Jana Herbst

Irgendwas mit Liebe

Roman

Knaur e-books

Inhaltsübersicht

Über Jana Herbst

Jana Herbst ist das Pseudonym von Claudia Giesdorf, die 1982 in Rheinland-Pfalz geboren wurde. Eine ihrer schönsten Kindheitserinnerungen ist das Klackern der Schreibmaschine, wenn ihr Opa etwas darauf geschrieben hat. Stundenlang stand sie vor dem Gerät, tippte wahllos auf Buchstaben und stellte sich vor, Schriftstellerin zu sein. Seit über zwanzig Jahren lebt sie nun in Berlin, mittlerweile mit Mann und Tochter, nach deren Geburt sie beschlossen hat, noch einmal zu studieren. Nun schließt sie bald ihr Studium der Klassischen Archäologie ab und weiß ziemlich genau, was sie schreiben soll, wenn eine Tastatur vor ihr steht.

Impressum

© 2017 der E-Book-Ausgabe feelings – emotional eBooks

Ein Imprint der Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München.

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

Redaktion: Ulla Mothes

Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München

Coverabbildung: © FinePic®, München

ISBN 978-3-426-44507-5

 

 

 

Für meine Omas,

weil euer Licht nicht aufhört zu strahlen.

Kapitel 1

Natürlich konnte man es auch so machen.

Der Vorschlag war nicht falsch.

Eher wie die Idee, zu Fuß den Eiffelturm zu erklimmen.

Oder einen Nacktmullenstreichelzoo zu eröffnen.

Oder Turnschuhe zu tragen.

Das waren alles legitime und gleichzeitig völlig idiotische Vorschläge. Luisa klemmte ihr Handy fester zwischen Kopf und Schulter, denn mit Earplugs sah sie aus, als würde ihr der Temporallappen aus dem Ohr sickern.

»Karl, dir ist hoffentlich klar, dass eine Änderung der Verhandlungsstrategie kurz vor Prozessbeginn so aussehen würde, als wäre ich froh, wenn mein Mandant für ein paar Jahre ins Gefängnis geht. Wie würde sich das auf unseren Ruf auswirken?«, gab sie zu bedenken. Speziell auf ihren Ruf. Zumal ihr der Freispruch sicher war, es gab also gar keinen Grund, auf den Vorschlag ihres Chefs einzugehen.

Mit der rechten Hand fischte sie in der Jackentasche ihres beigen Trenchcoats nach dem Schlüssel zum Haus der Kanzlei und versuchte gleichzeitig keinen Tropfen ihres Kaffees zu verkleckern, der sich in der linken Hand befand. Die wenigsten Mandanten/Staatsanwälte/Richter würden ihr verständnisvoll den Rücken tätscheln, wenn sie ihr Strafgesetzbuch als Kopfkissen zweckentfremdete. Aber ohne ihren Vanilla Latte mit extra Espresso würde genau das geschehen, vor allem wegen dieses Falls. Er war wie ein garstiges Wollknäuel, dessen Enden immer wieder wegrutschten. Aber Luisa hatte ihn gepackt und entwirrt. Stundenlang. Tagelang. Und jetzt bekam ihr Chef einen feuchten Schlüpfer. Jetzt. Nicht mit ihr.

Karl Meyer, Gründer einer der renommiertesten Strafrechtskanzleien Berlins, gehörte zum alten Schlag. Seine Meinung von Richtern und deren Integrität war unantastbar, er verhielt sich respekt- und würdevoll. Gleichzeitig umgab ihn ein Hauch Aristokratie, der dafür sorgte, dass ihn niemand für unterwürfig halten würde. Mit vielen Richtern war er eng verbunden, und eine Großzahl seiner Fälle handhabte er über Nebenabsprachen, am liebsten in exquisiten Restaurants. Diese Vorgehensweise konnte sie sich als junge Anwältin – okay, als Anwältin Ende dreißig – nicht leisten, ihren Ruf musste sie sich erst noch erarbeiten. Vor allem aber musste sie Vorsicht walten lassen, weil sie eine Frau war. Weil sowohl ihre Brüste als auch ihr Uterus ein Zeichen von Emotionalität, Harmoniebedürftigkeit und weiblicher Nachsicht waren. Wirkte sie zu weiblich, zu sanft, könnte sie während der nächsten Verhandlung auch gleich mit dem Richter über ihren Menstruationszyklus diskutieren. Verhielt sie sich zu dominant, zu aggressiv und zu kühl, würde man sie so ernst nehmen, als tanzte sie in einem Clownskostüm ihren Namen und das Schlussplädoyer.

»Karl, hör zu, was ich versuche dir zu sagen, ist –«

Jemand riss an ihrer Handtasche und rammte sie gleichzeitig gegen die Tür. Ihr Verstand begriff schneller als ihr Körper, dass sie überfallen wurde. Denn er analysierte tagtäglich solche Situationen mit Kalkül. Im nächsten Augenblick rauschte das Adrenalin durch sie hindurch und befahl ihr, zu rennen, sich zu wehren, zu handeln. Ihre Muskeln spannten sich an, ihr Herz polterte so fest, dass es in jeder Zelle nachhallte. Hitze durchströmte ihr Innerstes, während sich ein Mantel der Kälte über sie legte.

»Gib mir die Handtasche«, zischte ihr eine tiefe, raue Stimme ins Ohr.

Luisa hob leicht den Kopf, um den Druck auf ihr Handy und gleichzeitig den Riemen der Tasche zu lösen, doch ihr Angreifer schien sie falsch zu verstehen.

»Nicht bewegen«, grollte er, und da spürte Luisa es.

Ein Messer. An ihrer Hüfte. Sofort hielt sie inne. Sie atmete schneller, ein feines Rauschen ertönte in ihrem Ohr. Sie versuchte sich umzudrehen und fühlte einen dumpfen, schmerzlosen Stich, als befände sie sich außerhalb ihres Körpers. Vorsichtig atmete Luisa ein.

»Ich brauche eine freie Hand, dann gebe ich Ihnen meine Tasche«, sagte sie leise.

Er wich zurück, riss ihr den Kaffeebecher aus der Hand und warf ihn auf den Gehweg, wo er platschend landete. Das Geräusch erschien ihr in der morgendlichen Stille ohrenbetäubend. Das musste doch jemand hören. Fenster müssten aufgerissen werden, wütende Protestschreie erklingen, weil sie ausgeraubt wurde. Aber die Seitenstraße des Ku’damms lag weiter still da.

Mit ihrer nun freien linken Hand griff sie ihr Handy und ignorierte dabei Karls Rufe. Luisa würde zu gern ihrem Angreifer in die Augen sehen. Nach Reue in seinem Blick suchen, nach Bösartigkeit, nach irgendeiner Emotion, die ihr zeigte, dass er überhaupt etwas dabei empfand, wenn er sich etwas nahm, das ihm nicht gehörte. Wut flammte in ihr auf. Er hatte sie völlig im Griff, denn sie war eingekeilt zwischen ihm und der Eingangstür, die rechte Hand immer noch in der Tasche ihres Mantels. Ihr Blick streifte über den leeren Eingangsbereich, den sie verschwommen hinter den milchigen Fenstern der hohen Altbautür erkannte. Leer. Verdammt. Jedes noch so kleine Quäntchen Glück hatte sie an diesem Morgen verlassen. Wie eine Flutwelle überdeckte unbändiger Trotz die Angst. Nicht mit ihr. Nein. Sie würde es einfach nicht zulassen, dass sie überfallen wurde. Sie drückte sich von der Tür weg und riss die Hand aus der Jackentasche. Der Schlüsselbund fiel klirrend zu Boden, blitzschnell wechselte sie das Handy in die rechte Hand, wirbelte herum und holte aus, um es ihrem Angreifer über den Schädel zu ziehen. Ihre Bewegung wurde jedoch von dem Moment absoluten Schocks gebremst, als sie ihn sah.

