[*]
siehe «Race», Writing and Difference, Henry Louis Gates (Hg.), Chicago, 1986
[*]
Ein Beispiel von vielen: Ivan Van Sertima: They Came Before Columbus – The African Presence in Ancient America, New York, 1976, XVI–XVII
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Tzvetan Todorov, «‹Race›, Writing, and Culture», in Gates, «Race», Writing, and Difference, S. 370–80
[*]
Terrence Rafferty: «Articles of Faith», New Yorker, 16. Mai 1988, S. 110–18
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Martin Bernal: Schwarze Athene – Die afrikanischen Wurzeln der griechischen Antike, München, 1992, S. 33
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Ibid., S. 459
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Ibid., S. 496
[*]
Michael Paul Rogin: Subversive Genealogy: The Politics and Art of Herman Melville, Berkeley, 1985, S. 15
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Anmerkung der Autorin: Das ältere Amerika unterscheidet sich nicht immer vom kindlichen. Wir mögen dem Edgar Allen Poe von 1843 verzeihen, aber Kenneth Lynn hätte 1986 vielleicht der Gedanke kommen können, dass eine junge Indianerin seine Hemingway-Biographie lesen und sich darin von diesem angesehenen Wissenschaftler als «Squaw» bezeichnet finden könnte oder dass es so manchen jungen Mann vielleicht kalt überläuft, wenn er auf die Worte «buck» (Bock, junger Mann) und «half-breed» (Halbblut) stößt, die der Autor in seinen gelehrten Erörterungen so beiläufig verwendet.
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Michael Paul Rogin: Subversive Genealogy, S. 107 und S. 142
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Ibid., S. 112
Autoritäre Regime, Diktatoren, Despoten sind oft, wenn auch nicht immer, dumm. Aber nie sind sie so dumm, wachsamen Autoren aus dem gegnerischen Lager den Freiraum zu gewähren, den diese für die Veröffentlichung ihrer Meinung und das Ausleben ihrer kreativen Impulse benötigen. Sie wissen um das Risiko. Sie sind nicht so dumm, die Kontrolle über die Medien, sei sie offen oder verhüllt, aufzugeben. Ihre Methoden umfassen die Überwachung, die Zensur, die Verhaftung und sogar die Liquidierung der Autoren, die die Öffentlichkeit informieren und wachrütteln – Autoren, die Unruhe stiften, die Fragen stellen, die genauer hinschauen. Schreibende – ob Journalisten, Essayisten, Blogger, Dichter oder Dramatiker – können die gesellschaftliche Schweigespirale durchbrechen, die die Menschen in das Wachkoma versetzt, das die Despoten «inneren Frieden» nennen, und sie stillen den Blutstrom des Krieges, an dem sich die Falken und Gewinnler erregen.
Das ist es, was die Despoten fürchten.
Was wir zu fürchten haben, ist von anderer Dimension.
Wie öde, wie unerträglich, wie unlebbar wird das Leben, wenn ihm die Dimension der Kunst entzogen wird. So dringlich es ist, das Leben und das Werk von Autoren zu schützen, die in Gefahr sind, so wenig dürfen wir vergessen, dass ihr Verschwinden, das Ersticken ihrer Stimme, die gnadenlose Amputation ihres Werks auch eine Gefährdung unserer selbst darstellt. Die rettende Hand, die wir ihnen ausstrecken, ist in unserem eigenen Interesse.
Wir alle kennen Länder, deren entscheidendes Merkmal darin besteht, dass ihre Autoren ihnen den Rücken kehren. Es sind Regime, deren Angst vor unzensiertem Schreiben berechtigt ist, weil die Wahrheit Ärger bedeutet. Ärger für den Kriegstreiber, den Folterer, den Wirtschaftskriminellen, den rückgratlosen Journalisten, die korrupte Justiz und auch die komatöse Öffentlichkeit. Autoren, die nicht verfolgt, nicht eingesperrt, nicht bedroht werden, bedeuten Ärger für den ignoranten Machthaber, den verschlagenen Rassisten und die Raubtiere, die sich an den Ressourcen unserer Welt vergreifen.
Die Besorgnis, die Unruhe, die Schriftstellerinnen und Schriftsteller auslösen, ist heilsam, weil sie offen und empfindlich macht; weil sie, wenn nicht von den Autoritäten eingehegt, als bedrohlich erlebt wird. Deshalb ist die Unterdrückung von Schriftstellern von jeher das erste Warnzeichen für die bald darauf folgende Erosion von Freiheiten und Bürgerrechten. Die Geschichte der verfolgten Autoren reicht so weit zurück wie die Literaturgeschichte selbst. Und die Versuche, uns zu zensieren, uns auszuhungern, uns in unserer Handlungsfreiheit einzuschränken und zu vernichten, sind untrügliche Zeichen, dass etwas Gravierendes geschehen ist. Gesellschaftliche und politische Kräfte können jegliche Kunst hinwegfegen, die nicht «sicher», nicht staatlich abgesegnet ist.
