Für Heinz
einander vergeben für alles
was wir nicht sind
und für alles andere:
einander trotzdem lieben.
Caroline Hartge
Frankfurt, 1941
Es klingelte Sturm. Christa stand von ihrem Schreibtisch auf, öffnete das Fenster und schaute auf die Berger Straße hinaus. Unten stand ihr Onkel Martin, winkte und rief zu ihr hoch: «Komm schnell runter, das musst du dir unbedingt angucken.» Christa sah von oben, dass ein Ehepaar vor dem Schaufenster der Buchhandlung Schwertfeger stehen geblieben war. Sie lachten. Der Mann klopfte Martin auf die Schulter, dann eilten sie weiter.
Frau Lehmann von der Metzgerei Lehmann schräg gegenüber drohte Martin spielerisch mit dem Finger. Aber auch sie tat es lachend. Der Pfarrer der St.-Josefs-Gemeinde fuhr mit wehender Soutane auf dem Fahrrad vorbei und rief fröhlich: «Am Ende sind Sie doch ein gottgefälliger Mann, lieber Herr Schwertfeger.»
Martin war der jüngere Bruder ihres Vaters, gerade einunddreißig Jahre alt. Er war nach dem Abitur direkt an die theologisch-philosophische Ordenshochschule der Jesuiten in Frankfurt-Oberrad gegangen. Nicht nur, um dort zu studieren, sondern um ein Ordensmann, ein Mönch, zu werden. Christa hatte das nie verstanden. Natürlich gingen sie an Weihnachten und an Ostern in die Kirche, aber sie konnte sich nicht erinnern, dass in ihrer Familie jemals über Gott gesprochen worden war. Auch Martin hatte offenbar eingesehen, dass er nicht ins Kloster gehörte. Kurz vor den ewigen Gelübden hatte er Orden und Hochschule verlassen und führte seither die Buchhandlung Schwertfeger, schon in der dritten Generation.
In der Wohnung über dem Laden lebten mittlerweile der Onkel, die Mutter und sie. Früher hatte Christa mit ihren Eltern über dem Onkel gewohnt, doch jetzt war Krieg, und das hieß, dass sie alle ein wenig zusammenrücken mussten. In ihrer ehemaligen Wohnung im zweiten Stock lebten zwei ausgebombte Familien, und Mutter und sie waren hinunter zu Martin in den ersten Stock gezogen. Der Vater war gleich zu Beginn des Krieges eingezogen worden. Er war Fernmeldetechniker und an der Front dienlicher als zu Hause.
«Was hast du gemacht?», rief Christa.
Martin breitete die Arme aus und lachte mit blitzweißen Zähnen. «Komm runter!»
Christa warf das Fenster zu und eilte die Treppe hinab. Vor dem Schaufenster der Buchhandlung blieb sie stehen und riss die Augen auf. Martin hatte das gesamte Schaufenster mit der Neuauflage des Südseeromans von Richard Katz drapiert. Heitere Tage mit braunen Menschen hieß er.
«Au weia. Wenn das mal keinen Ärger gibt», orakelte Christa, aber auch sie konnte ein Grinsen nicht unterdrücken.
In diesem Augenblick kam Herr Klein aus dem Haus. Er war der Blockwart, und man sah ihn nie ohne seine SA-Uniform. Er war so klein wie sein Name und seine Gedanken und irgendwie quadratisch. Hoch wie breit, sagte die Mutter dazu. Er trug einen Kaiser-Wilhelm-Schnurrbart und blickte aus glänzenden Säuferaugen in die Welt.
«Was ist denn hier los?», fragte er misstrauisch, denn er war immer misstrauisch und gleich doppelt, wenn jemand lachte. Das deutsche Volk hatte nichts zu lachen, es sollte kämpfen zum Heile Hitlers.
«Ich habe mein Schaufenster neu dekoriert», erklärte Martin mit Unschuldsmiene. «Gefällt es Ihnen?»
Klein stellte sich breitbeinig davor und starrte auf den Roman. «Neu ist der nicht», erklärte er. «Meine Frau hat ihn schon vor Jahren gelesen.» Dann knallte er die Hacken zusammen, riss den Arm in die Höhe, brüllte «Heil Hitler!» und marschierte davon.
«Wie gut, dass der Klein so dumm ist», bemerkte Christa. Aber da hatte sie sich getäuscht.
