Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, April 2021
Copyright © 2021 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg
«Vorstadtprinzessin» ist im Jahre 2011 zuerst im cbt Verlag, München, erschienen
Lektorat Michelle Landau
Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.
Covergestaltung ZERO Werbeagentur, München
Coverabbildung Shutterstock
Schrift DejaVu Copyright © 2003 by Bitstream, Inc. All Rights Reserved.
Bitstream Vera is a trademark of Bitstream, Inc.
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
ISBN 978-3-644-00742-0
www.rowohlt.de
ISBN 978-3-644-00742-0
Am Ende der Straße fing er an, der Wald. Wenn der alte Ellerbek zu erschöpft war, den Liguster zu schneiden, streckte die Ligusterhecke des letzten Hauses ihre Zweige nach den ersten Hainbuchen des Waldes aus. Ellerbek lebte allein im letzten Haus der Straße, seit ihm die Frau gestorben war und der Sohn davongegangen.
Der Wald hatte sich von allem am wenigsten verändert. Selbst die Alten im Viertel bemerkten kaum Veränderungen an ihm. Ein Baumhaus war längst vom Sturm weggeweht. Die zwölfjährigen Jungen, die es gebaut hatten, waren erwachsene Männer geworden, die ihrer Wege gingen. Die kleinen Erdbeeren wuchsen nicht mehr. Vielleicht war es ihnen zu dunkel geworden im Wald.
Noch immer gab es keine leicht gehbaren Wege, die Spaziergänger eingeladen hätten, in den Wald zu gehen. Er war damals ohne jeden Trimmpfad geblieben. Keine Lehrtafeln an den hohen Bäumen. Die Lichtungen waren eher einsam als licht.
Das Unterholz war dicht, ab und zu ein Moosteppich, der alle Schritte dämpfte. Die Buschwindröschen, die Waldhyazinthen und Veilchen, Boten des Frühlings, zogen sich meist schon in den ersten Tagen des Juni zurück. Dann wuchs wildes Geißblatt neben dem Waldmeister, der bald Früchte tragen würde, kleine stachelige Früchte, in denen sich Fell verfing und Gefieder.
Tümpel hatte der Wald. Keine sehr tiefen Tümpel. Nur bis zu den Knien konnte man in ihnen versinken, aber musste sich dennoch sehr mühen, wieder aus ihnen herauszukommen. Schuhe waren zurückgelassen worden in den Tümpeln und einmal ein kleiner Gummistiefel.
Es kam vor, dass man Knochen in diesem Wald fand, blasse Knochen von kleinen Wirbeltieren und von großen.
Kein Wolf in diesem Wald. Kein Rotkäppchen. Doch es geschah dort etwas, das nach eines Menschen Herzschlag griff und ihn vielleicht auf ewig stehenbleiben ließ. Der Tod kam in den Wald.
Troll war ein gemütlicher Hund. Das verdankte er den Genen seiner Mutter, die lauter gutgelaunte Hütehunde zu ihren Vorfahren zählte. Trolls Vater, ein leicht erregbarer Terrier, dessen rötliches Fell Troll geerbt hatte, ließ hingegen keine Wildspur links liegen und ging gern einmal für Stunden im Unterholz eines Waldes verloren.
Zu sagen, Troll sei ein gehorsamer Hund, wäre jedoch übertrieben gewesen. Er war einfach der anhängliche Typ, der den Menschen, zu dem er gehörte, nicht gern aus den Augen verlor.
Darum drehte Troll sich auch an diesem Tag im Juni dauernd nach seinem Menschen um und schien erleichtert, wenn er ihn auf dem nahen Waldweg sah. Ein tückischer Weg, der den Menschen leicht ins Stolpern brachte. Wurzeln, die sich aufbäumten, altes feuchtes Laub, das diese Wurzeln verbarg, naheliegende Tümpel, die auf einen unbedachten Schritt lauerten.
Troll lief jenseits des Weges, trat da und dort letzte Buschwindröschen platt, ließ sich von Glitzerpapier narren, in dem er ein liegen gelassenes Schokoladenei zu finden glaubte, ein Fund, der ihm dann und wann in seinem sechsjährigen Leben schon gelungen war, und scharrte unter den Farnen. Bis er vor einer dieser Farngruppen jäh stehen blieb.
Sein Fell sträubte sich.
Troll hörte den Pfiff des Menschen, der schon weitergegangen war, doch Troll tat etwas Unerwartetes. Er folgte dem Pfiff nicht. Dieser Geruch, der ihm in die schwarze Hundenase geriet, hielt ihn fest.
Trolls Mensch war an einer Weggabelung angekommen und wartete. Pfiff noch einmal. Lang und anhaltend. Ein wenig verdrossen.
Troll bellte. Troll jaulte. Troll wehklagte.
Da endlich hörte sein Mensch auf ihn und kehrte um. Ging mit immer schneller werdenden Schritten zurück, um mit eigenen Augen zu sehen, was Troll dort im Unterholz gefunden hatte. Beinah versteckt von einem großen Adlerfarn und neben den Knochen eines kleinen Tieres lag etwas. Etwas, das nackte dünne Storchenbeine hatte, deren Füße in Fellstiefeln steckten. Der kurze Tüllrock war hochgerutscht. Der obere Teil des Körpers blieb von den Blättern des Farns verborgen.
Trolls Mensch fluchte, als er das Handy nicht in seinen Taschen fand. Er zögerte, dieses tote Mädchen dort liegen zu lassen, hatte den Impuls, es zu bergen. Doch dann nahm er den Hund an die Leine und lief aus dem Wald. Den kürzesten Weg aus dem Wald. Er kam nicht an Ellerbeks Hecke vorbei und auch nicht an Theos Haus.
Troll lief so eifrig voraus, dass sich die Leine spannte.
