ANTJE RÁVIC STRUBEL
UNTER SCHNEE
Roman
FISCHER E-Books
Antje Rávik Strubel veröffentlichte u.a. die Romane ›Unter Schnee‹ (2001), ›Fremd Gehen. Ein Nachtstück‹ (2002), ›Tupolew 134‹ (2004), sowie den Episodenroman ›In den Wäldern des menschlichen Herzens‹ (2016). Ihr Werk wurde mit zahlreichen Preisen geehrt, ihr Roman ›Kältere Schichten der Luft‹ (2007) war für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert und wurde mit dem Rheingau-Literatur-Preis sowie dem Hermann-Hesse-Preis ausgezeichnet, der Roman ›Sturz der Tage in die Nacht‹ (2011) stand auf der Longlist des Deutschen Buchpreises. Antje Rávik Strubel wurde mit einem Stipendium in die Villa Aurora in Los Angeles eingeladen sowie als Writer in residence 2012 an das Helsinki Collegium for Advanced Studies. 2019 erhielt sie den Preis der Literaturhäuser. Ihr Roman ›Blaue Frau‹ wurde mit dem Deutschen Buchpreis 2021 ausgezeichnet. Sie übersetzt aus dem Englischen und Schwedischen u.a. Joan Didion, Lena Andersson, Lucia Berlin und Virginia Woolf. Antje Rávik Strubel lebt in Potsdam.
www.antjestrubel.de
Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de
»Eine Sprache wie fein gemeißelt, knappe Dialoge, kräftige Bilder, eine Atmosphäre, die man beinahe riechen kann. So muss Literatur sein.« Claudia Müritz, Sächsischen Zeitung
Nachwende-Zeit, Neunzigerjahre: Evy und Vera verbringen eine Woche zum Skifahren in Harrachov, einem kleinen Ort im tschechischen Riesengebirge. Ihre Beziehung ist angeknackst und droht zu zerbrechen, als ein Schneesturm aufkommt, der sie an ihre Ferienhütte fesselt. Der Barkeeper des Ortes erpreßt einen westdeutschen Investor, um sich den Traum einer Weltreise zu erfüllen. Adina, der letzte Teenager im Ort, sucht nach neuen Selbstentwürfen im Internet. Durch die wechselnden Perspektiven der Einwohner gewinnen Evy und Vera Kontur. Das Buch entfaltet sensibel die Liebesgeschichte der beiden Frauen und erzählt vom Untergang einer Gesellschaft und von der Suche nach dem, was bleibt.
»Der eigentliche Held dieses entzückenden Episodenromans ist der Ort Harrachov, dessen Einwohner sich schwejkhaft mit der postsozialistischen Realität arrangieren.« Ina Hartwig, Frankfurter Rundschau
Erschienen bei FISCHER E-Books
© 2016 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main
Die Erstausgabe erschien 2001 im Deutschen Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG München
Covergestaltung: buxdesign, München
Coverabbildung: Robert Postma/Plainpicture
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-490151-0
But the world was lost inside her.
Don DeLillo
Wir sind von allem getrennt.
Und alles Seiende ist unerreichbar.
Emile Cioran
Es macht mich nervös, den Körper in einer Decke zu haben. Man kann nicht vor und zurück darin.
Unter der kratzenden Decke hervor sieht das Ende der Terrasse aus wie ein steil abfallender Berghang. Als könnte man sich in das weit geschwungene Tal stürzen, nur den Wind hören und das scharfe Zischen der Laufsohlen auf den verharschten Stellen, wo man sich weit vorlehnen muß, um das Gewicht zu halten.
Für heute haben sie Schneefall in den Nachrichten gemeldet, starken Schneefall, und die Lifte sind geschlossen. Der Himmel ist grau, undurchlässig, aber nicht von diesem diffusen Grau, das Schnee verspricht. Dann müßte sich auch der Geruch der Luft verändern. Die Luft müßte dichter werden oder graupelig, wie Evy dazu sagt. Wenn man dann noch im Wald unterwegs ist, stehen die Bäume unnatürlich still da.
Den Topf mit dem Glühwein haben wir vorsorglich drinnen gelassen. Unter der Felldecke ist es hier draußen auch so heiß genug.
»Und wenn es nun nicht schneit? Es schneit heute bestimmt nicht. Das versaut uns einen ganzen Tag!«
Evy antwortet nicht. Sie ist bis zum Hals verpackt und sieht aus, als würde sie schlafen. Sie hat so was im Gesicht, das sie dazu macht, so auszusehen. Nur die Augen machen das wieder wett, und manchmal ihre Art zu sprechen.