Ich habe mir sagen lassen, es gebe zwei menschliche Reaktionen auf die Erfahrung von Chaos: Benennung und Gewalt. Ist Chaos schlicht nur das Unbekannte, ergibt sich die Benennung wie von selbst – eine neue Art oder Formel oder Gleichung, ein neuer Stern, eine Prognose. Es gibt die Möglichkeit der Eingrenzung, des Kartographierens, des Ersinnens von Namen für namenlose oder ihrer Namen beraubte Regionen, Länder oder Völker. Wenn sich das Chaos damit aber nicht domestizieren lässt, wenn es in veränderter Gestalt wiederkehrt oder sich der aufgezwungenen Ordnung widersetzt, gilt Gewalt als die gewöhnlichste und auch rationalste Reaktion im Umgang mit dem Unbekannten, Katastrophischen, Wilden, Widerständigen oder Unbeherrschbaren. Die Zensur kann eine solche rationale Reaktion sein, genauso Lagerhaft, Gefängnis oder Tötung, individuell oder im Krieg. Es gibt aber noch eine dritte Reaktion auf das Chaos, von der mir niemand berichtet hat, nämlich das Verstummen. Dieses Verstummen kann bloße Passivität sein oder eine Schockstarre oder eine Folge lähmender Angst. Aber es kann auch eine künstlerische Haltung sein. Wer auch immer es auf sich nimmt, im Dunstkreis der Macht, sei es näher oder ferner von militärischer, wirtschaftlicher oder hegemonialer Gewalt, ein Gerüst von Sinn gegen das Chaos zu errichten, verdient Schutz und Unterstützung. Und wer sollte diesen Schutz initiieren, wenn nicht die Kollegen der bedrängten Autorinnen und Autoren? Ebenso wichtig aber ist es, nicht nur drangsalierte Schriftsteller zu retten, sondern auch uns selbst. Nur noch mit Grauen kann ich konstatieren, dass andere Stimmen ausradiert werden und Romane ungeschrieben bleiben; dass Gedichte nur geflüstert oder ganz verschluckt werden aus Angst, die falschen Ohren könnten sie hören; dass unerwünschte Sprachen nur noch im Untergrund blühen; dass kritische Fragen nicht gestellt werden und Theaterstücke nicht auf die Bühne oder Filme nicht mehr ins Kino kommen – und dieser Gedanke ist ein Albtraum. Als würde ein ganzes Universum mit unsichtbarer Tinte beschrieben.
Gewisse Wunden, die Bevölkerungsgruppen zugefügt werden, sind so tief, so grausam, dass nicht Geld und nicht Vergeltung und nicht einmal Gerechtigkeit und Sühne oder menschliche Güte, sondern nur die Werke von Schriftstellern das Trauma übersetzen und dem Leiden einen Sinn abgewinnen, das moralische Empfinden schärfen können.
Leben und Werk der Autoren sind kein Geschenk an die Menschheit; sie sind eine Notwendigkeit.
Manche haben das Wort Gottes, andere Lieder des Trostes für die Hinterbliebenen. Ich möchte, wenn ich den Mut dazu aufbringe, direkt zu den Toten sprechen – den Septembertoten. Zu den Kindern von Ahnen, die aus allen Kontinenten des Planeten stammen, aus Asien, Europa, Afrika, den beiden Amerikas; Kindern von Vorfahren, die Kilts, Kimonos oder Saris trugen, Turbane, Strohhüte oder Kippas, Ziegenleder oder Holzschuhe, Federn oder Kopftücher auf ihren Häuptern. Aber ich möchte kein Wort sagen, ehe ich nicht alles vergessen habe, was ich über Nationen, Kriege, Regierende und Regierte und die Unregierbaren weiß oder zu wissen glaube; und was ich argwöhne über Panzer und Gedärm. Erst möchte ich meine Zunge säubern von Sätzen, die gebildet wurden, um das Böse zu verstehen – ob mutwillig oder absichtsvoll, ob explosiv oder von stillem Grauen, ob aus Übersättigung oder Hunger geboren, aus Rache oder dem schlichten Drang, sich zu erheben, ehe man fällt. Ich möchte meine Sprache reinigen von Übertreibungen, von ihrem Eifer, die Stadien der Verworfenheit zu analysieren, sie abzustufen, einen höheren oder niedrigeren Rang unter ihresgleichen zu bestimmen.
Zu den Zerschmetterten und Toten zu sprechen, ist zu schwierig für einen Mund voller Blut. Ein zu heiliger Akt für unreine Gedanken. Denn die Toten sind frei, sind absolut. Sind nicht verführbar durch Feuer.
Um zu euch, den Septembertoten, zu sprechen, darf ich nicht falsche Vertrautheit in Anspruch nehmen oder ein überhitztes Herz ausstellen, das pünktlich für die Kamera glüht. Ich muss behutsam sein und deutlich und immer wissen, dass ich nichts zu sagen habe – keine Worte, die stärker wären als der Stahl, der euch in sich verschlungen hat; keine Schrift, die älter oder eleganter wäre als die urzeitlichen Atome, zu denen ihr geworden seid.
Und ich habe auch nichts zu geben – außer dieser Geste, diesem Faden, der gespannt ist zwischen eurem Menschsein und meinem: Ich will euch in meinen Armen halten, und so wie eure Seele, gesprengt aus ihrem Fleischgehäuse, will ich mit euch den Geist der Ewigkeit verstehen: sein Geschenk befreiender Erlösung, die das Dunkel des Totengeläuts durchdringt.