Theo stand am Fenster seines Zimmers und sah über die Straße zum alten Ellerbek hinüber, der den Liguster schnitt. Erstaunlich, dass dieser dürre kleine Mann die große Heckenschere noch halten konnte, und das bei der Hitze. «Ellerbek hat schon den Tod im Gesicht», hatte Theos Mutter gestern Abend gesagt.
Den Tod im Gesicht. Die düsteren Sätze seiner Mutter machten das Leben in diesem Haus nicht gerade heiter. Theo wandte sich vom Fenster ab und zog das Hemd aus. Gestern noch hatte er einen Pullover darüber getragen. Ging alles zu schnell mit dem Sommer, der seine voreiligen Versprechen spätestens zu Beginn der Ferien sowieso brechen würde.
Theo fing sein Spiegelbild auf, als er das Zimmer verlassen wollte, griff nach dem Hemd und zog es wieder an. Zu dünn, sein Körper. Zu weiß. Gleich würde Lucky aufkreuzen, dem ein halber Tag Arbeit im Freien mit nacktem Oberkörper schon genügte, um ein gebräunter Prachtkerl zu sein.
Theo stieg die schmale Holztreppe hinunter, die von seinem Giebelzimmer in den ersten Stock führte. Seine Mutter saß im Schlafzimmer auf ihrer Seite des Ehebettes und hielt eine lila Bluse in der Hand.
«Ob ich die noch tragen kann?», fragte sie.
Theo kniff die Augen zusammen. Er hatte schon als Kind darunter gelitten, Farben zu grell und überdeutlich wahrzunehmen.
«Warum nicht?», fragte er.
«Vielleicht zu jugendlich», sagte seine Mutter.
Theo stöhnte. «Du bist doch noch jung», sagte er. War es wirklich die Aufgabe eines siebzehnjährigen Sohnes, das immer wieder zu beteuern?
«Zieh deine Sonnenbrille auf.»
«Um dich nicht im harten Licht zu sehen?» Theo grinste.
«Du bist doch auf dem Weg nach draußen, oder? Draußen ist grelles Sonnenlicht», sagte seine Mutter.
Theo griff nach der schwarzen Ray-Ban in seiner Jeanstasche. Kaum zu glauben, dass dieses nette Teil mal von seinem Vater getragen worden war. Allerdings schon fünfundzwanzig Jahren her. Heute war sein Vater eher der beige Typ. War doch gut, wenn Ma das mit ihrem Lila auflockerte.
Lucky fuhr in dem Augenblick vor, als Theo aus der Haustür trat. Verglichen mit dem Rot des alten Fords, war die Bluse von Theos Mutter ein reiner Augentrost.
«Lässt sich doch gut an», sagte Lucky.
«Was?», fragte Theo. Er wusste, dass Lucky den Sommer meinte.
Sie hatten vor, in den Wald zu gehen. Löcher angucken, die sie in den Boden gesprengt hatten, Krater beinah, mit den Böllern, die von Silvester übrig geblieben waren. Erinnerungen an vergangene Abenteuer. Ab und zu trafen sie sich vor den Kratern. Reine Nostalgie.
«Ist zu heiß», sagte Lucky, «lass uns Eis essen gehen oder mit dem Auto rumfahren. Das Schiebedach funktioniert wieder.»
«Im Wald ist es kühl», sagte Theo.
«Dein Hemd ist schief geknöpft», sagte Lucky.
Theo fing an, das Hemd neu zu knöpfen. Warum fühlte er sich neben Lucky immer wie der hässlichste Junge der Welt? Sein Kumpel seit Kindergartenzeiten war eigentlich keine Schönheit. Gut gebaut, aber eher klein. Ein paar geschickt verteilte Sommersprossen. Verstrubbelte rotblonde Haare.
Es ist das Lachen im Gesicht, dachte Theo. Lucky sah einfach immer so aus, als sei er begeistert vom Leben. Darum war in der zweiten Woche im Kindergarten aus Lukas Lucky geworden.
Theo war schon damals nicht begeistert vom Leben gewesen.
Die hatte er seinen Eltern abgeguckt, diese Nicht-Begeisterung.
Sie gingen Eis essen. Ins Tre Castagne, das eigentlich nur Sigis alte Kaffeestube am anderen Ende der Straße war. Eines Tages hatte Sigi aus dem Ladenfenster geguckt und die drei Kastanienbäume davor gesehen, sich für die Namensänderung entschieden und fortan auch Tiefkühlpizza, getoastetes Weißbrot mit Käse und Schinken und Eis angeboten. Doch das Eis war gut. Das hatte Sigi im Griff.
«Spaghettieis», sagte Lucky, «das große. Ich lad dich ein.»
«Ich nehme nur zwei Kugeln», sagte Theo.
«Ich hab noch Geld vom Mai übrig», sagte Lucky, «hab meiner Mutter diesmal keines abgeben müssen.»
«Ist doch immer gut, reiche Freunde zu haben», sagte Theo.
Er hatte noch ein Jahr bis zum Abitur. Lucky hatte nach der zehnten Klasse hingeschmissen, um eine Ausbildung anzufangen. Irgendwann sollte sie ihn zum Kfz-Mechaniker machen. Lucky liebte Autos.
Theo hatte gerade den letzten Rest Erdbeersoße aus der Schale gelöffelt, als er den Kopf hob und lauschte. Hörte er Sirenen in der Ferne?
«Na», sagte Lucky, «wieder alle fünf Sinne auf Empfang?»
Er hatte sich längst daran gewöhnt, dass Theo bei leuchtenden Farben die Augen zusammenkniff und Geräusche früher als andere wahrnahm.
«Irgendwo ist was passiert», sagte Theo, «klingt nach was Größerem.»
Die Straße lag still in der Nachmittagssonne, als sie vor Theos Haus ankamen. Der alte Ellerbek arbeitete noch immer an der Hecke. Das Geräusch der schnappenden Schere schien das einzige weit und breit zu sein.