Aber ihr Glas ist zur Hälfte leer. Also schläft sie nicht. Vielleicht denkt sie auch an die versäumten Abfahrten, die Pisten, von denen wir nur die schwarzen nehmen, die direkt ins Tal schießen, ohne Umwege und mit eingebauten Buckeln. Die Pisten sind lächerlich kurz, selbst die schwarze hat kaum noch Schwierigkeitsgrade, wenn man an Dreitausender gewöhnt ist. Oben muß man sich abstoßen, um überhaupt loszukommen, dann steht man da und wartet, daß was passiert, und bevor es richtig abgeht, ist man schon wieder unten. Evy stört das alles nicht. Sie fährt hierher, seit sie drei ist, und ich wette, sie wird es noch ewig tun.
»Sieht nicht so aus, als ob die heute noch mal aufmachen. Was meinst du? Wir sollten fragen, ob wir das Geld für die Wochenkarte zurückkriegen.«
Evy antwortet nicht, immerhin greift sie zu ihrem Glas. In die Decke gepackt, die ihr bis zum Kinn reicht, wirkt sie wie ihre eigene Großmutter. Als hätte die Zeit sie überholt. Sie schiebt mit dem Handschuh die Decke weg, bevor sie sich auf dem geblümten Liegestuhlstoff aufstützt und das Glas ansetzt. Sie schlürft und läßt sich zurückfallen.
»Geiler Tag! Wie im Sanatorium.«
Evy winkt nur ab. Als würde sie denken, daß Abwinken so gut ist wie eine Antwort. Aber vielleicht denkt sie wirklich so. Das Ende der Terrasse ist ungefähr zwei Meter von meinen Füßen weg, die in der Decke stecken wie im Strampler. Sie glaubt, das Abwinken würde mir reichen.
Ich versuche, mir den Ausblick vorzustellen, den man vom Ende der Terrasse aus hat; eine scharf gezackte Bergwand. Der Wind hat nur an die ungeschützten Stellen Schnee geweht, der jetzt festgefroren ist und die Bergwand noch kantiger macht. Zerklüftet. Und direkt daneben, im Schatten dieser Wand, führt die Piste abwärts. Von oben sieht es aus, als könnten die Ski bei dem Gefälle unmöglich noch Bodenhaftung haben. Aber so sieht es hier nie aus. Alles, was es hier gibt, sind niedliche Häuschen, sanfte Hügel und jede Menge Ostler. Und wenn man Pech hat, machen sie einfach die Lifte dicht.
»Wie spät ist es«, fragt Evy plötzlich. Sie hat die Augen nicht aufgemacht. Aber sie hat tatsächlich etwas gesagt.
»Keine Sonne, kein Schnee. Keine Ahnung.« Der Glühwein ist lauwarm. »Aber gleich hab ich ein Problem.«
Evy brummt etwas in die Decke und schiebt den Arm mit dem Handschuh wieder darunter.
»Willst du nicht hören, was ich für ein Problem habe?«
»Was hast du für ein Problem«, sagt Evy, ohne sich zu rühren.
»Du willst es gar nicht wissen. Wie kannst du nur so gottergeben sein? Kaum sagen sie was in den Nachrichten, schon glaubst du dran.« Die Decke juckt am Gesicht und an den Händen, trotz der Handschuhe, und wenn man sie abwirft, sticht sofort die Eisluft unter die Baumwolljacke.
»Es ist so klar, daß es für Wochen keinen Schnee geben kann! Der reinste Hochglanzhimmel. Wie kann man da so rumliegen!«
»Ich bin Atheistin«, sagt Evy. »Und Gott und die Nachrichten sind zwei getrennte Dinge. An das eine glaubt man, und das andere muß man glauben.«
»Ahso.« Ich stülpe das Glas verkehrtherum auf den eisigen Terrassenboden. Ein Ring bildet sich, in dem der Glühweinrest rot anfriert. In der Ferne sind die Masten des Sessellifts zu sehen.
»Sie fahren nicht! Wenn sie die Entscheidung wenigstens uns überlassen würden. Statt dessen machen sie einfach dicht.«
»Der Wind ist zu stark«, sagt Evy, ohne die Augen aufzumachen. »Die Sessel würden zu sehr schwanken. Die Tatra-Leute sind dafür bekannt, daß sie bei ihren Liften auf Nummer Sicher gehen.«
»Auf Nummer Sicher? Ich würde eher sagen, ihr habt euch immer schon gern ein bißchen maßregeln lassen –«
»Ihr«, sagt Evy und richtet sich auf.
