömung der Luft unter der Tragfläche am hinteren Flügelende abreißt, eine sogenannte Zirkulation – eine in sich geschlossene Wirbelströmung um das Flügelprofil. Diese Kreisströmung verläuft über der Tragfläche in Flugrichtung. Ihre Geschwindigkeit addiert sich zur Fluggeschwindigkeit, sodass die Luft über der Tragfläche schneller als Fluggeschwindigkeit strömt. Unterhalb der Tragfläche dagegen strömt die Zirkulation gegen die Flugrichtung, weswegen die Gesamtgeschwindigkeit der Luft hier geringer ist.
CA 195r (ex 71r). Ungewiss ist, ob die Zeile überhaupt von Leonardo selbst geschrieben wurde, siehe PC S. 386. Auf demselben Blatt allerdings erscheint eine melancholische Betrachtung Leonardos über den Lauf der Zeit und die Vergeblichkeit von Bemühungen.
Olschki 1958, S. 374
CA 1105r (ex 397r-a)
Gille 1968
CA 875r (ex 318r)
Pedretti 1957
Lomazzo 1973
Mazenta 1919 S. 45
Galluzzi 1996
For II 92v, deutsch Lücke S. 629
CA 812r (ex 296v), CA 878v (ex 320v), GDS 4085A r GDS 446r, CA 926r (ex 339r a), CA 656r (ex 347r b)
Ähnliche, wenngleich wohl sehr viel weniger raffinierte Vergnügungsmaschinen hat es an den Höfen Europas immer wieder gegeben. Wirtschaftsbücher des Herzogs von Burgund aus dem 13. Jahrhundert etwa berichten von einer Horde mechanischer Affen und einem hydraulischen Hirschen. Siehe Daston und Park 2002, S. 113
Daston und Park 2002
Gombrich 1988
RL 19070v, TP 222r
CA 579r (ex 216v-b)
RL 12716 und RL 12688. Siehe auch Pedretti 1980
Viel simplere Nachbauten der hydraulischen Maschinen aus dem Orient besaß der burgundische Hof im 14. Jahrhundert. Siehe Daston und Park 2002.
Ar 155r, zit. nach Lücke S. 916f.
CA 500 (ex 182v-c); zit. nach Keele 1983, S. 38
Vasari 2006
Siehe Turner 1994 und darin zitierte Literatur; Sarton 1958, Roberts 1990
Unter »Seele« verstand Leonardo nicht ein metaphysisches Etwas, sondern ein Organ, in dem alle Sinneseindrücke zusammenlaufen und sich zu einem Urteil über das Wahrgenommene fügen. Siehe Kapitel »Letzte Fragen«.
RL 19027v, RL 19028v, zit. nach Lücke S. 48
Henderson 2006
Diana 1996, S. 16
RL 19070v; zit. nach Lücke S. 91
RL 19070v
RL 19009r
RL 19028; zit. nach Lücke S. 48
RL 19027v
Leic 34r, zit. nach Lücke S. 20.
K 49r
Ma II, 67r
Die Theorie stammt von Hippokrates und Plato.
Zwijnenberg 2002
Della Torre machte Leonardo sehr wahrscheinlich auch mit den Originalschriften Galens vertraut. Bis dahin dürfte Leonardo, der nie eine Universität besucht hatte und kaum Latein verstand, nur aus den Interpretationen anderer über die Theorien des antiken Arztes erfahren haben. Unter Della Torres Anleitung konnte er sich nun endlich auch von den Erkenntnissen dieses antiken Anatoms ohne Umweg über Irrtümer aus zweiter und dritter Hand anregen lassen.
K 119r
RL 19127r
RL 19003v und RL 19011v
RL 19071r, zit. nach Lücke S. 91
RL 12282v
F 1r
RL 19115r
RL 19001r
RL 19061r
RL 19084r, zit. nach Lücke S. 18
RL 19073r, RL 19074v, RL 19076v, RL 19079v, RL 19082r, RL 19083r, RL 19084r, RL 19087r, RL 19088r. Von vermutlich früherem Datum, aber thematisch verwandt sind RL 19116r, RL 19117v. Die Datierung folgt Kemp 2007.
