Cover

Inhaltsübersicht

Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, April 2013

Copyright © 1996 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg // «Gridiron» Copyright © 1995 by thynKER ltd

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

Covergestaltung any.way, Cathrin Günther

Coverabbildung Foto: Fotex/Color Box

Schrift DejaVu Copyright © 2003 by Bitstream, Inc. All Rights Reserved.

Bitstream Vera is a trademark of Bitstream, Inc.

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

ISBN 978-3-644-21051-6

www.rowohlt.de

 

Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.

ISBN 978-3-644-21051-6

John Milton

 

… der plötzliche Guss eiskaltes Wasser,
der aufmunternde Schlag mitten ins Gesicht,
der Tadel für das Fett auf der Seele des Bourgeois,
das, was wir moderne Architektur nennen.

Tom Wolfe

Wir sind auf der Suche nach einer neuen Idee, einer neuen Verkehrssprache, die neben den Raumkapseln, Computern und Wegwerfpackungen des elektronischen Atomzeitalters bestehen kann …

Warten Chalk

«Wer sind die Typen?», fragte er.

Die Übersetzerin, die ihn betreute, musste sich trotz ihrer hochhackigen Schuhe auf die Zehenspitzen stellen, um das Ziel in den Blick zu bekommen, auf das sich das Objektiv über die Köpfe der Menge in den vorderen Reihen hinweg richtete.

«Parteifunktionäre, glaube ich», sagte sie, «und ein paar Geschäftsleute.»

«Sind Sie sicher, dass wir eine Genehmigung dafür haben?»

«Ja, völlig sicher», sagte die junge Frau. «Ich habe den Leiter des AÖS für Shenzen bestochen. Heute passiert uns nichts, Nick. Darauf können Sie sich verlassen.»

Hinter dem Kürzel AÖS verbarg sich das gefürchtete Amt für Öffentliche Sicherheit der Volksrepublik China.

«Mädchen, Sie sind Gold wert.»

Die Chinesin lächelte höflich und verneigte sich. Inzwischen

Die vier Männer wurden gezwungen, in der Mitte des Stadions niederzuknien. Das Gesicht eines der Männer füllte den Sucher der Kamera. Dem Amerikaner fiel der stumpfe Gesichtsausdruck des Verurteilten auf. Es schien, als kümmere es ihn wenig, ob er sterben musste oder nicht. Wahrscheinlich stand er unter Drogen. Der Amerikaner drückte auf den Auslöser und schwenkte weiter auf das Gesicht des nächsten Mannes. Es hatte den gleichen stumpfen Ausdruck.

Der Mann vom AÖS richtete den Lauf des Sturmgewehrs vom Typ AK 47 auf den Hinterkopf des ersten Opfers, und der Amerikaner kontrollierte noch einmal die Lichtverhältnisse über dem Platz. Es gelang ihm nicht, ein leichtes Lächeln zu unterdrücken. Es würden einmalige Fotos werden.

Im Polizeipräsidium von Los Angeles hatte man es noch nie begrüßt, wenn sich die einzelnen Gruppen der Stadt öffentlich zusammenrotteten. Hispano-Amerikaner, Uramerikaner, Schwarze, Wanderarbeiter, Hippies, Schwule, Studenten und Streikposten: Alle hatten irgendwann einmal die Gummiknüppel und Wasserwerfer der Hüter der Stadt zu spüren bekommen. Aber dies war, soweit sich die fünfundzwanzig mit Schutzhelmen bewehrten Polizisten vor dem

Natürlich war die chinesische Bevölkerung von Los Angeles, etwa im Vergleich mit San Francisco, nicht allzu zahlreich. In der eigentlichen Chinatown rund um den North Broadway, unmittelbar vor der Tür der Polizeischule von L.A., lebten nicht mehr als zwanzigtausend Menschen. Der größte Teil der rasch anwachsenden chinesischen Bevölkerung der Stadt wohnte in Vorstädten wie Monterey Park oder Alhambra.

Es war auch keine besonders große Demonstration: vielleicht hundert Studenten, die gegen die Yu Corporation und ihre stillschweigende Unterstützung des Terrorregimes in der Volksrepublik China demonstrierten. Der Präsident und Firmenchef, nach dem die Gesellschaft benannt war, Yue-Kong Yu, war vor kurzem auf Fotos der Los Angeles Times zu sehen gewesen, wie er bei der Hinrichtung oppositioneller Studenten in Shenzen auf der Ehrentribüne saß. Aber schließlich war man in Los Angeles, wo auch kleine Menschenansammlungen schnell außer Kontrolle geraten konnten, und so kreiste ein Polizeihubschrauber über der Versammlung und hielt sie unauffällig im Blickfeld des elektronischen Auges. Der Überwachungshubschrauber stand in ständigem, digital vermitteltem Kontakt mit dem zentralen Einsatzcomputer des Polizeipräsidiums in einem bombensicheren Bunker fünf Stockwerke unter dem Rathaus.

