Javier Marías
Morgen in der Schlacht denk an mich
Roman
Aus dem Spanischen von Carina von Enzenberg und Hartmut Zahn
Fischer e-books
Javier Marías, 1951 als Sohn eines vom Franco-Regime verfolgten Philosophen geboren, veröffentlichte seinen ersten Roman mit neunzehn Jahren. Seit seinem Bestseller ›Mein Herz so weiß‹ gilt er weltweit als interessantester Erzähler Spaniens. Sein umfangreiches Werk wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u. a. mit dem Nelly-Sachs-Preis sowie dem Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur. Seine Bücher wurden in über vierzig Sprachen übersetzt.
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Covergestaltung: hißmann, heilmann, hamburg
Coverabbildung: Plainpicture / Grégoire Perrier
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel
›Manana en la batalla piensa en mí‹ bei Editorial Anagrama, Barcelona
© 1994 Javier Marías
›Morgen in der Schlacht denk an mich‹ erschien erstmalig auf Deutsch 1998 bei Klett-Cotta, Stuttgart
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2012
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ISBN 978-3-10-401994-9
Für Mercedes López-Ballesteros,
die den Satz über Bakio von mir gehört
und mir diese Zeilen aufgehoben hat
Niemand denkt je daran, dass er irgendwann eine Tote in den Armen halten könnte und dass er nicht mehr ihr Gesicht sehen wird, an dessen Namen er sich erinnert. Niemand denkt je daran, dass jemand im unpassendsten Augenblick sterben könnte, obwohl dies die ganze Zeit passiert, und wir glauben, dass niemand, dem dies nicht bestimmt ist, in unserem Beisein wird sterben müssen. Oft werden Tatsachen oder Umstände geheim gehalten: Häufig schämen sich die Lebenden und der Sterbende – sofern er Zeit dazu hat – der Art des möglichen Todes und seiner Begleiterscheinungen, auch der Ursache. Eine Fischvergiftung, eine beim Einschlafen brennende Zigarette, die das Bettzeug oder, schlimmer noch, die Wolle einer Decke in Brand setzt; ein Ausrutscher in der Dusche – der Nacken – und eine von innen verriegelte Badezimmertür, ein Blitz, der in einer großen Allee einen Baum spaltet, und dieser Baum wiederum zertrümmert den Kopf eines Passanten, eines Fremdlings vielleicht, oder schlägt ihn ab; mit Socken an den Füßen sterben oder beim Friseur mit einem großen Umhang oder in einem Freudenhaus oder beim Zahnarzt; oder beim Fischessen an einer Gräte, die sich querstellt, sich verschlucken und sterben wie Kinder, deren Mutter nicht da ist, um ihnen den Finger in den Hals zu stecken und sie zu retten; mitten in der Rasur sterben, mit einer Wange voll Schaum und einem für alle Zeiten ungleichen Bart, sofern niemand es bemerkt und die Arbeit aus Gründen der Pietät und Ästhetik zu Ende führt; ganz zu schweigen von den unrühmlichsten Augenblicken des Daseins, den geheimsten, über die man außer in der Jugend nie spricht, weil es danach keinen Vorwand dafür gibt, wenngleich sich auch manche Leute mit einer witzigen Bemerkung Luft machen, die nie witzig ist. Das ist aber ein schrecklicher Tod, sagt man über manche Tode; das ist aber ein alberner Tod, sagt man auch und lacht lauthals. Das Gelächter rührt daher, dass man von einem endlich verblichenen Feind oder entfernten Bekannten spricht, von jemandem, der uns gekränkt hat oder seit langem in der Vergangenheit weilt, ein römischer Kaiser, ein Ururgroßvater oder irgendein Mächtiger, in dessen groteskem Tod man dennoch nur eine für das Leben und die Menschen wichtige Gerechtigkeit erblickt, die wir uns im Grunde für alle wünschen, auch für uns selbst. Wie ich mich über diesen Tod freue, wie ich ihn beklage, wie ich ihn feiere. Manchmal genügt es schon zur Erheiterung, dass der Tote ein Unbekannter ist, von dessen unweigerlich lachhaftem Unglück wir in den Zeitungen lesen, der arme Kerl, sagt man dann lachend, der Tod als Darbietung oder Schauspiel, das angekündigt wird, all die Geschichten, die man sich erzählt, die man liest oder hört und wie ein Theaterstück aufnimmt, stets gibt es einen Grad von Unwirklichkeit in dem, was sie uns mitteilen, als passierte überhaupt nie etwas, nicht einmal das, was uns passiert und was wir nicht vergessen. Nicht einmal das, was wir nicht vergessen.
Es gibt einen Grad von Unwirklichkeit in dem, was mir passiert ist, und außerdem ist es noch nicht zu Ende, oder vielleicht sollte ich für das Verb ein anderes Tempus wählen, nämlich das, das wir in unserer Sprache beim Erzählen üblicherweise verwenden, und sagen, was mir passierte, mag es auch noch nicht zu Ende sein. Vielleicht muss ich jetzt beim Erzählen darüber lachen. Aber ich glaube nicht, denn es liegt noch nicht weit zurück, und meine Tote weilt nicht schon seit langem in der Vergangenheit, noch war sie mächtig oder eine Feindin, und zweifellos kann ich ebenso wenig von ihr sa-gen, sie sei eine Unbekannte, wenngleich ich wenig über sie wusste, als sie in meinen Armen starb – jetzt allerdings weiß ich mehr. Zum Glück war sie noch nicht nackt, oder jedenfalls nicht ganz, wir waren gerade dabei, uns auszuziehen, und zwar gegenseitig, wie es gewöhnlich geschieht, wenn es zum ersten Mal geschieht, also in der ersten Nacht, der ein Anschein des Unvorhergesehenen anhaftet oder die scheinbar unbeabsichtigt ist, damit man die Scham ausklammern, später das Gefühl der Unvermeidbarkeit haben und so eine mögliche Schuld von sich weisen kann; die Menschen glauben an Vorherbestimmung und an ein Eingreifen des Schicksals, wann