Caroline Wendt
Ich kann nicht anders, Mama
Eine Mutter kämpft
um ihre magersüchtigen
Töchter
Knaur e-books
Als ihre Töchter an Magersucht erkranken, beginnt auch für Caroline Wendt ein langer Leidensweg: Hilflos steht sie der Krankheit gegenüber und muss sich obendrein gegen Vorwürfe der Ärzte wehren, daran schuld zu sein. So wie ihr geht es vielen betroffenen Eltern. Sie finden in diesem wichtigen Buch Trost, Rat und Unterstützung. Mit einem Beitrag von Professor Dr. Manfred Fichter, einem der führenden deutschen Ernährungstherapeuten.
Originalausgabe März 2011
Copyright © 2011 der eBook Ausgabe by Knaur eBook.
Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt
Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise –
nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.
Redaktion: Annerose Sieck
Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, München
Umschlagabbildung: Corbis / Paul Simcock
ISBN 978-3-426-40633-5
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Für meine Eltern, die ich umso mehr liebe, je älter unsere Kinder werden. Und natürlich für Anna und Marie, die es schaffen werden, jede für sich allein.
Das hast du trotz allem gut gemacht.« Sagte meine Freundin Marion, als meine beiden Töchter die Magersucht fürs Erste überwunden hatten. »Vor allem, wenn man bedenkt, dass ja immer die Mütter schuld sind«, sagte ich. Da mussten wir beide lachen.
Meine Erfahrungen mit der Magersucht unserer Zwillingsmädchen haben mich bewegt, dieses Buch zu schreiben. Marie war gerade 14 Jahre alt, als sie erkrankte, ihre Schwester Anna folgte ihr kurz darauf in die Essstörung. Zuerst wollte ich einfach mein Tagebuch veröffentlichen, komplett, intim und ungeschminkt, dann wurde mir klar, wie viel ich nicht nur von mir, sondern auch von anderen Familienmitgliedern, allen voran den Mädchen, preisgegeben hätte. Und das angesichts der nicht selten zungenschnalzenden Behandlung des Themas in den Medien. Auf die Mitteilung meiner Erfahrungen verzichten wollte ich aber dennoch nicht. Ich hatte einfach zu viel zu sagen: zum Thema Magersucht und Familie bzw. Familie und Therapie. Also fing ich noch einmal von vorn an und berichtete nun aus der Distanz von drei Jahren. Als Gewinn entpuppte sich die Zusammenarbeit mit Prof. Manfred Fichter, dem ärztlichen Leiter der Psychosomatischen Klinik Roseneck. Er erweiterte unsere Fallgeschichte um seinen wissenschaftlichen Kommentar.
Dieses Buch möchte verzweifelten Eltern Mut machen. Ja, man kann die Magersucht überwinden – und wenn sich die Magersucht besiegen lässt, dann die anderen Essstörungen auch. Die Zeit bis dahin ist allerdings nicht leicht. Vor allem für die erkrankten Jugendlichen, deren inneres Leiden ihrem jämmerlichen Äußeren entspricht. Aber auch für die betroffenen Mütter und Väter ist die Erkrankung kein Sonntagsspaziergang. Plötzlich wird die gesamte Familie in Frage gestellt. Was hat man mit diesem Kind falsch gemacht? Musste es zu dieser Krise kommen, oder hätte man sie als Eltern verhindern können?
Diese und ähnliche Fragen wird sich jede Mutter und jeder Vater stellen. Und nicht immer passen die stereotypen Antworten zur Situation in der eigenen Familie. Man hat mit vielen vorschnellen Urteilen zu kämpfen, in der engen und weiteren Verwandtschaft sowie im Freundeskreis, aber auch in der Psychotherapie. In Deutschland, so zumindest mein Eindruck, ist man schnell mit Urteilen bei der Hand. Ja, manchmal ist die Diagnose schon per Lehrbuch gestellt, bevor man sich überhaupt richtig mit allen Beteiligten besprochen hat. Bei einer psychischen Erkrankung des Kindes steht nicht selten die Mutter am Pranger. Dass dies wenig hilfreich ist, kann sich jeder denken. Aber es gibt Fachleute, die explizit für eine Entlastung der Eltern eintreten, wenn es um die Magersucht ihres meist noch minderjährigen Kindes geht. Auf alle Fälle lässt sich diese tückische Erkrankung leichter überwinden, wenn Patienten, Eltern und Therapeuten an einem Strang ziehen.
Mein Kind ist krank – also muss ich alles tun, um es zu retten! Das ist die normale Reaktion von Eltern, vor allem angesichts des Zustands der Auszehrung, den die Magersucht mit sich bringt. Aber man wird dem Kind und sich selbst im Weg stehen, wenn man in Sachen Essstörung die mütterliche Löwin gibt. Den Kampf ganz aufgeben wird man dennoch nicht. Die größte Herausforderung für mich war, das geliebte Kind loszulassen, obwohl es ihm offensichtlich schlechtging. Sich angesichts einer schweren psychischen Erkrankung des eigenen Kindes ruhig zu verhalten, Verantwortung an Fachleute abzugeben, aber letztlich auch an das geschwächte Kind – das ist wohl das Schwierigste, was Mütter leisten müssen.
Mein Erfahrungsbericht soll Sie vor allem ermutigen: So gut wie ich bekommen Sie das auch hin! Wahrscheinlich sogar besser, nachdem Sie gelesen haben, welche Möglichkeiten es im Umgang mit einem essgestörten Kind gibt. Dieses Buch soll anderen Müttern und Vätern Einblicke in oft verspätete Einsichten vermitteln. Bei Magersucht hinkt man den Ereignissen nämlich gern hinterher.
Ein magersüchtiges Kind zu haben ist schlimm, weil du als Mutter vollkommen hilflos bist. Weil du so gut wie nichts tun kannst, um einen Prozess aufzuhalten, der fatal erscheint, lebensfeindlich und tödlich. Am schlimmsten, weil du nicht mehr so auf der Seite des Kindes stehen kannst wie sonst immer, denn es fügt sich ja vor deinen Augen Leid zu. Wenn das Kind nichts mehr isst, bleibt der Mutter das Essen im Hals stecken. Das Kind, das man genährt hat – und nie schlecht genährt, im Gegenteil, man hat immer auf gutes Essen geachtet –, dieses Kind verweigert sich deiner Fürsorge auf eine Weise, die unerträglich ist. Wobei ihm deine Fürsorge vollkommen egal ist, denn es hat andere Sorgen. Sorgen, die zur Dauerdiät geführt haben, Sorgen, von denen die Eltern offenbar kaum etwas wussten.