Den Täter.

Das Böse.

Er trug einen dunkelblauen Pullover, dessen Kapuze er tief in die Stirn gezogen hatte. Als wären die dunklen Schatten auf dem Gesicht nicht schon genug, hatte er sich ein schwarzes Bandana vor Mund und Nase gebunden.

Er presste ihr ein Messer an den Körper.

Er hatte sich vermummt.

Er meinte es wirklich ernst.

Ihr Leben besaß für ihn keinerlei Wert.

Sie hatte gehofft, dass die Angst verschwinden würde, wenn sie sehen würde, dass er auch nur ein Mensch war, jemand, der einem spontanen kriminellen Impuls folgte. Durch seine Tarnung jedoch verschwand alles Menschliche, und die Abstraktion, die zurückblieb, war wie ein Schlag in die Magengegend.

Die Unfähigkeit, sich zu bewegen, half dem Mann, ihren Angriff abzuwehren. Oder es lag daran, dass er offensichtlich professionell Frauen überfiel und ihre Erfahrungen bei der körperlichen Täterabwehr begrenzt waren. Weil sie bei dem Selbstverteidigungskurs, den sie für die Angestellten der Kanzlei organisiert hatte, wegen einer dringenden Telefonkonferenz nicht da gewesen war.

Er packte ihre Hand mit seiner linken und drückte zu. Es knackte und knirschte in ihrem Gelenk. Wellen des Schmerzes schossen ihr bis in den kleinen Zeh. Bestimmt würde bald der erste Knochen brechen, aber sie ließ ihr Handy nicht los, denn alles, was sie nun sagen würde, würde auch Karl hören.

»Lassen Sie mich los! Sie können mich doch nicht einfach vor der Tür meiner Kanzlei überfallen«, rief sie daher laut.

Der Blick des Mannes zuckte zum Display. Er fluchte leise und donnerte ihre Hand gegen die Scheibe der Tür. Luisa ließ los und hörte, wie ihr Handy scheppernd auf eine Steinplatte krachte. Sie war wie paralysiert. Wie die Maus, die in den Schlund der Schlange blickte, durch das Gift unfähig, sich zu bewegen. Der Mann schob das Messer in den Bund seiner Jeans und ließ seine rechte Hand langsam über ihren Körper wandern. Luisa versuchte zu schlucken, aber die Zunge blieb am Gaumen kleben.

Oh Gott. Oh Gott.

Er wollte doch nur die Handtasche, oder? Eine Kaskade aus Bildern, Zeugenberichten, Tatortfotos lief in ihren Gedanken ab. Sie, Luisa Elmas, würde heute, Anfang Oktober, mit ihren siebenunddreißig Jahren ein Opfer werden. Ein Arzt würde sie untersuchen, ein Gerichtsmediziner die Spuren an ihrem Körper aufnehmen und zur Forensik schicken, die Polizei ihre Aussage aufnehmen. Und das alles nur, wenn sie überlebte. Wie leicht es für ihn wäre, das Messer zu ziehen und zuzustechen.

In diesem Augenblick hasste sie sich selbst mehr als den Angreifer. Weil sie schwach war und nichts tat, weil sie nicht wusste, wie sie sich zur Wehr setzen sollte. Sogar ein Tritt in die Weichteile war unmöglich. Ihr knielanger Rock war zu eng. Ein Finger seiner Hand fuhr über ihre Brust und Luisa wappnete sich. Nichts von dem, was ihrem Körper gleich widerfahren würde, würde sie in ihren Geist lassen. Er presste seine flache Hand auf ihre Brust und drückte zu. Luisa sah ihm fest in die Augen. Die Lust in seinen war nicht zu übersehen. All ihren Hass, ihre Wut und ihre Empörung legte sie in diesen einen Blick, denn alles war besser, als Schwäche zu offenbaren. Um seine Augen bildeten sich Lachfältchen, und Luisas Magen krampfte. Arschloch. Er löste seine Hand, hakte seinen Finger unter den Riemen ihrer Handtasche und zog daran. Ohne Probleme glitt die Tasche an ihrem Arm hinab, und der Mann war verschwunden.

Luisa blinzelte.

Atmete aus. Blinzelte.

Ihr Körper und ihr Geist fühlten sich träge an, vernebelt, starr. Sie umklammerte den Türgriff, um sich zu stützen und der Dunkelheit in ihrem Kopf nicht noch mehr Raum zu geben. Langsam, aber stetig drängten sich die Sirenen und die Blaulichter der eintreffenden Streifenwagen durch den Dunst ihrer Gedanken und Luisa wusste, dass sie sich zusammenreißen musste. Sie war Anwältin. Hin und wieder war sie auf Polizisten angewiesen, und da sie Strafverteidigerin war, war sie so beliebt wie Diäten im Frühling. Jetzt zu zittern oder sogar – Gott behüte – zu weinen war indiskutabel. Ihr Ansehen und ihre Glaubwürdigkeit standen auf dem Spiel.

Sie schloss kurz die Lider, atmete tief durch und tastete im Augenwinkel nach Tränenflüssigkeit. Nur weil sie nicht vorhatte zu weinen, bedeutete dies nicht, dass ihr Körper diesen Plan ernst nahm.

Sie straffte die Schultern und ging auf den erstbesten Polizisten zu, ohne zu wanken, obwohl es sich anfühlte, als hätte der Angreifer nicht nur ihre Handtasche, sondern auch alle Knochen ihres Körpers mitgenommen. Die Absätze ihrer Stilettos kamen ihr so stabil vor wie Essstäbchen.

»Er ist in diese Richtung gerannt. Geschätzte Größe eins achtzig, Bluejeans, graue Turnschuhe, dunkelblauer Hoodie, sein Gesicht war mit einem Tuch vermummt.« Ihre Stimme brach und sie räusperte sich. »Aber das hat er sich vermutlich schon weggerissen.«

Der Polizist stieg mit seinem Kollegen wieder in den Streifenwagen und fuhr in die Richtung, die sie ihm gezeigt hatte. Luisa hoffte, dass sie ihn fanden, denn dann würde sie ihn anzeigen und vor Gericht zerren und ihm dermaßen Feuer unterm Hintern machen, dass er freiwillig durch die sieben Kreise der Hölle tanzen würde, um ihrer Rache zu entgehen.

Er hatte sie überfallen.

Sie begrapscht.

Gedemütigt.

Und er hatte verdammt noch mal ihre brandneue Handtasche geklaut.