es ihnen passt. Als hätte alle Welt Interesse daran, gegebenenfalls sagen zu können: ›Ich habe es nicht darauf angelegt, ich habe es nicht gewollt‹, wenn die Sache schlecht läuft oder deprimierend ausgeht oder einer etwas bereut oder sich herausstellt, dass man Schaden angerichtet hat. Ich habe es nicht darauf angelegt und auch nicht gewollt, sollte ich jetzt sagen, da ich weiß, dass sie tot ist, dass sie unpassenderweise in meinen Armen gestorben ist, obwohl sie mich kaum kannte – unverdienterweise, eigentlich war es nicht vorgesehen, dass ich bei ihr war. Niemand würde mir glauben, wenn ich das sagte, aber das ist nicht weiter wichtig, schließlich bin ich es, der hier erzählt, und entweder man hört mir zu oder nicht, und damit basta. Ich habe es nicht darauf angelegt, ich habe es nicht gewollt, sage ich jetzt trotzdem, und sie kann nicht mehr dasselbe oder etwas anderes sagen oder mir widersprechen, das Letzte, was sie sagte, war: ›Oh Gott, der Junge!‹ Das Erste, was sie gesagt hatte, war: ›Ich fühle mich nicht wohl, ich weiß nicht, was mit mir ist.‹ Ich meine das Erste nach Unterbrechung des gegenseitigen Ausziehens, wir waren bereits in ihrem Schlafzimmer und lagen halb auf dem Bett, halb bekleidet und halb unbekleidet. Auf einmal rückte sie von mir ab und legte mir die Hand auf die Lippen, als wollte sie nicht aufhören, sie zu küssen ohne eine Überleitung durch eine andere Zärtlichkeit, eine andere Berührung, sie schob mich mit dem Handrücken sacht von sich, drehte sich auf die Seite und kehrte mir den Rücken zu, und als ich sie fragte: ›Was ist los?‹, antwortete sie dies: ›Ich fühle mich nicht wohl, ich weiß nicht, was mit mir ist.‹ Da sah ich ihren Nacken, den ich noch nie gesehen hatte, das Haar stand etwas ab, war etwas zerzaust und etwas verschwitzt, dabei war es nicht warm, ein Nacken wie aus dem neunzehnten Jahrhundert, an dem Strähnen oder Fäden schwarzen Haars klebten wie halbgetrocknetes Blut oder Schlamm, wie der Nacken eines Menschen, der in der Dusche ausgerutscht ist und noch Zeit gehabt hat, den Wasserhahn zuzudrehen. Alles ging sehr schnell, und es blieb für nichts Zeit. Weder um einen Arzt zu rufen (welchen Arzt schon um drei Uhr morgens, Ärzte machen nicht mal mehr zur Essenszeit Hausbesuche), noch um einen Nachbarn zu alarmieren (welchen Nachbarn schon, ich kannte keinen, ich war nicht zu Hause und nie zuvor in diesem Haus hier gewesen, in dem ich Gast und nun ein Eindringling war, auch nicht in dieser Straße und nur gelegentlich in diesem Viertel, vor langer Zeit) oder den Ehemann anzurufen (wie konnte ich schon den Ehemann anrufen, und außerdem war er verreist, und ich kannte nicht einmal seinen vollständigen Namen) oder den Kleinen zu wecken (warum sollte ich den Kleinen wecken, wo es so viel Mühe gekostet hatte, bis er endlich eingeschlafen war), ja nicht einmal, damit ich selber versuchen konnte, ihr zu helfen, sie fühlte sich plötzlich unwohl, anfangs dachte ich oder dachten wir, das Abendessen wäre ihr nicht bekommen, bei all den Unterbrechungen, oder ich allein dachte, dass etwas sie bedrückte oder sie Reue empfand oder es mit der Angst bekommen hatte, diese drei Dinge schlagen sich nicht selten in Unwohlsein und Krankheit nieder, Angst und Depressionen und Reue, vor allem wenn Letztere sich gleichzeitig mit der Tat einstellt, die sie provoziert, alles auf einmal, ein Ja und ein Nein und ein Vielleicht, und währenddessen ist alles weiter- oder dahingegangen, das Elend, nicht zu wissen und handeln zu müssen, denn es gilt, der Zeit, die drängt und weiterläuft, ohne auf uns zu warten, einen Inhalt zu geben, wir sind langsamer als sie: entscheiden, ohne zu wissen, handeln, ohne zu wissen, und folglich vorausblicken, das größte und geläufigste Unglück, vorausblicken auf das, was danach kommt, ein Unglück, das normalerweise als geringer empfunden, aber tagtäglich von allen als ein solches empfunden wird. Einer Sache, an die man sich gewöhnt, schenken wir nicht viel Beachtung. Sie fühlte sich unwohl, und ich traute mich nicht, sie beim Namen zu nennen, Marta, so hieß sie, Téllez mit Nachnamen, sagte, ihr sei übel, und ich fragte sie: ›Wo ist dir übel, im Magen oder im Kopf?‹ – ›Ich weiß nicht, mir ist schrecklich übel, überall, im ganzen Körper, mir ist, als würde ich sterben.‹ In ihrem ganzen Körper, der sich mir schon fast in die Hände gab, in Hände, die überallhin wandern, Hände, die drücken oder streicheln oder erkunden und auch schlagen (oh, es geschah ohne Absicht, ungewollt, man darf es mir nicht anlasten), bisweilen mechanische Gesten der Hände, die einen ganzen Körper abtasten, von dem sie noch nicht wissen, ob er ihnen gefällt, und auf einmal überkommt diesen Körper Übelkeit, das am schwersten zu beschreibende Unwohlsein, den ganzen Körper, wie sie sagte, und das Letzte, was sie gesagt hatte, ›mir ist, als würde ich sterben‹, hatte sie nicht wortwörtlich gemeint, sondern nur so dahingesagt. Sie glaubte es nicht und ich auch nicht, außerdem hatte sie gesagt ›Ich weiß nicht, was mit mir ist‹. Ich hakte nach, weil das Fragen eine Art ist, das Handeln zu vermeiden, aber nicht nur durch Fragen, sondern auch durch Reden und Erzählen kann man Küsse vermeiden und Schläge und kann es vermeiden, Maßnahmen ergreifen und die Hoffnung aufgeben zu müssen, und was konnte ich denn tun, vor allem anfangs, als alles nicht von Dauer sein durfte, jedenfalls nach den Regeln dessen, was geschieht und nicht geschieht, Regeln, die manchmal gebrochen werden. ›Musst du dich etwa übergeben?