Diese Sätze stammen aus dem Tagebuch, das ich in den anderthalb Jahren, in denen unsere beiden Zwillingsmädchen akut an Magersucht litten, geschrieben habe. Wie früher als Teenager habe ich fast täglich meine Erlebnisse und Gefühle zu Papier gebracht – nur dass es bei mir nicht um die Liebe ging und auch nicht, wie vielleicht in meinem Alter zu erwarten, um Berufs- und Eheprobleme, sondern ausschließlich um die Erkrankung meiner Kinder. Ich habe geschrieben, um mich selbst zu entlasten – und Klarheit zu gewinnen. Ich kann diese Art der Auseinandersetzung in einer der schwersten Krisensituationen des Lebens nur empfehlen. Dieses Buch enthält manche Passage aus meinem »Magersucht-Tagebuch«, vor allem aber ist es Ausdruck der vielen Gespräche, die ich mit den Kindern, meinem Ehemann, meinen Eltern, meinen Freundinnen und nicht zuletzt meiner Lebensberaterin Rosa geführt habe. Tatsächlich ist man mit einem essgestörten Kind in der Familie nicht selten dem Wahnsinn nah, vor Sorge natürlich und auch angesichts des »verrückten« Verhaltens des einst so vertrauten Kindes. In dieser Situation brauchen Eltern und vor allem Mütter viel Unterstützung.
Neulich habe ich mit einer Freundin zusammengesessen, die sich große Sorgen um die Gesundheit ihrer Tochter machte. Die 13-Jährige aß fast nichts mehr. Glücklich wirkte sie auch nicht. Ja, selbst ihre Diäterfolge konterte sie mit neuen, noch höheren Ansprüchen. Oje, dachte ich, das hört sich nicht gut an. Aber ich kenne die Tochter meiner Freundin: Sie ist eine starke kleine Persönlichkeit. Daher sagte ich: »Egal, ob sie nun schon drinsteckt in der Krankheit oder ob sich das Ganze als kurze Episode entpuppt: Sie wird wieder herausfinden aus dem Wahn. Eben weil sie stark ist. Denn die Kraft, die du benötigst, um deinen Körper derart darben zu lassen, brauchst du auch, um dich aus der Umklammerung des Biestes Magersucht zu befreien.«
Anders gesagt: Die Kraft zur Zerstörung und die Stärke zum Aufbau sind gleich. Wer die eine hat, hat – grundsätzlich – auch die andere.
Verlieren Sie vor allen Dingen nicht den Mut.
»Eine Frau kann nicht dünn genug sein.«
Ich weiß noch genau, wie ich bei meiner Freundin Marion in der Küche saß und erzählte, dass meine Tochter Marie abgenommen hätte. Sie esse keine Süßigkeiten mehr, ich fände toll, dass sie diese Disziplin aufbringe. Ich hätte das als junges Mädchen nie hingekriegt! Das Wort abnehmen, meinte Marion gleich etwas streng, dürfe in einer Familie mit pubertierenden Mädchen überhaupt nicht vorkommen. Ob mir denn nicht klar sei, wie irrsinnig gefährlich das sei. Unsinn, dachte ich, die Marie isst doch sehr ordentlich zu Mittag, schließlich sitzen wir jeden Tag zusammen am Tisch, da würde ich schon mitbekommen, wenn irgendwas fehlte. – Das war, glaube ich, noch vor Weihnachten.
Was ich richtig schön fand in dieser Zeit: Anna und Marie begannen sich fürs Kochen und Backen zu interessieren. Mir war schon klar, dass ihre plötzliche Häuslichkeit damit zusammenhing, dass sie beide noch nicht ihre Peergroup gefunden hatten. Dafür standen sie bei mir in der Küche und fragten mir Löcher in den Bauch. Wie viel Salz kommt ins Nudelwasser? Muss man die Büchsentomaten abgießen, oder kommt die Flüssigkeit mit in die Sauce? Wie lange sollen die Zwiebeln schmoren? Klasse, dachte ich, jetzt nutzen sie diese Lücke und lernen gleich mal anständig kochen. Ihr Interesse an Kochbüchern war allerdings auffällig. Ständig blätterten sie sich durch die schönsten Rezepte und riefen: LECKER. Das müssen wir dringend mal machen, Mama. Gegessen wurde aber immer weniger. Ich kann gar nicht sagen, wie viel Nahrungsmittel bei uns in dieser Anfangsphase weggeworfen wurden. Ich musste mein Einkaufsverhalten radikal umstellen.
Beim Skifahren über die Faschingstage fiel es dann allen erstmals deutlich auf, wie wenig Marie »plötzlich« aß. Abends nur noch eineinhalb Brote, und das nach einem anstrengenden Tag am Berg. Sie führte immer die »irre fette Brotzeit auf der Hütte« ins Feld. Nach dem Abendessen, wenn wir spielten oder fernsahen, wurde nichts mehr geknabbert. Uns verging dann auch schnell die Lust am Naschen, und die Abende waren nicht ganz so lustig wie sonst. Zumal für Anna, ihre Zwillingsschwester, die eigentlich ganz gern noch ein wenig zugelangt hätte. Allein Annas Freundin, die wir mitgenommen hatten, vertiefte sich in Berge von Chips und Keksen und genoss das Leben offensichtlich mehr als unsere beiden Mädchen. Haben wir da schon mit Marie gesprochen? Wahrscheinlich nicht. Eine Schlankheitsdiät war in unserer Familie bisher nicht vorgekommen. Wir lieben gutes Essen, und keiner war je dick. Andererseits: Machten nicht alle jungen Mädchen irgendwann einmal eine Diät? Wir sollten vielleicht einfach akzeptieren, dass sie es einmal versuchte. Auch wenn dieses plötzliche »Aufs-Essen-Achten« bei Marie schon irritierte. (Ihre Mutter, also ich, hatte keine einzige Diät im Leben durchgehalten, das ließ doch hoffen, nicht wahr?)