Am Abend klingelte es bei Schwertfegers. Vor der Tür standen Herr und Frau Klein. Emma Klein mit Lockenwicklern, darüber ein Netz und vor dem Bauch eine Schürze, die mit Blumen bedruckt war. Horst Klein trug noch immer die SA-Uniform und dazu Filzpantoffeln.
«Was soll das da mit dem Schaufenster?», fragte die Klein säuerlich.
«Was soll damit sein?», fragte Martin freundlich zurück.
«Sie denken wohl, Sie können sich alles erlauben, was?» Emma Klein keifte jetzt.
«Ich verstehe nicht, was Sie meinen. Ich habe neue Ware bekommen, und die stelle ich ins Schaufenster. Das mache ich immer so. Was daran ist bitte falsch?»
Die Klein hob den Finger und fuchtelte damit vor Martins Nase herum. «Verarschen lassen wir uns nicht. Das hat Konsequenzen. Das verspreche ich Ihnen. Nicht genug, dass Sie … dass Sie …» Sie brach ab.
«Was?», forschte Martin.
«Sie wissen schon, was ich meine. Eine Schande ist es, mit so einem in einem Haus zu leben.»
Da floh das Lächeln aus Martins Gesicht. Seine Schwägerin zupfte ihn am Ärmel. «Lass gut sein. Wir dekorieren einfach um.»
Aber Martin schüttelte Helenes Hand ab. «Nein, Lenchen. Das werden wir nicht.»
Emma Klein schnappte nach Luft, wollte etwas sagen, aber Martin unterbrach sie brüsk. «Sie können gern ausziehen, wenn es Ihnen hier nicht passt. Nein, Sie werden ausziehen. Das Haus gehört meinem Bruder und mir. Wir kündigen Ihnen. In einer Woche ist die Wohnung leer.»
«Ihr Bruder ist an der Front. Da ist das letzte Wort noch nicht gesprochen. Komm, Horst.»
Martin schlug die Tür zu und hörte die Klein lauthals im Hausflur brüllen: «Warum sind Sie eigentlich nicht an der Front wie jeder andere anständige Mann auch?»
«Weil Bücher kriegswichtig sind», murmelte er vor sich hin.
Helenes Miene war ängstlich. «Oh Gott, Martin. Was hast du nur gemacht?»
Christa stand in der Wohnzimmertür. «Ich fand das gut. Denen hast du es endlich mal gezeigt.»
Martin war blass geworden. Er atmete einmal tief ein und aus. «Ich brauche jetzt einen Schnaps.» Er ging ins Wohnzimmer, goss für Helene und sich einen ordentlichen Schluck von dem wohlgehüteten Kirschwasser ein, trank ihn in einem Zug. Dann fragte er: «Habt ihr heute noch etwas vor?»
Die Glocke der nahen St.-Josefs-Kirche verkündete die achte Abendstunde.
«Was willst du machen?», wollte Helene wissen.
«Ich habe verbotene Bücher im Laden. Schriftsteller, deren Werke 1933 ins Feuer geworfen worden sind. Vicki Baum, Stefan Zweig, Heinrich Heine, Thomas Mann, Robert Musil.»
«Waaas?» In Helenes Gesicht stand die nackte Angst. «Hast du die etwa auch verkauft?»
«Ich kenne meine Kunden, weiß, wem ich trauen kann. Aber jetzt müssen sie weg.»
«Wohin?», wollte Christa wissen. «Wenn du sie verbrennst, kriegen das die Kleins sicher mit.»
Martin schüttelte den Kopf. «Niemals würde ich Bücher verbrennen. Ich mauere sie ein. Unten, im Keller. Ich habe mir das schon vor einer ganzen Weile überlegt. Falls mal was sein sollte. Nun, jetzt ist was.»
Er stand auf, nahm den Ladenschlüssel vom Brett neben der Tür, und wenig später packten Helene und Christa die verbotenen Werke in Kisten, und Martin schleppte sie in den Keller. Zwei Dutzend Kisten packten sie.
«Was für ein Glück, dass unser Keller nicht mehr feucht ist», sagte Christa, während sie den Roman Menschen im Hotel von Vicki Baum an ihre Brust drückte. Martin hatte ihr ein Exemplar zu ihrem vierzehnten Geburtstag geschenkt und dazu gesagt: «Dieser Roman ist ein wahrer Schatz. Schau dir nur an, wie die Figuren gezeichnet sind. In jeder Szene steckt ein ganzer Kosmos. Aber lies es nur hier zu Hause und sprich nicht darüber.»