Vom Höhepunkt des Sklavenhandels im neunzehnten Jahrhundert abgesehen, ist die Wanderungsbewegung der Völker in der zweiten Hälfte des zwanzigsten und zu Beginn des einundzwanzigsten Jahrhunderts größer als jemals zuvor. Es ist eine Wanderung von Arbeitern und Intellektuellen, von Flüchtlingen und Migranten, quer über Ozeane oder durch Kontinente, an Bord zerbrechlicher Boote oder in den Amtsstuben von Einwanderungsbehörden. Sie spricht in vielen Sprachen von Handel und politischer Intervention, von Verfolgung, Exil, Gewalt und Armut. Kein Zweifel, dass diese weltweite Umverteilung von Menschen (teils freiwillig, teils unfreiwillig) weit oben steht auf den Tagesordnungen der Regierungsämter und Vorstandsbüros, dass sie das Gespräch auf der Straße bestimmt, im eigenen Viertel und zu Hause. Politische Maßnahmen zur Eindämmung der Ströme beschränken sich keineswegs darauf, die Entwurzelten zu überwachen. Vieles an diesem Exodus kann als Wanderung der Kolonisierten in die Länder der Kolonialherren (die Sklaven verlassen die Plantage und ziehen in das Herrenhaus) und, häufiger noch, als Flucht von Kriegsopfern beschrieben werden, während die Versetzungen der Diplomaten und der Management-Eliten an immer neue Außenposten der Globalisierung und die mit der Errichtung neuer Militärbasen einhergehende Stationierung frischen Truppenmaterials für die Regierungen eine wichtige Rolle bei dem Versuch spielen, der Völkerwanderung Herr zu werden.
Das Schauspiel der Massenmigration lenkt den Blick unweigerlich auf die Grenzen, jene porösen und verletzlichen Membranen, an denen das Konzept der Heimat als von Fremden bedroht erlebt wird. Ein großer Teil der Alarmstimmung, die dort herrscht, wird meines Erachtens von zwei Faktoren angefacht: 1.) dem Globalismus, sowohl als Bedrohung wie als Chance; und 2.) einer heiklen Beziehung zu unserem eigenen Fremdsein, unserem immer rascher erodierenden Gefühl von Zugehörigkeit.
Lassen Sie mich mit der Globalisierung beginnen. Nach unserem derzeitigen Verständnis ist Globalisierung etwas grundlegend anderes als eine neue Version weltwirtschaftlicher Hegemonie nach dem Muster Großbritanniens im neunzehnten Jahrhundert – auch wenn postkoloniale Unruhen noch heute von der Dominanz künden, die eine Nation, Großbritannien, damals über die meisten anderen ausübte. Der Begriff «Globalisierung» zielt auch auf etwas durchaus anderes als den alten Vereinigungstraum des proletarischen Internationalismus – auch wenn der Präsident des Gewerkschafts-Dachverbands AFL-CIO auf einer Tagung von Gewerkschaftsführern ausdrücklich den Begriff «Internationalismus» gebrauchte. Natürlich hat diese Globalisierung auch nichts mit der Sehnsucht der Nachkriegszeit nach einer vereinten Welt zu tun, jener Rhetorik, die die fünfziger Jahre umtrieb und die UNO hervorbrachte. Und sie entspricht auch nicht dem «Universalismus» der sechziger und siebziger Jahre – sei es als Forderung nach dem Weltfrieden oder als Beharren auf kultureller Vorherrschaft. «Weltreich» oder «Vereinigung der Nationen», «Internationalismus» oder «Universalismus» – bei alldem scheint es sich weniger um historische Entwicklungsphasen als um den Ausdruck einer Sehnsucht zu handeln, der Sehnsucht, dem Planeten einen Anschein von Einheit und Beherrschbarkeit zu geben oder sich das Schicksal seiner Bewohner von einem ideologischen Einklang der Nationen geleitet vorzustellen. Der Globalismus folgt den gleichen Sehnsüchten und Hoffnungen wie seine Vorgänger. Auch er versteht sich als historischer Fortschritt, der zu Wachstum und Einheit führt, der eine Utopie verwirklicht, der vorbestimmt ist. Im engeren Sinn meint Globalismus ungehinderten Kapital-, Waren- und Datenverkehr in einem von politischen Einflüssen freien Rahmen, der von den Bedürfnissen multinationaler Konzerne gesetzt wird. Weit weniger unschuldig sind jedoch die Nebenwirkungen jenseits der Märkte, zu denen nicht nur die Dämonisierung ganzer Staaten durch Handelsembargos oder die Aufwertung von Warlords durch kommerzgeleitete Rücksichtnahme gehören, sondern auch der Bedeutungsverlust der Nationalstaaten unter dem Druck grenzenloser Ströme von Waren, Kapital und Arbeitsmigranten; der weltweite Anpassungsdruck der Wirtschaft und der Kultur des Westens; die Amerikanisierung der entwickelten und der Entwicklungsländer durch die Vorherrschaft amerikanischer Populärkultur; sowie die kommerzielle Ausbeutung der Kulturen der Dritten Welt in der Mode, in Filmen und selbst in den Essgewohnheiten des Westens.