Jetzt hab ich sie. Sie haßt es genauso wie ich, sie tut nur nichts. Es kommt mir vor, als hätte sie nie etwas getan, nur immer so gelegen – und ich habe ihr immer dabei zugesehen. Zwei Jahre lang. Immer den Kopf in die rechte Hand gestützt und abgewartet.
Als ich mich umdrehe, ist Evy dabei, sich auszuwickeln. Sie kommt auf Strümpfen über den eisigen Terrassenboden gehüpft.
»Guck dir mal die Äste an«, sagt sie ruhig und ohne weiter auf meine Bemerkung einzugehen. »Wenn sich nur die oberen Astspitzen bewegen, kommt ein Sturm auf, nicht wahr?« Es ist wie immer. Seit zwei Jahren gibt es diese Gespräche, das scharfe Abmessen der Gedanken, bevor sie etwas sagt, und wenn es ihr zu brenzlig wird, kommt nichts mehr, keine Reaktion. Statt dessen nickt sie nur hinüber zu dem einzigen Baum vor unserer Ferienhütte, einer dürren Kiefer, und sagt irgendwas, um mich abzulenken. Es ist ihr peinlich, wenn ich so rede, auch wenn es niemand außer uns beiden hört. Die Vermieterin wohnt in einem winzigen Zimmer im Erdgeschoß, außerdem ist sie Tschechin und stocktaub.
»Nicht wahr.«
»Es ist aber auch kalt.« Evy zieht einen Fuß an und greift nach meinem Arm. Schon an unserem ersten Treffen muß ihr irgendwas peinlich gewesen sein. Ich hatte sie achtlos in einem Schwung geschnitten, und wir waren in hohem Tempo aneinandergeprallt. Es hätte nicht sein müssen, die Piste war an dieser Stelle breit und übersichtlich. Aber statt sich aufzuregen, hatte sie eilig ihre Ski zusammengesucht und dann so was gesagt wie: Achte auf nichts wegen mir, oder so ähnlich. In ihrer leicht spöttischen Art.
Evy hatte Abfahrtsläuferin werden wollen und war es nicht geworden. Wegen der aktuellen politischen Situation, sagte sie, als wir nach dem Unfall im Schnellrestaurant an der Liftstation saßen und Grog tranken.
Evy will immer etwas sein und ist es dann nicht. Auch dieser erste Satz war nicht spöttisch gemeint.
»Warum gehen wir nicht einfach rüber und machen ein bißchen Streß? Dann machen sie die Lifte schon auf. Die wollen doch schließlich was verdienen, oder?«
Harrachov ist ein Kaff, wenn die Lifte stillstehen. Die Touris drängeln sich in den drei Läden auf der Hauptstraße oder in den frisch renovierten Bars. Die Bars haben silberne Tanzflächen und werden mit blauem Neonlicht bestrahlt wie in den Achtzigern.
Evy hüpft zu ihrem Liegestuhl zurück und ruft über die Schulter: »Ich suche schon mal die Nummer der Bergwacht heraus, du Heldin!«
Sie hat Übung darin, vernünftig zu sein, als hätte sie schon die Muttermilch in kleinen, vorsichtigen Portionen getrunken. Allein wegen ihrer Art, manche Worte so überlegt auszusprechen, würde ich am liebsten losgehen.
Die Masten des Lifts in der Ferne verschwinden im Dunst, dann werden sie wieder deutlicher. Vielleicht wird es tatsächlich noch schneien. Aber wenn, dann so, wie es im Mittelgebirge schneit. Sanft, in großen Flocken und ungefährlich. Die Berge sind kaum höher als tausend Meter. Höchstens die Buckelpiste werden sie danach neu präparieren müssen.
Evy hat sich wieder in die Decke gewickelt.
»Wir sollten uns wenigstens das Geld wiedergeben lassen.«
»Hör mal, wie still es ist«, sagt Evy und hat die Augen schon wieder geschlossen. »Wenn du dich nicht rührst, kannst du spüren, wie der Wind näher kommt.«
Evy erträgt alles mit ihren geschlossenen Augen. Sie wird den ganzen Tag so in ihrem Stuhl ertragen. Meine Fingerspitzen werden taub, das Glühweinglas auf der Terrasse ist angefroren.
»Nadann. Viel Spaß noch. Ich geh rein.«
Im Fernsehen kommt Frankreich, Unruhen in Paris, der Regierungschef ist ratlos. Wenigstens da gibt es noch Bewegung. Der Wetterbericht ist aussichtslos. Schneestürme im gesamten Riesengebirgsraum und weitere Tiefausläufer über Skandinavien.