Kilner et al. 2000
RL 19082
RL 19076v
RL 19116-19117v
Kemp 1981, S. 294
RL 19007
RL 19070v, deutsch nach Lücke S. 91
Roberts 1999, Heydenreich 1954
Heydenreich 1954, S. 147
RL 12579
CA 335r-a, CA 141v-b
Leic 21v
Leic 31r
Leic 9v
Für eine Geschichte der Paläontologie siehe Rudwick 1972
Leic 3r
Leic 8v
Leic 10r. Das alles heiße aber noch nicht, dass das Alte Testament lügt: Eine gewaltige Überschwemmung mag sich durchaus zugetragen haben – darüber wagte Leonardo kein Urteil. Nur sei die Sintflut nicht für die von ihm gefundenen Fossilien verantwortlich zu machen.
E 4v und Leic 8v
Ar 58v
Leonardo hat in dieser Frage, wie in so vielen anderen auch, im Lauf seines Lebens die Meinung geändert. Als junger Mann glaubte er noch an einen geschichtsmächtigen Gott: »Ich gehorche Dir, Allmächtiger, erstens wegen der Liebe, die ich Dir vernünftigerweise entgegenbringen muss, und zweitens, weil Du das Leben der Menschen verkürzen und verlängern kannst.« (For III 29r, deutsch Lücke S. 15) So schrieb er in seinem ältesten erhaltenen Notizbuch, das aus den ersten Mailänder Jahren stammt.
A 24r, zit. nach Lücke S. 394
Die Humanisten dachten sich die Wissenschaft nicht zweckfrei: Sie hatten durchaus ihren Nutzen im Sinn, doch sahen sie diesen in der Bildung des Menschen. Die genannte Argumentation stammt von Coluccio Salutati (1330–1406), der drei Jahrzehnte lang in Florenz das einflussreichste politische Amt des Kanzlers besetzte. Zit. nach Zubov 1968 S. 92.
VU 12r
RL 19084
CA 327v (ex 119v). Für »Sinneswahrnehmung« gebraucht Leonardo »esperienzia«.
RL 19115r
RL 19102r
Auf der Rückseite von RL 19102v zeichnete er ein Embryo 4 bis 6 Wochen nach der Empfängnis, wobei er das Eidotter (»zitronengelb«) von der »kristallklaren« Flüssigkeit des Fruchtwassers und der Allantois genannten embryonalen Harnblase unterscheidet. Auch machte er sich Gedanken darüber, warum die Leber in diesem Stadium mittig im Körper des Ungeborenen zu finden ist, später aber auf die rechte Seite des Leibes wandert. Er beschrieb also die Entwicklung des Embryos in der frühesten Phase nach der Empfängnis. Keele und Pedretti nannten dieses Blatt »eines der vollendetsten Beispiele für Leonardos Fähigkeit, Wissenschaft schön darzustellen«. Auf RL 19101v machte er sich Gedanken über den Akt der Fortpflanzung von Beginn an: »Die Frau hat im allgemeinen einen Wunsch, der dem des Mannes direkt entgegensteht. Es ist der, dass die Frau sich die Größe der Geschlechtsorgane eines Mannes so groß wie möglich wünscht, und der Mann wünscht sich das Gegenteil vom Geschlechtsorgan der Frau, wobei weder der eine noch der andere Wunsch erfüllt wird, weil die Natur, der man keinen Vorwurf machen kann, sie so zum Zweck des Gebärens geformt hat.«
Laurenza 2004 (a)
RL 19102r; zit. nach Lücke S. 97
CA 166r (ex 59r-b)
RL 19001r.