«Ist sie dafür nicht noch viel zu jung?», hatte Helene eingewandt.
«Für gute Bücher ist man nie zu jung», hatte Martin erwidert. «Wenn sie etwas nicht versteht, kann sie ja fragen.»
Christa hatte es gelesen und verstanden, und seither war Vicki Baum ihre Lieblingsschriftstellerin. Behutsam legte sie das Buch zu den anderen, trug die Kiste in den Keller.
«Woher hast du die Ziegel?», fragte sie.
Martin grinste. «Die Lehmanns. Die haben eine Garage für ihr Auto im Hinterhof gebaut. Die hier waren übrig.»
Christa sah ihm zu, wie er die Kiste auf die anderen an der Wand stapelte, nach einem Ziegel griff und die erste Reihe auf den Boden legte.
Eine ohnmächtige Traurigkeit überkam sie. Da lagen all ihre Lieblinge. Stefan Zweigs Novelle Die unsichtbare Sammlung, Tucholskys Schloß Gripsholm, Der Untertan von Heinrich Mann, die Werke von Erich Maria Remarque und sogar die Traumdeutung von Sigmund Freud. Ihr war, als müsse sie sich von engen Freunden verabschieden. Von Menschen, die ihr viel bedeuteten. Sie war zwar erst vierzehn, aber ein Leben ohne Bücher, ohne Geschichten kannte sie nicht und wollte sie nicht kennen. Sie las, wo immer sie war. In der Schule heimlich unter der Bank, abends in ihrem Lieblingssessel vor dem Küchenfenster oder mit der Taschenlampe unter der Bettdecke. Manchmal kam ihr das Leben in den Büchern realer vor als die Wirklichkeit.
Ihre Mutter schimpfte oft, obschon sie ebenfalls gerne las. «Es ist nicht gut, in deinem Alter so viel zu lesen. Männer mögen keine gebildeten Frauen, die ihnen am Ende noch widersprechen.» Und doch hatte es etliche Abende gegeben, da hatten sie beide im Wohnzimmer gesessen und gelesen. Und ganz selten hatte die Mutter ihr sogar Gedichte vorgetragen. Und nun waren alle diese Bücher in Kisten verpackt und warteten darauf, hinter einer Mauer zu verschwinden.
«Was soll ich denn jetzt lesen?», fragte Christa leise. «Ohne Bücher fühle ich mich nackt.»
Martin sah auf. «Erinnere dich daran, was du gelesen hast und warum es dir so viel bedeutet. Denk über die Bücher nach. Lies die Klassiker: Goethe, Schiller, Hölderlin. Das ist die wahre Literatur.»
«‹Wahre Literatur›. Was ist das?» Christa hatte zu sich gesprochen, aber Martin legte den Ziegel aus der Hand und setzte sich auf eine der gepackten Kisten. «Du willst wissen, was das ist? Das ist nicht einfach zu erklären. Aber ich will es trotzdem versuchen. Wahre Literatur geht über den Zeitgeist, über die Moden hinaus. Noch hundert Jahre nachdem der Autor das Buch geschrieben hat, ist es aktuell. Die Gedanken im Werk sind neu, der Blickwinkel ist überraschend. Und natürlich ist die Sprache entscheidend. Keine Phrasen, höchstens als Stilmittel. Ungewohnte Metaphern. Bislang unbekannte Fragen werden aufgeworfen, das Denken angeregt. Goethe hat seinen Faust 1808 veröffentlicht. Das ist einhundertdreiunddreißig Jahre her. Doch die Fragen, die Goethe aufwirft, Fragen rund um Liebe, Wahrheit, Willensfreiheit, Verantwortung, Gut und Böse, die sind so aktuell, als wäre die Tragödie erst gestern geschrieben worden. Man muss die Klassiker lesen, um die Gegenwart zu verstehen.»
Er blickte auf die Wand, hinter der die Bücher verschwinden sollten, und seufzte. «Lass uns später noch einmal darüber sprechen. Jetzt müssen wir arbeiten.» Er erhob sich und strich Christa über die Schulter. «Außerdem haben wir ja noch Hermann Hesse. Der ist nicht verboten. Lies den Steppenwolf. Eigentlich wollte ich damit noch warten, bis du etwas älter bist. Aber ich suche ihn dir gleich im Laden raus.»