Es war eine Fendi und sie hatte weit über tausend Euro dafür ausgegeben. Das würde sie aber nicht sagen, denn sonst würde es so aussehen, als würde sie sich nur um ihre Handtasche sorgen. Und das stimmte nicht. Na ja, nicht ganz. Zu einem gewissen Prozentsatz schon. Hey, sie war eine Frau, und es ging um ihre Handtasche.

Ein ziviler Einsatzwagen mit Blaulicht hielt in der Einfahrt neben ihr. Die Kripo. Karl hatte beim Absetzen des Notrufs unter Garantie den Polizeipräsidenten, den Chef des FBIs und des MI6 persönlich angefordert. Luisa wappnete sich und lächelte den Beamten zu, um ihre Aussage zu Protokoll zu geben, denn so sehr sie es auch hasste, sie war das Opfer. Sie stand auf der anderen Seite. Das erste und sicherlich auch das letzte Mal in ihrem Leben.

»Du solltest dein Handgelenk röntgen lassen«, sagte Karl und zog sie zur Fensterfront ihres Büros. Er hielt ihren Arm gegen das Licht des trüben Herbsttages, um den Bluterguss besser studieren zu können. Als könnte er durch ihre Haut hindurchblicken. Sie wand sich aus seinem Griff, was höllisch wehtat. Das würde sie allerdings nicht zugeben, auch wenn deswegen alle Starbucks-Filialen in einem Umkreis von fünfzig Kilometern schließen würden. Sie seufzte. Was würde sie jetzt alles für einen Vanilla Latte geben … Weniger wegen des Koffeins, vielmehr wegen des künstlichen Vanillearomas, das sanft ihre Seele streicheln würde. Seit fünf Minuten befand sie sich in der Warteschleife, um ihre Bankkarten sperren zu lassen. Das sollte schneller gehen. Wo war sonst der Witz an dieser Hotline? Man sperrte die Karten ja nicht aus Spaß an der Freude, sondern weil sie einem abhandengekommen waren. Wie Luisas, denn die Polizei hatte den Kerl natürlich nicht geschnappt, weil sie selbst völlig inkompetent dagestanden und Löcher in die Luft gestarrt hatte.

Anstatt sich richtig zu wehren.

Anstatt ihm hinterherzurennen.

Okay, das wäre nicht gegangen, die Absätze ihrer Heels waren höher als jedes Gesetzbuch dieser Welt. Aber trotzdem. Sie hätte irgendetwas tun sollen. Und dass sie es nicht getan hatte, nagte an ihr. Enorm. Jetzt musste sie hinnehmen, dass dieser Typ das halbe KaDeWe leer kaufte, während sie dieser nervtötenden Melodie zuhörte.

»Es ist nicht so schlimm«, sagte Luisa zum wiederholten Male.

Sie war mordswütend und von einer flatterhaften Energie erfüllt, die sie ruhelos durchs Büro tigern ließ. Vorbei an dem weißen Sideboard, auf dem weiße Vasen mit pastellfarbenen Rosen neben kleinen Skulpturen standen, vorbei an der weißen Couch und dem niedrigen Glastisch, auf dem sich heute apricotfarbene Rosen in einer goldschimmernden Vase befanden. Selbst ihr maßgefertigter Schreibtisch aus Ahorn, dessen aufgeräumter Anblick sie immer beruhigte, verfehlte seine Wirkung. Sie musste runterkommen, in zwei Stunden stand sie vor Gericht, da konnte sie es sich nicht leisten, wie eine Furie auf Speed auszusehen.

»Bist du dir sicher?«

»Ich bin mir sicher.«

»Aber –«

»Karl, Herrgott, du bist kein Arzt, nur weil du einmal einen vertreten hast.«

Er hielt beide Hände in einer abwehrenden Geste in die Höhe und verzog sein von unzähligen Golfstunden gegerbtes Gesicht. Luisa atmete tief durch.

»Tut mir leid. Und danke, dass du die Polizei angerufen hast.«

»Das ist ja wohl das Mindeste.«

Karl nahm seine Brille ab und knetete die Nasenwurzel. Eine Angewohnheit, die sie schon oft bei ihm beobachtet hatte und die auf einen mäßigen Stresspegel hindeutete. Würde er auf dem Bügel kauen, hätte er die nächste Stufe erreicht. Ganz übel wurde es, wenn er mit der Brille zwischen Daumen und Zeigefinger wedelte.

Die meisten Anwälte hatten eine Angewohnheit. Die Körperhaltung vor Gericht war zumeist kalkuliert und berechnend. Während einer Verhandlung ging es um Beweise, Zeugenaussagen und Gutachten, aber auch um das Erscheinungsbild. Kein Angeklagter wurde verurteilt, weil der Strafverteidiger die Arme vor der Brust kreuzte, aber es gab zumindest in ihrem Büro niemanden, der es darauf anlegen wollte. Nach ihrer Studienzeit hatte Luisa unbewusst Die Merkel gemacht. Als ihr klar wurde, wie das aussah, suchte sie fieberhaft nach etwas, das … nun ja, nicht nach einem Groupie der Bundeskanzlerin aussah. Luisa bevorzugte es mittlerweile, einen schwarz glänzenden Kugelschreiber in der Hand zu halten, um sich Notizen machen zu können, was kompetent und zielgerichtet wirkte und außerdem eine Mach-keinen-Scheiß-ich-schreibe-es-mir-auf-Aura verbreitete. Außerdem beunruhigte es Zeugen, wenn man den Kopf leicht schüttelte und so tat, als notierte man sich das eben Gesagte. Und wenn man nur Blümchen malte. Es ging um die Geste an sich.

Das Gedudel erstarb und eine Frau nuschelte ihr etwas ins Ohr. Dabei schwang so viel Euphorie in ihrer Stimme wie bei studentischen Aushilfskräften einer Crêpe-Bude bei Minusgraden.

»Guten Tag, mein Name ist Luisa Elmas. Ich muss all meine Karten sperren lassen.«

Karl beobachtete sie, seine Stirn in Falten gezogen, sein Körper leicht nach vorn gebeugt. Er war ihr Patron, ihr Vertrauter. Optisch eine Mischung aus Sean Connery und Dumbledore, zwar ohne Bart, aber mit mindestens genauso vielen Falten und Klugscheißersprüchen. Sie sah ihn beinahe physisch vor sich, wie er gemeinsam mit Klienten bei flackerndem Kerzenlicht in ein Becken aus deren Erinnerung sprang, um die Wahrheit zu finden. Seitdem Luisa ihr Studium beendet hatte und die Tinte auf ihrem Arbeitsvertrag getrocknet war, arbeitete sie wie ein Tier von morgens bis abends, sieben Tage die Woche. Denn die fünf Partner der Kanzlei waren ein Jahrgang und würden die Kanzlei an ihren jeweiligen Nachfolger übergeben, den sie zuvor zum Partner ernannt hatten. Mit Aussicht auf einen dieser Posten bearbeitete sie pedantisch die Wirtschaftsfälle. Als kleinen Bonus hatte sie den enormen Vorteil eines türkischstämmigen Großvaters. Ihre Eltern hingegen waren beide in Deutschland geboren, aber dieser kleine südländische Teil der DNA ihrer Mutter reichte aus, um ihr einen großen kulturellen Kreis zu öffnen. Ihr Großvater hatte darauf bestanden, dass sowohl seine Tochter als auch seine Enkelin Türkisch lernten. Die Kanzlei Meyer & Partner war eine renommierte Kanzlei für Strafrecht, in der jeder Anwalt Spezialist auf seinem Gebiet war. Luisas Schwerpunkt war im Wirtschaftsstrafrecht, was bedeutete, dass ihre Mandanten dafür bezahlten, wegen Betrugs, Spionage oder Korruption im Idealfall nicht ins Gefängnis zu gehen. Sie wurde nicht nach dem normalen Satz eines Strafverteidigers bezahlt, sondern erhielt von Fall zu Fall ausgehandelte Honorare. Dies wiederum ermöglichte es ihr, ein bis zwei kleinere Fälle als Pflichtverteidigerin anzunehmen, in denen sie nach Tarif bezahlt wurde. In der Kanzlei arbeitete neben den Partnern und Associates wie sie ein Steuerberater, denn wenn es um Steuerhinterziehung ging, benötigten sie einen Profi. Luisa war die einzige Frau, befand sich also doppelt und dreifach auf dem Prüfstand. Der Ausgang des Kopowski-Falls, dessen Verhandlung nächste Woche begann, würde maßgeblich mit in die Entscheidung fließen. Karriereleiter hoch oder raus.