Nach dem Skiurlaub ging das Diätleben zu Hause weiter. Keine Süßigkeiten am Abend, keine Butter mehr aufs Brot, die Salatsauce blieb unaufgetunkt im Teller zurück. Marie nahm deutlich ab, und mein Mann und ich verstanden unser Kind nicht mehr. Weil wir keine Waage haben, wog sie sich bei gemeinsamen Freunden. 49 Kilo. Sie hatte in wenigen Wochen fünf Kilo abgenommen. Wir schluckten, aber sie war stolz auf ihre neue Linie. »Jetzt muss es aber gut sein, Marie«, riefen wir abwechselnd aus. Natürlich sei es jetzt gut, beruhigte sie uns, sie sei zufrieden mit sich und diesem Gewicht, habe sich im letzten Sommer dick und unglücklich gefühlt und wolle jetzt so bleiben. Zu dem Zeitpunkt hatten beide Zwillinge ihre Tage nicht mehr, wie ich erst später erfuhr. Denn auch Anna hatte zwei Kilo verloren. Ist das Abnehmen denn so ansteckend wie ein Schnupfen, fragte ich mich manchmal in dieser Zeit.
Später erfuhr ich aus der Fachliteratur (Mütter lesen alles zum Thema Magersucht), dass eine Übertragung durch Ansteckung tatsächlich in der Wissenschaft diskutiert wurde – doch nicht durch irgendwelche rätselhafte Bakterien! Jeder mit offenen Augen kann sehen, dass die »Ansteckung« mentaler Art ist. In dieser Beziehung findet sie tatsächlich täglich auf dem Schulhof statt. Dünnsein ist schön. Nur Dünne haben Erfolg im Leben und in der Liebe. Essen wird da automatisch zum Gesprächsthema. Ja, wir hatten manchmal den Eindruck, unsere Mädchen hatten kaum noch ein anderes Thema als das Essen. Wenn die beiden abends mit Freundinnen telefonierten, wurden minutenlang die Lebensmittel aufgezählt, die man im Laufe des Tages zu sich genommen hatte. Meist verbunden mit einem »Oh Gott! Ich werde fett!« – woraufhin die Freundin am anderen Ende der Strippe sekundierte, was sie alles gegessen hätte, viel mehr, weshalb sie noch dicker werden würde. Mein Mann meinte einmal im Scherz: »Wie wäre es, wenn ihr euch erzählen würdet, was ihr alles nicht gegessen habt heute?« – War das noch harmlos? Bei uns vielleicht nicht. Bei anderen sicherlich schon. Schließlich werden die wenigsten Mädchen magersüchtig. Als essgestört kann nach Studien jedes dritte bezeichnet werden, und jedes zweite fühlt sich diffus »zu dick« – auch wenn der BMI (der Body Mass Index) vollkommen in Ordnung ist. Schlankheitsfimmel und Schönheitswahn sind nicht die Ursachen für Magersucht, aber der Äußerlichkeitskult in unserer Gesellschaft bestellt ihr sozusagen ein fruchtbares Feld.
Die Neckereien des Vaters und die Telefontiraden der Töchter verebbten allerdings in der Zeit zwischen Fasching und Ostern. Wie auch die gute Laune. Es ist erschreckend, wie schnell das Familienleben kippt, wenn ein Kind die Nahrung verweigert. Bei uns waren plötzlich alle – bis auf den 5-jährigen Jakob, der sowieso nicht mehr verstand, in welcher Welt er eigentlich lebte – aufs Essen fixiert. Anna kontrollierte Marie. Ich schaute auf beide. Mein Mann fragte abends nach der Lage. Die war angespannt. Ich schlief wenig.
Ostern war der große Fixpunkt: Dann würde Marie nämlich endlich wieder normal essen. Dann wäre ihre Fastenzeit endgültig vorbei. Das hatte sie ihrem Vater hoch und heilig versprochen. Ostern würde unser Familienleben wieder ins Lot kommen. Alle würden um den Tisch herumsitzen und lachen und reden und essen. Alles wäre wieder wie früher. – Wobei die fröhlichen Tafelrunden en famille schon vorbei gewesen waren, bevor das Diätleben begann, das muss ich ehrlich zugeben. Die Familienmahlzeiten sind, seit unser Jüngster drei ist und glaubt, zu allem etwas sagen zu müssen, alles andere als entspannend. Es ist schwierig, mit drei Kindern, von denen einer fast ein Jahrzehnt jünger ist, friedlich am Tisch zu sitzen. Die Großen wollen erzählen, die Eltern in Ruhe essen. Der Kleine turnt. Die Eltern ermahnen oder versuchen, die Ruhe durch Ignorieren des Gezappels wiederherzustellen. Klappt aber leider nicht, weil sich die Großen lautstark einschalten: Ihr erzieht den Kleinen nicht (oder falsch). Das führte manchmal dazu, dass vier Leute auf den Kleinen einredeten, und also: zu nichts. Womit ich nur sagen möchte: Seit der Geburt von Jakob hatten sich in der Familie die Gewichte verschoben. Dieser Satz gilt aber ebenso für die Mädchen, deren Pubertät das Familienleben auch gehörig durcheinandergewirbelt hat.
Das Verrückte in der Zeit mit der Magersucht ist: Du machst etwas mit der Tochter aus – etwa dass die Diät bis höchstens Ostern dauern darf – und lässt dann doch nicht locker innerlich. Ich habe wahrscheinlich geahnt, dass sie das Versprechen nicht würde halten können. Heute weiß ich: Das Abrücken von der Magersucht ist kein reiner Willensakt, dafür muss mehr geschehen. – Wann wurde mir klar, dass Marie ernsthaft erkrankt ist? Als sich der Abwärtstrend im Gewicht nicht aufhalten ließ? Als ich vom Ausbleiben der Regel erfuhr? Oder als ich begriff, dass tiefere Konflikte den Ausbruch der Krankheit begünstigt hatten?
Damals habe ich mich oft gefragt – und ich frage es mich noch heute –, ob ich vielleicht überreagiert und zu sehr meinen Befürchtungen nachgegeben habe. Andererseits: Es gibt ein intuitives Wissen um manche Dinge des Lebens – und das hatte ich in diesem Fall. Ich wusste, dass Marie in Gefahr ist, so wie ich wenig später auch wusste, dass Anna gefährdet ist. Natürlich sind Wissen und das Handeln aus dem Wissen heraus zwei Paar Schuhe. Sicherlich hätte ich mit weniger Geschrei und mehr Gefasstheit und innerer Ruhe mehr erreicht. Mit Bestimmtheit hätte mir und auch meinem Mann professionelle Unterstützung geholfen. (Die Familientherapie war für uns Eltern eine zusätzliche Belastung, die meiste Literatur zum Thema leider auch, doch dazu später mehr.) Dennoch bleibt die Frage: Warum war ich so rasch in höchster Alarmbereitschaft? Weil ich mein Kind so gut kannte oder weil ich die Essstörung so gut kannte? Beides davon ist wahr, wobei sich der zweite Teil erst langsam, in der Auseinandersetzung mit meiner Ursprungsfamilie, herausstellen sollte.