«Dauernd ist er an der Hecke dran», sagte Lucky, «aber das Haus verfällt ihm unterm Hintern.»
«Im Wald ist irgendwas los», sagte Theo.
«Was soll da los sein?», fragte Lucky.
Theo hob die Schultern.
«Ich glaube, du liegst richtig», sagte Lucky, «da sind Leute. Ein ganzer Haufen. Wollen wir doch noch nach unseren Löchern schauen?»
Theo nahm die Ray-Ban ab, als sie den Wald betraten. Sonnenstrahlen fielen schräg durch das Laub der Bäume, doch es blieb dämmrig.
Sie kamen bis zu der Stelle, an der Troll sich zwei Stunden vorher vom Glitzerpapier hatte narren lassen. Absperrband spannte sich von Baum zu Baum. Dahinter weiß vermummte Gestalten.
Theo und Lucky blieben stehen und versuchten zu begreifen, was da geschah. «Vielleicht ’ne Leiche», sagte Lucky.
«Ganz sicher eine Leiche», sagte Theo und sah zu dem Mann, der sich ihnen näherte.
«Jungs, geht mal besser nach Hause», sagte er.
«Sind Sie von der Spurensicherung?», fragte Lucky.
«Das geht euch nichts an. Es sei denn, ihr habt was auszusagen.»
«Auszusagen?», fragte Lucky.
Der Mann schüttelte den Kopf. «Zieht Leine», sagte er.
Lucky trat auf eine Kastanie, als sie aus dem Wald liefen. Er war nicht zufrieden mit dem Ablauf. «Wusste gar nicht, dass es hier auch Kastanienbäume gibt», knurrte er.
Sie traten gerade zwischen den Hainbuchen hervor, als ein Streifenwagen herankam und sich quer vor den Zutritt zum Wald stellte.
«Dann geben Sie mir mal bitte Ihre Personalien», sagte einer der Polizisten, kaum dass er aus dem Wagen gestiegen war. Theo kannte ihn. Er lief öfter im Viertel herum. Polizeipräsenz. Die gab es auch in den Vororten.
Theo sah seine Mutter, die oben am Giebelfenster stand. Was machte sie in seinem Zimmer?
Der alte Ellerbek war nicht mehr zu sehen.
Theo und Lucky zogen die Portemonnaies aus den Taschen ihrer Jeans und zeigten ihre Personalausweise.
«Verdächtigen Sie uns?», fragte Lucky. Er hatte schon wieder ein Lachen im Gesicht, als ob ihm das alles komisch vorkäme.
«Lass mal lieber», sagte Theo.
«Genau», sagte der Polizist. Der andere schwieg und betrachtete Lucky.
«Sie haben einen älteren Bruder?», fragte er schließlich.
Luckys Gesicht veränderte sich. «Ja», sagte er. «Ist was mit ihm?»
«Halten Sie sich besser vom Wald fern», sagte der Erste nur.
«Können Sie uns nicht sagen, was passiert ist?», fragte Theo.
«Nein», sagte der Polizist. Er blickte zu einem Geländewagen, der vorfuhr, und sah wenig begeistert aus. «Aber ihr könnt es sicher bald in der Zeitung lesen. Die Herrschaften von der Presse sind schon da.»
Theos Mutter saß am Küchentisch und schälte Spargel, als Theo ins Haus kam. «Habt ihr was angestellt?», rief sie in den Flur.
«Nein», sagte Theo. Er streifte die Turnschuhe von den Füßen und ging in die Küche. «Warum warst du in meinem Zimmer?»
«Ich werde doch mal nach dem Rechten sehen dürfen.»
Theo hätte das gern verneint. «Steht heute was Besonderes an?», fragte er.
Seine Mutter legte die letzte Stange zu den geschälten Spargeln.
«Spargel gibt es doch sonst nur an Sonntagen», sagte Theo.
«Ich habe ihn günstig gekauft. War aber viel Abfall dabei. Warum wollte die Polizei eure Ausweise sehen?»
«Im Wald haben sie wohl eine Leiche gefunden. Könnte der Mann mit dem Alzheimer sein, den sie seit gestern suchen.»
«Gott, wie schrecklich», sagte seine Mutter. «Der wohnt doch bei Lucky in der Nähe. Warum ist Lucky denn nicht mit reingekommen?»
«Hat noch eine Verabredung», sagte Theo.
Seine Mutter stand auf und stellte einen Topf mit Wasser auf den Herd. «Henze heißt der», sagte sie. «Der mit dem Alzheimer. Er hat in der Kirche aushilfsweise die Orgel gespielt. Lange, bevor der Neue kam. Was sollt ihr beiden denn mit dem zu tun haben?»
«Gar nichts. Das machen die doch routinemäßig, die Ausweise prüfen.»
Seine Mutter legte die Stangen in den Topf. «Wart ihr im Wald?», fragte sie. «Was wolltet ihr denn da?»
«Du hast die lila Bluse gar nicht an», versuchte Theo das Thema zu wechseln.
«Ich hab überlegt, ob ich sie am Sonnabend anziehe.»
«Was ist denn am Sonnabend?»
«Lenk nicht ab, Theo.»
«Wir gehen eben hin und wieder in den Wald, Ma. Lucky ist schon achtzehn, und ich bin auch kein kleines Kind mehr, das im Tümpel ertrinkt.»
Seine Mutter drehte sich um. «Ich hab immer Angst um dich gehabt», sagte sie und klang ganz heiser. «Das hab ich heute noch.»
«Ach, Ma», sagte Theo. Das Gespräch wurde ihm unangenehm. Ihm wäre lieber gewesen, seine Eltern hätten nicht nur ein Kind gekriegt, dann hätten sich die Strenge seines Vaters und die Ängste seiner Mutter auf mehrere Häupter verteilt. Bei Lucky gab es drei Kinder und schon länger keinen Vater mehr. Keine Ahnung, ob das besser war.