Mit ähnlicher Begeisterung begrüßt wie einst die Vorstellung vom amerikanischen Erwähltsein oder wie der Internationalismus, spielt die Globalisierung in unserem Denken eine geradezu majestätische Rolle. Denn bei all ihren Versprechungen von Freiheit und Gleichheit spendet sie ihre Segnungen mit herrschaftlicher Willkür. Sie kann viel geben und viel verwehren, im Hinblick auf ihren Geltungsbereich (über Grenzen hinweg); in Bezug auf schiere Masse (die Zahl der Begünstigten oder Abgehängten); oder in puncto Wohlstand (endlose Geschäftsfelder für die Ausbeutung von Ressourcen oder das Angebot von Dienstleistungen). Doch so sehr der Globalismus mit geradezu messianischen Heilserwartungen befrachtet wird, so heftig wird er auch als ein Übel verteufelt, das einer gefährlichen Dystopie den Weg bereitet. Wir fürchten seine Gleichgültigkeit gegenüber Grenzen, nationalen Infrastrukturen, lokalen Verwaltungen, Datenschutz-Richtlinien, Zollbestimmungen, Gesetzen, Sprachen; seine Achtlosigkeit angesichts von Randbezirken und an den Rand Gedrängten; seine erstaunliche, alles ergreifende Fähigkeit zu einer ständig sich beschleunigenden Nivellierung, einem Kahlschlag aller nützlichen Differenzierungen im Dienste des Marketings – eine Antithese zu unserer Idee von Vielfalt. Wir denken an Gleichmacherei, befürchten das Verschwinden der Sprachen und Kulturen lokaler Minderheiten in seinem Gefolge. Oder wir malen uns mit Schrecken aus, wie die Wucht der Globalisierung die großen Sprachen und Kulturen einem unwiderruflichen, lähmenden Zwang zur Anpassung unterwerfen kann.
Weitere Gefahren, die der Globalismus mit sich bringt, sind die Verzerrung unseres Begriffs von Öffentlichkeit und die Zerstörung des Privaten. Was als öffentlich zu gelten hat, übernehmen wir zum größten Teil, wenn auch nicht ausschließlich, von den Medien. Vieles von dem, was einst privat war, verlangen uns die Datensammler aus Politik, Verwaltung, Wirtschaft und neuerdings auch der Sicherheitsdienste ab. Die Verunsicherung, die die poröse Grenze zwischen dem Öffentlichen und dem Privaten umgibt, hat eine ihrer Ursachen sicher in der sprachlichen Verwilderung, die den Gebrauch der beiden Termini kennzeichnet. Wir haben «privatisierte» Gefängnisse, in denen eine privatwirtschaftlich organisierte Firma öffentliche Aufgaben wahrnimmt. Wir haben Privatisierung auch im staatlich verantworteten Schulwesen. Und wir haben das Privatleben, das in den Medien freigiebig mit der Öffentlichkeit geteilt oder von «Personen des öffentlichen Lebens» vor Gericht gegen Übergriffe ebendieser Medien verteidigt wird. Es gibt Rückzugsräume des Privaten (Innenhöfe, Gärten), zu denen die Öffentlichkeit Zutritt hat, und öffentliche Räume (Parks, Spielplätze, Badestrände in exklusiven Lagen), die privater Nutzung vorbehalten sind. Es gibt das Spiegelphänomen des für die Öffentlichkeit inszenierten häuslichen Lebens. Unsere Wohnumgebung gleicht einem Schaufenster (mit Regalmetern voller stolz präsentierter «Sammlungen»), und Schaufenster werden gestaltet wie private Räume. Von jungen Menschen heißt es, ihr Verhalten orientiere sich an Bildschirm und Leinwand, während von Film und Fernsehen behauptet wird, sie würden die Interessen und Verhaltensweisen der Jugend lediglich widerspiegeln und nicht erst erzeugen. Weil der Raum, in dem sich sowohl das bürgerliche wie das intime Leben abspielen, keine Unterscheidung von Innenwelt und Außenwelt mehr kennt, haben sich die beiden Sphären zu etwas Allgegenwärtigem vermengt, das unsere Vorstellung von Zuhause wie hinter einem Schleier verschwimmen lässt.
Ich glaube, dass es diese Unschärfe ist, die den zweiten Punkt bedingt: unser Unbehagen angesichts unserer Empfindung von Fremdheit, unser sich rasant zersetzendes Gefühl von Zugehörigkeit. Wem schulden wir die größte Loyalität? Unserer Familie, unserer Kultur, unserem Land, den Menschen gleicher Sprache, unseren Geschlechtsgenossinnen oder -genossen? Unserer Religion oder Ethnie? Und wenn gar niemandem oder nichts davon, sind wir dann urban, kosmopolitisch – oder nur einsam? Mit anderen Worten, wie entscheiden wir, wohin wir gehören? Was überzeugt uns von der Richtigkeit unserer Entscheidung? Oder, anders gefragt, woher rührt unser Gefühl des Fremdseins?
Ich möchte auf einen Roman zurückgreifen, der in den fünfziger Jahren von einem Autor aus Ghana verfasst wurde, um dieses Dilemma näher zu beschreiben – diese Unschärfe rund um Innen und Außen, die jede Form von Grenze, ob politisch, metaphorisch oder psychologisch, umgeben kann und unsere Suche nach Zugehörigkeit, unseren Umgang mit Begriffen wie Nation und Nationalismus, Rasse, Ideologie und dem sogenannten Kampf der Kulturen so sehr erschwert.
Afrikanische und afroamerikanische Schriftsteller sind nicht die einzigen, die sich dieser Themen annehmen, aber sie können auf eine besonders lange und unmittelbare Geschichte des Betroffenseins verweisen – nicht zu Hause in ihrem Heimatland, Exilanten am Ort ihrer Herkunft.