Trotz all dieser Überlegungen steht für mich fest: Die Besorgnis der Mutter ist ein sicheres Indiz für die Störung. Wenn Mütter sich plötzlich ernsthaft Sorgen um ihr Kind machen, ist Gefahr in Verzug. Mediziner und Psychologen werden die Verlässlichkeit der Mutter-Diagnose vielleicht kritisch sehen, aber sie ernst zu nehmen kann nicht schaden. Zumal die Tochter selbst zu diesem Zeitpunkt vielleicht noch gar nichts von einer Störung weiß bzw. wissen will. Daher tun aufmerksame Mütter gut daran, ihrem Gefühl zu trauen, gerade wenn es ungut ist. Es gibt viele Möglichkeiten, sich helfen zu lassen, wenn die Tochter dabei ist, in eine veritable Essstörung abzugleiten. Auch wenn sie schon drinsteckt in der Störung, gibt es Wege hinaus. Man kann sein Kind nicht in die Therapie zwingen, aber auf die Wahrheit aufmerksam machen kann man es.
Bei Marie – und bei vielen Magersüchtigen – war es nicht so, dass sie überhaupt nichts mehr gegessen hätte. Es ist eines von vielen Vorurteilen über die Magersucht, dass man meint, die Betroffenen würden nichts oder quasi nur einen Joghurt pro Tag essen. »Aber sie isst doch«, wurde mir manches Mal von Freundinnen zugeraunt, die mich beruhigen wollten. »Ja, aber viel zu wenig«, flüsterte ich zurück und kam mir jedes Mal idiotisch vor, wie die Mutter einer Dreijährigen. Es ist ein großer Mist, wenn man sich in dem Alter Sorgen um die Ernährung des Kindes machen muss. Ein Rückfall in die Zeit der Glucke, die ich nie recht sein wollte. Ich wollte selbstbewusste, eigenständige Kinder heranziehen – und für mich den entsprechenden Freiraum, den ebensolche Kinder bieten.
»Versuch es doch mal mit ihren Lieblingsgerichten!« Das war ein oft (und nicht sehr gern) gehörter Ratschlag von Freunden. Als ob ich das nicht schon längst versucht hätte! Wobei die Vergeblichkeit dieser Versuche mich nicht wenig frustriert hatte. Marie aß morgens zwei Löffel Cornflakes mit ein wenig Milch, mittags ein von mir zurechtgemachtes Tellergericht und abends eine Scheibe trockenes Brot, auf das sie, weil wir irgendetwas Aufstrichartiges forderten, eine hauchdünne Schicht ihrer selbstgemachten Marmelade schmierte. Man kann sich vorstellen, dass das Mittagessen immer vom Feinsten war. Aber schon beim Thema Nachtisch war der Ofen aus. Manchmal hatten wir groteske Auseinandersetzungen um einen Löffel mehr (meine Meinung) oder weniger (ihre Haltung) Nudeln. – Ostern kam und ging, und – natürlich, möchte ich fast sagen – Marie rührte ihre Schokoeier nicht an. Ich hatte es ja geahnt! Und auch nicht versäumt, ihr vor Ostern ein wenig Druck zu machen nach dem Motto: »Für dich brauche ich wohl keine Schokoladeneier zu besorgen?« Was hätte sie da antworten sollen, außer unter Tränen: »Ich hab doch schon gesagt, Mama, dass ich Ostern wieder normal esse!« Solche Wortwechsel sind passiert, obwohl »offiziell« Waffenstillstand herrschte, weil ja die Frist bis Ostern ging.
Überhaupt habe ich mich oft falsch verhalten. Mich provozieren lassen durch das Essverhalten des Kindes, das gar nicht mich und meine Küche meinte, sondern Ausdruck großer Not und eines inneren Zwangs war. (Doch das begriff ich erst später – auch wie tückisch das familiäre Gefecht ums Essen war.) »Das hast du doch früher immer so geliebt, Schatz!« Wie oft habe ich diesen Satz gesagt, fassungslos und vorwurfsvoll zugleich? Ich konnte und wollte nicht begreifen, wie man so dauerhaft und stur die schönsten Leckereien ausschlagen konnte – und sich selbst dabei zugrunde richtete. Unsere Mädchen waren immer wunderbare Esser gewesen, der Stolz ihrer Großmütter vom Land. Ja, die kleinen Zwillinge abzufüttern kam einer schweißtreibenden Arbeit gleich. »Hungi« war ihr Schlachtruf und ihr größter Ärger der Verdacht, die Schwester hätte das größere oder bessere Stück bekommen. Später dann hatten wir unzählig viele schöne Abende am Tisch. Ich hatte das für selbstverständlich genommen. Sogar ein wenig den Kopf geschüttelt über die Kostverächter unter anderen Kindern. Wie kann es einem Kind nicht schmecken? Das gibt es doch gar nicht! Jetzt weiß ich, welches Glück es bedeutet, wenn ein Kind gut isst.
»Die wissen wirklich alles«, habe ich damals in meinem Tagebuch notiert, »wie viele Kalorien ein Duplo hat im Vergleich zum Apfel, wie lange man für einen Latte macchiato joggen muss, was Paris Hilton täglich isst.« Ich fand das sehr befremdlich. Und Marie? Wollte vor allem in Ruhe gelassen werden von ihrer nervigen Mutter, die sich plötzlich in ihre Ernährung und in ihr Leben einmischte. Sie wollte einfach nur dünn sein, wo war hier eigentlich das Problem? Andere Mütter würden gar nichts sagen. »Ich werde nicht zulassen, dass du magersüchtig wirst«, sagte ich. Ein frommes Verlangen! Bei den Auseinandersetzungen mit Marie stand Anna auf meiner Seite. »Mensch, Marie, was ist so schlimm daran, ein kleines Stück Käse zu essen?«, sekundierte sie die mütterlichen Erwartungen. (Natürlich aß Marie das Stück Käse dann nicht, das sei dazu gesagt.) Anna hatte kein Verständnis für das neue Essverhalten ihrer Schwester, ob sie die Bedrohung für sich selbst da schon spürte? Einmal, als ich in Tränen aufgelöst war, nahm sie mich spontan in den Arm. Eine erwachsene Geste, über die ich mich sehr freute.