‹ Sie antwortete nicht mit Worten, sie machte eine verneinende Geste mit dem Nacken voll halbtrockenem Blut oder Schlamm, als bereitete ihr das Sprechen Mühe. Ich stand auf und ging ums Bett herum und kniete neben ihr nieder, um ihr ins Gesicht zu sehen, ich legte ihr eine Hand auf den Unterarm (berühren tröstet, die Hand des Arztes). Sie hatte die Augen in diesem Moment geschlossen und presste die Lider zusammen, lange Wimpern, als schmerzte sie das Licht der Nachttischlampe, die wir noch nicht ausgeknipst hatten (aber ich hatte vor, es gleich zu tun, vor ihrem Unwohlsein hatte ich überlegt, ob ich sie schon ausknipsen sollte oder lieber noch nicht: Ich wollte sehen, ich war noch darauf aus, diesen neuen Körper zu sehen, der mir sicher gefallen würde, ich hatte sie nicht ausgeknipst). Ich ließ sie brennen, jetzt konnte sie uns nützlich sein angesichts ihres plötzlichen Zustands, ihrer Krankheit oder Depressionen oder Angst oder Reue. ›Soll ich einen Arzt rufen?‹, und dabei dachte ich an die scheinbar entbehrlichen Notrufnummern, Gespenster im Telefonbuch. Wieder schüttelte sie den Kopf. ›Wo tut es dir weh?‹, fragte ich, und sie wies widerwillig auf einen nicht genau bestimmten Bereich, der Brust und Magen und alles darunter umfasste, eigentlich den gesamten Körper außer dem Kopf und den Gliedmaßen. Ihr Bauch war schon entblößt, die Brust nicht ganz, sie trug noch immer (wenn auch mit geöffnetem Verschluss) ihren trägerlosen Büstenhalter, eine Ahnung von Sommer wie das Oberteil eines Bikinis, er war ihr ein bisschen zu klein und wohl schon etwas älter, und vielleicht hatte sie ihn angezogen, weil sie mich an diesem Abend erwartet und alles vorausgeplant hatte, entgegen den mit großem Aufwand inszenierten Augenscheinlich- und Zufälligkeiten, die uns bis zu diesem Bett, ihrem Ehebett, geführt hatten (ich weiß, dass manche Frauen absichtlich kleinere Größen tragen, um mehr Wirkung zu erzielen). Ich hatte den Verschluss geöffnet, aber das Kleidungsstück war nicht heruntergefallen, Marta hielt es noch mit den Armen fest, oder mit den Achseln, jetzt vielleicht nicht mehr bewusst. ›Geht es dir ein bisschen besser?‹ – ›Nein, ich weiß nicht, ich glaube nicht‹, sagte sie, Marta Téllez, mit einer Stimme, die jetzt nicht mehr dünn, sondern entstellt war vom Schmerz oder von der Angst, denn ob sie Schmerzen hatte, weiß ich ehrlich gesagt nicht. ›Warte ein bisschen, ich kann kaum sprechen‹, fügte sie hinzu – Übelkeit schwächt –, und trotzdem sagte sie noch etwas, es ging ihr nicht schlecht genug, um mich darüber zu vergessen, oder sie war in jeder Situation rücksichtsvoll, selbst wenn sie im Sterben lag, in der kurzen Bekanntschaft mit ihr war sie mir als rücksichtsvoller Mensch erschienen (aber zu diesem Zeitpunkt wussten wir noch nicht, dass sie im Sterben lag): ›Du Armer‹, sagte sie, ›damit hast du nicht gerechnet, was für ein schrecklicher Abend.‹ Ich rechnete mit nichts, oder vielleicht doch mit dem, womit sie rechnete. Der Abend war bis dahin nicht schrecklich gewesen, allenfalls ein bisschen langweilig, und ich habe nie erfahren, ob sie bereits ahnte, was mit ihr geschehen würde, oder ob sie sich auf das allzu lange Warten bezog, an dem der Kleine, der nicht hatte schlafen können, schuld gewesen war. Ich stand auf, ging abermals ums Bett herum, streckte mich auf der Seite aus, auf der ich zuvor gelegen hatte, der linken, und dachte (wieder sah ich ihren reglosen, furchigen, wie vor Kälte eingezogenen Nacken): ›Vielleicht ist es besser, wenn ich abwarte und sie eine Weile nichts frage, wenn ich sie in Ruhe lasse und schaue, ob es vorbeigeht, sie nicht zwinge, Fragen zu beantworten und alle paar Sekunden abzuwägen, ob es ihr ein bisschen besser oder ein bisschen schlechter geht, an die Krankheit zu denken, macht sie nur noch schlimmer, genauso wie sie allzu aufmerksam zu beobachten.‹
Ich richtete den Blick auf die Wände des Schlafzimmers, das ich mir beim Hereinkommen nicht genau angesehen hatte, weil mein Augenmerk der eben noch lebhaften oder scheuen und jetzt leidenden Frau galt, die mich an der Hand hinter sich hergezogen hatte. Gegenüber vom Bett gab es einen Standspiegel wie in einem Hotelzimmer (ein Ehepaar, das sich gern betrachtete, bevor es ausging, bevor es sich schlafen legte). Im Übrigen jedoch war es ein wohnliches Schlafzimmer für zwei Personen, auf dem Nachttisch neben mir hatte ein Ehemann Spuren hinterlassen (sie war gleich mit ein paar raschen Schritten zu der Seite des Bettes gegangen, auf der sie wohl jede Nacht lag – und jeden Morgen –, etwas Selbstverständliches, Mechanisches): einen Taschenrechner, einen Brieföffner, eine Schlafmaske aus dem Flugzeug, um das Licht über dem Ozean zu vertreiben, Münzen, schmutziger Aschenbecher und Radiowecker, im unteren Fach eine Stange Zigaretten, in der nur noch ein Päckchen war, ein Fläschchen sehr männliches Eau de Cologne von Loewe, das ihm wahrscheinlich jemand geschenkt hatte, vielleicht sogar Marta selbst erst kürzlich zu einem Geburtstag, zwei ebenfalls geschenkte Romane (oder auch nicht, ich hätte sie mir jedenfalls nicht gekauft), ein Röhrchen Redoxon-Brausetabletten, ein leeres Glas, das wegzuräumen er vor Antritt der Reise wohl nicht mehr die Zeit gehabt hatte, die Beilage einer Zeitschrift mit dem Fernsehprogramm, er würde nicht fernsehen, er war heute verreist. Der Apparat stand am Fußende des Bettes, neben