B 4v
H 33v.Zit nach Lücke S. 8
Frommel 1964
CA 207v (ex. 76v a), zit. nach Lücke S. 2
Ar 158r; s. Lücke S. 917
Triv 34v, S. 68
In den Blättern der Sintflut-Serie zählt Clark RL 12377 bis RL 12386. RL 12376, auf dem versprengte Reiter zu sehen sind, ist vermutlich unmittelbar vorher.
RL 12380r
Ar 156v
CA 671r (ex 247v-b), deutsch Lücke S. 877-878
CA 680r (ex 252r-a). (Pedretti 1975).
Cellini 1968, S. 858-860
CA 785b-v (ex 289v-c)
Das datierte Blatt ist CA 673r (ex 249r-a-b). Die Worte »etcetera …« finden sich auf Ar 245r, das aber ganz offensichtlich mit CA 673r zusammengehört: Beide Blätter sind auf identische Weise schwärzlich verfärbt; Leonardos Handschrift, der Strich der Feder und vor allem die Dreiecksdiagramme gleichen sich. Daher ist anzunehmen, dass Leonardo CA 673r und Ar 245r am selben Tag bearbeitete. (Pedretti 1975)
Daten des Population Reference Bureaus, Washington DC
RL 12283r, das von Carlo Pedretti zutreffend so genannte »Themenblatt«
Im Geiste mit Bildern und Formen zu jonglieren stellt hohe Forderungen an das Wahrnehmungsvermögen. Der Grund liegt in der Funktionsweise des menschlichen Verstandes: Wie die neuropsychologische Forschung zeigte, beruhen Vorstellung und Wahrnehmung zu weiten Teilen auf den selben Hirnfunktionen. Tatsächlich verhalten sich beide fast so zueinander wie die zwei Seiten derselben Medaille. Wer genau hinsieht, schärft darum auch sein Denken in Bildern, aber ebenso stimmt die Umkehrung. Einen ersten Beweis gaben die Versuche von Roger Shepard und Jacqueline Metzler zum räumlichen Denken: Die beiden amerikanischen Kognitionspsychologen zeigten Versuchspersonen Abbildungen von mehreren verwinkelten Gebilden (die ungefähr so wie Ikea-Vierkantschlüssel aussahen). Manche dieser Figuren waren unterschiedlich, andere glichen sich, waren aber zueinander verdreht. Um das herauszufinden, brauchten die Probanden umso länger, je weiter die Gestalten verdreht waren. Offenbar funktionierte die Rotation vor dem inneren Auge genau so, als ob die Versuchspersonen den Gegenstand tatsächlich in der Hand hätten und zuschauen würden, wie er sich dreht. Seither haben viele Experimente die überaus enge Verbindung von Wahrnehmung und Vorstellung auf anderen Gebieten bestätigt. Ob es sich um Farben oder Formen, Töne oder Gesichter handelt – stets macht das Gehirn beim Verarbeiten von Sinneseindrücken von den selben Regionen Gebrauch wie beim Spiel mit der Phantasie. Siehe Shepard und Metzler 1971. Einen ausführlichen und aktuellen Überblick über den Zusammenhang von Wahrnehmung und Vorstellung geben Bartolomeo 2002 und die darin zitierte Literatur.
»Wenn du in ein Gemäuer hineinschaust, das mit vielfachen Flecken beschmutzt ist, oder auf buntgefleckte Steine … so wirst du dort Ähnlichkeiten mit diversen Landschaften finden, die mit Bergen geschmückt sind, Flüsse, Felsen, Bäume – Ebenen, große Täler und Hügel in wechselvoller Art; auch wirst du dort allerlei Schlachten sehen und lebhafte Gebärden von Figuren, sonderbare Gesichter und eine endlose Vielzahl von Dingen, die du auf eine willkommene und gute Form zurückbringen kannst.« BN 2037 22v. (Ich habe über die Grundlagen dieser Methode in meinem Buch »Alles Zufall« ausführlich geschrieben.)