Wie immer, wenn mich etwas bedrückt, habe ich meinen Freundinnen die Lage mit den diätwütigen Töchtern geschildert. Einige erinnerten sich daran, dass sie selbst in ihrer Jugend »gesponnen« hätten mit dem Essen. Eine erzählte, dass ihre Mutter stillschweigend überall im Haus wunderschöne Schalen mit Gebäck, Nüssen und Schokolade verteilt hätte. Der Duft sei verführerisch gewesen – und sie hätte als junges Mädchen dem bald nachgegeben. Einfach wieder gegessen, und das ohne Aufregung und Streit wie bei uns. Eine andere schlug einen Aufenthalt in Afrika vor. Es hätte sich schon manches Mal als heilsam erwiesen, die Kinder in ein Hungergebiet zu schicken. Echtes Leid heilt eingebildete Krankheit. Daran glaubte ich allerdings nicht. An Aufklärung aber schon. Die befreundete Ökotrophologin, die den Zwillingen etwas über gesunde Ernährung und Wachstum erzählen sollte, kam dann nicht zum vereinbarten Termin. Ihr war nicht klar, wie bedrohlich die Lage bereits war. Vielleicht fühlte sie sich auch überfordert: Was erzählt man einem jungen Mädchen, das nicht mehr gescheit essen will? Dass Möhren ohne Käse nicht so gesund sind wie Möhren mit Käse? Magersucht ist kein Ernährungsproblem.
Sie habe sich im vergangenen Sommer dick und unglücklich gefühlt, hatte Marie geäußert. Im August des Vorjahres waren die Kinder und ich bei meiner Freundin eingeladen, die ein Ferienhaus auf Sardinien besitzt – perfekte Bedingungen für einen Urlaub, zumal auch neben den beiden kleineren Kindern ihr ältester Sohn mit von der Partie war. Unsere Mädchen und er kennen sich seit frühester Kindheit. Nun war es aber so, dass Tommy sich eindeutig mehr für Anna interessierte als für Marie. Blöd für Marie, aber doch kein Drama, sollte man meinen – wenn man keine Zwillingsschwester hat. Das Zwillingsdasein ist ganz wunderbar herrlich, aber manchmal eben auch eine echte Last. Diese Last scheint in der Pubertät zu überwiegen, kein Wunder, schließlich geht es hier um Identitätsfindung, die wiederum besonders schwierig ist, wenn man immer einen Spiegel seiner selbst vor der Nase hat. Jedenfalls war Marie geknickt. Als sie dann auch noch in einen Seeigel trat und ihr der Arzt, nachdem wir mit Pinzetten und Nadeln nichts hatten ausrichten können, die widerborstigen Stacheln einzeln aus dem Fuß herausoperieren musste, war ihre Moral vollkommen am Boden. Ich habe ihr dann zum Trost ein Armband gekauft. Etwas hilflos, der Lage entsprechend. – Ich wusste sofort, was sie meinte, als sie vom vergangenen Sommer sprach. Sie meinte ihr persönliches Unglücklichsein. Nicht, dass sie mal schlecht drauf war, sondern dass es ihr über einen längeren Zeitraum hinweg schlechtging. Es gibt einen wunderbaren Roman von Anna Gavalda, der auch verfilmt wurde: »Zusammen ist man weniger allein«. Die Protagonistin, eine begabte junge Frau, die in einem Putzjob verkümmert, ist magersüchtig. Das wird aber nicht explizit ausgesprochen, weder im Film noch im Roman. Wer sich allerdings ein bisschen auskennt mit Essstörungen, weiß gleich, was Sache ist. Denn zu Beginn der Geschichte wird Camille gefragt, ob sie jemanden lieben würde. »Nein«, antwortet sie, »niemanden. Ich habe nichts zu geben.« Das ist die Magersucht. Es ist nicht nur der Mangel an Appetit oder an Gewicht. Es ist das Gefühl von innerer Leere. Der Zusammenbruch des Selbst.
Rückblickend wird mir klar, dass Marie und ich auf Sardinien nicht wirklich miteinander gesprochen haben. Und wahrscheinlich auch vorher schon nicht. Das ist zum einen dem Respekt geschuldet, den ich vor der Privatsphäre meiner Tochter hatte. Ich wollte nicht in sie dringen. Außerdem war ich zu dieser Zeit noch sehr mit Jakob beschäftigt, einem wahren Energiebündel. Tja, aber das ist natürlich nicht alles. Denn warum hätten wir nicht einfach über ihr Gefühl der Zurücksetzung reden können? Über ihre Befürchtung, an zweiter Stelle zu stehen, hinter der Schwester? Dazu muss man wissen, dass im Jahr vor der Magersucht zwischen Marie und mir einiges schiefgelaufen war. Ich hatte zu dieser Zeit mit beiden Mädchen heftige Auseinandersetzungen, die ich unter dem Stichwort Pubertät verbuchte. Die Mädchen haben mir ganz schön zugesetzt. Ich war so ziemlich das Letzte für sie – viele Mütter mit pubertierenden Töchtern werden wissen, wovon ich spreche. Es ist die Ablösung von der Mutter, die schmerzhaft verläuft – vor allem für die Mutter. Mit Marie war es besonders heftig. Sie hatte überhaupt keinen Sinn mehr für Familienmitglieder. Sie »hasste« es, im Nachhinein über Dinge noch einmal zu sprechen, Missverständnisse auszuräumen oder etwas vom Gesagten zurückzunehmen: Sie wollte grundsätzlich nichts mehr davon hören, den Streit sollte es am besten nie gegeben haben. In dieser Beziehung war sie ganz anders als ich, ich mag es, Dinge noch einmal durchzusprechen und innerlich für Ordnung zu sorgen. Manchmal war mir meine eigene Tochter in dieser Zeit fremd.
Eltern haben es bekanntlich nicht leicht, wenn ihre Kinder in der Pubertät sind. Im Gehirn der Jugendlichen fallen täglich 30 000 Synapsen aus, das soziale Empfinden ist um 20 Prozent reduziert, Pickel sprießen, Gefühle explodieren oder zeigen sich kaum noch. Suchterkrankungen, aber auch Essstörungen und Magersucht haben in dieser Zeit ein leichtes Spiel – wenn weitere ungünstige Faktoren hinzukommen. Meine Yogalehrerin, eine bewunderungswürdige Frau, tröstete mich, nachdem ich ihr von den Zwillingen erzählt hatte: »Ach, mein Sohn ist jetzt Mitte 20, und allmählich, wirklich allmählich, ist es wieder möglich, mit ihm zu sprechen.« Wann merkt man, dass etwas Fundamentales mit dem eigenen Kind nicht stimmt? Wenn es nicht mehr mit einem spricht? Wenn es sich in seinem Zimmer verbarrikadiert? Wenn es unzufrieden ist und an allem etwas auszusetzen hat?