dem Spiegel, bequeme Leute, einen Augenblick lang dachte ich daran, ihn mit der Fernbedienung einzuschalten, aber die Fernbedienung lag auf dem anderen Nachttisch, auf Martas, und entweder musste ich wieder ums Bett herumgehen oder sie stören, indem ich mit ausgestrecktem Arm über ihren Kopf hinweggriff, woran dachte sie wohl gerade, wenn es Depressionen oder Angst waren, die sie befallen hatten. Ich streckte ihn aus und nahm die Fernbedienung, sie merkte nichts, obwohl ich mit dem hochgekrempelten Hemdsärmel ihr Haar streifte. An der linken Wand hing eine Reproduktion eines etwas kitschigen Gemäldes, das ich gut kenne, Bartolommeo da Venezia heißt der Maler, es hängt in Frankfurt und zeigt eine Frau mit Lorbeer, Haube und ungepflegten Locken, einem Diadem auf der Stirn, einem Strauß aus verschiedenen Blümchen in der erhobenen Hand und bloßem (eher flachem) Busen; rechts waren die Einbauschränke, weiß gestrichen wie die Wände. Darin befanden sich sicher die Kleidungsstücke, die der Ehemann nicht auf die Reise mitgenommen hatte, also die meisten, er sei nur für kurze Zeit fort, hatte mir seine Frau Marta beim Abendessen gesagt, in London. Auch gab es da zwei Stühle mit nicht weggeräumter Wäsche, vielleicht schmutzig oder frisch gewaschen und noch nicht gebügelt, Martas Nachttischlampe beleuchtete sie nicht ausreichend. Auf einem der Stühle sah ich Männerkleidung, ein über die Rückenlehne wie auf einen Kleiderbügel gehängtes Jackett, eine Hose, der Gürtel mit dicker Schnalle noch nicht herausgezogen (offener Reißverschluss wie bei allen achtlos beiseite gelegten Hosen), ein paar helle, aufgeknöpfte Hemden, der Ehemann war vor kurzem noch an diesem Ort gewesen, noch an diesem Morgen war er wahrscheinlich hier aufgestanden, hatte den Kopf von dem Kissen erhoben, gegen das ich mich jetzt mit der Schulter lehnte, und hatte beschlossen, eine andere Hose anzuziehen, in aller Eile, kann sein, dass Marta sich geweigert hatte, sie ihm zu bügeln. Die Kleidungsstücke atmeten noch. Auf dem anderen Stuhl dagegen lagen Frauensachen, ich sah dunkle Strümpfe und zwei Röcke von Marta Téllez, sie waren nicht in demselben Stil wie der, den sie jetzt noch trug, sondern mehr was zum Ausgehen, vielleicht hatte sie sie unschlüssig noch in der Minute anprobiert, bevor ich an der Tür klingelte, bei einer galanten Verabredung fällt die Wahl der Kleidung nie leicht (ich hatte damit kein Problem gehabt, für mich war es nicht sicher gewesen, ob es eine galante Verabredung würde, außerdem habe ich eine eintönige Garderobe). Der Rock, für den sie sich entschieden hatte, wurde so, wie sie dalag, gründlich zerknittert, Marta hatte sich zusammengekrümmt, ich sah, dass ihre Finger krampfhaft die Daumen umschlossen, die Beine waren angezogen, als strengten sie sich an, mit ihrem Druck Bauch und Brust zu beruhigen, als wollten sie sie bändigen, in dieser Haltung war das Höschen zu sehen und unter dem Höschen zum Teil die Gesäßbacken, es war ein knappes Höschen. Ich überlegte, ob ich ihr den Rock glatt streichen und nach unten ziehen sollte, eine plötzliche Anwandlung von Schamhaftigkeit und damit er nicht so zerknitterte, aber ich konnte nicht dagegen an, dass mir gefiel, was ich sah, und es war fraglich, ob ich es noch länger – und noch mehr davon – sehen würde, falls sich ihr Zustand nicht besserte, und vielleicht hatte Marta ja mit diesen Falten gerechnet, ein paar hatten sich schon vorher auf dem Rock gebildet, wie es in so einer ersten Nacht geschehen kann, in solchen Nächten hat man keinen Respekt vor Kleidungsstücken, die nach und nach ausgezogen werden, auch nicht vor denen, die anbehalten werden, aber vor dem neuen, unbekannten Körper hat man ihn: Vielleicht hatte sie deshalb noch nichts von dem gebügelt, was darauf wartete, weil sie wusste, dass sie am nächsten Tag sowieso auch den Rock würde bügeln müssen, den sie abends anziehen wollte, welchen, welcher war ihr am liebsten an dem Abend, an dem sie mich empfangen würde, alles knittert, wird besudelt oder ramponiert und vorübergehend unbrauchbar bei solchen Gelegenheiten.
Ich stellte den Ton mit der Fernbedienung leiser, bevor ich den Fernseher anschaltete, und so erschien, wie ich es wollte, das Bild ohne Stimme, und sie merkte nichts, obwohl es im Zimmer schlagartig heller wurde. Auf dem Bildschirm war Fred MacMurray mit Untertiteln zu sehen, ein alter Film am späten Abend. Ich ging die anderen Programme durch und kehrte zu MacMurray in Schwarzweiß zurück, zu seinem nicht sehr intelligenten Gesicht. Und da konnte ich nicht mehr anders, als nur noch eines zu denken, obwohl niemand je allzu viel denkt und schon gar nicht in der Reihenfolge, in der die Gedanken später erzählt oder niedergeschrieben werden: ›Was tue ich hier?‹, dachte ich. ›Ich bin in einem Haus, das ich nicht kenne, im Schlafzimmer eines Menschen, den ich nie gesehen habe und von dem ich nur den Vornamen kenne, weil seine Frau ihn im Lauf des Abends auf selbstverständliche und unzumutbare Weise wiederholt erwähnt hat. Es ist auch ihr Schlafzimmer, und deshalb bin ich hier und wache über ihre Krankheit, nachdem ich ihr das eine oder andere Kleidungsstück ausgezogen und sie berührt habe, sie kenne ich, wenn auch wenig und erst seit zwei Wochen, dies ist das dritte Mal, dass ich sie in meinem Leben sehe. Der Ehemann hat vor ein paar Stunden angerufen, als ich bereits in seiner Wohnung zu Abend aß, er hat angerufen, um zu sagen, dass er gut in London angekommen sei, dass er abends in der Bombay Brasserie phantastisch gegessen habe und nun im Begriff sei, in seinem Hotelzimmer zu Bett zu gehen, am nächsten Morgen warte Arbeit auf ihn, er war auf einer kurzen Geschäftsreise.