Moderne Längsschnittstudien bestätigen eindrucksvoll, welche Bedeutung eine frühe Lehrer-Schüler-Beziehung in den Lebensläufen von Menschen einnimmt, die mit einem bedeutenden Beitrag in ihrer Disziplin hervorgetreten sind. Besonders gründliche Untersuchungen stammen vom amerikanischen Kognitionspsychologen Benjamin Bloom (1985); er interviewte die 120 besten jungen Pianisten, Bildhauer, Mathematiker und Hirnforscher der USA. Kaum etwas in deren Lebensläufen gab früh Hinweis auf eine spektakuläre Begabung. Wenn überhaupt, dann zeichneten sich die späteren Stars durch zähen Fleiß aus – und in dem Maß an Unterstützung, die sie bei ihrem Training erfuhren. Regelmäßig waren die Eltern zu großen Opfern für die Karriere dieser Kinder bereit: Sie investierten Zeit, Geld und wechselten oft sogar den Wohnort, damit ihr Nachwuchs die besten Lehrer bekommt. Auffällig oft berichteten die zu Ruhm Gelangten von einer starken Bindung an ihre Mentoren: Höchstleistungen gedeihen in einem Klima emotionaler Nähe. Er habe nach außergewöhnlichen Kindern gesucht, aber außergewöhnliche Umstände gefunden, resümiert Bloom sein Ergebnis. Jedenfalls lassen sich Höchstleistungen nicht alleine mit Hochbegabung erklären. Denn wie sich ebenfalls an Längsschnittstudien zeigen lässt, fallen die weitaus meisten Hoch- und Höchstbegabten zeitlebens nicht mit außergewöhnlichen Leistungen oder Lebensläufen auf. (Terman 1959, Subotnik et al. 1993. In Deutschland hat sich das Marburger Hochbegabtenprojekt [MHP] mit einer der größten europäischen Längsschnittstudien zur Entwicklung sowohl Hochbegabter als Hochleistender verdient gemacht, siehe Rost 2000.) Ebensowenig lässt außergewöhnlicher Erfolg auf außergewöhnliche Intelligenz schließen. Bei der Mehrzahl derer, die in den Wissenschaften, als Künstler oder auch als Schachgroßmeister hervortreten, werden zwar überdurchschnittliche IQ zwischen 115 und 130 gemessen (Dobbs 2006, Ross 2006). Aber das ist keine sehr starke Voraussetzung, denn auf solche Werte kommen immerhin 14 Prozent der Bevökerung – allein in Deutschland mehr als 11 Millionen Männer und Frauen. Künstler, Wissenschaftler, auch Sportler nämlich, die die Weltspitze erreicht haben, zeichnen sich in Reihenuntersuchungen durchgängig dadurch aus, dass sie schon früh weitaus mehr und härter an ihren Fähigkeiten gearbeitet haben als ihre nicht ganz so herausragenden Kollegen. Sie nehmen auf jeder Stufe ihres Weges Herausforderungen an, die jenseits des ihnen zu diesem Zeitpunkt Möglichen liegen, und geben nicht auf, bis sie alle Widerstände überwunden haben. Dieser Hartnäckigkeit verdanken sie letztlich ihren Erfolg. Denn ganz gleich, welche Fertigkeiten Menschen erlangen: Fast immer wird überschätzt, welche Rolle Talent spielt, und weit unterschätzt, wie sehr es auf Training ankommt. Ohne unermüdliche Arbeit bleiben die besten Anlagen nutzlos. (Ausführliche Daten hierzu bietet Ericsson et al 2006. Nach seiner extremen, doch einflussreichen und gut begründeten Ansicht sind die Quantität und die Qualität des Trainings sogar allein entscheidend dafür, welches Leistungsniveau Menschen erreichen: Siehe Ericsson und Lehman 1996.)
Perugino, Lorenzo di Credi und mehrere andere, die sich später auf dem hart umkämpften florentinischen Markt durchsetzten konnten, gingen aus seiner Werkstatt hervor.