«Wir essen um Punkt sieben», sagte Theos Mutter. «Dein Vater will später die Tiersendung sehen.»
Theo blickte zur Küchenuhr. Das war in einer knappen Stunde.
Er ging in sein Zimmer hinauf, um ein wenig aus dem Fenster zu gucken. Doch als er am Giebelfenster stand, war die Aussicht so langweilig wie immer. Kein Streifenwagen. Kein Geländewagen. Nicht einmal Ellerbek mit seiner Heckenschere.
Der ganze Trubel würde wohl an der alten Landstraße sein, denn dort führte ein Wirtschaftsweg in den Wald. Da konnten sie viel besser rein mit ihrer Spurensicherung. Und dem Leichenwagen, dachte Theo.
Er nahm den Fahrradschlüssel vom Schreibtisch und dachte im letzten Augenblick noch an das Fernglas, das er sich in der sechsten Klasse gewünscht hatte, um Vögel zu beobachten. Er hängte es sich um und lief hinunter.
«Wo willst du hin?», fragte seine Mutter.
«Käuzchen gucken», sagte Theo, «für Bio.»
«Punkt sieben!», rief ihm seine Mutter hinterher.
Lucky war nur kurz nach oben in die Wohnung gegangen, um zu sehen, ob sein großer Bruder das gemeinsame Heim gerade mit seiner Anwesenheit beehrte. Er hätte gern gewusst, warum die Polizei ihn nach Max gefragt hatte. Doch er traf nur Mia an, seine dreizehnjährige Schwester.
Als Lucky zu seinem Auto zurückkam, lehnte Leni an dem alten Ford, und ihr bloßes Anlehnen gab der Karre schon Glanz. Leni war eine Schönheit und sah irgendwie immer aus wie das Kind reicher Leute, obwohl sie nur Jeans trug, dazu ein weißes T-Shirt und Sneaker, die allerdings vom Feinsten waren.
Leni war das Kind reicher Leute. Lucky ließ sich nicht leicht betrüben, doch er ahnte, dass Lenis Vater ihn kaum als den geeigneten Freund seiner Tochter betrachten würde. Lucky war der Auszubildende der Werkstatt, in der Lenis Vater seine Luxusautos tätscheln ließ. Ein Junge, der nach der mittleren Reife von der Schule abgegangen war und nun im ölverschmierten Overall herumlief. Immerhin schätzte Lenis Vater Luckys Sachverstand.
Lucky lachte Leni an. Seine beste Karte, das Lachen.
Er hätte ihr gern einen Kuss auf die Lippen gedrückt, die zum Glück nicht mit irgendeiner Glanzklebe zugekleistert waren, sondern einfach nur hellrot und weich. Doch er traute sich nicht.
«Du bist schon hier», sagte er. Was für ein genialer Einstieg. Noch geschmeidiger ging’s ja kaum.
«Ich dachte, wir könnten mit deinem Auto rumfahren», sagte Leni.
Warum nicht. Vielleicht die alte Landstraße entlang, wo wohl die ganzen Bullen vorm Wald rumhängen würden. Hören, was da abging. Ob Theos Vermutung stimmte, dass die Leiche der Alzheimer-Typ war. Gleich bei der ersten Verabredung Leni ein Abenteuer bieten.
Lucky sah aus den Augenwinkeln seinen großen Bruder, der sich von der Bushaltestelle her näherte.
«Klar», sagte er, «steig ein. Die Tür ist offen.»
Lucky sprang in den Wagen, als ob der auf einmal ein Fluchtfahrzeug wäre. Er wollte Max ganz sicher nicht mit Leni bekannt machen. Sein großer Bruder würde sofort erkennen, was für ein Juwel Leni war, und sich selbst an sie ranschmeißen. Lucky fuhr mit quietschenden Reifen los, kaum dass Leni im Auto saß.
«Willst du mir damit imponieren?», fragte sie. Ihre Stimme klang eisig.
Lucky fing an zu ahnen, dass das nicht so leicht werden würde mit Leni. Kein Vergleich zu den anderen Mädchen, die er kannte.
«Im Wald ist eine Leiche gefunden worden», sagte er.
«Und jetzt sind sie dir auf der Spur?»
Lucky sah zu Leni. «Spinnst du?»
«Ich versuche mir nur deinen Fahrstil zu erklären.»
«Interessiert dich gar nicht, wer der Tote sein könnte?», fragte Lucky.
Leni hob die Schultern. Doch sie sah einen Tick blasser aus. «Weißt du es denn?»
«Theo hat die Vermutung, dass es der Mann mit Alzheimer ist, der seit gestern vermisst wird.»
«Wer ist Theo?», fragte Leni.
«Mein bester Freund», sagte Lucky.
Leni hob die Augenbrauen bis zum Haaransatz. Goldene Haare, dachte Lucky, sie hat goldene Haare.
«Bester Freund», sagte Leni.
«Hast du keine beste Freundin?»
Leni schüttelte die langen goldenen Haare. «Nein», sagte sie.
Was wusste er von Leni, außer dass ihr Vater einen großen Lexus fuhr und einen Jaguar? Dass er ein Haus am Geldhügel gekauft hatte und ihre Mutter irgendwie abhandengekommen war? Leni wohnte erst seit März im Viertel. Drei Monate. Theo und er lebten hier, seit sie denken konnten. Da lernte man einander richtig kennen.
Sie kamen nur bis zur Pferdekoppel, die zum Ponyhof gehörte. Dahinter flatterte das Absperrband. Dass die Polizei so viel Aufwand trieb und die ganze Landstraße blockierte.
Vor der Absperrung stand ein Streifenwagen. Das Blaulicht flackerte stumm. Ohnehin war es beinah still. Trotz der Scharen, die sich da in Bewegung gesetzt hatten. Es standen ohne Ende Autos herum.