Die Demonstranten verhielten sich friedlich. Noch als ein Geschwader schwarzer Limousinen Mr. Yu und sein Gefolge zur Baustelle brachte, ließen sie sich nicht zu mehr hinreißen als zu rhythmischen Schlachtrufen und nervösem Schwenken von Transparenten und Plakaten. Von der Polizei und einem halben Dutzend privater

In der fast vollendeten Eingangshalle wandte er sich um und warf einen Blick auf das Tor, das schräg in die Wand eingelassen war, um das Feng-Shui zu verbessern. Er hatte die drei Megalithsteine gekauft, weil sie dem Firmenlogo der Yu Corporation ähnlich sahen, einem Logo, das selbst von dem altchinesischen Schriftzeichen für Glück abgeleitet war. Er nickte zufrieden. Er wusste, dass seinem Architekten die alten Steine in dem modernen Gebäude gegen den Strich gingen. Aber wenn Mr. Yu sich einmal etwas in den Kopf gesetzt hatte, war es nicht leicht, ihn davon abzubringen. Trotz aller Widerstände des Architekten hatte er recht gehabt, meinte Mr. Yu. Es war ein höchst glückverheißendes Portal und eine gutaussehende Eingangshalle. Die beste, die er je gesehen hatte. Besser als das Shin-Nikko-Gebäude in Tokio. Besser als das Yoshimoto-Gebäude in Osaka. Sogar besser als das Marriott Marquis in Atlanta.

Als die letzten Gäste Mr. Yu ins Hausinnere begleitet hatten, winkte der Einsatzleiter einen Studenten zu sich. Das Megaphon, das der junge Mann in der Hand hielt, wies ihn als Rädelsführer aus.

Chen Peng Fei, Gaststudent der Betriebswirtschaft an der UCLA, trat schnell vor die Reihen. Der einzige Sohn eines Anwaltspaars aus Hongkong ließ sich von einem Polizisten nichts zweimal sagen. Sein Gesicht war flach, fast schon konkav.

«Sie sollten Ihre Leute auf die andere Seite des Grundstücks bewegen», sagte der Polizist mit schleppender Stimme. «Anscheinend wollen die da oben einen Ast vom Dach werfen, und wir wollen doch nicht, dass einem von Ihren Leuten etwas passiert, oder?» Der

«Warum?», fragte Cheng Peng Fei.

«Weil ich es sage. Deshalb», blaffte der Sergeant.

«Nein, ich wollte sagen: Warum wollen sie einen Ast vom Dach werfen?»

«Woher soll ich das wissen? Bin ich etwa Ethnologe oder so was? Wie in Teufels Namen soll ich das wissen? Schicken Sie einfach Ihre Leute rüber, oder ich sperre Sie wegen Verkehrsbehinderung ein.»

Traditionell wurde das Richtfest gefeiert, wenn der oberste Stein eines Gebäudes an seinem Platz war. Die Zeremonie bestand darin, dass der Ast einer Tanne auf die Erde geschleudert und verbrannt wurde, während Bauherr und Architekt einen Toast auf die Vollendung der Bauhülle ausbrachten. Die auf dem Dach Versammelten allerdings wussten, dass das echte Richtfest schon vor zehn Monaten stattgefunden hatte. Doch damals hatte Mr. Yu nicht daran teilnehmen können. Der Innenausbau war schon mehr als zur Hälfte abgeschlossen, aber Mr. Yu, der sich auf einem seiner seltenen Besuche in Los Angeles aufhielt, um einen Vertrag über die Ausrüstung der Luftwaffe der Vereinigten Staaten am Stützpunkt Edwards mit sechs Supercomputern vom Typ Yu-5 zu unterzeichnen (von denen jeder 1012 Rechenoperationen pro Sekunde durchführen konnte), wollte sich selbst vom Fortschritt seines neuen intelligenten Gebäudes überzeugen. Mr. Yus Sohn Jardine, der amerikanische Geschäftsführer der Yu Corporation, wollte den Besuch seines Vaters würdig begehen. Also hatte man ein zweites Richtfest vorgesehen, bei dem Arlene Sheridan aus kosmetischen Gründen einen symbolischen «letzten» Dachziegel auf das fünfundzwanzigstöckige Gebäude legen sollte. Mrs. Sheridan war eine Hollywood-Schauspielerin fortgeschrittenen Alters, die der zweiundsiebzigjährige Firmenchef seit langem verehrte.

Der weltläufige und gesprächige, wenn auch ein wenig kleinwüchsige Mr. Yu begrüßte seine Gäste, indem er ihnen die linke Hand reichte. Sein rechter Arm war von Geburt an verkrüppelt. Denen, die ihn zum ersten Mal trafen, fiel es schwer, seinen gewaltigen Reichtum (Forbes hatte seinen persönlichen Besitz auf 5 Milliarden Dollar geschätzt) mit der Tatsache unter einen Hut zu bringen, dass er sich ausgezeichneter Beziehungen zu den kommunistischen Machthabern in Peking erfreute. Doch wenn Mr. Yu eines war, dann Pragmatiker.

Nach der allgemeinen Begrüßung fiel Ray Richardson die Aufgabe zu, das Gebäude vorzustellen. Der fünfundfünfzigjährige Architekt, der sich selbst einen «Architechnologen» nannte, wäre, wie er da vor dem Mikrophon stand, für zehn oder fünfzehn Jahre

Er entfaltete ein paar maschinengeschriebene Seiten, setzte ein abwartendes Lächeln auf, stellte fest, dass das Mittagslicht zu hell für seine kühlen grauen Augen war, zog eine Sonnenbrille mit Schildpattfassung aus der Tasche und setzte sie sich auf, um dahinter seine kleine Seele zu verbergen.

«YK, Senator Schwarz, Abgeordneter Kelly, Herr Bürgermeister, meine Damen und Herren! Die Geschichte der Architektur ist nicht, wie man glauben könnte, eine Frage der Ästhetik, sondern der Technik.»