Vecce 1998
CA 692r (ex CA 257r-b)
RL 12701
Für Irene
Leonardo, gesehen von Melzi
Im Jahr 1520 verließ ein Edelmann das Schloss des französischen Königs in Amboise. Er überquerte die Loire, ritt mit seinem Gefolge ein Stück weit den Flusslauf entlang und verschwand dann in den südlichen Wäldern. Mit sich führte er eine Kiste. Das Gepäckstück war nicht sonderlich groß, aber so schwer, dass zwei Männer anpacken mussten, um es zu bewegen. Dennoch ließ Francesco Melzi seine Kiste auf der wochenlangen Reise nach Italien keinen Moment lang aus den Augen. Endlich in Mailand angekommen, wandten sich die Gefährten nach Osten. Nach einer weiteren Tagesreise erreichten sie eine Anhöhe über dem Ort Vaprio d’Adda am Fuß der Alpen, wo der junge Mann vor einer imposanten Villa absatteln ließ. Es war der Landsitz seiner Familie. Man schaffte die Kiste in ein Obergeschoss. Dort sollte Melzi seinen Schatz während der nächsten 50 Jahre bewachen.
Oft besuchten ihn Abgesandte der Herrscherhäuser Italiens, zu denen es sich herumgesprochen hatte, welch einzigartigen Besitz Melzi hütete. Er schickte sie fort. Hatte er als Schüler seinem Meister über ein Jahrzehnt lang treu gedient, war er ihm bis an die Loire gefolgt, um jetzt sein Werk zu verhökern? Leonardo da Vinci war tot, am 2. Mai 1519 am Hof Franz’ I. von Frankreich gestorben, Melzis Zuneigung zu ihm aber lebendiger denn je. »Er war wie der beste aller Väter zu mir«, hatte er aus Amboise an Leonardos Halbbrüder geschrieben, »solange meine Glieder zusammenhalten, werde ich die Trauer empfinden. Jeder muss über den Tod eines solchen Mannes betrübt sein, denn einen wie ihn zu erschaffen hat die Natur nicht mehr die Macht.«[1]
Melzi begann, sein Erbe zu sichten. An die 10000 Blätter hatte ihm Leonardo vermacht – von den Gemälden abgesehen sein ganzes riesiges Werk. Das Vermögen des jungen Adeligen erlaubte es ihm, sich ganz der Hinterlassenschaft seines Lehrers zu widmen, doch schnell erkannte er, dass ein Leben nicht ausreichen würde, um Ordnung in diesen Nachlass zu bringen. Er stellte zwei Sekretäre ein und versuchte, ihnen wenigstens einen Bruchteil von Leonardos Ideen zu diktieren. Im Übrigen malte er, so, wie es ihm der Meister beigebracht hatte. Gästen, die schauen, nicht kaufen wollten, gewährte er bereitwillig Einlass in das Allerheiligste der Villa – das Zimmer, in dem Leonardo einst selbst gewohnt hatte und in das nun seine Schöpfungen zurückgekehrt waren.
Riesige Bögen stapelten sich da, aber auch Notizbücher kleiner als ein Handteller, von Leonardo selbst in Leder gebundene Kladden und vor allem eine unübersehbare Menge loser Papiere in allen Formaten. Sie zeigten weit mehr als nur die Entwürfe eines außergewöhnlichen Künstlers. Das Abbild eines ganzen Lebens war hier zu besichtigen – der beispiellose Aufstieg des unehelichen Sohnes einer Tagelöhnerin zu einem Mann, um dessen Gegenwart die Mächtigen Italiens warben und der sich schließlich im hohen Alter für die Freundschaft des Königs von Frankreich entschied. Der Weg eines Jungen, der nie eine höhere Schule besucht hatte, aber als berühmtester Maler aller Zeiten und zugleich als Wegbereiter der Wissenschaft in die Geschichte eingehen sollte. Ob je ein Besucher Melzis Sammlung so studierte, wie sie es verdiente, wissen wir nicht; Leonardos Spiegelschrift machte es niemandem leicht. Wer aber die Mühe auf sich nahm, die Zeilen von rechts nach links und die Hefte von hinten nach vorne zu lesen, der erfuhr von Leonardos Kriegszügen mit dem gefürchteten Feldherrn Cesare Borgia, von abenteuerlichen Fluchten, von Ärger mit dem Papst: Der Meister aus Vinci hatte Triumph und Scheitern erlebt, Existenzangst und grenzenlosen Luxus gekannt, er wurde verachtet und als göttlich verehrt.