Lucky wendete, bevor er dem Streifenwagen zu nahe kam. Er hatte keine Lust auf eine zweite Begegnung mit den Bullen. Theo hasste es, wenn er Bullen sagte. Den Ausdruck hatte Lucky von seinem großen Bruder übernommen. Grund genug, ihn sich wieder abzugewöhnen.
«Und wenn es nicht der demente Mann war?», fragte Leni.
«Wer soll es denn sonst sein?»
Leni sah zum Seitenfenster hinaus und schwieg.
«Gehen wir ins Tre Castagne, oder fahren wir einfach?»
«Wir fahren einfach», sagte Leni.
Die Rapsfelder leuchteten gelb, und Lucky dachte an Theo, der spätestens jetzt seine Sonnenbrille aufgesetzt hätte. Hatte Theo schon mal eine Freundin gehabt? Nein. Das wüsste er.
«In Kayhude gibt es ein ganz gutes Lokal», sagte Leni. Ihre ersten Worte seit einer gefühlten Ewigkeit.
«Du kennst Kayhude? Ich dachte, du kommst aus der Stadt.»
Leni schwieg und verschränkte die Arme, so gut es der Gurt zuließ, als wäre Lucky gerade volle Kanne in den Fettnapf getreten.
«Ich kenne in Kayhude nur den Alten Heidkrug», sagte er.
«Das Tre Castagne ist doch für Kleinkinder», sagte Leni. Sie legte ihre Hand auf sein rechtes Bein. Lucky wäre beinah zusammengezuckt, so überrascht war er. Diesen Wechsel zwischen eisiger Prinzessin und Annäherung kriegte er noch nicht auf die Reihe.
«Du könntest in diesen Weg da reinfahren», sagte Leni.
Der Weg führte zu einem winzig kleinen See. Ein alter Holzkahn lag kieloben am Ufer. Sieht aus wie ein Sarg, dachte Lucky. Die Leiche im Wald spukte ihm noch immer im Kopf herum.
«Hier brauchst du nur vier Ruderzüge, und du bist am anderen Ufer», sagte er, um sich abzulenken.
Sie stiegen aus, und Leni ging auf den Kahn zu. «Da unten ist ein kleiner Strand», sagte sie. «Vielleicht ist der Sand noch warm.»
Der Strand war so groß wie ein Handtuch, doch der Sand war tatsächlich warm und fein und sauber. Lucky dachte, dass Leni nicht zum ersten Mal an diesem Seechen war. Es war lächerlich und ein ihm völlig unbekanntes Gefühl, doch das hier ging ihm zu schnell. Was hatte Leni vor?
Sie zog ihr T-Shirt über den Kopf. Ihr BH war aus weißer Spitze und hatte einen kleinen Glitzerstein zwischen den Brüsten.
«Du hast doch Ahnung, oder?», fragte Leni und schaffte es, bei dieser Frage so huldvoll zu klingen, als sei sie die Königin von Saba.
Lucky hatte Ahnung. Nur hatte er nicht einmal ein Kondom in der Tasche. Er hatte gedacht, mit Leni erst mal den Handkuss üben zu müssen.
«Lass uns doch erst mal den Sonnenuntergang genießen», sagte er.
Aber da ging gar keine Sonne unter. Nicht in den nächsten Stunden. In zwei Wochen war Sommersonnenwende. Die Tage wurden länger.
Leni sah gekränkt aus. «Dann fahr mich lieber nach Hause», sagte sie.
Lucky seufzte. Er hatte es vermasselt.
Aus dem Fernsehzimmer oben hörte er Affen schreien. Die Tierdoku, die sein Vater so gern sah, nahm heute Abend kein Ende. Seine Eltern schafften es mal wieder, sich bestens abzulenken.
Theo hatte nichts gegen Affen. Aber er hätte lieber über die Leiche im Wald gesprochen. Das war doch sonst überall das Thema des Abends. Doch Ma und Pa vermieden alles, was ihnen an der Seele kratzen könnte. Ließen ihn allein am Küchentisch sitzen und stellten den Fernseher an.
Vorhin hatte er hinter den Ställen des Ponyhofes gestanden und das Fernglas auf den Waldeingang an der alten Landstraße gerichtet. Autos. Leute in Zivil. In weißen Schutzanzügen. Polizisten in Uniform. Dann war ein silberner Kombi aus dem Wald gekommen. Ein Leichenwagen.
Theo wollte gerade das Fernglas absetzen und sein Fahrrad aufheben, als er Luckys Ford entdeckte. Lucky war nicht alleine im Auto. Eine junge Frau mit hellen Haaren saß neben ihm.
Theo hatte instinktiv die Augen zugekniffen, weil das Auto so rot und das Haar so hell gewesen war. Als er sie wieder öffnete, hatte er Lucky wenden und davonfahren sehen.
Er leerte das Glas Apfelsaft und stellte es auf den Küchentisch. Oben erklangen die Anfangstöne einer Familienserie. Er würde in sein Zimmer gehen und sich Shakespeares Sonetten widmen. So long as men can breathe or eyes can see. Brauchte er für den Leistungskurs in Englisch.
Komisch, dass seine Mutter nicht wusste, dass er Biologie schon im vergangenen Jahr abgewählt hatte.
Eigentlich wussten seine Eltern wenig von ihm.
Theo schlief schlecht in dieser Nacht. Er stand zweimal auf, stellte sich ans Fenster und hörte die Käuzchen rufen. Erst kurz nach vier fiel er in einen tiefen Schlaf und wachte morgens davon auf, dass ihm die Decke weggezogen wurde.
«Hörst du den Wecker nicht?», fragte sein Vater.
Nein. Er hatte ihn nicht gehört. Kein Grund für diesen drohenden Ton.
«Ab ins Bad. Es ist Viertel vor sieben.»
«Guten Morgen», sagte Theo.