Karl blickte auf die Uhr und sah sie an. Seine Stirn kräuselte sich, seine Haltung veränderte sich von besorgt zu beunruhigt, und seine Hand war schon einige Male zur Brille gewandert. Wenn sie noch rechtzeitig im Gericht ankommen wollte, musste sie jetzt los. Er drehte sich zum Schreibtisch und kritzelte etwas auf ein Blatt Papier. Während Luisa der verunsicherten Frau am Telefon bestätigte, dass das alles ihre Karten waren, las sie den Zettel.

Soll ich für dich einspringen?

Vehement schüttelte Luisa den Kopf und beendete das Gespräch. Was sie begann, führte sie zu Ende. Sie nahm ihre Aktentasche und streifte sich den Riemen über die Schulter.

»Luisa, ich finde, du solltest … Schon gut. Ich kenne deinen Blick. Dir geht es prima und ich soll mich nicht einmischen.«

Sie grinste. »Du kennst mich zu gut.«

Bevor sie jedoch losmusste, gab es noch etwas zu erledigen. Ihre Karten waren gesperrt, Termine für das Erstellen eines neuen Ausweises und Führerscheins vereinbart. Zeit, sich um das zu kümmern, was bei diesem Überfall wirklich zu Schaden gekommen war. Abgesehen von ihrer Handtasche.

Ihr Ego.

Sie öffnete die Bürotür und blieb vor dem Schreibtisch der Sekretärin stehen. Passend zu Amelies Haarfarbe du jour überfluteten pinke Post-its die Bücher, den Monitor, das Telefon und den Schreibtisch selbst. Luisa hatte keine Ahnung, wie Amelie auch nur ansatzweise in diesem Chaos arbeiten konnte, aber es funktionierte. Vielleicht lag es am Alter, mit Anfang zwanzig sah sie das Licht am Ende ihres chaotischen Tunnels.

»Amelie?«

»Hm?«, antwortete diese und löste ihren Blick vom Monitor. Ein weiteres Amelie-Mysterium. Ihr Schreibtisch würde einen Messie zum Frohlocken bringen, sie sah sich den ganzen Tag über nur Videos an, war aber zu einhundert Prozent zuverlässig. Jede Aufgabe erledigte sie akkurat und in Rekordzeit. Amelies Arbeitsweise war eins der großen Rätsel der Menschheit. Gleich hinter der Bedeutung von Stonehenge.

»Kannst du mir einen Gefallen tun? Privater Natur?«, fragte Luisa mit einem kurzen Seitenblick zu Karl, der daraufhin schulterzuckend verschwand.

»Klar, leg los.«

Ihre Finger, deren Nägel in grellem Pink lackiert waren, huschten über den Schreibtisch, ehe sie einen kleinen Block fanden. Neongrün. Ob diese Farbe für privat stand?

»Ich … also, ich bräuchte …«, begann Luisa und zog den Riemen ihrer Aktentasche unnötigerweise nach oben.

»Tampons?«, fragte Amelie fröhlich. Und laut. Sehr laut.

»Ich … Was?! Nein!«

Klar menstruierte Luisa, aber das würde sicherlich nicht in der Kanzlei thematisiert werden. Hier und vor Gericht war sie so wenig wie möglich weiblich.

»Schwangerschaftstest?«

»Psst, Amelie! Nein, ich würde gern einen Selbstverteidigungskurs belegen.«

»Ah, wegen heute Morgen, was?«

Luisa sah sie lediglich an. Diesem Kind fehlte es komplett an Achtung vor Obrigkeiten und älteren Menschen. Streng genommen vor Menschen generell. Aber sie war die Beste, und Luisa umgab sich gern mit den Besten.

»So einen für Frauen? Bei dem man sich vorher in den Armen liegt, sich liebhat und Kumbaya my Lord singt?«

Oh Gott, nein. Davon hatte Luisa in ihrem Leben mehr als genug gehabt. Für alle Zeiten genug.

»Nein«, sagte sie daher bestimmt. Und schnell. Zu schnell.

Amelie zog eine perfekt nachgemalte Augenbraue in die Höhe. Wenn Luisa sich ebenso würde schminken wollen wie Amelie, müsste sie gegen Mitternacht anfangen. Stattdessen verbrachte Luisa einen Großteil des Morgens damit, sich mit Nude- und Rosétönen so zu schminken, dass niemand sah, dass sie geschminkt war.

»Ich will einen richtigen Kurs. Ich will ernsthaft lernen, wie ich jemandem in den Arsch treten kann, wie ich ihm die Eier –. Egal. Ich will den Besten. Ich will nichts für Mädchen und noch heute Abend anfangen.«

Ja, der Überfall war ihr so gut bekommen wie eine Flasche Rum auf ex. Sie hätte frühestens ab neun Zeit, aber sie musste jetzt handeln.

Amelies Augen weiteten sich, ihre Lippen formten ein stummes Oh. Lag vermutlich daran, dass Luisa für gewöhnlich Dinge von ihr wollte wie: Amelie, bitte such mir das kommentierte Urteil Blablabla gegen Blabla aus der Fachzeitschrift Jura zum Einschlafen raus. Luisa hatte gewissermaßen einen emotionalen Ausbruch, was für sie untypisch war. Ihre Gefühle behielt sie für sich. Zumindest im Büro. Streng genommen auch zu Hause. Eigentlich immer.

Sie strich nicht vorhandene Falten vom Kostüm und nickte Amelie dann zu. Schnellen Schrittes verließ sie das Büro und war froh, dass sie immer etwas zum Wechseln dahatte, denn so würde niemand auf den Riss und den Blutfleck ihres alten Kostüms starren und in ihr das Opfer sehen, das sie partout nicht sein wollte.