Als alle Kisten eingemauert waren, holte Christa Asche aus dem Küchenofen, kratzte mit einem Messer den Ruß aus dem Inneren des Ofens. Damit beschmierte sie die frisch gemauerte Wand, jetzt konnte niemand mehr erkennen, dass sie neu war. Zum Schluss schoben sie das Regal mit dem Werkzeug vor die Wand, stapelten kaputte Stühle davor und schoben ein Schränkchen daneben, auf das sie den alten Schlitten legten.
Dann verriegelten sie den Keller ordentlich und begaben sich zurück in den Laden, wo Helene dabei war, die Lücken in den Regalen zu schließen. Sie drängte darauf, das Schaufenster noch neu zu gestalten, aber Martin schüttelte den Kopf. «Reicht es nicht, dass meine liebsten Schriftsteller im Exil sind und ihre Bücher hinter einer Kellermauer? Noch mehr lasse ich mir nicht verbieten.»
Dann nahm er den Steppenwolf aus dem Regal und drückte ihn Christa in die Hand.
Einen Tag später erschien Herr Klein mit einem Mitarbeiter der Reichsschrifttumskammer, Herrn Süßmund, im Laden. Es war Sommer. Christa hatte Schulferien und half Martin – wie immer, wenn sie freie Zeit hatte – im Laden. Gerade war sie dabei gewesen, die Bücher aus den Regalen zu holen und abzustauben. Es waren die Blut-und-Boden-Bücher von Hans Friedrich Blunk, Hans Zöberlein, Josefa Behrens-Totenohl und Kuni Tremel-Eggert, die in riesigen Auflagen gedruckt und verbreitet wurden. Christa hatte einmal in ein Buch von Behrens-Totenohl geschaut und es mit Schaudern wieder zurückgestellt. Schwülstig war es, durchdrungen von Pathos und Kitsch.
«Bitte, was kann ich für die Herrschaften tun?» Martin war freundlich wie immer. «Gerade heute ist ein neues Werk für die Jugend von Baldur von Schirach eingetroffen. Ein passendes Geschenk für die werten Nachkommen.»
«Wir haben eine Meldung erhalten, dass Sie volksschädliches Schrifttum vertreiben», schnarrte Süßmund, und Herr Klein nickte dazu.
«Ich? Wie kommen Sie denn darauf? In meinem Laden habe ich bislang nur gute Literatur verkauft.»
Christa musste lächeln, als sie das hörte. Aber es war ein trauriges Lächeln.
«Und was ist mit dem Schaufenster?», mischte sich Herr Klein ein.
«Ja, was ist damit?» Martin blickte mit Unschuldsmiene zu den Heiteren Tagen unter braunen Menschen.
Süßmund verzog das Gesicht, wandte sich an Klein. «Mit dem Schaufenster ist alles in Ordnung. Da ist nichts, wo wir den drankriegen könnten. Obwohl ich weiß, welche Absicht er damit verfolgt.» Sein Gesicht nahm eine leicht rötliche Färbung an, als er plötzlich lauter wurde: «Und jetzt werde ich eine Überprüfung Ihres Ladens durchführen. Hier bleibt kein Stein mehr auf dem anderen, wenn ich fertig bin. Das können Sie mir glauben.»
«Bitte sehr.» Martin stellte sich hinter den Verkaufstresen, verschränkte die Arme vor der Brust. «Aber gehen Sie vorsichtig mit den Büchern um. Sie sind immerhin wertvolles Kulturgut.»
Christa stellte sich neben ihren Onkel, konnte aber nicht verhindern, dass sie zitterte. Jeder zitterte vor der Reichsschrifttumskammer mit der gefürchteten «Liste des schädlichen und unerwünschten Schrifttums», die täglich länger wurde. Hoffentlich haben wir alles Verdächtige weggeräumt, dachte sie und knetete ihre Hände.
Süßmund trat an das Regal, das Christa gerade gesäubert hatte, riss ein Buch nach dem anderen heraus und ließ es auf den Boden krachen. Die Behrens-Totenohl schlug auf und brach in der Mitte durch. Wolter von Plettenberg von Hans Dietrich Blunck, zehn Stück im Regal, fielen eines wie das andere, als wären sie an der Ostfront. Hjalmar Kutzlebs Der erste Deutsche wurde herausgezerrt und in den Laden geschleudert. Christa wunderte sich, dass Süßmund so brutal mit dem deutschen Schrifttum umging, das so hoch geschätzt wurde, doch dann sah sie sein Gesicht. Es war rot, an der Stirn klopfte eine blaue Ader, und Christa erkannte, dass der Mann hier eine Wut austobte, die unmöglich mit diesen Büchern zusammenhängen konnte, und diese Raserei machte ihr noch mehr Angst.