Es gab Tage, da hasste er seinen Vater. Kein Wunder, dass Ma oft in düstere Stimmungen versank, obwohl sie allem Elend aus dem Weg ging und sogar schon den Kopf senkte, wenn sie den alten Ellerbek grüßte, weil der doch den Tod im Gesicht hatte. Wenigstens ging sie gerne in ihren Kirchenchor.
Aus der Küche hörte er das Radio. Vielleicht war die Leiche ja bereits in den Nachrichten. Theo beeilte sich, ins Bad zu kommen.
Als er wenig später in die Küche trat, huschte seine Mutter im Morgenmantel herum und stellte das Frühstück auf den Tisch. Im Radio dudelte Schlagermusik.
«Für mich kein Frühstück, Ma. Ich verpasse sonst den Bus.»
«Dann nimm wenigstens einen Apfel mit», sagte sie und stand schon an der Spüle, um zwei Äpfel abzuwaschen.
«War was im Radio über die Sache im Wald?»
«Ich habe umgeschaltet, als die Nachrichten kamen.»
Theo nickte. So war das meistens. Vielleicht wussten die Leute im Bus ja mehr.
Doch er kam gar nicht bis zur Bushaltestelle. Luckys Ford hielt auf dem Weg dorthin neben ihm. Das Fenster wurde heruntergekurbelt.
«Steig ein», sagte er, «du bist spät dran.»
Theo öffnete die Beifahrertür und stieg ins Auto. «Ich dachte, du solltest schon seit sieben in der Werkstatt sein», sagte er.
«Auftrag von der Chefin. Zulassungspapiere abholen.»
«Hab kaum ein Auge zugemacht heute Nacht», sagte Theo.
«Nimmt dich das mit der Leiche so mit?»
Theo sah zu ihm hinüber. «Irgendwie schon.»
Lucky nickte. «Wo nun klar ist, dass es nicht der alte Henze war …»
«Da weißt du mehr als ich.»
«Den haben sie gestern irgendwo in Hessen aufgegabelt. Hat mir meine Mutter erzählt, und die hat es von der Nachbarin der Henzes. Ich hatte gar nicht mitgekriegt, dass der Henze der Typ mit dem Alzheimer war.»
«In Hessen. Wie findet ein verwirrter alter Mann denn dahin?»
«Hatte wohl einen lichten Moment. Ist in den Zug von Hamburg nach Frankfurt gestiegen. Da kommt er nämlich her. Alte Heimat und so.»
«Und er ist einfach so zum Automaten gegangen und hat sich ein Ticket gekauft?»
Lucky hob die Schultern. «Ich bin gestern noch rumgefahren», sagte er, «hab mir den Auftrieb vorm Wald angucken wollen.»
«Dafür bist du aber ganz schön schnell wieder abgehauen. Ich hab dich gesehen.»
Lucky schaltete krachend in den nächsten Gang.
«Wo warst du denn da?», fragte er.
«Bei den Ställen vom Ponyhof. Ich hatte das Fernglas dabei. Wer war denn die Frau neben dir?»
«Keine Frau», sagte Lucky, «ein Mädchen.»
Er hielt vor dem Sandsteinportal eines alten Klinkergebäudes. «Non scolae sed vitae discimus» stand über dem Portal. Vor zwei Jahren war Lucky das letzte Mal da durchgegangen.
«Spring rein in deine edle Bildungsstätte», sagte er.
«Wer war das Mädchen denn?», fragte Theo.
«Du interessierst dich doch sonst nicht so für meine Damen.»
«Ihre Haare sind sehr hell», sagte Theo.
«Musstest du etwa die Augen zusammenkneifen?»
Theo antwortete nicht, öffnete nur die Autotür.
«Das war Leni», sagte Lucky, «die kennst du nicht.»
«Und wer war die Leiche?», fragte Theo.
Die Tote war jung. Ihre Haare waren hell wie der Weizen, der in diesen Tagen anfing, auf den Feldern zu wachsen. Die Würgemale an ihrem Hals schimmerten bläulich. Sie hatte einen Tüllrock angehabt und eine Bluse, an der Knöpfe fehlten. Ihre Füße hatten in fellgefütterten Stiefeln gesteckt. Jetzt wurde sie in der Rechtsmedizin der Universitätsklinik verwahrt.
Keine Vergewaltigung. Vielleicht war der Täter gestört worden. Vielleicht war es ihm um etwas anderes gegangen.
Ihre Eltern waren unterwegs zu ihr. Von einer kurzen Reise zurückkommend.
Konnte man ein siebzehnjähriges Kind nicht allein zu Hause lassen? Unbeaufsichtigt? Unbehütet?
Diese Frage würden sie sich bis zum Ende ihres Lebens stellen.
Die Frage, wie sie in einen Wald im Norden von Hamburg gekommen war, stellten sie sich ebenso wie die Kommissare, die nun zu der Soko Wald gehörten.
Das weizenblonde Mädchen hatte am südlichen Rand der Stadt gelebt.
Achtunddreißig Kilometer Luftlinie.
Vielleicht war sie in einem Kofferraum gereist.
Theo saß im Schatten einer Kastanie und trank die zweite Cola. Lucky war noch nicht aufgetaucht. Eigentlich wurde in der Autowerkstatt nur bis siebzehn Uhr gearbeitet.
Die Nachricht, dass die Tote im Wald ein Mädchen gewesen war, so alt wie er, hatte ihn erst nach der Schule im Bus erreicht. Der Fahrer hatte mit einer Frau darüber gesprochen, die hinter ihm saß und sich laut ausließ über eine kaum bekleidete Leiche, die unter einem Farn gelegen habe.
Theo stand nicht weit von ihr, doch er wurde in den hinteren Teil des Busses gedrängt, als weitere Leute zustiegen. Als der Bus sich wieder etwas leerte, fand Theo Platz auf der hintersten Sitzbank, sah dort eine Bild-Zeitung liegen und wusste, woher die Frau ihre Weisheit bezogen hatte.