Aber wer seine Skizzen betrachtete, tat auch einen Blick in eine ferne Zukunft: Er bekam einen Vorgeschmack auf eine Zeit, in der die Menschen die Kräfte der Natur verstehen und sich mit Maschinen umgeben würden. Zu sehen waren Flugapparate, fürchterliche Katapulte, Automaten von Menschengestalt, durchtunnelte Berge. Manchmal hätte der Besucher ein Blatt nur wenden müssen, und schon wäre er eingetaucht in eine ganz andere, aber nicht minder fantastische Welt: Mit Kreide und Tusche hatte Leonardo das Innere eines menschlichen Herzens gezeichnet, auch, wie ein Fötus im Mutterleib wächst. Andere Darstellungen zeigten Landschaften und Städte Italiens so, wie ein Betrachter aus dem Flugzeug sie sähe.
Nicht zuletzt offenbarte Leonardos Geist in Melzis Zimmer sich selbst. Da waren Gedanken und Träume niedergeschrieben; Prophezeiungen und eine Lebensphilosophie, Theorien über den Ursprung der Welt, Pläne für Bücher, selbst Einkaufslisten hatte Leonardo notiert. Vermutlich trug der Meister seine Notizbücher am Gürtel festgeschnallt, jedenfalls muss er sie ständig mit sich geführt haben, damit sich kein Gedanke verflüchtigen konnte. Selten hat ein Mensch so vollständig die Regungen seines Geistes erfasst. Wer Leonardos Aufzeichnungen verstand, konnte dem Verstand des Meisters auf seinen Höhenflügen folgen, wurde Mitwisser seiner Zweifel und Widersprüche. Denn die Aufzeichnungen dokumentierten auch das innere Selbstgespräch eines einsamen Mannes, seine Angst, den eigenen Ansprüchen nicht zu genügen, und sein Wissen um die Kosten des Ruhms: »Als der Feigenbaum ohne Frucht da stand, sah keiner ihn an. Im Wunsch, Früchte zu tragen und Lob zu bekommen, ließ er sich von Menschen verbiegen und brechen.«[2] Was Melzi in seiner Kiste aus Frankreich in seine Villa geschafft hatte, war nicht weniger als eine Innenansicht von Leonardos Gehirn.
Eine der 10000 Seiten: Überlegungen zum Vogelflug
Aber Melzis Schatz ist zerstört. Als Leonardos einstiger Lieblingsschüler im Jahr 1570 hochbetagt starb, bewies sein Sohn Orazio für die Leidenschaft seines Vaters nicht das geringste Verständnis. Er ließ die Plünderer zugreifen. Der Hauslehrer der Familie verschickte 13 gestohlene Bände an den Großherzog der Toskana. Ein riesiger Packen ging an einen Bildhauer namens Pompeo Leoni, der seinerseits versuchte, Ordnung in die Beute zu bringen, und dazu mit Schere und Leim über Leonardos Werke herfiel. Zeigte ein Blatt mehrere Skizzen, deren Zusammenhang Leoni nicht verstand, zerschnitt er es einfach. Er klebte die Fragmente auf Bögen, band diese zu Folianten zusammen und verkaufte sie. So begann Leonardos Nachlass zerfetzt und zerstreut wie Konfetti über die Bibliotheken Europas zu regnen. Ein großer Teil des Erbes ist verschollen. Von den wohl einst an die 10000 Seiten, die Melzi besaß, ging fast die Hälfte verloren. Wer den Rest studierte, konnte zwar spektakuläre Zeichnungen des Meisters bewundern, doch die Zusammenhänge waren zerstört. Der Geist Leonardos erschloss sich nicht mehr.