Ehe ich mich dem Roman als solchem widme, möchte ich etwas erzählen, das meiner Lektüre afrikanischer Literatur weit vorausging, aber bereits damals die Weichen stellte für meine Beschäftigung mit alldem, was unsere aktuellen Definitionen des Fremden so problematisch macht.
Mit Samt bezogene Tabletts wanderten von Hand zu Hand durch die Bankreihen der Kirche bei der sonntäglichen Kollekte. Eines davon, das letzte, war besonders klein und immer in Gefahr, ganz leer zu bleiben. Sein Rang und seine Größe waren typisch für die pflichtschuldigen, aber bescheidenen Erwartungen, die damals, in den dreißiger Jahren, in nahezu alles gesetzt wurden. Die Münzen, nie waren es Scheine, die den Samt sprenkelten, kamen meistens von Kindern, die ermahnt worden waren, ihre Pennys und Nickels für eine gute Sache zu opfern, für die Erlösung Afrikas. Auch wenn dieses Wort, Afrika, so einen schönen Klang hatte, war es beladen mit den widerstreitenden Gefühlen, die es hervorrief. Anders als das hungernde China, war Afrika ein Kontinent, der einerseits uns, andererseits aber auch anderen gehörte, der eng mit uns verbunden und uns gleichzeitig zutiefst fremd war. Eine riesige, bedürftige Urheimat, von der es immer hieß, dass dort unser eigentlicher Platz sei, die aber keiner von uns je gesehen hatte oder sehen wollte, bewohnt von Menschen, mit denen wir eine heikle Beziehung wechselseitiger Ignoranz und Ablehnung unterhielten und eine Mythologie passiver, traumatisierter Andersartigkeit teilten, die in Schulbüchern, Filmen, Comics und jener Schimpfwortkultur, die Kinder zu lieben lernen, zementiert wurde.
Als ich später begann, Romane zu lesen, die in Afrika spielen, stellte ich fest, dass jede dieser Erzählungen – von wenigen Ausnahmen abgesehen – immer wieder den Mythos zum Ausgangspunkt nahm und weiterspann, der jene samtbezogenen Tabletts auf ihren Reisen durch die Kirchenbänke umgeben hatte. Für Joyce Cary, Elspeth Huxley oder H. Rider Haggard war Afrika genau das, was die Missionskollekte stumm vorausgesetzt hatte: ein dunkler Kontinent, verzweifelt bedürftig des Lichts. Des Lichts der Christenheit, der Zivilisation, des Fortschritts. Des Lichts der milden Gaben, angeknipst mit ein wenig Gutherzigkeit. Es war eine Idee von Afrika, in der sich die Ahnung einer komplexen Nähe mit dem Akzeptieren einer nicht mehr aufhebbaren Entfremdung mischte. Diese schwer nachvollziehbare Fremdherrschaft über Grund und Boden, die die lokale Bevölkerung enteignete, die Verdrängung der Sprecher einheimischer Sprachen aus ihren Lebensräumen, das Exil der indigenen Bevölkerung in ihrem eigenen Land, all dies legte einen Schimmer von Unwirklichkeit über die Erzählungen und verführte ihre Autoren, ein metaphysisch leeres Afrika zu entwerfen, das reif war, neu erfunden zu werden. Mit ein oder zwei Ausnahmen war das Afrika der Literatur eine unerschöpfliche Selbsterfahrungsarena für Touristen und ausländische Besucher. Ob von konventionellen westlichen Vorstellungen eines in Finsternis gehüllten Afrikas durchdrungen oder gegen sie anschreibend, haben Joseph Conrad, Tania Blixen, Saul Bellow und Ernest Hemingway die Protagonisten ihrer Bücher in einen Kontinent – den zweitgrößten dieser Erde – versetzt, der so leer ist wie das Samttablett jener Kollekte, ein Gefäß, das nur auf die Kupfer- und Silbermünzen warten kann, die die Vorstellungskraft zu spenden geruht. Als Korn für westliche Mühlen, gewährend stumm und angenehm leer, konnte Afrika zum Vehikel einer Vielzahl von literarischen und/oder ideologischen Anliegen werden. Es konnte sich zurücknehmen als Hintergrund jeglicher Großtat oder in den Vordergrund drängen und die Malaisen jedes fremdländischen Reisenden begründen; es konnte sich eine furchteinflößende, feindselige Gestalt verleihen, die westlichen Besuchern Gelegenheit gab, über das Böse zu meditieren; oder es konnte demütig auf die Knie sinken und sich von den Vertretern des Fortschritts wohlfeile Ratschläge erteilen lassen. Für alle, die diese buchstäbliche oder imaginierte Reise unternahmen, bot die Begegnung mit Afrika die erregende Gelegenheit, das Leben in einem primitiven, sich erst formenden Urzustand zu erleben. Die Folge war eine Erleuchtung – nämlich in Gestalt der Gewissheit, dass die europäische Vorherrschaft für den schwarzen Kontinent ein Segen war und man sich die Mühe, allzu viele Informationen über irgendeine der afrikanischen Kulturen einzuholen, getrost sparen konnte. So großherzig war dieses Afrika, dass ein wenig Geographie, viel Klimakunde, ein paar Gebräuche und Anekdoten ausreichten für die Leinwand, auf die das Porträt einer weiser oder betrübter gewordenen oder ganz mit sich selbst versöhnten Hauptfigur gepinselt werden konnte. Bis in die fünfziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts hinein konnte der Kontinent Afrika in den Romanen westlicher Autoren mit dem Titel von Albert Camus als «Der Fremde» bezeichnet werden, der Einsicht ermöglicht, aber selbst undurchschaubar bleibt. In Joseph Conrads Herz der Finsternis beschreibt Marlowe Afrika als einen einst riesigen weißen Fleck, den ein Knabe mit stolzen Träumen füllen konnte, der inzwischen aber mit Flüssen und Seen und Namen ausgestattet und kein leerer Raum verlockender Geheimnisse mehr sei. «Er war zu einem Ort der Finsternis geworden.» Das wenige, das man wissen konnte, war rätselhaft, abstoßend oder hoffnungslos widersprüchlich. Afrika stellte sich der Imagination als ein Füllhorn von Unwägbarkeiten dar, die, wie der monströse Grendel im Beowulf, sich jeder Erklärung verweigerten. So lässt sich in der Literatur eine Vielzahl von Metaphern finden, die miteinander unvereinbar sind. Als Wiege der Menschheit ist Afrika altehrwürdig, doch unter der paternalistischen Herrschaft der Kolonialmächte erscheint es auch infantil, wie eine Art greisenhafter Fötus, der seit Ewigkeiten auf seine Geburt wartet, seine Hebammen aber immer wieder enttäuscht. Roman um Roman und Erzählung um Erzählung schildern Afrika als gleichzeitig unschuldig und korrupt, brutal und arglos, irrational und weise.