«Du wartest auf deinen Kumpel?», fragte Sigi und ließ sich auf einen der Klappstühle fallen, die vor dem Tre Castagne standen. «Schlimme Sache da im Wald», sagte er. Sigi färbte sich seine Haare schwarz, seit er Pizza und Eis anbot. Fehlte nur noch, dass er anfing, italienische Lieder zu singen.
Theo nickte. Er hatte eigentlich keine Lust, mit Sigi darüber zu sprechen.
Seine Mutter hatte so verzweifelt ausgesehen, als sie ihm am Nachmittag die Tür geöffnet hatte. «Dass du endlich da bist», hatte sie gesagt und Tränen in den Augen gehabt. Er war keine Minute später aus der Schule gekommen als an anderen Dienstagen.
«Wegen eines toten Mädchens ist doch nicht die Jagd auf alle Siebzehnjährigen eröffnet», war Theos Antwort gewesen. Was ließ ihn da so sicher sein?
«Sie soll ja aus Harburg kommen», sagte Sigi. Ein Gastwirt hörte viel.
Harburg kannte Theo nur vom Daranvorbeifahren, wenn man über die Elbbrücken nach Süden fuhr.
«Ich gebe euch ein Eis aus», sagte Sigi und stand auf. Er hatte Lucky noch vor Theo entdeckt. Es war schon kurz vor sechs.
Ihnen stand gar nicht der Sinn nach Eis, doch sie löffelten die zwei Kugeln, um Sigi nicht zu kränken.
«Hast du in letzter Sekunde einen Ölwechsel machen müssen?», fragte Theo und sah auf Luckys nicht ganz saubere Hände.
«Ein Kunde war noch da und hat einen Aufstand gemacht, weil der Motor seiner Karre ihm nicht lieblich genug in den Ohren klang.» Lucky verschwieg, dass die Karre ein Jaguar XJ war und Lenis Vater gehörte, der von seiner Tochter begleitet worden war. «Du hast doch dieses Geräusch als Erste gehört», hatte ihr Vater gesagt, und es war Lucky klargeworden, dass Leni einen Grund gesucht hatte, in die Werkstatt zu kommen.
«Was hältst du von der Sache?», fragte Theo.
«Das tote Mädchen? Shit happens», sagte Lucky. Er dachte an Leni, die ihn angelächelt hatte, als sei sie nicht im Geringsten verstimmt wegen der geplatzten Liebesszene am Seechen. Dieses Lächeln konnte auch ihrem Vater kaum entgangen sein.
«Aber warum liegt sie in unserem Wald?», bohrte Theo weiter. «Warum nicht in den Harburger Bergen? Da gibt es doch auch Wälder.»
«Warum da?», fragte Lucky.
«Weil Sigi gehört hat, dass sie aus Harburg kommt. Warum hat der Täter die Leiche durch die ganze Stadt gekarrt, um sie dann hier abzulegen?»
«Vielleicht war sie noch quietschfidel, als sie hergekommen ist. Wollte unsere schöne Gegend kennenlernen und hat halt blöderweise ihren Mörder getroffen.»
«Ihren Mörder getroffen», sagte Theo. «Dann war es einer von hier.»
Lucky sah sich nach Sigi um. Der stand an einem Tisch, an dem ein paar Hühner aus Mias Klasse saßen. Seine Schwester war nicht dabei.
«Willst du auch ein Weizen?», fragte er. Theo schüttelte den Kopf.
«Ein Weizen, bitte», sagte Lucky laut und erstarrte in der Bewegung.
Theo sah das Mädchen im nächsten Moment ebenfalls und kniff die Augen zusammen. Ein Strahl Sonne hatte sich auf ihr helles Haar gelegt.
«Da ist Leni», sagte Lucky. Seine Stimme klang rau.
Ein Glück, dass Leni in den Schatten der Kastanien trat. So konnte Theo sie mit weit offenen Augen ansehen. Er betrachtete sie und hoffte, dass sein Herzschlag wieder in Takt kam. Doch der tat eher das Gegenteil, als Leni vor ihrem Tisch stand.
«Doch nicht nur für Kleinkinder, das Tre Castagne?», fragte Lucky und hätte sich auf die Zunge beißen können. Er entwickelte sich zum König des Fettnapfes, sobald Leni in der Nähe war.
Leni sah zu Theo. «Da bin ich mir nicht so sicher.»
Theo verfluchte die Röte, die ihm ins Gesicht stieg. Er stand auf.
«Ich will dich nicht vertreiben», sagte Leni.
Genau das willst du, dachte Theo. Er senkte den Kopf und legte das Geld für zwei Gläser Cola auf den Tisch.
«Das ist Theo», sagte Lucky. Er klang verlegen. Was immer er jetzt tat, war falsch. Theo gehen lassen. Theo zum Bleiben bewegen.
«Wir sehen uns morgen», sagte Theo. Lucky und er hatten gar nichts verabredet, doch er sagte es, damit sein Abgang nicht noch kläglicher wirkte.
«Klar», sagte Lucky und hielt die Hand hoch, damit Theo einschlagen konnte. Das taten sie sonst nie. Vielleicht wollte Lucky ihm damit seine Verbundenheit ausdrücken. Vielleicht hatten sie beide die Hoffnung, dadurch lässig auszusehen.
Er hatte den Sonnenstrahl auf ihrem Haar gesehen, und die Erkenntnis schnitt ihm ins Herz. War er wirklich so vermessen gewesen zu glauben, es gäbe kein anderes Geschöpf mit goldenen Haaren? Kein anderes als dieses, das er im Wald zurückgelassen hatte? Er schloss die Augen und hoffte, sie geriete ihm aus dem Blick und fände nie mehr hinein. Er sah sie nicht mehr, als er die Augen öffnete. Doch da wurde ihm nur eine Frist gewährt. Das wusste er.