Und doch konnten die Plünderer Leonardos Nachruhm nicht schaden. Denn wo die Spuren verwischt sind, kann ein Mythos entstehen. An unzählige Künstler erinnern sich bald nach ihrem Tod nur noch ein paar Spezialisten, obwohl ihre Schöpfungen bestens erhalten und jedermann zugänglich sind. Leonardo hingegen, von dem man nicht einmal zwei Dutzend Werke öffentlich betrachten kann, fasziniert heute, ein halbes Jahrtausend nach seinem Tod, Millionen.
Sie fühlen sich angezogen von seinen Bildern, mehr noch aber von seiner Person: Wie konnte ein Mensch scheinbar das Wissen der ganzen Welt in sich vereinigen – und seine Kenntnisse in ein Werk ohnegleichen übersetzen? Wie vermochte er epochale Gemälde zu erschaffen – und zugleich intensiv über Flugmaschinen, Roboter, allerlei andere Apparate und eine große Bandbreite wissenschaftlicher Fragen nachzusinnen? Dass jemand in der Spanne eines Menschenlebens auf so vielen Gebieten zugleich tätig sein konnte, erscheint uns als ein Wunder.
Schon sein erster Biograph, der toskanische Maler und Architekt Giorgio Vasari, nannte diesen Mann »göttlich«. Das war 1550. Und je mehr Zeit verstrich, umso weniger war es begreiflich, wie ein Mensch des 15. Jahrhunderts all diese Werke hervorbringen konnte. Als gegen Ende des 19. Jahrhunderts die ersten Faksimiles von Leonardos verstreuten Skizzen der Öffentlichkeit zugänglich wurden, wuchs die Gestalt des Meisters aus Vinci ins schier Unermessliche; Leonardo wurde zum Inbegriff des »Universalgenies«. Selbst Sigmund Freud, der Schöpfer der Psychoanalyse, fand diese romantische Vorstellung plausibel: Leonardo habe einem Menschen geglichen, der in der Finsternis zu früh erwacht war, während alle anderen noch schliefen – so weit war er seiner Epoche voraus. Die wenigsten, die heute die Mona Lisa, das Abendmahl oder die selten zu sehenden Zeichnungen des Meisters bewundern, würden widersprechen.
Was im Übrigen von Leonardo, dem Sohn des Ser Piero aus Vinci, überliefert ist, nährte die Legenden erst recht. Seine Notizen sowie die Aussagen von Zeitgenossen zeichnen ihn als einen höchst widersprüchlichen, extravaganten Charakter. Er war stolz darauf, dass er als Maler, anders als die Bildhauer, sich bei der Arbeit nicht die Hände beschmutzen musste – aber sezierte Dutzende verwesender Leichen. Er bekundete eine hohe moralische Gesinnung als Vegetarier und Pazifist – und stellte sich zugleich in den Dienst blutrünstiger Tyrannen, für die er Massenvernichtungswaffen entwarf. Er zeigte sich gegenüber der Religion zeitlebens kritisch, wofür man ihn sogar einen Häretiker schimpfte – dennoch schuf Leonardo Gemälde, aus denen eine tiefe Gläubigkeit spricht. In hohem Alter schloss er sich sogar einer Ordensgemeinschaft an.
Während die Künstler seiner Zeit eine schlichte Handwerkerkluft trugen, kam er in einem knielangen, rosenfarbigen Mantel daher, trug mit Edelsteinen besetzte Ringe, und »sein schönes, wohlgepflegtes Haar fiel ihm bis zur Mitte auf die Brust«.[3] Ein wahrscheinlich von Melzi gezeichnetes Portrait zeigt Leonardo als einen Mann in den besten Jahren mit perfekt ebenmäßigen Zügen; in den Augenwinkeln stehen Lachfältchen (Seite 8). Er sei äußerst anziehend und weltgewandt gewesen, heißt es, habe aufs angenehmste gesungen und die Laute gespielt. Doch in seinen Aufzeichnungen finden sich Passagen, die auf große Einsamkeit schließen lassen.