‹ Und seine Frau, Marta, hatte ihm nicht gesagt, dass ich da war, hier mit ihr aß. Deshalb war ich mir ziemlich sicher, dass dies ein galantes Abendessen war, mochte der Kleine zu diesem Zeitpunkt auch noch wach sein. Der Ehemann hatte sich bestimmt nach dem Kleinen erkundigt, sie hatte geantwortet, sie bringe ihn gleich zu Bett; der Ehemann hatte vermutlich gesagt: ›Gib ihn mir mal, damit ich ihm Gute Nacht sagen kann‹, denn Marta hatte gesagt: ›Lieber nicht, er ist ganz aufgekratzt, und wenn er mit dir spricht, wird er noch nervöser, und niemand kriegt ihn mehr zum Schlafen.‹ All dies war aus meiner Sicht der Dinge absurd, weil der Kleine, laut Mutter knapp zwei Jahre alt, nur Gestammel und kaum verständliches Zeug von sich gab, das Marta interpretieren und übersetzen musste, Mütter als erste Interpretinnen und Übersetzerinnen der Welt, die das, was noch nicht einmal Sprache ist, deuten und dann in Worte fassen, ebenso Gesten und Gebärden und die verschiedenen Bedeutungen des Weinens, wenn das Weinen unartikuliert ist und nicht von Worten begleitet wird oder sie ausschließt oder erstickt. Vielleicht verstand der Vater ihn auch und bat deshalb darum, den Kleinen ans Telefon zu holen, der, was die Sache noch schwieriger machte, die ganze Zeit mit dem Schnuller im Mund redete. Ich hatte einmal zu ihm gesagt, als Marta für ein paar Minuten in die Küche ging und er und ich allein im Wohnzimmer zurückblieben, das zugleich Esszimmer war, ich mit der Serviette auf dem Schoß am Tisch, er mit einem Zwergkaninchen in der Hand auf dem Sofa, beide den laufenden Fernseher anstarrend, er geradeaus, ich von der Seite: ›Mit dem Schnuller verstehe ich dich nicht.‹ Und der Kleine hatte ihn folgsam herausgenommen, und während er ihn einen Augenblick lang mit fast beredter Geste in der Hand hielt (in der anderen das Zwergkaninchen), hatte er mit leerem Mund, aber genauso ergebnislos wiederholt, was er gerade eben gesagt haben mochte. Die Tatsache, dass Marta Téllez den Kleinen nicht ans Telefon ließ, hatte mich in meiner Gewissheit bestärkt, denn dieses Kind mit seiner verstümmelten Halbsprache hätte dem Vater trotzdem mitteilen können, dass ein anderer Mann zum Abendessen da war. Ich begriff schnell, dass der Kleine von Wörtern mit zwei oder mehr Silben nur die Letzten beiden und die auch noch unvollständig aussprach (›Ette‹ für Zigarette, ›Atte‹ für Krawatte, ›Uller‹ für Schnuller und ›Itzel‹ für Schnitzel: Auf dem Bildschirm war ein Bürgermeister mit Krawatte zu sehen, ich trage keine; Marta tischte mir zum Abendessen Schnitzel auf, Fleisch aus Irland, sagte sie); es war schwer zu enträtseln, selbst wenn man Bescheid wusste, aber möglicherweise war sein Vater daran gewöhnt, war sein Verständnis der primitiven Redeweise eines Einzelkindes geschärft, das diese imÜbrigen bald ablegen würde. Der Kleine benutzte bislang nur wenige Zeitworte und bildete deshalb kaum Sätze, er verwendete vor allem Haupt- und einige Eigenschaftsworte, alles klang bei ihm wie ein Ausruf. Er hatte einfach nicht ins Bett gehen wollen, während wir zu Abend aßen oder nicht zu Abend aßen und ich darauf wartete, dass Marta an den Tisch zurückkehrte, nachdem sie immer wieder in die Küche gegangen war und sich geduldig um den Kleinen gekümmert hatte. Die Mutter hatte für ihn im Wohnzimmer eine Videokassette mit einem Zeichentrickfilm – für mich der erste meines Lebens – eingelegt, um zu sehen, ob er im flackernden Licht des Fernsehers einschlummerte. Doch der Kleine war hellwach, er hatte sich geweigert, ins Bett zu gehen, mit seiner ungewissen Kenntnis oder Unkenntnis der Welt wusste er mehr, als ich wusste, und er passte auf seine Mutter auf und passte auch auf den Gast auf, den er noch nie zu Hause gesehen hatte, er hatte den Platz des Vaters eingenommen. Es gab ein paar Augenblicke, wo ich am liebsten gegangen wäre, ich fühlte mich bereits mehr als Eindringling denn als Gast, als Eindringling umso mehr, je stärker in mir die Gewissheit wurde, dass dies eine galante Verabredung war und dass der Kleine dies ahnte – wie Katzen – und es durch seine Anwesenheit zu verhindern suchte, todmüde und gegen diese Müdigkeit ankämpfend saß er brav auf dem Sofa und schaute sich seinen Zeichentrickfilm an, den er nicht verstand, aber immerhin erkannte er die Figuren wieder, denn ab und zu wies er mit dem Zeigefinger auf den Bildschirm, und trotz Schnuller konnte ich ihn verstehen, weil ich sah, was er sah: ›Titín!‹ sagte er oder auch: ›Itän!‹, und die Mutter wandte sich einen Moment lang von mir ab und ihm zu, um zu übersetzen oder das Gesagte zu bestätigen, damit keines seiner im Werden begriffenen und verdienstvollen Worte ohne Lob oder ohne Echo blieb: ›Ja, das sind Tintín und der Kapitän, mein Schatz.‹ Ich hatte Tintín als Kind in großen Heften gelesen, die Kinder von heute sahen ihn in Bewegung und hörten ihn mit alberner Stimme sprechen, deshalb war es unvermeidlich, dass ich mich von der bruchstückhaften Unterhaltung und dem Abendessen mit den vielen Unterbrechungen ablenken ließ, ich erkannte nicht nur die Figuren wieder, sondern auch ihre Abenteuer, die schwarze Insel, und sah ihnen von meinem Platz am Tisch aus wider Willen ein bisschen zu, aus den Augenwinkeln.