«Wenn Ihre Vorgesetzten von der Reichsschrifttumskammer sehen würden, wie Sie hier mit der Blut-und-Boden-Literatur verfahren, wären sie gewiss nicht begeistert», wandte Martin ein.
Da trat Süßmund ganz dicht an ihn heran, reckte das Kinn vor und zischte: «Ich habe schon ganz andere Kaliber als Sie zur Strecke gebracht. Ganz andere. Aber gestern meinte mein Vorgesetzter, dass ich zu lasch sei. Deswegen werde ich jetzt ein Exempel statuieren.»
Speicheltröpfchen trafen auf Martins Gesicht, aber er rührte sich nicht. Die beiden Männer sahen sich direkt in die Augen. Und auf einmal wischte eine flüchtige Erinnerung durch Martins Kopf. Er hatte diesen Mann schon einmal gesehen. Aber wo? Und wann?
Süßmund räusperte sich, zog sein Sakko zurecht, dann bückte er sich, kramte auch im untersten Regalfach. Und da wusste Martin, woher er ihn kannte. Aus dem Bethmann-Park am Ende der Straße. Plötzlich pfiff der Vertreter der Staatsmacht leise durch die Zähne. Er warf noch eine Reihe weiterer Werke auf den Boden, ging auf die Knie und angelte mit der rechten Hand hinter dem Regal herum. Dann zog er ein Buch heraus, las den Titel und ein Lächeln überzog sein Gesicht. «Wusste ich’s doch!», stellte er triumphierend fest und zeigte Herrn Klein das Fundstück. Der blickte darauf und nickte.
Christa beugte sich ein wenig nach vorn. Der Schreck fuhr ihr in die Glieder. Ihr wurde heiß und kalt zugleich. Süßmund hielt die Liebesgedichte von Bertolt Brecht in den Händen! Die waren mehr als verboten. So verboten, dass nicht einmal Christa sie lesen durfte.
«Dafür, mein Schatz, bist du wirklich noch zu jung», hatte Martin gesagt.
Aber einmal, als ihr Onkel nicht im Laden war, da hatte sie doch in das Buch geschaut. Heiß war ihr geworden, fiebrig fast. Sie hatte die Worte nicht verstanden, nicht richtig. Sie hatte nur verstanden, dass es um Dinge ging, die ebenso so heiß und fiebrig waren wie ihre Haut. Schnell hatte sie den Lyrikband zurückgestellt, aber immer hatte sie geschaut, ob er noch da war. Eines Tages war das Buch weg, und sie hatte ihren Onkel danach gefragt. «Es ist verkauft. Ich habe es gleich noch einmal bestellt», hatte er gesagt, als ob es sich um eine ganz normale Lektüre handeln würde. Ein paar Wochen später war der Band wieder da, jemand hatte ein paar Exemplare aus der Schweiz mitgebracht. Und gestern Nacht war ihr ein Buch hinter das Regal gerutscht. Sie hatte es noch holen wollen, aber dann hatte die Mutter etwas gefragt, und das Buch war vergessen. Und jetzt hielt es der Klein in der Hand, blätterte durch die Seiten und schmatzte dabei. Es war widerlich.
Christa blickte zu Martin. Der war blass geworden und schluckte.
Süßmund riss dem Blockwart das Corpus Delicti aus der Hand und hielt es dem Onkel vor die Nase. «Was ist das?», fragte er.
«Die Liebesgedichte von Brecht», erwiderte Martin, aber auch seine Stimme klang blass.
«Schund ist das. Dreck. Kommunistendreck. Verderbt bis ins Mark», schrie Süßmund, warf den Brecht zu Boden und trampelte auf ihm herum. «Jeder Volksgenosse, der das Machwerk auch nur ansieht, ist vor Entsetzen stumm. Ganz zu schweigen von unseren rechtschaffenen Volksgenossinnen und Müttern. Ekelhaft. EKELHAFT!»