Dass es Leonardo uns schwer macht, ihn zu begreifen, steigert freilich nur die Faszination, die er auf uns ausübt. Je rätselhafter ein Mensch uns erscheint, umso größer wird die Freiheit, die Leerstellen und Brüche in seiner Persönlichkeit mit Fantasien auszufüllen. Er lässt uns träumen. Wie frisch Verliebte in IHM oder IHR vor allem die eigenen Wunschbilder sehen, so ist auch Leonardo ein Spiegel unserer Sehnsüchte geworden. Wir verehren in ihm Geistesgröße, Erfolg – und Unsterblichkeit. Was von einem Menschen bleibe, seien die Träume, die wir mit seinem Namen verbinden, behauptete der französische Dichter Paul Valéry im Jahr 1894 über Leonardo da Vinci.
Doch Leonardo kann uns heute viel mehr geben als einen Traum. Die wahre Bedeutung seines Schaffens ist freilich erst in jüngster Zeit deutlich geworden, als Forscher sich die Blätter und Folianten aus Melzis Villa erneut vornahmen. In jahrzehntelanger Anstrengung haben sie die über Europa und Amerika verstreuten Bruchstücke aus Leonardos Notizbüchern wieder zusammengesetzt. Zudem warf der spektakuläre Fund eines verschollen geglaubten Codex neues Licht auf Leonardos Schaffen. Vor allem aber wird Leonardo nun endlich nicht mehr nur als Künstler, sondern auch als Erforscher der Welt ernst genommen. Seit einigen Jahren haben Experten auf allen möglichen Gebieten begonnen, sich mit dem Meister aus Vinci zu befassen. Während den Kunsthistorikern, die sich Leonardo bislang vornehmlich widmeten, viele Skizzen und Gedankengänge in den Notizbüchern unverständlich blieben, können Herzchirurgen, Physiker oder Ingenieure sie aus Sicht ihres Fachs nachvollziehen – und geraten ins Staunen.
Solche Forschungen waren der Ausgangspunkt für dieses Buch. Es will keine Künstlerbiographie sein, die von außen einen Blick auf das Leben des Meisters zu werfen versucht. Vielmehr geht es darum, einen der ungewöhnlichsten Menschen, den es je gab, gleichsam von innen her kennenzulernen – und die Welt durch seine Augen zu sehen. Denn das einzigartige Zeugnis seiner Notizbücher erlaubt es uns, Leonardos Gedanken zu folgen. Fast fünfhundert Jahre nach seinem Tod sind wir erstmals imstande, diese Aufzeichnungen systematisch zu lesen und zu verstehen – und von Leonardo zu lernen.
Denn als sein wertvollstes Vermächtnis stellen sich weder die 21 Gemälde noch die schätzungsweise 100000 Zeichnungen und Skizzen heraus, die er hinterließ. Vielmehr hat Leonardo eine neue Art zu denken erfunden, die uns mehr denn je Inspirationsquelle sein kann.
In seiner Herangehensweise fand er die Antwort auf eine Epoche, in der alte Gewissheiten plötzlich nicht mehr galten und in der sich die Menschen mit bis dahin ungeahnten Problemen auseinanderzusetzen hatten – nicht anders als wir heute. Leonardo war viel mehr als nur ein herausragender Künstler: Er erforschte die Welt und erfand sie neu.
Das Antlitz der Mona Lisa
»Darshan« nennt die indische Philosophie den Anblick des Göttlichen auf Erden. Einen Guru zu treffen kann Darshan bedeuten, doch meist handelt es sich um die Begegnung mit einem besonderen Bildnis. Um Darshan zu erleben, nehmen gläubige Hindus weite Reisen auf sich. Am Ziel angelangt machen sie sich auf den Weg durch oft labyrinthische Tempel, drängen sich an Tausenden anderer Pilger vorbei ins enge, düstere Allerheiligste, wo sie endlich das Idol mit eigenen Augen erblicken.