Kapitel 2

Amelie sah ihrer Chefin nach. Woah, der Überfall musste krass gewesen sein. Sie hatte Arsch gesagt. In den drei Jahren Ausbildung, die sie bei Meyer & Partner zur Rechtsanwaltsfachangestellten absolviert hatte, und während ihres ersten Arbeitsjahres hatte sie Luisa »Die Knallharte« Elmas noch nie fluchen hören. Wenn sie Luisa in einem Wort beschreiben müsste, würde ihre Wahl auf akkurat fallen. Ihre dunkelbraunen Haare fielen immer in der exakt gleichen Föhnwelle über ihre Schultern, selbst ein Bad-Hair-Day hatte einen Höllenrespekt vor ihr, ihre Outfits waren stets faltenfrei und saßen wie angegossen, ihr dezentes Make-up schimmerte perfekt in ihrem wie aus Stein gemeißelten stoischen Gesicht. Würde Amelie es nicht besser wissen, würde sie denken, Luisa wäre Stammkundin beim Schönheitschirurgen, aber sie zeigte einfach nur keine Gefühle. Amelie hielt nicht viel davon, Emotionen zu unterdrücken. Das waren alles Energiefelder, die sich im Körper einnisteten, und man musste sie schnell wieder loswerden, sonst blockierten sie einen. Amelie hatte einmal ein YouTube-Video über das Thema gesehen. Gut, der Typ, der es aufgenommen hatte, wirkte lebensfremd und sah aus wie Jesus, aber er hatte recht mit dem, was er sagte. Alles, was man in sich hineinfraß, blieb dort und vergiftete den Körper. Man musste die Emotionen transformieren und nach außen transportieren. Nachdem Jesus diese Weisheit von sich gegeben hatte, hatte er kurz innegehalten, geseufzt, um dann mit verträumtem Blick über das Thema Analmassagen zu sprechen.

Vielleicht sollte sie Luisa einen Termin bei diesem Guru buchen. Das würde ihr sicherlich guttun. Mal so richtig durchgevögelt zu werden. Sie wäre dann lockerer, würde mehr aus sich herausgehen. Ihre Energieflüsse wären befreit und gereinigt. Aber an Luisa Elmas’ Höschen zu kommen, würde selbst der Analprofi nicht schaffen. Amelie seufzte und klickte mit einem langen Fingernagel auf die Maus. Der Bildschirm erwachte zum Leben, und sie schlug die Beine übereinander, wobei ihr kurzer Rock noch höher rutschte. Luisa war im Prinzip nicht ihr Problem, aber Amelie mochte sie. Luisa hatte ihr eine Chance gegeben und nicht versucht, sie zu verbiegen.

Sie öffnete den Internetbrowser, ihre Startseite war YouTube. In das Suchfeld tippte sie Selbstverteidigung und besah sich die verschiedenen Channels. Sie scrollte ein paar Minuten, ehe ihr eine Idee kam. Eine kosmisch-galaktische, ultrakrasse Idee. Sie würde Luisa den Besten der Besten raussuchen, keine Frage. Aber ganz nebenbei würde sie jemanden suchen, der gut aussah, hoffentlich Single war und Luisa ein bisschen aus der Reserve locken würde. Aufgeregt klickte sie durch die Channels. Schönlinge, Jünglinge und Poser verwarf sie. Die passten nicht zu Luisa. Sie brauchte jemanden, der ihr ebenbürtig war. Diese jungen Typen würde sie mit ihrem Babyöl übergießen und zum Frühstück verspeisen. Sie suchte jemanden, über den es möglicherweise auch etwas in Foren zu finden gab. Vor allem bezüglich seines Beziehungsstatus. Denn eine Ehefrau konnte sie in ihrem Plan überhaupt nicht gebrauchen.

Sie klickte ein weiteres Profil an und erstarrte.

Perfekt.

Steven »The Asskicker« Lee.

Selbst sie bekam Gänsehaut und einen feuchten Slip beim Anblick dieses dunklen, düsteren Typs. Er redete relativ wenig, was okay war, schließlich sollte er mit Luisa nicht über Gott und die Welt diskutieren. Er sollte sie nur flachlegen, und als er seine Muskeln anspannte, zweifelte Amelie keine Millisekunde daran, dass er genau das konnte. Sie tippte auf Pause und betrachtete ihn genauer. Seine Augen waren fast schwarz und blickten eindringlich in die Kamera. Der markante Kiefer spiegelte Verbissenheit wider, seine dunklen Haare hielt er kurz, nur auf dem Oberkopf waren sie ein wenig länger und sahen aus, als würde er sich ständig mit der Hand hindurchfahren. Als befände er sich in dem konstanten Zustand der Verzweiflung. Sein Kreuz war breit, seine Hüften einen Hauch schmaler, seine Beine kräftig. Seine Muskeln sahen nicht aus wie die eines Bodybuilders, eher ließen sie seinen Körper massig erscheinen. Und kräftig. Und stark. Wahrscheinlich war er so ein Mann, der sich nicht mit endlosem Vorspiel aufhielt, sondern der einen beim Küssen gegen die Wand presste, der einen mit seinem Körper vereinnahmte, um dann … Amelie räusperte sich. Es war unangebracht, mitten in der Kanzlei diese Gedanken zu haben, vor allen Dingen, wenn sie darüber fantasierte, wie ihre Chefin es mit diesem Typen trieb. Sie ließ das Video weiterlaufen.

Das Licht war zu einem schwachen Schimmer gedimmt, der von einer Ziegelsteinwand reflektiert wurde und den Raum in ein dunkles Rot tauchte. Der Typ stand in einer kurzen Trainingshose und einem schwarzen Shirt, das sich lecker über seine Brust spannte, auf einer Matte. Sein Körper war komplett still, aber dennoch schien er zu vibrieren, als würde er sich bereits in einer Zukunft befinden, in der er seine Schläge vollführte. Amelie rutschte noch ein bisschen näher an den Bildschirm heran. Das Vibrieren verstärkte sich. Immer näher schob sie sich. Plötzlich brüllte er, holte mit der Faust aus und haute dem Sandsack mit voller Wucht eine rein.

Amelie quiekte und wich erschrocken zurück.

Heilige Scheiße.

Das war Luisa in männlich.

Steven »The Asskicker« Lee beendete das Telefonat und blickte gedankenverloren auf das Display seines Handys, das immer dunkler wurde, ehe es komplett schwarz glänzte und ihm nur noch sein eigenes Antlitz entgegenwarf. Es war verdammt lange her, dass jemand versucht hatte, ihn einzuschüchtern. Dazu gehörte mehr als die vermeintlich strenge Stimme eines gefühlt zwölfjährigen Mädchens am Telefon.

Wesentlich mehr.

Er warf das Handy auf den Tisch und stand auf. Noch nie hatte er privaten Trainingseinheiten zugestimmt, auch wenn er schon oft Anfragen erhalten hatte. Ruhelos durchquerte er die Küche des angemieteten Studios. Als er schließlich Ja gesagt hatte, war er einer inneren Stimme gefolgt. Nun, da er sie ergründen wollte, schwieg sie. Grollend verließ er die Küche und betrat den Raum, in dem er seine Clips drehte. Körperliche Verausgabung half ihm, die Anspannung loszuwerden, die ihn gelegentlich daran hinderte, Zugang zu seinen Gedanken zu finden. Er überprüfte die Kameraeinstellungen, checkte das Licht, aber seine Gedanken kreisten nach wie vor um die telefonische Anfrage.