Mitchell Bryan, der bei den anderen Mitgliedern des Entwurfs- und Konstruktionsteams saß, stöhnte bei dem Gedanken leise auf, schon wieder eine der flammenden Reden seines Seniorpartners ertragen zu müssen. Er blickte zu David Arnon hinüber und blinzelte ihm bedeutungsvoll zu. Vorher hatte er sich allerdings vergewissert, dass Richardsons uramerikanische Frau Joan die kleine Geste des Aufbegehrens nicht sehen konnte. Joan sah mit der hingebungsvollen Aufmerksamkeit zu ihrem Mann auf, die normalerweise religiösen Kultfiguren zukommt. David Arnon unterdrückte ein Gähnen, lehnte sich in seinem Sessel zurück und versuchte sich vorzustellen, wie Arlene Sheridan am Nachbartisch wohl ohne Kleider aussähe.

«Die Geschichte der Architektur ist die Geschichte des technischen Fortschritts. So hat zum Beispiel die Erfindung des Zements

Meine Damen und Herren, ich muss Ihnen sagen, dass die zeitgenössische Architektur uns vor das größte Abenteuer stellt, das wir bisher zu bestehen hatten: eine Architektur, in der die modernste Technologie der Weltraumforschung und des Computerzeitalters zum Einsatz kommt. Das Bauwerk als eine Maschine, die von unsichtbarer Mikro- und Nanotechnologie anstelle mechanisch-industrieller Systeme gesteuert wird. Gebäude, die eher einem Roboter gleichen als einer Zuflucht. Eine Struktur, die ihr eigenes elektronisches Nervensystem besitzt und ebenso gezielt auf Außeneinflüsse reagieren kann wie die Muskelstränge im Körper eines Athleten.

Gewiss haben einige unter Ihnen schon etwas von sogenannten klugen oder intelligenten Gebäuden gehört. Die Idee des intelligenten Gebäudes ist nicht mehr ganz neu, und dennoch gibt es keinen Konsens darüber, was ein Gebäude zu einem intelligenten Gebäude macht. Für mich ist das hervorstechendste Merkmal eines vollintegrierten intelligenten Gebäudes die Tatsache, dass alle seine Computersysteme, die benutzerorientierten wie diejenigen, die der Gebäudesteuerung dienen, zu einem einzigen Netzwerk verknüpft sind, das durch einen Datenbus gesteuert wird: ein abgeschirmtes Kabel, das

Der Zentralcomputer wird zum Beispiel eine Anzahl von linear, punktuell oder räumlich geschalteten Sensoren innerhalb des Gebäudes abfragen und auf Brandgefahr achten. Erst wenn der Computer nicht in der Lage ist, das Feuer selbst zu löschen, wird er die nächstgelegene Feuerwache anrufen und menschliche Unterstützung anfordern.»

Einen Augenblick sah Richardson von seinem Manuskript auf, als ein plötzlicher Windstoß die Stimme Cheng Peng Feis von der Baustelle hochtrug:

«Die Yu Corporation unterstützt die faschistische Regierung auf dem chinesischen Festland.»

«Wissen Sie was», grinste Richardson, «gerade eben noch habe ich mich mit jemandem über dieses Gebäude unterhalten. Sie hat mich gefragt, ob eine Demonstration seiner Möglichkeiten geplant sei. Ich habe gesagt, das hätten wir nicht vor.» Er streckte die Hand in die Richtung, aus der die protestierenden Stimmen kamen. «Und was passiert? Ich habe mich geirrt. Es gibt doch eine Demonstration. Nur schade, dass ich diese Demonstration nicht mit einem Knopfdruck beenden kann.»

Die Zuhörer lachten höflich.

«Es ist nun einmal so, dass ich die wichtigsten Aspekte, die dieses Gebäude zu einem intelligenten Gebäude machen, nicht so einfach demonstrieren kann. Denn das, was die wahre Intelligenz des

Nein, was dies Gebäude zum intelligentesten Gebäude in Los Angeles, vielleicht in den ganzen USA macht, meine Damen und Herren, ist seine eingebaute Fähigkeit, nicht nur den Anforderungen der heutigen Informationstechnologie gerecht zu werden, sondern auch der Informationstechnologie von morgen.

In einer Welt, in der viele amerikanische Firmen hart darum kämpfen müssen, gegenüber Europa und den Ländern der ostasiatischen Pazifikküste wettbewerbsfähig zu bleiben, ist die Tatsache beunruhigend, dass viele Bürogebäude in Amerika – einige darunter sind erst 1970 errichtet worden – vorzeitig veraltet sind. Die Nachrüstungskosten, die erforderlich wären, um sie auf den Stand moderner Informationstechnologie zu bringen, übersteigen die Abriss- und Neubaukosten.

Ich bin fest davon überzeugt, dass dieses Gebäude eine neue Generation von Bürogebäuden repräsentiert und dass allein von ihr die Fähigkeit unseres Landes abhängen wird, auch morgen noch wettbewerbsfähig zu sein. Es ist ein Beispiel für die Art von Gebäuden, die es diesem großen Land erlauben werden, das in vollem Umfang auszunutzen, was Präsident Dole als die globale Informationsinfrastruktur bezeichnet hat. Lassen Sie sich nicht täuschen: Hier liegt der Schlüssel zum Wirtschaftswachstum. Die Informationsinfrastruktur wird für die Wirtschaft der Vereinigten Staaten in den nächsten zehn Jahren die Bedeutung haben, die die Verkehrsinfrastruktur Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts hatte. Und deshalb glaube ich, dass wir bald viele Gebäude wie dieses sehen werden.