In diesem rassistisch grundierten literarischen Kontext auf Camara Layes Der Blick des Königs (Le Regard du roi, 1954) zu stoßen, war ein Schock. Plötzlich wird die klischeebeladene Reise in das finstere Bilderbuch-Afrika, um dort Erleuchtung zu spenden oder zu erfahren, vollkommen neu gedacht. Der Roman bietet nicht nur raffinierte, zutiefst afrikanische Sprachbilder auf, die in eine diskursive Beziehung zu der Welt des Westens gesetzt werden; er nutzt auch die Bilder von Heimatlosigkeit, die der Eroberer der indigenen Bevölkerung aufgebürdet hat: die gesellschaftlichen Verwerfungen, wie sie in Joyce Carys Mister Johnson dargestellt werden; die zwanghafte Beschäftigung mit Gerüchen, die wir in Elspeth Huxleys Die Flammenbäume von Thika finden; die europäische Fixierung auf die Bedeutung von Nacktheit in den Büchern von H. Rider Haggard oder Joseph Conrad oder so gut wie in allen Reiseberichten.
Die Hauptfigur in Camara Layes Roman ist ein Europäer namens Clarence, der aus Gründen, die er selbst nicht recht benennen kann, nach Afrika gekommen ist. Dem Glücksspiel verfallen, häuft er bei seinen weißen Landsleuten hohe Schulden an und versteckt sich nun in einer schmuddeligen Herberge unter den Einheimischen. Aus dem Hotel der Kolonialherren bereits vertrieben und nun auch von seinem afrikanischen Gastwirt mit dem Rauswurf bedroht, sucht Clarence den Ausweg aus seiner Mittellosigkeit, indem er seine Dienste dem König anbieten will. Doch eine undurchdringliche Menge von Dorfbewohnern hindert ihn daran, dem König nahe zu kommen, und seine Absichten erregen Unwillen. Er trifft auf ein Pärchen von zu jeder Schandtat bereiten Halbwüchsigen und einen gerissenen Bettler, die ihm helfen wollen. Von ihnen geführt, macht er sich auf den Weg nach Süden, wo der nächste öffentliche Auftritt des Königs erwartet wird. Durch diese – einer Pilgerfahrt nicht unähnliche – Reise gelingt es dem Autor, die unterschiedlichen Gefühlswelten Europas und Afrikas in Beziehung zu setzen und zu parodieren.
Die literarischen Topoi, deren er sich bei der Schilderung Afrikas bedient, entsprechen genau der Wahrnehmung von Fremdheit: 1.) Bedrohung; 2.) moralische Verderbtheit; 3.) Unbegreiflichkeit. Und es ist faszinierend zu beobachten, wie geschickt Camara Laye diese Blickwinkel handhabt.
Bedrohung. Sein Protagonist Clarence ist wie betäubt vor Angst. Er registriert zwar, dass «die Wälder der Herstellung von Beerenwein dienen», dass die Landschaft «kultiviert» wird, dass die dort lebenden Menschen ihm ein «herzliches Willkommen» entbieten, aber er empfindet nur Abschottung und «allgemeine Feindseligkeit». Während die Landschaft aufgeräumt und übersichtlich ist, befindet sich der bedrohliche Dschungel in seinem Kopf.
Verderbtheit. Clarence ist es auch, der der Lasterhaftigkeit verfällt, als er sich dem ganzen Horror dessen hingibt, was man sich im Westen unter «Leben wie ein Eingeborener» vorstellt – jene «unreine und räudige Schwäche», die der Fluch aller Männlichkeit ist. Die unverhüllte Freude und geradezu weibliche Willfährigkeit, mit der er in endloser Folge den Geschlechtsakt ausübt, spiegeln seine Vorliebe und seine bewusste Ignoranz wider. Als im Lauf der Zeit immer mehr Mischlingskinder das Dorf bevölkern, wundert sich Clarence, der einzige Weiße weit und breit, immer noch, wo sie wohl alle herkommen. Er weigert sich, das Offensichtliche zu glauben – dass er verkauft worden ist als Zuchthengst für den Harem.