Er hatte keine Ahnung, wie das Mädchen an seine Handynummer gekommen war. Sein bürgerlicher Name war Iljas Rick, was man über das Impressum seiner YouTube-Seite und Homepage leicht herausfinden konnte. Um an seine Handynummer zu gelangen, musste man schon einfallsreicher sein, denn sie war nirgends hinterlegt. Jemand mit entsprechenden Kontakten käme ohne Probleme daran, und vermutlich war die Sekretärin einer Anwaltskanzlei das Epizentrum solcher Beziehungen.

Anwälte juckten. Sie kratzten. Sie ließen sein Innerstes beben und sein Blut wallen. Es war beinahe schon das oberste Gebot seines Berufs, Anwälte nicht leiden zu können. Er hielt inne. Seines ehemaligen Berufs, denn Iljas war kein Polizist mehr. Er war jetzt Steven »The Asskicker« Lee. YouTuber. Und genau dieser hatte nun die Chance, einem Anwalt gegenüberzustehen und ihn für all die verschwendeten Stunden Zeugenbefragung, Gutachtenauswertung und Täteranalyse büßen zu lassen.

Denn ein guter Anwalt holte seinen Mandanten raus.

Und wenn er noch so schuldig war. Heute wäre Iljas derjenige, der den Ton vorgab, der den Anwalt vorführte und ihm zeigte, wie es war, wie es sich körperlich anfühlte, angegriffen zu werden. Ein wehrloses Opfer zu sein.

Er hatte ein ziemlich klares Bild von einem Strafverteidiger aus der Kanzlei Meyer & Partner, der Selbstverteidigung lernen wollte und seine Sekretärin anrufen ließ, weil er selbst keine Zeit hatte. Oder weil er die Zeit des Telefonats als zu kostbar empfand. Er war ein feister, stämmiger Mittfünfziger mit schütterem Haar, dem auffiel, dass er neben Golfen und Segeln auch Selbstverteidigung lernen könnte. Und das möglichst schnell und gleich, denn er war es gewohnt, dass Menschen in seinem Umfeld genau das taten, was er ihnen mit einem Blick und dem Schnippen seines Fingers oktroyierte. Das alles war Iljas bereits während des Telefonates klar gewesen, und doch hatte er zugestimmt.

Er dachte an die letzte Verhandlung, der er vor fünf Jahren als Polizist beigewohnt hatte. Bevor aus Iljas Steven »The Asskicker« Lee geworden war. Es war ein schlimmer Fall gewesen. Ein Serienvergewaltiger. Wochenlang war Iljas hinter ihm her gewesen, ehe er ihn schließlich erwischt hatte. Der Strafverteidiger machte zu Beginn des Prozesses einen sympathischen Eindruck. Ruhig und besonnen. Wie jemand, der Kinder hatte und verstand, warum für den Kerl auf der Anklagebank selbst eine verdammt lange Zeit im Gefängnis noch zu gut war. Und dann nahm er den ersten Gutachter auseinander, stellte seine Kompetenzen infrage und Iljas wurde klar, worauf die Verhandlung hinauslief.

Freispruch aufgrund mangelnder Beweise.

Freispruch wegen eines Verfahrensfehlers.

Freispruch, Freispruch, Freispruch.

Letztendlich hatte der Strafverteidiger dafür gesorgt, dass ein Vergewaltiger auf freien Fuß kam. Das war Iljas’ letzter Fall gewesen. Am gleichen Abend noch hatte er mit seiner Schwester Marie telefoniert und sie gebeten, seine Nichten Marissa und Leonie in einen Selbstverteidigungskurs zu schicken, denn wie schnell die trügerische Sicherheit des Alltags in Gefahr umschlagen konnte, wusste Iljas zu gut. Er musste dafür sorgen, dass wenigstens seine Familienangehörigen in Sicherheit waren, dass sie sich wehren konnten. Doch seine Schwester lebte in Bayern auf dem Land, einen derartigen Kurs gab es nur siebzig Kilometer weit entfernt in der nächstgrößeren Stadt. Marissa, seine ältere Nichte, sah die Situation mit der beneidenswerten Leichtigkeit einer Zwölfjährigen und schlug ihm vor, ein Video zu drehen. Iljas zögerte, aber Kampfsport war seine Passion. Während seiner Zeit bei der Polizei hatte er mit Krav Maga begonnen, einer speziellen Art des Nahkampfs. Schließlich hatte er sich darin zum Ausbilder fortgebildet und Kurse an der Polizeischule angeboten. Doch das hatte seinen Hunger nicht gestillt, sodass er weitere Kampfsportarten gelernt hatte. Er war mehr als fähig, ein Video zu drehen, und es ging um seine Nichten. Also tat er es. Er wollte ihnen Methoden zeigen, wie sie sich gegen Angreifer wehren konnten, denn wenn die Justiz, wenn er derart versagte, mussten die Mädchen sich selbst schützen können. Er versuchte, es ihnen per Link zu schicken, aber die Datei war zu groß. Marissa lachte und bat ihn um einen Augenblick Geduld. Schließlich schickte sie ihm per Mail einen Link. Sie hatte einen YouTube-Kanal eröffnet und ihm das Pseudonym Steven »The Asskicker« Lee verpasst. Iljas zögerte, lud aber den Clip in dem Wissen hoch, dass ihn außer seinen Nichten sowieso niemand sehen würde.

In weniger als einer Stunde hatte er mehrere Tausend Klicks.

Was auch immer das bedeutete. Marissa rief ihn aufgeregt an und teilte es ihm mit. Iljas klemmte sich vor den Laptop und besah sich dieses YouTube einmal genauer. Das Portal war ihm kein Fremdwort, aber das Prinzip dahinter war ihm nicht klar. Währenddessen häuften sich die Klicks und die Kommentare. Das Ganze hatte von diesem Augenblick an relativ schnell ein Eigenleben entwickelt, welches ein knappes Jahr später das Ende seiner Laufbahn bei der Polizei mit sich brachte.

Er war jetzt YouTuber.

Peinlich einerseits. Lukrativ andererseits.

Anfangs war er sich wirklich dämlich dabei vorgekommen. Er war immerhin ein gestandener Mann und kein Teenie mit Selbstverwirklichungsdrang, Akne und Zahnspange, aber als die Zahlen auf seinem Konto höherkletterten als jemals bei der Polizei, hörte er auf, sich so zu fühlen. Alles, was er für das Geld tun musste, war, in Form zu bleiben und sein Können in Bezug auf Selbstverteidigung zu präsentieren. Ein Witz. Iljas schwang keine Reden, er checkte den Sitz seiner Haare nicht, bevor er die Kamera anschaltete. Er konzentrierte sich lieber darauf, die Technik sauber und einwandfrei zu präsentieren. Und anhand der Kommentare sah er, dass seine Taktik wirklich aufging. Sowohl Frauen als auch Männer bestätigten, dass sie sich dank ihm hatten verteidigen können. Um es kurz zu sagen: Es lief bei ihm.

Warum also hatte ihm sein Instinkt geraten, einer Stunde mit einem Strafverteidiger zuzustimmen? Er war nicht darauf angewiesen. Er hatte mit der Sekretärin noch nicht einmal ansatzweise ein Honorar ausgehandelt. Vielleicht war für ihn dieses Zusammentreffen eine Art Abschluss einer Karriere, die dem Schutz von Menschen gewidmet gewesen war und in Frustration geendet hatte.