Und nun zu dem Richtfest, das wir heute feiern. Nach altem Brauch begehen wir diese Zeremonie, indem wir den Ast einer Tanne vom obersten Stockwerk hinabwerfen. Man hat mich häufig nach den Ursprüngen dieses Brauchs gefragt, und die Antwort lautet ganz einfach: Das weiß niemand. Ein Professor für alte Geschichte hat mir einmal erzählt, die Zeremonie stamme vermutlich von den alten Ägyptern. Damals wurde bei der Vollendung eines Gebäudes den Göttern ein menschliches Opfer gebracht. Später wurde der Ast als Ersatzopfer eingeführt, als man davon abkam, den Architekten zum Dank für seine Arbeit in den Wänden seines eigenen Bauwerks einzumauern oder ihn vom Dach zu stürzen. Ich nehme an, es gibt noch immer Auftraggeber, die am liebsten so mit ihren Architekten umgehen würden, aber ich hoffe darauf, dass YK nicht zu ihnen gehört.»

«Ich hoffe, dass ich mich in diesem Punkt nicht täusche. Vielleicht, meine Damen und Herren, sollte ich den Ast jetzt über Bord werfen, bevor Mr. Yu es sich anders überlegt.»

Wieder lachten die Zuhörer höflich.

«Nebenbei bemerkt, ich finde, es spricht für Mr. Yus Sohn Jardine, dass ihm die Sicherheit der Demonstranten da unten so sehr am Herzen lag, dass er darum gebeten hat, sie bis zur Beendigung unserer Feier von der Vorderseite des Gebäudes fernzuhalten. Vielen Dank.»

Wieder lachten die Gäste, und als Richardson mit dem Ast in der Hand an die Dachkante trat, fingen sie an, Beifall zu spenden. Viele folgten ihm, um zuzusehen, wie der Ast einhundertzwanzig Meter tiefer auf der Piazza aufschlug.

Mitch vergewisserte sich, dass Joan unter ihnen war, sah David Arnon an und steckte zwei Finger in den Mund, als wolle er sich übergeben.

David Arnon grinste und beugte sich zu ihm hinüber.

«Weißt du was, Mitch?», flüsterte er ihm zu. «Ich als Jude sage das nicht gern, aber vielleicht waren die alten Ägypter gar nicht so dumm.»

Architektur ist Voodoo.

Buckminster Fuller

«Wir übernachten heute im Penthouse, Declan», wandte sich Ray Richardson an den Chauffeur. «Morgen Vormittag habe ich die ganze Zeit im Büro zu tun. Ich werde Sie erst um zwei Uhr wieder brauchen. Wir fahren zum Flugplatz.»

«Nehmen Sie die Gulfstream, Mr. Richardson?» Declans irischer Akzent war ebenso unüberhörbar, wie sein kräftiger Nacken unübersehbar war. Ein Blick auf die Nachtsichtbrille von Blackcat und die automatische 9-Millimeter-Pistole von Ruger auf dem Beifahrersitz konnte jedermann davon überzeugen, dass der Chauffeur zugleich Richardsons Leibwächter war.

«Nein, ich nehme den Linienflug nach Berlin.»

«Dann sollten wir uns besser etwas früher auf den Weg machen als sonst, Mr. Richardson. Heute war der Verkehr auf dem San Diego Freeway ganz schön zäh.»

«Danke, Declan. Sagen wir lieber halb zwei.»

«In Ordnung, Mr. Richardson.»

Mitternacht war schon vorbei, aber im Studio des Architechnologen brannte noch Licht. Declan schaltete die Diode der Nachtsichtbrille von Rot auf Grün, um sie den veränderten Lichtbedingungen anzupassen. Man konnte nie wissen, was einen im Dunkeln aus dem

«Sieht aus, als seien sie noch bei der Arbeit», sagte Joan Richardson.

«Das möchte ich ihnen aber auch geraten haben», knurrte ihr Mann. «Als ich vorhin gegangen bin, lag noch haufenweise unerledigte Arbeit herum. Immer wenn ich einem dieser Krautköpfe sage, er solle etwas erledigen, kriege ich hundert Gründe zu hören, warum es nicht zu schaffen ist.»

Die dreieckförmige Glaskonstruktion, die Richardsons Atelier und die Verwaltungsbüros beherbergte, war von ihm selbst entworfen, und ihr Bau hatte 21 Millionen Dollar gekostet. Zwischen den riesigen Plakatwänden voll von verblichenem Hollywood-Glanz, die das Grundstück umgaben, ragte das Gebäude wie der Bug eines ultramodernen und extrem teuren Motorboots in die Luft. Das nach Osten in Richtung Hollywood ausgerichtete Gebäude mit den getönten Glasscheiben, die es im Norden gegen die Straße abschirmten, fügte sich keinem identifizierbaren Baumuster der Stadt ein. Wenigstens dann nicht, wenn man den Eklektizismus, der für die meisten Gebäude in Los Angeles typisch ist, überhaupt für ein Baumuster irgendeiner Art hält. Genau wie seine anderen Gebäude in der Stadt wirkte es irgendwie fehl am Platz. Man hätte es eher für europäisch als für amerikanisch gehalten. Vielleicht wirkte es auch nur wie etwas, das gerade erst aus einer anderen Welt gelandet ist.

Die Architekturkritiker sprachen von einer rationalistischen Tradition, die Richardson geprägt habe. Jedenfalls waren seine Bauten reich an Metaphern. Sie erinnerten in vielem an die konstruktivistischen Phantasien eines Gropius, eines Le Corbusier oder eines Stirling. Aber seine Werke überschritten die Grenzen eines rein utilitaristisch ausgerichteten Denkens. Sie stellten ein Bekenntnis zur

«Diese Deutschen», murmelte Richardson und schüttelte verächtlich den Kopf.

«Schon gut, Liebling», flüsterte seine Frau zärtlich. «Sobald wir unser eigenes Büro in Berlin eröffnet haben, können wir sie zum Teufel jagen.»

Der Bentley verließ die Hauptstraße und rollte über den Hinterhof des Gebäudes in die Tiefgarage.