Die hartnäckige Weigerung des Kleinen, ins Bett zu gehen, war es, die mir am Ende Gewissheit darüber verschaffte, was mich erwartete (sofern er schließlich einschlief, und sofern ich wollte). Seine Wachsamkeit und sein instinktiver Argwohn waren es, die seine Mutter entlarvten, mehr noch als ihr Schweigen während ihres Gesprächs mit London (das Verschweigen meiner Anwesenheit) oder die Tatsache, dass sie sich für mich sorgfältiger hergerichtet und stärker geschminkt hatte und stärker errötet war, als man es von ihr am Ende eines Tages zu Hause erwartet hätte (oder vielleicht strahlte sie von innen heraus). Das Zutagetreten von Angst bringt den, der Angst macht oder dazu imstande ist, auf bestimmte Gedanken, Vorbeugung gegen das, was noch nicht geschehen ist, ruft das Ereignis auf den Plan, Verdacht entscheidet über das, was noch nicht feststand, und setzt es in Gang, Bange Vorahnung und Erwartung zwingen dazu, die Hohlräume auszufüllen, die sie entstehen lassen und vertiefen, etwas muss geschehen, wenn wir wollen, dass sich die Angst verflüchtigt, und das Beste ist es, dafür zu sorgen, dass sie sich erfüllt. Der kleine Junge klagte die Mutter mit seiner ärgerlichen Schlaflosigkeit an, und die Mutter klagte sich selbst durch ihre Duldsamkeit an (besser, er bleibt hübsch friedlich, dachte sie wohl, wird sie wohl von Anfang an gedacht haben; wenn der Kleine einen Rappel kriegt, sind wir aufgeschmissen), und beides machte den äußeren Schein zunichte, der in ersten Nächten unumgänglich ist, denn nur so kann man später sagen oder glauben, keiner habe es darauf angelegt oder es gewollt: Ich habe es nicht darauf angelegt, ich habe es nicht gewollt. Auch ich sah mich angeklagt, nicht nur durch die Anstrengung des Kleinen, nicht nachzugeben, sondern auch durch sein Verhalten und seine Art, mich anzuschauen: Er war nie ganz nah an mich herangekommen, er sah mich mit einer Mischung aus Ungläubigkeit und dem Bedürfnis oder dem Wunsch nach Vertraulichkeit an, wobei Letzterer vor allem dann erkennbar wurde, wenn er zu mir mit seinen wie Ausrufe vorgebrachten, vereinzelten und fast immer rätselhaften Vokabeln sprach, mit seiner kraftvollen Stimme, die man jemandem seiner Größe so wenig zutraute. Er hatte mir nur wenige von seinen Sachen gezeigt und mir nicht sein Zwergkaninchen überlassen. ›Der Kleine hat recht und macht das ganz richtig‹, hatte ich gedacht, ›denn sobald er schläft, werde ich für eine Weile, nur für eine Weile, den Platz seines Vaters einnehmen. Das spürt er, und er will diesen Platz schützen, der zugleich ein Garant für seinen eigenen ist, aber da er die Welt nicht kennt und nicht weiß, dass er Bescheid weiß, hat er mir mit seiner offenkundigen Angst den Weg geebnet, er hat mir die Fingerzeige gegeben, die mir hätten fehlen können: Trotz allem und obwohl er nichts weiß, kennt er seine Mutter besser als ich, sie ist die Welt, die er am besten kennt, und für ihn ist sie kein Geheimnis. Ihm ist es zu verdanken, dass ich nicht mehr zaudern werde, falls ich es so will.‹ Vom Schlaf bedrängt, war er nach und nach zurückgesunken, bis er schließlich auf dem Sofa lag, eine winzige Gestalt auf so einem Möbel – wie eine Ameise in einer leeren Streichholzschachtel, nur dass die Ameise sich bewegt –, und er hatte, den Kopf auf die Kissen gestützt, weiter sein Video angeschaut, den Schnuller im Mund wie ein Merk- oder überflüssiges Wahrzeichen seines so geringen Alters, die Beine in Schlafhaltung oder in Erwartung des Schlafs angezogen, die Augen jedoch weit geöffnet, er gestattete sich nicht, sie auch nur einen Moment lang zu schließen, die Mutter beugte sich auf ihrem Stuhl ab und zu ein wenig vor, um nachzusehen, ob ihr Sohn eingeschlafen war wie erwünscht, die Arme wollte ihn aus den Augen haben, obwohl er ihr Augapfel war, die Arme wollte eine Weile mit mir allein sein, nichts von Bedeutung, nur eine Weile (aber ›die Arme‹, das sage ich jetzt und habe es zu jenem Zeitpunkt nicht gedacht und hätte es vielleicht denken sollen). Ich fragte nichts und gab auch keinen Kommentar dazu ab, denn ich mochte weder ungeduldig noch rücksichtslos erscheinen, und außerdem berichtete sie mir jedes Mal, nachdem sie sich vorgebeugt hatte, unbefangen: ›Hui, seine Augen sind immer noch groß wie Suppenteller.‹ Der Kleine hatte durch seine Anwesenheit alles beherrscht, trotz seiner Ausgeglichenheit. Er war ein ruhiges Kind, wirkte gut gelaunt und quengelte kaum, aber um keinen Preis wollte er uns allein lassen, um keinen Preis wollte er von hier verschwinden und allein in sein Zimmer gehen, um keinen Preis wollte er seine Mutter aus den Augen verlieren, die jetzt dieselbe Körperhaltung eingenommen hatte wie ihr Sohn auf dem übergroßen Sofa, wo er mit der Müdigkeit gerungen hatte, nur dass sie mit der Krankheit oder der Angst oder den Depressionen oder der Reue rang und in ihrem Ehebett weder winzig wirkte noch allein war, weil ich bei ihr war, mit einer Fernbedienung in der Hand und ohne recht zu wissen, was ich tun sollte. ›Soll ich gehen?‹, fragte ich sie. ›Nein, warte ein bisschen, es geht bestimmt vorbei, lass mich nicht allein‹, antwortete Marta Téllez und drehte mir dabei das Gesicht zu, doch blieb es eher bei der Absicht: Sie schaffte es nicht, mich anzusehen, weil sie es nicht weit genug drehte, doch rückte dafür der eingeschaltete Fernseher in ihr Blickfeld und auch Fred MacMurrays einfältiges Gesicht, das ich zunehmend mit dem des abwesenden Ehemannes in Verbindung brachte, während ich über ihn und bislang Geschehenes oder nicht Geschehenes und Geplantes nachdachte. Warum rief er jetzt nicht an, schlaflos in London, es wäre eine Erleichterung, wenn jetzt das Telefon klingeln und sie abheben und ihrem Mann mit ihrer dünnen Stimme erklären würde, ihr ginge es sehr schlecht und sie wisse nicht, was mit ihr los sei. Er würde sich um alles kümmern, auch wenn er weit weg war, und ich wäre der Verantwortung enthoben (nur der Verantwortung eines, der zufällig vorbeigeschaut hat, keiner anderen) und wäre nicht länger Augenzeuge, er könnte einen Arzt oder einen Nachbarn anrufen (er kannte sie, es waren seine und nicht meine) oder eine Schwester oder eine Schwägerin, damit diese erschrocken und verschlafen aufstanden und mitten in der Nacht zu seiner Wohnung fuhren, um seiner kranken Frau zu helfen. Und ich würde unterdessen gehen, ich würde an einem anderen Abend wiederkommen, falls es sich so ergab, an einem Abend, an dem keine Formalitäten und einleitenden Gespräche mehr vonnöten wären, ich könnte sie gleich morgen um diese Stunde besuchen, spät, wenn sicher wäre, dass der Kleine eingeschlafen war. Ich nicht, aber der Ehemann konnte zur Unzeit erscheinen.