Es dauerte eine ganze Weile, bis er sich halbwegs beruhigt hatte. Er steckte die Gedichte mit spitzen Fingern in seine braune Lederaktentasche. «Sie hören von mir!», erklärte er bissig.
Und Klein fügte hämisch hinzu: «Damit kommen Sie nicht davon. Ich werde Ihren Laden dichtmachen. Verriegeln und verrammeln werde ich ihn. Sie sind die längste Zeit Buchhändler gewesen.»
Süßmund stürzte hinaus und Klein hinterher.
Christa begann zu weinen. «Ich war das», schluchzte sie. «Mir ist das Buch hinters Regal gefallen. Oh mein Gott!!» Sie schlug die Hände vor das Gesicht, ließ sich auf einen Stuhl sinken und weinte gotterbärmlich.
Martin kam zu ihr, strich ihr über die zuckenden Schultern. «Es ist nicht deine Schuld, Kleine», sagte er leise. «Du warst es nicht, die den Titel in den Laden gebracht hat. Mach dir keine Sorgen.»
Drei Tage später wurde Martin Schwertfeger von der Gestapo abgeholt und angeklagt wegen Volksverhetzung, Verbreitung von schädlichem Schrifttum und undeutscher Gesinnung. Die Kleins wurden als Zeugen vorgeladen. Frau Klein, frisch vom Friseur und im Sonntagskleid, sagte aus, dass Martin sogar den Führer und seine hohen Mitstreiter verhöhnt haben soll: «‹Adolf Hitler denkt für uns, Goebbels redet für uns, Göring frisst für uns, nur sterben tut keiner für uns.› Das hat er in der Buchhandlung gesagt. Das habe ich mit eigenen Ohren gehört, weil ich gerade den Hausflur gewischt habe und die Hintertür zur Buchhandlung, die vom Hausflur abgeht, offen stand.»
Martin wurde zu fünf Jahren Zuchthaus verurteilt.
Einmal durfte Helene ihn besuchen. Fünfzig Reichsmark sollte sie mitbringen, um den Transport ihres Schwagers in einem Viehwaggon nach Buchenwald zu bezahlen. Sie sah ihn nur kurz und war erschrocken über sein Aussehen. Das Haar stand ihm wirr vom Kopf ab, seine Lippen waren geschwollen und aufgesprungen.
«Sag Christa, dass es nicht ihre Schuld ist», beschwor Martin die Schwägerin. «Sag es ihr immer wieder. Und sag ihr, dass ich sie liebe.»
Dann war er fort, und kein Brief, keine Nachricht kam je aus Buchenwald.
Einmal ging Helene mit Christa zusammen zur Gestapo. «Wissen möchten wir, wie es Martin Schwertfeger geht. Seit zwei Jahren haben wir nichts mehr von ihm gehört. Wir können ihm nicht schreiben, ihm keine Pakete schicken.»
Der Gestapomann hatte sie verächtlich angeschaut. «Hauen Sie ab!», zischte er. «Schämen sollten Sie sich, so einen in der Verwandtschaft zu haben.» Dann wedelte er angeekelt mit der Hand, und Helene wusste, dass es keinen Zweck hatte, noch einmal wiederzukommen.
Christa aber konnte sich nicht beruhigen. «Ich war es», sagte sie immer wieder. «Ich habe meinen Onkel ins KZ gebracht.»
«Es ist nicht deine Schuld», wiederholte ihre Mutter immer wieder, aber Christa glaubte ihr nicht.
Früher war sie fröhlich gewesen, jetzt ging sie beinahe verbissen zu den Treffen des Bundes Deutscher Mädel. Sie tat es für Martin. Sie riss den Arm zum Hitlergruß nach oben, wann immer sie jemanden der Familie Klein traf. Ich darf nicht auffallen, dachte die Sechzehnjährige. Wenn alle Leute sehen, dass wir dem Führer treu ergeben sind, dann kommt Martin vielleicht frei. Sie strickte Strümpfe und Pulswärmer für die Männer an der Front und schrieb ihnen Briefe. So wie die meisten Mädchen ihres Alters. Briefe an fremde junge Männer, damit die wussten, dass es in der Heimat jemanden gab, der an sie dachte, damit sie wussten, wofür sie kämpften. Ihr Briefpartner war Klaus Lehmann, der Erbe der Metzgerei von gegenüber.
Und abends las sie Narziß und Goldmund von Hermann Hesse, weil es darin auch um Schuld ging.