Von den sieben Stockwerken lagen sechs oberirdisch. Die Büroräume der Firma und das zweistöckige Konstruktionsatelier nahmen das Erdgeschoss ein. Darüber lagen auf den Stockwerken drei bis sieben insgesamt zwölf Privatwohnungen. Die prunkvoll ausgestattete Penthousewohnung diente den Richardsons zum Übernachten, wenn sie abends lange arbeiten oder morgens früh aufbrechen mussten. Beides kam häufiger vor. Ray Richardson war von seinem Beruf besessen. Normalerweise lebten sie in einem auffälligen Haus in Rustic Canyon. Die Villa mit ihren zehn Schlafzimmern, die Richardson ebenfalls selbst entworfen hätte, war selbst von einem erbitterten Gegner zeitgenössischer Architektur wie Tom Wolfe in Fegefeuer der Eitelkeiten wegen ihrer Schönheit und Eleganz gelobt worden. Sie beherbergte die umfangreiche Sammlung moderner Kunst, auf die die Richardsons zu Recht stolz waren.

«Wir sollten mal reinschauen und nachsehen, was da so in meinem Namen geschieht», sagte Richardson. «Nur für den Fall, dass wieder einer Scheiße gebaut hat.»

Die beiden stiegen die dramatisch angelegten Windungen der granitverkleideten Treppe empor wie König und Königin und erwiderten den Gruß der uniformierten Sicherheitskräfte mit huldvollem Kopfnicken. Am Eingang des hohen, hellen Ateliers blieben sie

Mit seinen siebzehn Meter langen Arbeitstischen, die im rechten Winkel zu einer südlichen Glaswand standen, war das neunzig Meter lange Entwurfsatelier von Richardson & Associates, das einen weiten Blick über die Stadt genoss, eines der modernsten Architekturbüros der Welt. Außerdem war es eines der meistbeschäftigten. Noch mitten in der Nacht arbeiteten Architekten, Konstruktionszeichner, Ingenieure, Modellkonstrukteure und Computerexperten mit ihren Arbeitsteams im abgestimmten Gleitzeitrhythmus. Viele von ihnen waren seit sechsunddreißig Stunden pausenlos bei der Arbeit, und zumindest die erst kürzlich eingestellten Mitarbeiter schenkten der Ankunft ihres elegant gekleideten Chefs nebst ebenso eleganter Gattin kaum Aufmerksamkeit. Nur die, die Richardson länger kannten, blickten von ihren Computerschirmen und Pizzaresten auf und erkannten, dass die Harmonie der Teamarbeit im Begriff stand, sich in radikale Dissonanzen aufzulösen.

Joan Richardson blickte um sich und schüttelte, der treuen Dienste eingedenk, die man ihrem Mann leistete, bewundernd den Kopf. Die braunen Navaho-Augen, die anbetend zu ihrem Herrn und Gebieter aufsahen, wussten, dass ihm diese Treue zustand. Sie war es gewohnt, ihren Mann ganz oben auf der Leiter zu sehen.

«Sieh dir das nur an, Liebling», sprudelte es begeistert aus ihr heraus. «So viel schöpferische Energie! Einfach atemberaubend! Nachts um halb eins, und sie sind immer noch an der Arbeit. Das Atelier ist geschäftig wie ein Bienenstock.»

Joan nahm ihren Umhang ab und legte ihn über den Arm. Sie trug

«Phantastisch! Einfach phantastisch! Ich bin so stolz darauf, ein Teil all dieser … all dieser … Energie zu sein.»

Ray Richardson grunzte. Seine Augen suchten die hartkantigen schwarzen, weißen und grauen Flächen des Ateliers nach Allen Grabel ab, der an den beiden größten und prestigeträchtigsten Projekten der Firma zugleich arbeitete. Seit sich das Gebäude der Yu Corporation der Vollendung näherte, konzentrierte sich der erste Konstruktionszeichner der Firma auf das geplante Kunstzentrum, und das nicht nur, weil sein Chef morgen nach Deutschland fliegen wollte, um der Berliner Bauverwaltung die detaillierten Bauzeichnungen vorzulegen.

Das Kunstzentrum sollte die Antwort Berlins auf das Pariser Centre Pompidou darstellen und zugleich der winddurchwehten Öde über dem ehemaligen Einkaufszentrum der Stadt, dem Alexanderplatz, neues Leben einhauchen.

Die beiden Projekte hielten Grabel derart in Atem, dass er manchmal eine Pause machen musste, nur um sich darüber klarzuwerden, an welchem von beiden er gerade arbeitete. Er verbrachte mindestens zwölf Stunden pro Tag im Atelier – manchmal waren es auch sechzehn – und hatte so gut wie kein Privatleben. Er war ein gutaussehender Mann. Er hätte sich eine Freundin zulegen können, wenn er Zeit gehabt hätte, jemanden kennenzulernen. Aber da ihn zu Hause ohnehin niemand erwartete, verbrachte er immer mehr Zeit im Atelier. Er wusste, dass Richardson das ausnutzte. Er wusste, dass er hätte Urlaub nehmen sollen, nachdem die Konstruktionspläne für

Als Richardson ihn fand, starrte der hochgewachsene, lockenköpfige New Yorker durch Brillengläser, die so verschmiert waren wie sein Hemdkragen, auf den Monitor des Intergraphterminals. Er war dabei, die Kurven und Liniennetze eines Bauplans neu zu gestalten.