»Du bist unruhig wie eine Katze, wie eine rollige«, Evy steht plötzlich hinter mir. Sie schiebt mir eine Hand um den Bauch herum und drückt leicht mit dem Knie gegen mein rechtes Bein.
Ich sage darauf, was man sagt, wenn man sich nicht traut, sich zu rühren.
Wenn ich mich umdrehe oder auch nur bewege, wird Evy ihre Hand zurückziehen und aussehen, als hätten wir uns gerade über Politik unterhalten.
»Es gibt Schlimmeres als solche Tage«, sagt Evy.
Als ich mich doch umdrehe, sieht sie wirklich aus, als hätten wir uns über Politik unterhalten, und beginnt, Holzscheite in den Kamin zu schieben. So, von hinten, hat sie die schwerfälligen Rückenbewegungen ihrer Mutter. Dabei ist Evy schmal wie ihr Gesicht, wenn es schläft. Ich habe nächtelang in dieses Gesicht gesehen, beschienen vom matten Licht, das der Schnee wiedergibt. Wie es atmet unter der Haut, die Lippen geschlossen, und man sieht das Atmen nur, wenn man lange, und ohne sich selbst zu bewegen, hineinsieht. Dann spielt das Licht auf den Wangen und auf der Stirn, und es sieht aus, als hätte es ein Leben darunter. Evys Stirn ist hoch und im Schlaf ganz glatt. Und wenn tatsächlich etwas darunter ist, von dem selbst Evy nichts weiß, muß es unendlich weit weg sein. Wie Paris. –
»Oder willst du dich den ganzen Tag so verrückt machen?«
»Der Tag macht mich verrückt. Nicht umgekehrt.«
»Wir machen heute eben einen Ruhetag. Sieh das doch mal so. Vielleicht ist ein Ruhetag zwischendurch gar nicht so schlecht.«
Ich schalte hartnäckig am Fernsehgerät. Iwantitnow-Iwantyou,’causeI’mMr.Vain. Der Dow-Jones-Index ist um einige Punkte gefallen, und die Krise in der asiatischen Welt hat geradezu orgiastische Ausmaße –. Kinderlose Ehepaare können zukünftig auch ohne –. Wieder Frankreich.
Im Sommer, nachdem wir uns kennengelernt hatten, fuhren wir nach Paris, in ein rümpliges Hotel, in dem es kein Frühstück gab, und der Kaffee war viel zu teuer. Aber gemeinsam mit Evy ließ sich sogar der Eiffelturm aushalten.
»Mein Gott!« macht Evy.
»Denk, du bist Atheistin.«
»Was?«
»Ich denke«, und das ganz deutlich, »ich denke, du bist Atheistin.«
Evy schließt die Eisenklappe des Kamins und zuckt die Schultern: »Ist noch Glühwein da?«
Auf dem Eiffelturm fing Evy an zu weinen. Richtig laut zu schluchzen unter all den Menschen da oben. Der Wind war ziemlich stark und eiskalt wie auf der Piste, und Evy wischte ihr Gesicht an meinem Jackenärmel ab. Nur einmal, ganz kurz, und dann zog sie es wieder weg und sagte: Schon gut. Alles halb so wild.
Evy nimmt ein neues Glas aus dem Schrank und schüttet mit der Kelle Glühwein aus dem Topf nach.
Es ist drei Uhr nachmittags, und wir können nichts machen. Den ganzen Tag nicht. Sogar die Zugänge zur Bergstation hat die Bergwacht abgesperrt und Warnschilder aufgestellt. Ich schalte den Fernseher aus, meine Finger brennen, und Evy füllt immer noch Glühwein in ihr Glas. Bei der Größe der Kelle könnte sie viel schneller sein. Das macht sie, damit sie sich nicht fragen muß, was als nächstes kommt. Wenn das Glas wieder leer ist. Darin ist sie eine Künstlerin.
Der Tag oben auf dem Eiffelturm war ganz strahlender Himmel, und unten waren die Brücken zu sehen. Und Evys Gesicht war feucht, erst an der Wange, dann an den Lippen –
Wahrscheinlich zehrt Evy noch ewig von diesem Kuß und von dem später, in unserem rümpligen Hotel, als sie unnötigerweise klopfte: Stör ich?