Kapitel 3

Die Autoreifen holperten über das Kopfsteinpflaster, das Licht der Scheinwerfer glitzerte in den Wasserpfützen und Luisa dankte dem Luxusbautrend, dass ihr Wohnhaus eine Tiefgarage besaß. Jeden Abend in Berlin-Mitte einen Parkplatz zu suchen, würde mehr Zeit in Anspruch nehmen, als sie schlief. Oder arbeitete.

Aufmerksam lenkte sie den Wagen durch die Schöneberger Straßen und betete, dass einer der Anwohner noch einmal losmusste. Um einundzwanzig Uhr relativ unwahrscheinlich, aber nicht unmöglich. Sie sollte den Halter eines der Fahrzeuge ausfindig machen, dort anrufen und erzählen, dass die Großmutter im Krankenhaus lag. Okay, das war übertrieben. Und geschmacklos.

Aber gut.

Sie bog links auf die Hauptverkehrsstraße, um die nächste Straße gleich wieder links zu fahren. Wie sie es seit zwanzig Minuten tat. Sie würde definitiv zu spät kommen, denn der Selbstverteidigungskurs hatte vor fünf Minuten angefangen. Immerhin war ihr warm, sie hatte die Lüftung voll aufgedreht und die Sitzheizung auf Backofentemperatur gestellt. Endlich sah sie in einer Reihe parkender Autos ein oranges Licht aufblinken und tippte auf das Gaspedal. Der Wagen beschleunigte und sie hielt in Höhe des anderen Autos. Geduldig wartete sie, bis der Mann sich in seinen Wagen gezwängt und ausgeparkt hatte.

Endlich, endlich stand ihr Auto und sie konnte den Knopf drücken, der den Motor und gleichzeitig ihr Gehirn ausschaltete. Sie lehnte sich kurz in den warmen Sitz. Was für ein Tag. Der Überfall, der Gerichtstermin, bei dem sie ihr Plädoyer gehalten hatte, welches sie aufgrund von Zeugenaussagen und Gutachten immer wieder hatte umschreiben müssen, und nun würde sie kämpfen lernen. Vielleicht fand aber auch erst eine Art Vorgespräch statt. Damit er wusste, wo sie stand und sie gemeinsame Ziele erarbeiten konnten. Oder so. Luisa nahm die Einkaufstasche vom Beifahrersitz und öffnete die Tür. Amelie war so umsichtig gewesen und hatte Luisa Sportbekleidung gekauft, denn mit dem hautengen Kostüm würde sie noch nicht einmal dann vom Boden aufstehen können, wenn neben ihr ein Blindgänger entschärft werden würde.

Sie spannte ihren Regenschirm auf, wobei sich das Logo der Kanzlei entfaltete, und eilte die Straße entlang. Immer wieder blickte sie hinauf zu den Zahlen an den Hauswänden. Und dann stand sie vor dem Eingang der Goerz-Höfe. Luisa hatte schon mehrfach in der Zeitung darüber gelesen und sich jedes Mal vorgenommen vorbeizufahren, denn sowohl die Architektur als auch die Geschichte der Gebäude waren bemerkenswert. Bereits gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurde das erste Gebäude für den kleinen Familienbetrieb Goerz gebaut, der dort Linsen und Kameras herstellte. Durch den großen wirtschaftlichen Erfolg wurde das Ensemble in den darauffolgenden Jahren sukzessive erweitert. Während der Gründerzeit wurden Elemente aus der Renaissance und des Barocks vereint und selbst für Industriegebäude prächtige Fassaden geschaffen. So die Zeitung.

Luisa betrat den ersten Hof und betrachtete die Klinkermauern, die Rundbögen über den Fenstern, zwischen denen sich geschwungene Ornamente rankten, die an den Pilastersäulen endeten. Sie fühlte sich inmitten dieser massiven Architektur klein und unbedeutend. Als zähle sie nicht wirklich im Gefüge des Universums, als wäre ihre Anwesenheit auf diesem Planeten kaum mehr als ein Wimpernschlag. Sie gab sich einen Ruck und ging weiter in den zweiten Hof, der seitlich schräg auslief, wie ein Haus mit einem verrutschten Dach. Hier mussten sich die Räume der Kampfschule befinden. Langsam ging sie weiter. Aus wenigen Fenstern sickerte dumpfes Licht in den Hof und ihre Absätze rutschten immer wieder auf dem nassen Kopfsteinpflaster. An High Heels hatte man beim Bau der Höfe offensichtlich nicht gedacht. Zwischen zwei Gebäuden in Backsteingotik befand sich ein schmalerer, halbkreisförmiger Anbau, ebenfalls mit Rundbogenfenstern versehen. Sie ging darauf zu. Neben der schweren Holztür mit Giebel war ein Klingelschild. Luisa hätte sich keinesfalls gewundert, den Namen Graf Dracula darauf zu lesen. Die Atmosphäre war drückend und, ja, sie gab es zu, beängstigend. Aber sie ging schließlich in eine Kampfschule, nicht zur Tupperwareparty.

Sie suchte auf der Klingel und fand schließlich ein vergilbtes I.R., wo sie laut Amelie klingeln sollte. Also wirklich, für eine professionelle Selbstverteidigungsschule war die Außenwerbung ein bisschen mau. Aber vielleicht war das hier eine Art Geheimtipp, der Frauen unter der Hand weitergegeben wurde? In Berlin war alles möglich.

Es summte und sie stemmte ihre Schulter gegen die Tür. Quietschend öffnete sie sich und ein modriger Geruch schlug ihr entgegen. Sie drückte auf den alten, schwarzen Lichtschalter, aber es geschah nichts. Es war dämlich von ihr, gleich heute mit Selbstverteidigung zu beginnen, aber die Angst durfte kein Teil von ihr werden. Sie wollte später nicht im Bett liegen und spüren, wie sich etwas in ihr breitmachte, das sie nicht beherrschen konnte. Oder mitten in der Nacht aufwachen, weil ihr jedes Geräusch durch Mark und Bein fuhr. In ihrem Wohnhaus wurde Sicherheit großgeschrieben und einzubrechen war nahezu unmöglich, aber das alles bedeutete nicht, dass er es nicht versuchen würde. Dass er, das gesichtslose Wesen, heute Nacht nicht an ihrer Tür stehen und versuchen würde, sich selbst in ihre Wohnung zu lassen. Luisa schauderte, während sie die Treppe nach oben stieg. Eine Tür flog auf und sie erkannte die Umrisse eines Mannes. Luisa kniff die Augen zusammen, das plötzliche Gegenlicht blendete sie in der Dunkelheit des Flurs.

»Hallo, mein Name ist Luisa Elmas. Ich bin hier wegen des Selbstverteidigungskurses«, sagte sie.

Sie bückte sich und ließ den Regenschirm aufgespannt vor der Tür stehen. Für einen Augenblick verharrte der Mann regungslos, ehe er brüsk nickte und die Tür weiter aufstieß, sodass sie sich zwischen dem Rahmen und seinem massigen Körper durchquetschen musste. Ganz offensichtlich war er nicht der führende Knigge-Experte. Sie schüttelte sich leicht und rieb sich die Arme.

»Es regnet wie aus Kübeln«, sagte sie.