Das Softwaresystem für rechnerunterstütztes Konstruieren von Intergraph war der Eckpfeiler im Arbeitssystem der Firma Richardson & Associates, und das nicht nur in Los Angeles, sondern in der ganzen Welt. Mit seinen Büros in Hongkong, Tokio, London, New York und Toronto und den geplanten Zweigstellen in Berlin, Frankfurt, Dallas und Buenos Aires war Richardson & Associates Intergraphs zweitgrößter Einzelkunde, gleich nach der NASA. Dieses und ähnliche Systeme hatten eine Revolution in der Architektur eingeleitet. Ihr Drag-and-drop-System erlaubte es dem Konstruktionszeichner, jede beliebige Anzahl zwei- und dreidimensionaler Elemente beliebig zu drehen, zu dehnen und aufeinander auszurichten.

Richardson zog den Armani-Sakko aus, rückte einen Stuhl neben Grabel und setzte sich. Ohne ein Wort zu sagen, zog er die Farbpause im Format A0 über den Tisch und verglich sie mit dem zweidimensionalen Bild auf dem Monitor, während er den Rest von Grabels Pizza in den Mund schob.

Grabel war schon vorher übermüdet, aber jetzt erlitt seine Stimmung den entscheidenden Einbruch. Manchmal sah er zu, wie das CAD-System das Muster, das er eingab, in ein Werk der Architektur verwandelte, und fragte sich, ob er nicht genauso leicht ein

«Ich glaube, wir haben es geschafft, Ray», sagte er müde. Aber Richardson hatte schon mit einem Mausklick das Smart Draw Icon in der Menüleiste angewählt, um den Entwurf selbst beurteilen zu können.

«Glaubst du?» Richardsons Lächeln war kalt wie der Winter. «Was heißt hier glauben? Weißt du es denn nicht, um Gottes willen?» Er streckte die Hand in die Luft wie ein Kind, das sich in der Schule meldet, und rief: «Kann mir jemand eine Tasse Kaffee besorgen?»

Grabel zuckte seufzend die Achseln. Er war viel zu müde, um sich mit Richardson zu streiten.

«Was soll das jetzt wieder heißen, dieses Achselzucken? Los, Allen, was in Teufels Namen geht hier vor? Und wo in Teufels Namen ist Kris Parkes?»

Parkes war der Projektleiter für den Entwurf des Kunstzentrums. Zwar war er nicht Leiter der Arbeitsgruppe, aber er leitete die regelmäßigen gemeinsamen Sitzungen und formulierte das, was die Arbeitsgruppe dachte.

Grabel überlegte, dass die Arbeitsgruppe augenblicklich wohl genau dasselbe dachte wie er: dass sie am liebsten zu Hause wären, im Bett lägen und in den Fernseher glotzten. Genau das, was Kris Parkes höchstwahrscheinlich gerade tat.

«Er ist nach Hause gegangen», sagte Grabel.

«Der Projektleiter ist einfach nach Hause gegangen?»

Mary Sammis, eine der Modellbauerinnen des Projekts, brachte

«Der ist aufgewärmt», sagte er.

«Er war zum Umfallen müde», erklärte Grabel. «Ich habe ihn nach Hause geschickt.»

«Bring mir einen neuen. Und wenn ich das nächste Mal eine Tasse Kaffee bestelle, will ich die Untertasse nicht extra bestellen müssen.»

«Kommt sofort.»

Kopfschüttelnd murmelte Richardson: «Was ist das bloß für ein Laden?» Dann fiel ihm etwas anderes ein, und er rief quer durch den Raum: «Ach, Mary! Was ist mit dem Modell?»

«Wir arbeiten noch dran, Ray.»

Grimmig schüttelte Richardson den Kopf. «Lass mich nicht hängen, Schätzchen. Morgen Nachmittag fliege ich nach Deutschland.» Er warf einen Blick auf die Armbanduhr von Breitling. «Genau gesagt, in zwölf Stunden. Bis dahin muss das Modell verpackt und der ganze Papierkram für den Zoll erledigt sein. Verstanden?»

«Keine Angst, Ray. Ich verspreche dir, dass du es rechtzeitig hast.»

«Mir brauchst du nichts zu versprechen. Hier geht es nicht um mich. Es geht überhaupt nicht um mich, Mary. Wenn es um mich ginge, wäre das etwas ganz anderes. Es geht um ein neues Büro mit dreißig Mitarbeitern, die die nächsten zwei Jahre ihres Lebens mit nichts anderem verbringen werden als mit der Arbeit an diesem Projekt. Und das Mindeste, was wir für sie tun können, ist, ihnen ein Modell davon zu zeigen, wie es aussehen wird. Oder bist du anderer Meinung, Mary?»

«Nein, Mr. Richardson, bin ich nicht.»

«Und sag nicht Mr. Richardson zu mir, Mary. Wir sind hier verdammt noch mal nicht bei der Armee.»

«Wen willst du anrufen, Ray?», sagte Grabel, und ein nervöses Zucken durchlief sein Gesicht. Der Tic machte sich nur bemerkbar, wenn er todmüde war oder dringend einen Drink brauchte. «Hast du nicht gehört, was ich gesagt habe? Ich habe gesagt, dass ich ihn nach Hause geschickt habe.»

«Das habe ich gehört.»

«Ray?»

«Wo bleibt mein verdammter Kaffee?», brüllte Richardson aus dem Hintergrund.

«Du willst doch nicht etwa Parkes anrufen, oder?» Richardson sah Grabel nur an und zog verächtlich die grauen Augenbrauen hoch.