Die Abschottung von der Familie ist während der Pubertät kein seltener Vorgang. Hätte ich Maries Rückzug als Anzeichen für größere psychische Probleme wahrnehmen müssen? Nicht unbedingt, aber das Eruptive ihres Verhaltens, die Grenzverletzungen wahrscheinlich schon. Während der Magersucht habe ich mir vorgeworfen, dass ich nicht schon damals professionellen Beistand gesucht hatte. Jetzt fällt mir ein: Ganz untätig war ich nicht. Ich bat meine Freundin Frauke um Hilfe. Die Patentante von Anna und Vertraute von beiden Mädchen hat einmal ein Wochenende mit ihnen verbracht und »ganz nebenbei« nachgefragt, wie es denn der Mama so gehe. Sie hat versucht, bei meinen Töchtern Verständnis für mich zu wecken. Außerdem war ich mit Anna und Marie in der schlimmsten Phase der Pubertät (wie ich damals naiv dachte) in der Erziehungsberatung. Dort konnten die beiden sich ordentlich über mich beschweren, es ging überwiegend um Dinge wie spät heimkommen, lang fernsehen, Klavier üben und andere lästige Bevormundungen durch die Mutter. Zum Beispiel, ob man mit 14 auf ein Popkonzert darf (die Zwillinge sowie die Psychologin waren dafür) oder eben noch nicht (meine Meinung). Die Psychologin – »meine« Rosa, von der noch die Rede sein wird – fragte dann nach Positivem, was denn nett sei an der Mama, was sie für die Mädchen tun würde. Da fiel ihnen Gott sei Dank schon etwas ein. Der Clou kam zum Schluss: »Ihr habt jetzt aufgezählt, was eure Mutter für euch tut. Was tut ihr eigentlich für eure Mutter?« Da war natürlich Schweigen im Wald. Danach waren wir drei noch Kaffee trinken, und es stand für Anna und Marie außer Frage, dass man diese Psycho-Frau vollkommen vergessen könnte. Nein, so bescheuerte Fragen hatten sich die Mädchen schon lange nicht mehr anhören müssen! Doch die Gespräche mit Frauke und der Psychologin haben etwas in Gang gesetzt. Jedenfalls war danach das Leben mit den Zwillingen einfacher. Ich weiß noch genau, wie ich meiner Nachbarin stolz berichtete, dass nun das Schlimmste vorbei sei mit der Pubertät. Sie, immer vernünftig und (leider) meist im Recht, entgegnete nur: »Warte es ab.« Die richtige Krise folgte mit gebührendem Abstand im Jahr darauf und dauerte länger als ein Jahr.
Marie nahm weiter ab. Kontinuierlich und trotz aller Beteuerungen, jetzt sei aber Schluss mit der Diät. Viele Gespräche gestalteten sich nach folgendem Muster: »Du hast wieder ein Kilo abgenommen, Marie. Warum? Du hast doch Papa und mir gesagt, dass dir dein vorheriges Gewicht gefallen würde?« – »Ja, aber dieses eine Kilo war halt noch zu viel. Dafür ist jetzt endgültig Schluss, versprochen!« – »Marie, jetzt bist du noch weiter gefallen im Gewicht! Dabei wolltest du doch Ostern aufhören mit dem Fasten?« – »Wieso abgenommen? Ich hasse es, ständig von dir kontrolliert zu werden. Ich wiege so viel, wie ich will, und nicht so viel, wie du es dir einbildest.« – »Marie, iss doch bitte dein Brot auf!« – »Iss doch selber dein Brot auf, du isst ja auch nichts! Lass mich endlich in Ruhe.« Ich sollte sie ungestört fasten lassen. Das war natürlich keine Option für mich und meine Sorgen. Heute weiß ich, dass die Gespräche während des Essens kontraproduktiv waren. Sie wurde immer aggressiver, ich immer verzweifelter. Viel besser war es, sie in losgelösten Situationen anzusprechen. Da konnte sie dann zugeben, dass ihr das eigene Verhalten auch Sorgen machte. Sie wollte tatsächlich nicht noch dünner werden, das glaubte ich ihr aufs Wort. »Ich bleibe jetzt bei dem Gewicht, mir geht es gut so, Mama.« Doch die Abstände zwischen den Beschwichtigungen des Kindes wurden immer kürzer und das Kind selbst immer weniger.
Ich habe nicht lockergelassen in der Zeit zwischen Fasching und Ostern. Während mein Kind immer dünner wurde – sie verlor in 15 Wochen 15 Kilo –, habe ich mich informiert, einschlägige Bücher gelesen, mit anderen Müttern gesprochen, meine Therapeutin von der Erziehungsberatung aufgesucht, mich nach Anlaufstellen für Essgestörte erkundigt, im Internet gesurft. Eine echte Erste Hilfe für mich war Herr Thomas Ganser von der Caritas-Ambulanz für Essstörungen. Er erklärte mir ruhig und ziemlich gelassen, was nun zu tun sei. Von elterlicher Seite nicht viel, muss man sagen. Es ginge vor allem darum, Marie regelmäßig zu wiegen, am besten wöchentlich und unter ärztlicher Aufsicht. Unterschreite sie ein bestimmtes Gewicht, so solle man mit ihr vereinbaren, dass nun eine ambulante Therapie vonnöten sei. Würde dieses Gewicht um ein weiteres Maß unterschritten, sei eine Einweisung in die Klinik nötig. Das müsse man der Tochter klarmachen. Nun ja, dazu wird es wohl kaum kommen, dachte ich, Klinik, undenkbar! So weit sind wir ja nun auch nicht, dass wir dieses Problem nicht auch zu Hause lösen könnten. Die Idee mit dem regelmäßigen Wiegen fand ich gut und vereinbarte gleich mit unserem Hausarzt, dass Marie dort wöchentlich zur Gewichtskontrolle erscheinen sollte. Ich erkannte gleich, dass diese Maßnahme vor allem eine Entlastung für uns Eltern darstellte. Außerdem würde der Doktor bestimmt die Gelegenheit nützen, einmal aus ärztlicher Sicht mit Marie über ihren Gewichtsverlust zu reden.
Ich fand Herrn Ganser und seine Vorschläge gut – und vereinbarte gleich nach Ostern einen gemeinsamen Termin mit Marie bei ihm. Sie ließ sich zwar beraten, war auch mit einer Therapie einverstanden, aber nur, wenn es sich um eine Therapeutin handelte. Einem Mann würde sie ungern etwas von sich erzählen. Das musste freilich akzeptiert werden. Gemeinsam mit Herrn Ganser legten wir noch die Gewichtsdaten fest: Therapie war jetzt schon nötig, da sie nur noch 46 Kilo auf der Caritas-Waage wog. Unter 44 Kilo aber sei bereits eine Vorstellung in der Klinik angemessen. Dazu würde es nie und nimmer kommen, meinte Marie, denn bei den 46 Kilo wolle sie endgültig und ein für alle Mal bleiben. VERSPROCHEN!