›Möchtest du deinen Mann anrufen?‹, fragte ich Marta. ›Vielleicht beruhigt es dich, mit ihm zu sprechen und wenn er weiß, dass es dir nicht gut geht.‹ Wir ertragen nicht, dass unsere Nächsten über unsere Nöte nicht auf dem Laufenden sind, wir ertragen nicht, dass sie uns immer noch für mehr oder weniger glücklich halten, wenn wir es unversehens nicht mehr sind, es gibt vier oder fünf Personen im Leben eines jeden, die über das, was uns gerade passiert, im Bilde sein müssen, wir ertragen nicht, dass sie weiter an etwas glauben, was nicht mehr ist, nicht eine Minute länger, dass sie glauben, wir wären verheiratet, wenn wir Witwer geworden sind, dass wir noch Eltern haben, wenn wir Waisen geworden sind, dass wir Gesellschaft haben, wenn man uns verlassen hat, oder dass wir gesund sind, wenn wir krank sind. Dass sie glauben, wir leben, wenn wir gestorben sind. Aber dies war eine seltsame Nacht, vor allem war sie das für Marta Téllez, zweifellos die seltsamste ihres Daseins. Marta drehte das Gesicht jetzt noch mehr zu mir hin, ich sah es einen Augenblick lang von vorn, wie sie wohl auch meines sah, schon seit längerem hatte sie mir nur den immer verschwitzteren und steiferen Nacken gezeigt mit Haarsträhnen, die immer mehr verklebten, als würden sie nach und nach von Schlamm getränkt; und den nackten Rücken, ohne Unebenheiten. Als sie sich ganz umdrehte, sah ich ihre Augen, die derart zusammengekniffen waren, dass sie wahrscheinlich nichts sahen, die langen Wimpern hatten fast ganz ihren Platz eingenommen, ich weiß nicht, ob das Erstaunen, das ich in ihrem Blick zu erkennen glaubte, darauf zurückzuführen war, dass sie mich vorübergehend vergessen hatte und mich nicht wiedererkannte, oder auf meine Frage und meine Bemerkung oder vielleicht darauf, dass sie sich noch nie so gefühlt hatte, wie sie sich jetzt fühlte. Ich nehme an, dass sie im Sterben lag und ich es nicht merkte, im Sterben zu liegen ist für alle Welt etwas Neues. ›Du bist verrückt‹, sagte sie zu mir. ›Wie kann ich ihn anrufen, er würde mich umbringen.‹ Beim Umdrehen rutschte ihr Büstenhalter herunter, den sie unabsichtlich oder absichtlich mit den Armen oder mit den Achseln festgehalten hatte, er fiel auf die Bettdecke; ihre Brust war nun entblößt, und sie tat nichts, sie zu bedecken: Ich nehme an, dass sie im Sterben lag und ich es nicht merkte. Und sie fügte hinzu, was bewies, dass sie sich an mich erinnern konnte und sich nicht von allem losgelöst hatte: ›Du hast den Fernseher eingeschaltet, du Armer, bestimmt langweilst du dich, stell den Ton an, wenn du willst, was schaust du dir an?‹ Während sie das zu mir sagte (so, als redete sie mit sich selbst), legte sie mir eine Hand aufs Bein, Andeutung einer Zärtlichkeit, die nicht vollendet werden konnte; dann zog sie sie weg, um mir wieder den Rücken zuzudrehen, zusammengekrümmt wie ein kleines Mädchen oder wie ihr kleiner Junge, der endlich, von mir und ihr losgelöst, in seinem Zimmer schlief, sicherlich in einem Kinderbett, ich weiß nicht, ob bei Kindern von knapp zwei Jahren noch Gefahr besteht, dass sie nachts auf den Boden rollen, wenn sie in Erwachsenenbetten schlafen; ob sie deshalb in Kinderbetten gelegt werden, wo sie sicher sind. ›Einen alten Film mit Fred MacMurray‹, antwortete ich (sie war jünger als ich: Ich fragte mich, ob sie wusste, wer MacMurray war), ›aber ich schaue gar nicht hin.‹ Auch ihr Mann schlief wohl, von allem losgelöst, in London, losgelöst von ihr und nichts von meiner Existenz wissend, warum wachte er nicht voller Angst auf, warum ahnte er nichts, warum rief er nicht trostsuchend bei sich zu Hause in Madrid an, um dort mit der Stimme einer anderen, größeren Angst konfrontiert zu werden, die ihn seine eigene abschütteln ließe, warum rettete er uns nicht. Doch mitten in der Nacht war für alle möglichen Personen und Gestalten, die noch nicht Bescheid wussten, alles in Ordnung: für den Sohn gleich nebenan, der dasselbe Dach über dem Kopf hatte und die Welt nicht kannte, und für den fernen Vater auf der Insel, auf der man gewöhnlich so sanft schläft; für die Schwägerinnen oder Schwestern, die jetzt wohl von der theoretischen Zukunft in dieser niemals ruhenden Stadt träumten, in der das Schlafen schwierig ist – eher eine Überwindung, niemals eine Gewohnheit; für irgendeinen kummervollen und erschöpften Arzt, der vielleicht ein Leben hätte retten können, wenn man ihn in jener Nacht aus seinen Albträumen gerissen hätte; für die Nachbarn in jenem Gebäude, die verzagen würden, während sie verschlafen an den kommenden, immer näher rückenden Morgen dächten, immer weniger Zeit, um aufzuwachen und in den Spiegel zu schauen und sich die Zähne zu putzen und das Radio anzustellen, noch ein Tag, was für ein Unglück, noch ein Tag, was für ein Glück. Allein für mich und für Marta waren die Dinge nicht in Ordnung, ich war nicht losgelöst und auch nicht in Schlaf versunken, und es war schon sehr spät, vorhin habe ich gesagt, dass alles sehr schnell ging, und ich weiß, dass es so war, aber sich daran erinnern dauert genauso lange wie es dauerte, dabei zu sein, ich hatte das Gefühl, dass die Zeit verging, und dabei verging sie auf den Uhren (der auf Martas Nachttisch und der an meinem Handgelenk) sehr langsam, ich wollte sie vor jedem neuen Satz oder jeder meiner Bewegungen ohne Eile verstreichen lassen, und es gelang mir nicht, es verging kaum eine Minute zwischen meinen Sätzen und meinen Bewegungen oder zwischen Bewegung und Satz, wohingegen ich glaubte, es vergingen zehn oder zumindest fünf. An anderen Punkten der Stadt passierten bestimmt allerlei Dinge, nicht viele, ungeordnet und geordnet: In einiger Entfernung waren Autos zu hören, die Straße, Conde de la Cimera mit Namen, lag ein wenig abseits des Verkehrs mit seinen Bedürfnissen, und eines wusste ich genau, nämlich dass es ganz in der Nähe ein Krankenhaus gab, Hospital de la Luz mit Namen, in dem gewiss Dienst habende Schwestern dösten, den Kopf auf die Faust gestützt, das Mindeste an Schlaf, der gestört wird, kaum dass er sich eingestellt hat, sie saßen auf unbequemen Stühlen und hatten die in weißlichen Strümpfen mit schrumpeligen Nähten steckenden Beine übereinander geschlagen, während ein Stück weiter irgendein bebrillter Student Zeile um Zeile Recht oder Physik oder