Es wäre mir immer recht gewesen. Auch wie Evy mich auf dem Bett zwischen die Knie nahm, war mir recht. Sie hatte nur ihr dünnes Top an, und als sie sich über mich beugte, fielen die Träger nach vorn. Es war Sommer, mit diesem farbigen Wind, der durchs offene Fenster kam. Man konnte mit dem Finger Farbspuren in die nackte Haut ziehen. Ich hatte das schon öfter gemacht, aber bei Evys weißen Armen war es irgendwie besonders. Ich zog Evy die Träger herunter, bis auf die Handflächen und hebelte dann die Hände aus. Evy verlor das Gleichgewicht und fiel vornüber auf mich drauf. Ich hielt ihren Kopf fest wie ein Kissen, damit die Lippen nicht wegrutschten, bis Evy sich befreite und aufrichtete und auf die Straße ging, um den Händlern zuzusehen. Sie konnte das stundenlang. Du brauchst nicht mitzukommen. Ich komm schon zurecht.
Und ich lag da auf dem Bett und wußte, so wird es nie wieder sein. Und es ist nie wieder so gewesen. Wie Paris. Mit seinem gekünstelten Ernst, den ich ohne Evy nie entdeckt hätte. Ohne Evy hätte alles, was ich tat, keine Rolle gespielt, weil man selbst und andere es tausendmal vorher schon getan hatten. Aber mit ihr konnte ich mich plötzlich auf die einzelnen Handgriffe konzentrieren, als wäre es nötig, sie wieder zu lernen. Evy durch die kurzen blonden Haare fahren, auf einem Trottoir an der Rive Gauche Cidre aus dickbauchigen Flaschen trinken, Evy reden hören, die erzählen kann, als gäbe es keine Websites, Nachrichtensender, CD-Roms, keine Chatlines, und die Sonne im Flaschenhals versinken sehen. Das alles war anders. Und wie Evy zwischendurch auflachte und sagte, wo sie hingekommen wäre mit mir; auf ein Trottoir an der Seine! Das hätte mir vor drei Jahren mal jemand erzählen sollen!
Von damals weiß ich nicht viel, das ist Evys Geheimnis, und sie hütet es wie dieses Glühweinglas in ihren Händen.
Wahrscheinlich wird sie mich nur dann ernst nehmen, wenn ich jetzt in den Schnee hinausgehe und direkt hinüber auf die schwarze Piste.
»Es gibt Menschen, die monatelang eingesperrt waren«, sagt Evy zwischen ihren Schlucken. Sie hält das Glas mit beiden Händen und winkelt die Ellbogen an dabei. »Nur weil sie sich darüber aufgeregt haben, daß die Lifte nicht fahren oder sie jemand Offizielles dafür verantwortlich gemacht haben. Stell dir einfach vor, du bist so ein Mensch. Es geht dir gleich besser.«
»Wenn du hier die Märtyrerin spielen willst, bitteschön. Ich bin dafür, herauszufinden, was man dagegen tun kann und es dann zu tun.«
Evy trinkt wieder einen Schluck, so langsam, daß ich sie am liebsten anschieben würde. Dann stellt sie das Glas auf die Spüle.
»Wir sollten die Sachen reinholen, Vera. Es wird immer dunkler. Es fängt bestimmt bald an.« Sie bückt sich nach ihren Handschuhen.
»Wieso?« Ich schiebe die Tür zur Terrasse auf, und die Februarluft strömt in den überheizten Raum. »Sieht doch toll aus draußen!«
Die Berge sind verschwunden. Ganz hinten sind noch Umrisse zu sehen, aber das können genausogut die Wolken sein. Sie haben den Lift und die schwarze Piste geschluckt und ziehen in Richtung Übungshang, von dem nur noch der Auslauf zu sehen ist. Wenn man jetzt unterwegs ist, irgendwo da oben, sieht man die Bodenwellen nicht mehr. Der Schnee wird verräterisch, er färbt sich grau ein, und die Schatten verschwinden. Die Grenze zwischen Schnee und Luft wird unsichtbar, und man fährt ins Nichts. Nur die Ski sind noch zu hören, die heller klingen über den vereisten Stellen.
Jedenfalls wäre das im Hochgebirge so.
Das Glas auf dem Terrassenboden ist von einem Eisrand umgeben. Ich hauche es an, und es beschlägt unter meinen Fingern. Mit einem Ruck löst sich der Boden. Es knackt.
»Scheiße.«
In Paris hat Evy sich von den Händlern Auberginen und Papayas zeigen lassen und einen riesigen Beutel voll gekauft, an dem wir noch drei Tage später gegessen haben.
»Kommst du jetzt rein, Vera, oder bleibst du draußen. Ich würde gern die Tür zumachen.« Evy hält ihren Liegestuhl zusammengeklappt vor dem Bauch.
»Es ist zu warm drin. Laß die Tür doch auf.«
»Mir ist es nicht zu warm. Also?«
»Dann mußt du dir halt was anziehen.«
»Kommst du jetzt rein?«