Gleich in der nächsten Woche zeigte die Waage des Hausarztes ein Kilo weniger an. Das konnte freilich nur an der »uralten Schrottwaage aus dem vorletzten Jahrhundert« liegen, schimpfte Marie und bestand auf ihrem Gewicht von 46 Kilo. Sie fand ihr Gewicht perfekt – und entsprach damit den heutigen Idealen, lebensfeindliche Ideale, wenn man die Sache genau betrachtet.
In der Pubertät hatten Anna und Marie kleine Rundungen bekommen. Und einen Heißhunger! Als sie sich darüber beklagten, erinnerte ich sie daran, dass das in der Entwicklung zur Frau ganz normal sei. Auch bei mir sei das so gewesen, dass ich in dem Alter etwas zugelegt hätte. Dick sei ich aber nicht gewesen und sie seien es beileibe auch nicht. Mit 19 war der Babyspeck dann wieder weg bei mir. Das war für sie natürlich Lichtjahre zu spät. Mit 19 ist man ja fast schon tot! Als junges Mädchen ging es mir phasenweise auch nicht besonders gut, wie man sich ja überhaupt in dem Alter selten toll fühlt, ist ja auch alles schwierig mit der Selbstfindung und der Loslösung vom Elternhaus. Aber der Druck von außen, dieses Schlanksein um jeden Preis, der erschwert die natürliche Entwicklung erheblich. Was umgekehrt übrigens ebenso gilt: Die Reaktionen des sozialen Umfeldes begünstigen die Magersucht zunächst. Jedenfalls war das bei uns der Fall. »Wie hast du das geschafft, Marie?«, wurde unsere Tochter bewundernd von ihren Freundinnen gefragt. Da war sie schon sehr dünn und hatte ihre Tage nicht mehr. »Willkommen im Club«, hatte ich beide Mädchen beglückwünscht, als sie mir von ihrer ersten Menstruation erzählten. Nie hätte ich damit gerechnet, dass Marie lieber auf ihre vollständige Weiblichkeit verzichtet, als eine kleine Speckrolle um die Hüfte in Kauf zu nehmen. Und mit Weiblichkeit meine ich ausdrücklich auch Fruchtbarkeit und die Lebensfreude, die ein eigenes Kind bedeutet. Aber, ach, für Babys interessiert man sich in dem Alter nun wirklich überhaupt nicht! Weswegen auch mein Hinweis auf den »Tage-Mangel« in der Luft verpuffte: Ist doch cool, keine Tage mehr, war sowieso nervig mit den Tampons und allem.
Heute frage ich mich: Hätten wir Germanys next Topmodel und tutti quanti verbieten sollen? Beim Gedanken an diesen verlogenen TV-Glamour, der unter der glatten Oberfläche die Destruktivität »modelhafter« Rollenvorbilder nur mühsam verbirgt, wird mir schlecht. Helene Hegemann, Jahrgang 1992, schrieb im Januar 2010 in der Süddeutschen Zeitung über die Sendung: »Dort geht es um die Erziehung von kleinen Model-Heiligen, die gelernt haben, dass das Überleben davon abhängt, begehrt und schön zu sein und sich auch so selbst zu sehen. Sie sind perfekte Dienstleister. Sie sind motiviert und ehrgeizig genug, jedes Klischee zu erfüllen. Sie laufen die vorgeschriebenen Erfahrungen ab, sie produzieren eine eindimensionale Kultur, die nur eins bringt: Stillstand. Tod.« – Wie kann man seine Kinder vor dem geistigen Müll bewahren? Ich hatte geglaubt, das eigene Vorbild würde genügen, mit 13, 14 Jahren wären sie dann selbstbewusst genug, um zu sich selbst zu stehen. Was für ein Irrtum. Jetzt weiß ich, was für ein gigantischer Umbruch die Pubertät doch ist. Aus fröhlichen, selbstbewussten Kindern werden schlecht gelaunte Jugendliche, die an sich selbst zweifeln und alles blöd finden. Beim Blick in den Spiegel hat der Sohn einer Freundin immer gesagt: Ich sehe wieder voll scheiße aus heute. Sie sind mit sich selbst und anderen gnadenlos. Zum Beispiel mit ihren Müttern. (Eine andere Freundin wurde einmal in der Früh von ihrem Sohn mit folgenden Worten begrüßt: Was ist denn mit dir passiert heute Nacht, Mama?) Gnadenlos, auch zu ihren Freunden. Gut auszusehen ist heute viel wichtiger, als es zu unserer Zeit war. Die angesagten Leute wissen genau, »was geht« und »was gar nicht geht«. Gar nicht gehen zum Beispiel Haare an den weiblichen Beinen, weswegen eine Klassenkameradin von Marie monatelang gehänselt wurde. Übergewicht geht überhaupt gar nicht.
Das Gewichtsthema ist heikel in der Pubertät, da hatte Marion absolut recht. Mit Sicherheit wäre ich viel behutsamer gewesen, wenn ich damals schon gewusst hätte, welche Ausmaße das Dünnsein bei uns annehmen würde. Natürlich habe ich den Mädchen bei jedem Jammeranfall ob ihres Aussehens den Spiegel vorgehalten und gesagt: »Ihr seht beide absolut klasse aus! Ihr könnt euch jeden Tag beim lieben Gott bedanken, dass ihr so hübsch und gesund seid!« Allerdings habe ich schon auch an mich selbst denken müssen und meine eigenen Rundungen mit 15 Jahren: Glücklich war ich damals damit auch nicht, zumal es echte Rundungen waren, nicht nur Ansätze wie bei unseren Mädchen. Aber das Runde war Teil der weiblichen Entwicklung – und wurde von nahestehenden jungen Männern eher bestätigt als bemängelt. Das scheint heute tatsächlich anders zu sein. Rundungen sind grundsätzlich schlecht, ja es gibt nicht einmal ein akzeptiertes Wort dafür, so tabu ist jegliche Kurve.