Unbegreiflichkeit. Camara Layes Afrika ist nicht finster – es ist durchflutet von Licht: dem wässrig-grünen Licht der Wälder; den rubinroten Färbungen der Erde und der Häuser; dem «unerträglichen Azurglanz des Himmels»; und sogar dem Schimmer der Schuppen bei den Fischweibern, die «wie ein Gewand aus verlöschendem Mondlicht» leuchten. Verständnis für die Motive und Empfindsamkeiten der Afrikaner – seien sie böswillig oder wohlgesonnen – erfordert nicht mehr als einen Abschied vom Glauben an unüberbrückbare Unterschiede zwischen den Menschen.
Der Roman legt die verkrüppelten Diskurse des Fremdlings, der einem die Heimat raubt, der Delegitimierung der Indigenen, der Verkehrung des Anspruchs auf Zugehörigkeit offen und erschließt uns die Erfahrungswelt eines Weißen, der allein, ohne einen Broterwerb, ohne soziale Geltung, ohne eigene Mittel, ja sogar ohne einen Familiennamen nach Afrika auswandert. Aber er verfügt über einen Aktivposten, der in Ländern der Dritten Welt immer funktioniert (und nur dort funktionieren kann): Er ist weiß, was er auch betont, und deshalb ohne weitere Begründung fähig, als Ratgeber einem König zu dienen, den er niemals gesehen hat – in einem Land, das er nicht kennt, und unter Einheimischen, die er weder versteht noch verstehen will. Was als Streben nach gesellschaftlichem Rang, als Flucht vor der Verachtung durch seine weißen Landsleute beginnt, wird zu einem vernichtenden Prozess der Umerziehung. Im Denken dieser Afrikaner kommt es nicht auf das Vorurteil, sondern auf die Nuance an, auf die Fähigkeit und den Willen, zu sehen und zu erspüren. Die Weigerung des Europäers, sich umfassend auf irgendeinen Umstand einzulassen, der nichts mit seinem persönlichen Wohlergehen zu tun hat, gereicht ihm zum Verhängnis. Als ihm dies endlich zu dämmern beginnt, fühlt er sich förmlich ausgelöscht. Mit dem fiktionalen Exkurs über die beschränkte Wahrnehmung einer Kultur lässt Camara Laye uns am Scheitern des rassistischen Blicks teilhaben, den ein entwurzelter Weißer ohne Rückhalt, Protektion oder Weisung aus seiner europäischen Heimat auf Afrika wirft. Er ermöglicht es uns, neu zu entdecken, oder uns neu vorzustellen, wie es sich anfühlt, an den Rand gedrängt, ignoriert, überflüssig zu sein; nie beim Namen genannt zu werden; seiner Geschichte und Bedeutung verlustig zu gehen; nur noch verkaufte oder ausgebeutete Arbeitskraft zum Nutzen einer Herrscherfamilie, eines skrupellosen Unternehmers, eines Regimes zu sein.
Es ist eine verstörende Begegnung, die uns vielleicht im Umgang mit dem Druck und den destabilisierenden Kräften der transglobalen Völkerwanderung von Nutzen sein kann – dem Druck, der uns verführen könnte, uns an unsere eigenen Kulturen und Sprachen zu klammern und die anderen auszugrenzen; der unsere moralischen Maßstäbe dem täglich Opportunen unterwerfen könnte; der uns legalistisches Denken nahelegt, uns zu Vertreibung, Konformitätszwang, Säuberungen verleitet und uns bei Phantasiegebilden und Gespenstern Zuflucht suchen lässt. Vor allem aber kann dieser Druck dazu führen, dass wir den Fremden in uns selbst verleugnen und uns von der Idee einer gleichberechtigten Gemeinschaft aller Menschen verabschieden.
Nach vielen Prüfungen beginnt Camara Layes Europäer allmählich zu begreifen. Der Wunsch, den König zu treffen, wird Clarence erfüllt. Doch inzwischen haben er und seine Absichten sich gewandelt. Gegen den Rat der Dorfbewohner kriecht Clarence nackt vor den Thron. Als er den König, der sich als ein mit Gold behängter Knabe entpuppt, endlich zu Gesicht bekommt, fällt die «schreckliche Leere in ihm», die Leere, die ihn bisher zu einem Unsichtbaren gemacht hat, von ihm ab und öffnet ihn für den Blick des Königs. Mit dieser Offenheit, diesem Zerbrechen des aus Angst vor Fremdheit angelegten kulturellen Panzers, diesem von einem bisher nicht gekannten Mut zeugenden Akt macht Clarence den ersten Schritt zu seiner Erlösung, in sein Glück, in seine Freiheit. Geborgen in der Umarmung des Knabenkönigs, das Pochen des jungen Herzens spürend, hört Clarence ihn diese wunderbaren Worte wahrer Zugehörigkeit flüstern, Worte, die ihn im Reich der Menschlichkeit willkommen heißen: «Wusstest du, dass ich auf dich gewartet habe?»
Wir dürfen nicht vergessen, dass es, ehe es zu einer Endlösung kommt, eine erste Lösung geben muss, eine zweite, sogar eine dritte. Der Weg zu einer Endlösung ist kein Sprung. Es braucht einen ersten Schritt und noch einen und noch einen. Eine Folge, etwa wie diese:
Konstruiere ein Feindbild, sowohl als Ziel wie zur Ablenkung.