«Du Schwein», murmelte der. Plötzlich hasste er Richardson mit einer Intensität, die ihn selbst erschreckte. «Mein Gott, ich wollte, du wärst tot, du Arsch…»

«Kris? Hier ist Ray. Habe ich dich geweckt? Habe ich? Schade. Ich habe eine Frage, Kris. Hast du überhaupt eine Vorstellung davon, was dieses Gebäude der Firma an Honoraren einbringen wird? Nein, ich will nur eine Antwort auf meine Frage. Richtig, fast vier Millionen. Vier Millionen Dollar. Und jetzt hör zu, Kris. Viele von uns arbeiten bis tief in die Nacht daran. Nur du bist nicht da. Und du bist, verdammt noch mal, der Projektleiter! Meinst du nicht, du gibst ein schlechtes Beispiel? Ach, das meinst du nicht.» Er hörte einen Augenblick zu und fing dann an, den Kopf zu schütteln. «Also ehrlich gesagt, mir ist es egal, wie lange du nicht mehr zu Hause gewesen bist. Und es ist mir völlig gleich, wenn deine Kinder auf die Idee kommen, du seist irgendein Typ, der ihre Mutter im Supermarkt angequatscht hat. Du gehörst hierher, zu deiner Arbeitsgruppe. Wirst du jetzt

Richardson hängte den Hörer ein und sah sich nach seiner Frau um. Die beugte sich über eine Vitrine neben der Treppe und betrachtete ein Modell des Hauptquartiers der Yu Corporation, das sich im wirklichen Leben auf der Hope Street Piazza der Vollendung näherte. «Ich bleibe noch etwas hier, Liebling», rief er ihr zu. «Wir sehen uns dann oben, o.k.?»

«O.k., mein Schatz.» Joan lächelte und blickte sich im Atelier um. «Gute Nacht allerseits.» Dann ging sie.

Nicht viele erwiderten ihr Lächeln. Die meisten waren selbst für ein höfliches Lächeln zu müde. Außerdem wussten sie, dass Joan genauso ein Ungeheuer war wie ihr Mann. Im Grunde war sie schlimmer. Er war wenigstens begabt. Ein paar der älteren Konstruktionszeichner konnten sich noch daran erinnern, wie sie in einem Wutanfall das Faxgerät durch eine verspiegelte Fensterscheibe geworfen hatte.

Ray Richardson wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem Monitor zu und verwandelte das Bild in eine dreidimensionale Darstellung. Die Zeichnung stellte einen leicht vertieften Halbkreis mit einem Durchmesser von etwa 200 Metern dar, der an den Royal Crescent in Bath erinnerte und über den sich etwas erstreckte, das einem gigantischen Flügelpaar glich. Europäische Architekturkritiker sprachen von Adlerschwingen, genauer gesagt von den Flügeln des deutschen Reichsadlers, und bezeichneten Richardsons Entwurf als «postfaschistisch».

Richardson bewegte die Maus über das Mousepad und zog die dreidimensionale Darstellung näher heran. Jetzt wurde deutlich, dass das Gebäude nicht aus einem Halbkreis, sondern aus zweien bestand, zwischen denen ein geschwungener Säulengang die Geschäfte

«Was ist denn da los?» Er runzelte die Stirn. «Hör mal, Allen, du hast nicht das getan, was ich wollte. Ich habe dich doch gebeten, beide Möglichkeiten zu zeichnen.»

«Aber wir waren uns doch einig darüber, dass das hier die ideale Lösung ist.»

«Ich wollte die andere aber auf alle Fälle auch haben.»

«Was heißt auf alle Fälle? Ich versteh dich nicht. Entweder ist das hier die beste Lösung oder nicht.»

Der Nerv in Grabels Gesicht begann wieder zu zucken.

«Das heißt. für den Fall, dass ich es mir anders überlege. Verstanden?» Richardson machte sich an eine grausame, aber zutreffende Imitation von Grabels nervösem Tic. Grabel nahm die Brille ab, legte das unrasierte Gesicht in die zitternden Hände und seufzte tief. Einen Augenblick sah er zum Himmel auf, als erwarte er den Rat des Allmächtigen. Als keine Ratschläge eintrafen, stand er auf, schüttelte langsam den Kopf und zog seine Jacke an.

«Mein Gott, wie ich dich manchmal hasse!», sagte er. «Nein, das stimmt nicht. Ich hasse dich immer. Weißt du, dass du der Darmkrebs eines Straßenköters bist? Eines Tages wird jemand der Welt einen großen Gefallen tun und dich umbringen. Ich würde es selber tun, aber ich wüsste nicht, wohin mit den begeisterten Zuschriften aus

«Was hast du gesagt?»

«Du hast es gehört, Arschloch!» Grabel drehte sich um und ging auf die Treppe zu.

«Wohin gehst du in drei Teufels Namen?»

«Nach Hause.»

Richardson richtete sich mit einem bitteren Kopfnicken auf.

«Wenn du jetzt gehst, brauchst du nicht wiederzukommen. Hast du mich verstanden?»

«Ich kündige», sagte Grabel und ging weiter. «Ich würde nicht einmal wiederkommen, wenn du vor Einsamkeit stirbst.»

Richardson ging in die Luft. «Du kündigst nicht», schrie er. «Ich kündige dir! Ich schmeiße dich raus, du kleines Stück Scheiße mit deinem nervösen Tic. Ihr habt es alle gehört. Hast du mich verstanden, Spasti? Du fliegst.»

Ohne sich umzusehen, streckte Grabel den Mittelfinger hoch und verschwand im Treppenhaus. Irgendjemand lachte, und Richardson sah sich mit geballten Fäusten wütend um. Er war bereit, jedem zu kündigen, der sich danebenbenahm.

«Was ist denn hier so komisch?», knurrte er. «Und wo bleibt mein verdammter Kaffee?»