Im Frühjahr hatten also schon beide Mädchen ihre Tage nicht mehr. Das heißt, die Menstruation setzte schon aus, als Marie noch etwa 50 Kilo wog. Das ist bei einer Größe von 1,61 m eigentlich okay. Nun zählt aber das Ausbleiben der Menstruation in der ärztlichen Diagnostik zu den stichfesten Anhaltspunkten in Sachen Magersucht. Das Phänomen heißt Amenorrhö – und schließt eine ganze Heerschar gesundheitlicher Folgen ein, vorneweg den Mangel an weiblichen Hormonen, am Ende Knochenschäden im späteren Alter, Verwachsungen, Unfruchtbarkeit. Rasche Gewichtsabnahme plus Amenorrhö – mir war schon klar, dass bei Marie Gefahr im Verzug war. Dennoch hielt ich mich mit Vorträgen über die gesundheitlichen Konsequenzen zurück. Aber in meinem Kopf ratterten die Argumente gegen das Hungern: Die Organe wachsen noch in dem Alter, die Gebärmutter bildet sich aus, ganz zu schweigen vom Gehirn, dessen Umbauprozess während der Pubertät gewaltig ist … Ich wünschte mir jemanden, der den Kindern diese Zusammenhänge deutlich machte. Wir brauchten jetzt dringend Dritte, das war mir klar. Denn von Außenstehenden wird Kritik und Rat ja viel leichter angenommen als von den eigenen Alten. Aber auch das nur, wenn das Kind innerlich dazu bereit ist. Ach, all die Ratschläge, die man so gerne erteilt, all das Wissen, das man weitergeben möchte an die Kinder – es verpufft, wenn es niemand hören will.
Erste Anzeichen und Alarmsignale ist dieses Kapitel überschrieben. Einige klassische Anzeichen wurden auch schon genannt: Die Diät als klassischer Einstieg in die Essstörung. Der rapide Gewichtsverlust. Die Amenorrhö. Das Unglücklichsein. Eine Lebenskrise der Tochter, über deren Ausmaß sich die Eltern nicht bewusst waren. Schlimm die Vermutung: Wer die Magersucht in sein Leben lässt, glaubt keinen anderen Ausweg zu haben. Niemanden, mit dem sich das tief empfundene Leid teilen ließe. Hatte Marie zu der Zeit wirklich niemanden, dem sie sich hätte anvertrauen können? Anna und Marie besuchten zwei verschiedene Klassen desselben Gymnasiums und hatten daher auch unterschiedliche Freundinnen. Die für junge Mädchen entscheidende »beste Freundin« war aber bislang noch nicht aufgetaucht. Vor allem Anna äußerte manchmal, dass sie eine wirklich gute Freundin vermissen würde. Ich pflegte dann auf die Schwester zu verweisen. »Das ist doch etwas ganz anderes, Mama«, meinte Anna dann. Und hatte recht.
Als Kinder hatten sich Anna und Marie ihre Freundinnen immer geteilt. Die jeweiligen Mädchen waren dazu grundsätzlich imstande, es handelte sich beide Male um starke kleine Persönlichkeiten. Die erste Freundin war dann leider weggezogen, die zweite zog sich zurück, als sie aufs Gymnasium wechselte und sich der Altersunterschied zwischen den dreien bemerkbar machte. Das war nicht leicht für unsere Mädchen, weil sich plötzlich eine Lücke auftat. Eine weitere Freundin aus Kindertagen wurde erst später, mit der Magersucht, die sie bewundernswürdig begleitete, wiederentdeckt. Tja, der richtige Mensch zur richtigen Zeit – bei Anna und Marie hat er sich nicht eingestellt. Dennoch kann man die Magersucht, die sich später in ihr Leben schlich, nicht als Freundinnenersatz bezeichnen. Erst einmal ist die Magersucht natürlich nie eine Freundin, sondern immer nur eine Feindin, sie gibt nur vor, dir gutzutun, schädigt dich aber immens. Das Bild von der Magersucht als Vertrauter, so wie es manchmal in der Literatur beschrieben wird, finde ich nicht glücklich, besser passen würde das Bild der Trophäe oder des Siegerpokals. Beide sind kalt. Die Magersucht spiegelt in diesem Bild den persönlichen Triumph einer gekränkten Seele.
Manche Anzeichen für die Essstörung sind messbar, andere nur spürbar. Das Leiden an sich selbst, die Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper, das Gefühl, von niemandem wirklich verstanden zu werden: Das sind typische Merkmale der Pubertät, nicht nur der Magersucht. Dieser Empfindlichkeit und, ja auch, Verletzlichkeit von jungen Mädchen steht eine Gesellschaft gegenüber, die Menschen überwiegend nach äußeren Kriterien beurteilt: Du bist, was du hast und wie du ausschaust. Auch das ist kalt. »Das Gemüt ist ausschlaggebend«, hat Hanns Dieter Hüsch gesagt, der Kabarettist vom Niederrhein, dessen Menschlichkeit ich bis heute verehre. Seine Gemütswahrheit gilt für die Schönen wie für die Hässlichen – und für die überwiegende Mehrheit, die beides ist: schön und hässlich. Je nachdem, wie du dich fühlst und wer dich anschaut. Doch wer fühlt sich heute noch für die Ausbildung des Herzens zuständig?
»Eine Frau kann nicht dünn genug sein.« Dieser unendlich dumme Satz ist in der Anfangszeit der Magersucht bei uns gefallen. Von wem stammte er bloß? Ich weiß es nicht mehr, und es ist eigentlich auch egal. Weil er von jedem stammen könnte: von irgendeinem ignoranten Designer oder einer Hollywood-Diva, von einem Freund oder einer Freundin Maries oder Annas, von Marie oder Anna selbst. Der Satz ist Gesetz, normal der weibliche Wunsch, möglichst dünn zu sein – die mütterliche Sorge hingegen ist gestört. »Ich habe doch ein Knäckebrot gegessen heute Abend«, beschied mich Marie einmal, als ich das mangelhafte Abendessen monierte. »Ich weiß gar nicht, was du immer hast, Mama!« Klar, die Mutter spinnt, und das Kind is(s)t in Ordnung.
Übrigens sind es nicht nur die Mädchen unter sich, die am Wettkampf ums Schönsein teilnehmen. Es sind auch die Jungs. Ihnen entgeht nichts, vor allem kein Gramm Fett zu viel. Natürlich meinen sie es nicht so (und würden in Wirklichkeit jedes zusätzliche Gramm Weiblichkeit in ihrem Leben begrüßen, nehme ich an). Magersucht unter Jungen ist selten. Es gibt aber eine Theorie, die exzessives Muskeltraining bei Jungen im Sinne der Magersucht deutet. Der Äußerlichkeitswahn macht vor niemandem halt.
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