Wetter, Kälte, extreme Wärme waren gute Eisbrecher. Sie erwartete, dass er so etwas sagte wie: »Oh ja, hört gar nicht mehr auf«, sie würde zustimmen, eine Floskel ergäbe die nächste und dann würden sie das Thema wechseln.

Aber er schwieg. Sein Äußeres überraschte sie. Er war groß, hatte dunkle Haare, dunkle Augen und sah aus, als sollte er ihr Stammkunde sein. Es war klischeehaft, aber sie hatte einen Asiaten erwartet, der sie mit zusammengepressten Handflächen und einem leicht nach vorn gebeugten Oberkörper begrüßte. Oder wenn schon keinen Mr. Myagi, dann wenigstens einen Mann mit langen Haaren, der auf subtile Art die asiatische Lebensweise verkörperte. Mit einem aufgepumpten, wortkargen Oberbefehlshaber, der während der Suche nach Steroiden seine gute Laune verloren hatte, hatte sie nicht gerechnet.

»Ich bin richtig, oder?«, fragte sie, denn der Mann stand immer noch regungslos an der Tür und musterte sie.

»Ja«, sagte er schließlich, drückte sich vom Rahmen weg und schloss die Tür.

»Sind Sie der Lehrer?«

Sagte man Lehrer? Oder besser Sensei? Oder Yes, Sir?

»Ja.«

In Plauderlaune war er nicht, aber das war ihr egal. Sie vermutete, dass er die Übungen vorzeigte und sie diese mit ihrem Partner oder ihrer Partnerin ausführen würde. Solange diese Person nicht genauso einsilbig war, kam sie mit dem Antilehrer des Jahres schon klar.

»Wo findet der Kurs statt?«

»Hinten«, sagte er knapp und deutete einen düsteren Flur entlang.

Luisa folgte seinem Blick und hielt die Luft an. Vergeblich versuchte sie weitere Stimmen auszumachen, hörte aber nichts. Oh-oh. Gab es überhaupt weitere Kursteilnehmer? Ihr Tag war so vollgepackt gewesen, dass sie Amelie nicht weiter zu dem Kurs befragt hatte. Luisa hatte einfach angenommen, dass er in irgendeiner schicken Schule stattfand, wo man vorher nett Latte Macchiato trank und plauderte, bevor man sich gegenseitig an den Kragen ging.

Sie räusperte sich und drehte sich um. Erschrocken wich sie zurück. Der Mann stand direkt vor ihr und starrte aus dunkelbraunen Augen, die sie an Espresso erinnerten, auf sie hinab.

»Es tut mir leid, dass ich zu spät bin. Wie Sie sehen, müsste ich mich auch noch umziehen«, sagte Luisa und deutete auf ihr Kostüm.

Er schwieg.

Okay. So langsam ging ihr sein Gehabe mächtig auf die Nerven. Sie ging noch einen Schritt auf ihn zu. Zwischen ihre Körper passte gerade noch einer von Amelies pinken Notizzetteln. Luisa legte ihren Kopf leicht schief und sah ihn prüfend an.

»Gibt es hier eine Möglichkeit zum Umziehen oder nicht?«, fragte sie und sprach dabei langsam und deutlich. Als versuchte sie den Urzeittierchen, die man in Aquarien züchten konnte, Kunststücke beizubringen. Er nickte in die Richtung einer Tür, bewegte sich aber sonst keinen Millimeter. Luisa löste sich aus seinem starren Blick und ging zur Umkleidekabine. In diesem Moment bemerkte sie etwas: Der Boden war sauber. Keine Fußabdrücke, trotz des Regens. Also entweder waren die anderen Teilnehmer in den Raum geflogen und verhielten sich aus Ehrfurcht vor dem Arschloch-Sensei mucksmäuschenstill oder aber es gab keine. Sie war allein mit dem Mann, der so herzlich wie Packeis vor der Klimaerwärmung war. Nachdem sie sich in dem kleinen Raum eingeschlossen hatte, der in seinem ganzen Leben noch nie eine Umkleidekabine, sondern schon immer eine Besenkammer gewesen war, zog sie ihr neues Handy hervor und tippte eine Nachricht an Amelie. Seinen Namen nicht zu kennen, verschaffte ihr einen Nachteil, den sie ausmerzen musste. Der Tag, an dem Luisa Elmas sich einschüchtern ließ, war der Tag, an dem man für Steuerhinterziehung Lollis und Plüschtiere bekam. Am liebsten hätte sie veranlasst, den Typen da draußen auf Herz und Nieren zu überprüfen. Vielleicht hatte er seine Kampfkunstkenntnisse ja aus dem Knast, in dem er sieben Jahre wegen Totschlags gesessen hatte? So oder so, sie musste diesen Kurs nicht bei ihm belegen. Sie lebte in Berlin. Es gab unzählige Kampfschulen.

Mit anderen Menschen.

Mit netten Menschen.

Ihr Handy vibrierte, und sie öffnete Amelies Nachricht.

Steven »The Asskicker« Lee.

Nicht wirklich, oder? Das war mit Abstand der schlechteste Künstlername, den sie je gehört hatte. Da konnte sie sich auch gleich Elisabeth »The Badass-Lawyer« Thatcher nennen. Hmm …

Weil sie schon einmal hier war und fünfunddreißig Minuten lang einen Parkplatz gesucht hatte, würde sie ihm nun sechzig Minuten geben, um sie davon zu überzeugen, dass er gut war, ansonsten würde sie Amelie beauftragen, eine neue Schule zu suchen. Ihre Zeit war zu kostbar für solche Allüren. Sie band ihre Haare zu einem hohen Zopf zusammen. Resolut schlüpfte sie aus dem Kostüm und verstaute es fein säuberlich zusammengelegt in einem Regal, in dem sich ausschließlich Putzmittel befanden. Gedanklich war sie immer noch dabei, Steven Lee Obszönitäten an den Kopf zu werfen. Sollte er doch sagen, wenn er keine neuen Kunden wollte. Sie griff in die Einkaufstasche und fand nichts.

Sie wühlte weiter.

Nichts.

Dann in der hintersten Ecke der Tüte streiften ihre Fingerkuppen über etwas. Verwundert blickte Luisa hinein. Als sie die hauchzarten Stofffetzen sah, erstarre sie.

Nein.

Nein, nein, nein.

Das durfte nicht wahr sein. Sie hielt eine schwarze lange Leggins aus der Kinderabteilung und ein bauchfreies Oberteil in der Hand. In Pink. So würde sie nicht zum Arschtreter rausgehen – noch nicht mal für Geld. Wie hatte Luisa so dämlich sein können, keinen Blick in die Tüte zu werfen? Amelie kam nackt zur Arbeit. Dass die Hose lang war, war vermutlich bereits ein Zugeständnis an Luisas Alter.

Luisa sah sich um. Ein Wischmopp. Mit dem konnte sie nichts anfangen. Haushaltsrolle. Daraus könnte sie etwas basteln, aber das würde reißen. Mehrere Putzlappen. Sie konnte sie aneinanderbinden und dann … Das war sinnlos.

Sie würde jetzt aus der Umkleide des Grauens gehen wie die selbstbewusste Frau, die sie war. Fünfzig Prozent ihres Sportoutfits war ja ganz in Ordnung: die Hose. Und die würde sie nun anziehen.