Isoliere und dämonisiere diesen Feind, indem du offene und verhüllte Schmähungen in Umlauf bringst und für deren Weiterverbreitung sorgst. Nutze persönliche Angriffe als legitime Mittel im Kampf gegen den Feind.
Suche und schaffe Quellen und Verbreiter von Gerüchten, die den Prozess der Dämonisierung vorantreiben, weil es sich für sie lohnt, weil es Macht verleiht und weil es funktioniert.
Sichere deine Mittel; überwache, verjage oder diskreditiere alle, die die Prozesse der Dämonisierung oder der Verklärung in Frage stellen oder hintertreiben.
Unterdrücke und verleumde alle Repräsentanten und Sympathisanten deines konstruierten Feindes.
Gewinne Kollaborateure aus den Reihen des Feindes, die den Prozess der Verdrängung unterstützen und als gerechtfertigt erscheinen lassen.
Pathologisiere den Feind in wissenschaftlicher und in Unterhaltungsliteratur, z.B. durch Rückgriffe auf pseudowissenschaftlichen Rassismus und die Mythologie rassischer Überlegenheit, um das Krankhafte an ihm selbstverständlich werden zu lassen.
Kriminalisiere den Feind. Dann bereite alles – Geld, Planung, Begründung – für seine Internierung in geeigneten Lagern vor. Das gilt besonders für die Männer und unbedingt für die Kinder.
Belohne Gedankenlosigkeit und Trägheit mit großen Unterhaltungsspektakeln und mit kleinen Freuden, unmerklichen Verführungen: ein paar Minuten im Fernsehen; ein paar Zeilen in der Zeitung; einem kleinen Pseudo-Erfolgserlebnis; der Illusion von Macht und Einfluss; ein wenig Spaß, ein wenig Style, ein wenig Bedeutung.
Bewahre Stillschweigen, um jeden Preis.
1995 mag der Rassismus ein neues Kleid tragen und sich ein paar neue Stiefel kaufen, aber weder er noch sein dämonischer Zwilling Faschismus ist neu oder kann uns mit irgendetwas Neuem überraschen. Er kann nur das Umfeld reproduzieren, das ihn am Leben erhält: Angst, Verweigerung und ein Klima, in dem seine Opfer den Willen zum Widerstand verlieren.
Die Kräfte, die an faschistischen Lösungen nationaler Probleme interessiert sind, lassen sich nicht einer bestimmten politischen Partei oder dem einen oder anderen Flügel irgendeiner Partei zuordnen. Die Demokraten haben keineswegs eine makellose Geschichte des Egalitarismus vorzuweisen. Auch die Liberalen sind nicht frei von Dominanzgelüsten. Die Republikaner hatten sowohl Sklavereigegner wie auch glühende Anhänger der weißen Vorherrschaft in ihren Reihen. Konservativ, gemäßigt, liberal; rechts, links, links- oder rechtsextrem; religiös, säkularisiert, sozialistisch – wir dürfen solchen Etiketten nicht trauen, denn das Genie des Faschismus besteht darin, dass sich das Virus in jede politische Struktur einnisten und so gut wie jedes entwickelte Land zu seinem Wirt machen kann. Der Faschismus spricht ideologisch, aber in Wahrheit ist er nichts als Marketing – ein Marketing von Macht.
Man erkennt ihn an seiner Sucht nach Reinheit, an den Strategien, die er bei seinen Säuberungen verfolgt, und an seiner Urangst vor wahrhaft demokratischen Entscheidungsprozessen. Man erkennt ihn an seiner Entschlossenheit, öffentliche Dienstleistungen zu privatisieren und alle gemeinnützigen Institutionen zu profitorientierten zu machen, auf dass der schmale, aber so überaus nützliche Graben zwischen staatlicher Verwaltung und Kommerz verschwinde. Er verwandelt Bürger in Steuerzahler, damit das Individuum auf Investitionen in das Gemeinwohl mit Argwohn reagiert. Er verwandelt Nachbarn in Konsumenten, auf dass nicht unsere Menschlichkeit, unsere Empathie, unser Großmut unseren Wert bestimme, sondern unser Eigentum. Er verwandelt Elternschaft in ein Angstregime, damit wir gegen die Interessen unserer Kinder stimmen, gegen gute Ausbildung, gute Gesundheitsvorsorge und Schutz vor allgegenwärtigen Waffen. Und durch all diese Verwandlungen bringt er den perfekten Kapitalisten hervor, der bereit ist, für ein Produkt (ein paar Sneakers, eine Jacke, ein Auto) einen Menschen zu opfern oder ganze Generationen zu opfern für den Zugriff auf Ressourcen (Öl, Drogen, Agrarprodukte, Gold).
Wenn unsere Ängste alle zu Fernsehserien, unsere Ideen zu Handelsware, unsere Rechte zu Ramsch geworden sind; wenn unsere Kreativität zensiert, unsere Intelligenz auf Leerformeln reduziert, unser politisches Gewicht entkräftet, unsere Privatsphäre verhökert worden ist; wenn das Leben gänzlich zu einer Inszenierung, einem Unterhaltungsspektakel, einer Konsumveranstaltung geworden ist, werden wir nicht mehr in einer Nation beheimatet sein, sondern in einem Firmenkonsortium, in dem wir von uns selbst nur noch wahrnehmen, was uns auf einem düsteren Bildschirm gezeigt wird.