Pharmazie für das sinnlose Examen am Morgen paukte und schon beim Verlassen des Hörsaals alles wieder vergessen hätte; und noch ein Stück weiter, noch weiter weg, in einer anderen Gegend, am Ende der Cuesta de los Hermanos Bécquer, machte vielleicht eine vereinzelte Hure jedes Mal, wenn ein Auto das Tempo verringerte oder an der Ampel hielt, drei oder vier erwartungsvolle und ungläubige Schritte auf die Fahrbahn zu: Sie trug ihre feinsten Sachen an einem kalten Dienstagabend, um aus allzu großer Nähe oder nur von weitem gesehen zu werden, oder vielleicht war es auch ein Mann, ein junger Bursche, der, da ihm die Gewohnheit noch nicht in Fleisch und Blut übergegangen war, oder wegen einer Krankheit oder aus Müdigkeit, mit den hochhackigen Schuhen schlurfte und dessen Schritte und zeitweilige Besuche im Inneren eines Wagens bei niemandem eine Spur hinterlassen oder sich in seinem wirren und schicksalsergebenen und schwachen Gedächtnis überlagern sollten. Ein paar Liebende nehmen vielleicht Abschied voneinander, sie sehen nicht, dass es Zeit ist, ins Bett zu gehen, jeder allein in sein eigenes, der eine missbraucht und der andere unversehrt, aber sie stehen weiter in der offenen Tür und küssen sich – geht er weg oder sie –, während er oder sie auf den Fahrstuhl wartet, der schon seit einer Stunde stillsteht, weil niemand ihn gerufen hat, seit die Nachtschwärmer unter den Hausbewohnern von einer Diskothek zurückgekommen sind: die Küsse dessen, der geht, an der Tür dessen, der bleibt, jenen von vorgestern und denen von übermorgen zum Verwechseln gleich, die denkwürdige erste Nacht war nur eine und ging alsbald verloren, verschluckt von den Wochen und der Abfolge von Monaten, die sie verdrängen; und irgendwo wird es Streit geben, eine Flasche fliegt, oder jemand schmettert sie – den Hals umklammernd wie den Griff eines Dolches – gegen den Tisch dessen, der ihm Leid zufügt, und nicht die Flasche zerbricht, sondern die gläserne Tischplatte, aber das schäumende Bier quillt hervor wie Urin; auch wird ein Mord begangen, oder ist es Totschlag, weil es nicht geplant war, es geschieht einfach, ein Streit und ein Schlag, ein Schrei, und etwas wird aufgeschlitzt, die Offenbarung oder das plötzliche Erkennen der eigenen Enttäuschung, erfahren, hören, kennen oder sehen, der Tod wird mitunter durch das Bejahende und Aktive herbeigeführt, aber verscheucht oder hinausgeschoben durch Ignoranz und Überdruss und das, was immer die beste Antwort ist: ›Ich weiß nicht, keine Ahnung, wir werden schon sehen.‹ Es gilt zu warten und zu sehen, und niemand hat von irgendetwas Ahnung, nicht einmal von dem, was er tut oder beschließt oder sieht oder erleidet, jeder Moment löst sich früher oder später auf, mitsamt seinem stetig steigenden Grad von Unwirklichkeit, und alles strebt der Verflüchtigung entgegen in dem Maße, wie die Tage und auch die Sekunden vergehen, die die Dinge zu stützen scheinen und sie in Wahrheit austilgen: Verschwunden sind der Traum der Krankenschwester und das nutzlose Wachbleiben des Studenten, verschmäht oder unbemerkt die Schritte der sich anbietenden Dirne, die vielleicht ein verkleideter und kranker junger Mann ist, verwünscht die Küsse der Liebenden nach Ablauf von ein paar Monaten oder Wochen, nicht zuletzt weil sie ohne Ankündigung die Nacht des Finales herbeiführen – den Abschied, erleichtert und verbittert; ersetzt die Glasplatte des Tisches, verflüchtigt der Zank wie der Rauch, der ihn in der fraglichen Nacht umwölkte, obwohl der, der Leid zufügte, dies womöglich weiterhin tut; und der Mord oder Totschlag – es gibt so viele davon – einfach abgehakt, als wäre er eine belanglose und überflüssige Verknüpfung mit den Verbrechen, die bereits vergessen sind und von denen man keine Ahnung hat, und mit denen, die vorbereitet werden, von denen man sehr wohl Ahnung haben wird, aber nur, damit man sie irgendwann nicht mehr hat. Und es werden sich in London und auf der ganzen Welt Dinge ereignen, von denen wir nie Ahnung haben werden, weder ich noch Marta, und darin werden wir uns ähneln, dort ist es eine Stunde früher, vielleicht schläft der Ehemann auf der Insel auch nicht, sondern vertreibt sich in seiner Schlaflosigkeit die Zeit, indem er durch das winterliche Fenster – ein Fenster wie ein Fallbeil – seines Hotels, Wilbraham Hotel mit Namen, zu den gegenüberliegenden Gebäuden blickt oder zu anderen Zimmern desselben Hotels, dessen Hauptbau mit den beiden nach hinten gehenden Flügeln, die von der Straße aus, Wilbraham Place mit Namen, nicht zu sehen sind, einen rechten Winkel bildet, die meisten im Dunkeln, zu jenem Zimmer hinüber, in dem er nachmittags ein schwarzes Zimmermädchen gesehen hat, das die Betten von bereits abgereisten Gästen für noch nicht angekommene machte, oder vielleicht sieht er die Frau gerade in ihrem Mansardenzimmer – die ganz oben im Hotel, die engsten und mit der niedrigsten Decke für Bedienstete, die kein Zuhause haben –, wo sie sich nach dem Arbeitstag auszieht, indem sie Haube und Schuhe und Strümpfe und Schürze und Uniform ablegt, in einem Waschbecken Gesicht und Achseln wäscht, auch er sieht eine halb angekleidete und halb nackte Frau, doch im Gegensatz zu mir hat er sie weder berührt noch umarmt und hat auch nichts mit ihr zu tun, mit ihr, die vor dem Zubettgehen eine britische Katzenwäsche im schäbigen Waschbecken eines dieser englischen Zimmer vornimmt, deren Bewohner sich mit den anderen auf der Etage ein Bad auf dem Gang teilen müssen. Ich weiß nicht, keine Ahnung, wir werden schon sehen, oder, besser gesagt, wir werden es nie erfahren, die tote Marta wird nie erfahren, wie es ihrem Mann an jenem Abend in London ergangen ist, während sie an meiner Seite mit dem Tod rang, sobald er zurückkehrt, wird sie nicht da sein, um ihm zuzuhören, um sich die vielleicht erfundene Geschichte anzuhören, die ihr zu erzählen er vielleicht beschlossen hat. Alles strebt der Verflüchtigung entgegen und verliert sich, und wenige Dinge hinterlassen eine Spur, vor allem wenn sie sich nicht wiederholen, wenn sie nur einmal geschehen und dann nie wiederkehren, so wie jene, die sich allzu behaglich einnisten und täglich wiederkehren und sich aneinander reihen, und auch die hinterlassen keine Spur.
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