Wutschnaubend ging Grabel die paar Schritte zum St. James’s Club Hotel, wo er wie üblich einen Drink in der Jugendstilbar nahm, während er auf sein Taxi wartete. Wodka mit Cointreau und Preiselbeersaft. Genau das Gleiche hatte er vor einem halben Jahr getrunken, als ihn die Polizei wegen Alkohol am Steuer festnahm. Wodka mit

Mit der Idee, dass er seinen Job geschmissen hatte, kam er besser zurecht als mit der Tatsache, dass er keinen Führerschein mehr hatte. Wenn ihn Richardson wenigstens nicht Spasti genannt hätte! Er wusste, dass man ihn manchmal so nannte, aber niemand hatte es ihm je ins Gesicht gesagt. Einzig ein Scheißkerl wie Richardson konnte so etwas tun.

Eine Cocktailkellnerin namens Mary, eigentlich Schauspielerin zwischen zwei Engagements, war manchmal freundlich zu ihm. Sie stellte praktisch das gesamte Sozialleben dar, das Allen Grabel zu Gebote stand.

«Ich habe gerade gekündigt», erzählte er ihr stolz. «Hab meinem Partner gesagt, er kann sich den Job in den Arsch stecken.»

«Na ja.» Sie zuckte die Achseln. «Gratuliere.»

«Hab es schon lange vorgehabt. Hab mich nur nie dazu entschließen können. Hab ihm einfach gesagt, er kann ihn sonst wohin tun. Ich musste es tun oder ihm das verdammte Gehirn aus dem Schädel pusten.»

«Ich habe das Gefühl, du hast die richtige Wahl getroffen», sagte sie.

«Da bin ich mir nicht sicher. Ich weiß es einfach nicht. Aber mein Gott, war er wütend.»

«Scheint eine gelungene Vorstellung gewesen zu sein. In voller dramatischer Pose.»

«Und wie! Mein Gott, war er wütend auf mich.»

«Ich wollte, ich könnte meinen Job schmeißen», sagte sie mit wehmütigem Lächeln.

Er bestellte noch einen Drink und stellte fest, dass der noch schneller verschwand als der erste. Bis Mary ihm mitteilte, dass sein Taxi da war, hatte er vier oder fünf getrunken. Aber das, was er getan hatte, gab ihm so viel Auftrieb, dass er den Alkohol kaum spürte. Er zog ein paar Geldscheine von der Rolle, die er in der Tasche trug, und gab dem Mädchen ein großzügiges Trinkgeld. Das wäre nicht nötig gewesen, denn er hatte an der Bar gesessen, aber er hatte Mitleid mit ihr. Schließlich konnte es sich nicht jeder leisten, einfach zu kündigen.

Als er gegangen war, atmete Mary erleichtert auf. Er war kein übler Typ. Aber sein Tic machte sie nervös. Außerdem mochte sie keine Betrunkenen. Nicht einmal, wenn sie freundlich waren.

Draußen forderte Grabel den Taxifahrer auf, ihn nach Pasadena zu fahren. Sie waren erst ein paar Blocks von der Innenstadt entfernt und fuhren nach Südosten über den Hollywood Freeway, kurz bevor sie nach Norden in Richtung Pasadena abbiegen mussten, als ihm plötzlich etwas einfiel.

«Scheiße», sagte er laut.

«Haben Sie ein Problem?»

«Eigentlich schon. Ich habe meine Hausschlüssel im Büro vergessen.»

«Sollen wir zurückfahren?»

«Fahren Sie an den Straßenrand, und lassen Sie mich überlegen, was ich tun will.»

Nach seinem dramatischen Abgang konnte er kaum zurück ins Büro. Ray Richardson würde annehmen, er komme mit eingekniffenem Schwanz angekrochen und wolle seinen Job wiederhaben. Es würde ihm unheimlichen Spaß bereiten, ihn lächerlich zu machen. Vielleicht würde er ihn noch einmal Spasti nennen, und das würde

«Also wohin jetzt, junger Mann?»

Grabel sah aus dem Fenster und entdeckte, dass er auf eine vertraute Silhouette blickte. Sie fuhren die Hope Street entlang und näherten sich dem Gebäude der Yu Corporation. Plötzlich wusste er, wo er übernachten wollte.

«Wir sind richtig. Lassen Sie mich hier raus.»

«Sind Sie sicher?», fragte der Taxifahrer. «Nachts ist das hier eine gefährliche Gegend.»

«Absolut sicher», sagte Grabel. Warum war er eigentlich nicht gleich auf die Idee gekommen?

Mitchell Bryan gewann allmählich den Eindruck, seiner Frau gehe es wieder schlechter. Beim Frühstück hatte ihm Alison mit irre flackerndem Blick erzählt, sie habe gelesen, dass es südafrikanische Stämme gebe, die glaubten, die Folgen einer Fehlgeburt könnten nicht nur den Kindesvater, sondern das ganze Land, ja sogar den Himmel in Mitleidenschaft ziehen und dem Untergang weihen. Sie seien stark genug, heiße Winde entstehen zu lassen, das Land mit Dürre zu überziehen und den Regen versiegen zu lassen. Kurz angebunden, hatte Mitchell erwidert: «Da sind wir ja noch billig davongekommen», und sich auf den Weg zum Auto gemacht, obwohl es erst halb acht Uhr früh war.

Er hatte nicht das Gefühl, als sei Alison jemals ganz über den Verlust ihres Kindes hinweggekommen. Sie war verschlossener als je zuvor, wirkte geradezu neurotisch und hielt sich so ängstlich vom Anblick Neugeborener fern wie andere Leute von den Slums im Stadtzentrum von Los Angeles. Manchmal konnte Mitch nicht umhin,