Theo schloss die Tür auf. Stille. Keine Stimmen. Nicht von Ma und Pa und nicht aus dem Fernseher. Klar. Es war Dienstag. Da hatte seine Mutter ihre Chorprobe in der Kirche und sein Vater den langen Tag in der Verwaltung. Auf dem Küchentisch lag ein Zettel, der auf belegte Brote im Kühlschrank verwies. Theo war erleichtert, allein zu sein. Seine Mutter hätte in seinem Gesicht lesen können, was in ihm vorging.
Er nahm den Teller mit den Tomatenbroten hinauf in sein Zimmer und stellte sich vor den Spiegel, der früher im Flur gehangen hatte, bis dorthin ein größerer gekommen war und Ma befand, ein junger Mann müsse sein Aussehen kontrollieren, bevor er aus dem Zimmer trat. Wahrscheinlich hatte sie nur eine Lösung für den alten Spiegel gesucht.
Was las er in dem langen blassen Gesicht, das ihm entgegenblickte? Sah er wirklich so viel jünger aus als Lucky? Oder einfach nur verletzlich, wie seine Mutter sagte? Ein Denker, wie Lucky immer meinte? Diese Leni war jedenfalls bestens geeignet, ihn zu verletzen. Legte sie es darauf an?
Theo öffnete das Fenster und sah zum alten Ellerbek, der seinen Korbsessel hervorgeholt hatte und im Garten saß. Ma und Pa warteten jedes Jahr lange damit, bis sie die drei alten Stühle aus weiß lackiertem Schmiedeeisen und den Tisch aus dem Keller in den kleinen Garten trugen. Ihnen schien jede Leichtigkeit schwerzufallen. Ihre bevorzugte Jahreszeit war der Winter, wenn sie die Türen schließen konnten und kein Außenleben von ihnen erwartet wurde.
Jede Familie hatte ihre Macken. Auch bei Lucky war es nicht nur lustig.
Luckys Vater war vor ein paar Jahren auf und davon gegangen und lebte irgendwo in Mecklenburg. Lucky war damals zwölf gewesen und Mia erst sieben. Max, der Älteste, machte seitdem nur Ärger. Hatte zwei Ausbildungen abgebrochen und hing auf St. Pauli rum.
Dennoch atmete Theo auf, wann immer er bei Lucky am großen Küchentisch saß, wo alle durcheinanderredeten und gelacht wurde. Lachen. Das geschah in seiner eigenen Familie selten.
Wer war das Mädchen, das tot im Wald gelegen hatte?
Sie tat ihm leid. Auch wenn man das Leben skeptisch betrachtete, wie er das tat, durfte es doch für Siebzehnjährige nicht einfach so vorbei sein.
Wie alt war Leni? So wie sie sich aufführte, vielleicht schon jenseits der achtzehn. Zur Schule schien sie jedenfalls nicht mehr zu gehen. Sollte er Lucky über sie ausquetschen? Theo wusste es nicht. Wusste nur, dass da etwas zog in der Herzgegend, wenn er an Leni dachte.
Lüttich hatte sich nicht danach gedrängt, Leiter dieser Soko zu werden.
Er wurde es, weil er einmal eine kurze Zeit lang erfolgreich gewesen war, als es darum ging, den Mord an einer jungen Frau aufzuklären. Das war Jahre her, und heute hätte er lieber die Sonderkommission Cannabis geleitet oder ein paar Bankräuber gejagt, als ein Ermittler der Mordkommission zu sein.
Er stand in der Rechtsmedizin der Universitätsklinik und betrachtete den toten Körper, der einmal Sarah gewesen war, mit großer Sorgfalt.
Keine andere Spur von Gewalt an ihr als die Male am Hals. Abdrücke von Daumen, die fest zugedrückt hatten, um ihr den Tod zu bringen.
Ihre Fersen waren blutig gewesen, doch das stand in einem anderen Zusammenhang. Sarah hatte sie sich in den Fellstiefeln wund gelaufen, in denen ihre nackten Füße gesteckt hatten. Ausgerechnet Fellstiefel an einem der seltenen heißen Tage in dieser Stadt.
Lüttich hatte keine Kinder. Dafür war er dankbar in diesem Augenblick, als er vor Sarah stand. Wie leicht Kinder abhandenkommen konnten.
Dieses weizenblonde Mädchen, wer war ihm widerfahren?
Er kehrte in sein Büro zurück und arbeitete sich durch die Aussagen und Beobachtungen, die sie in den vergangenen vierundzwanzig Stunden zusammengetragen hatten. Bei einer Anzeige wegen versuchter Vergewaltigung blieb er hängen. Max Oldelev. Einundzwanzig Jahre alt. Auch schon als Beteiligter an verschiedenen Prügeleien aufgefallen. Lüttich las die Notiz, die seine Kollegin hinzugefügt hatte. Oldelev lebte etwa zehn Minuten Fußweg von dem Wald entfernt. Obwohl diese Nähe gar nichts bedeuten musste. Sarah hatte am anderen Ende der Stadt gelebt. Überall in Hamburg konnte sie ihrem Mörder begegnet sein.
Doch er würde sich Max Oldelev mal angucken.
Sonst war die Gegend eher gewaltarm, wenn man von den Einbrüchen einmal absah. Einige schwere Unfälle auf der Bundesstraße nach Kayhude. Ein Kind, das sich auf einem Spielplatz unglücklich mit der Kordel seiner Kapuze an einem Klettergerüst erhängt hatte. Schlägereien. Kaum etwas anderes war aktenkundig geworden. Doch, Moment. Beinah hätte er etwas übersehen. Ein Mann hatte versucht, seine Frau zu erwürgen. Auch die beiden lebten nicht weit vom Wald entfernt.
Seine Kollegin graste Harburg ab, dann würde er das mal mit dem nördlichen Rand von Hamburg tun.
Lüttich stand auf und zog sein Jackett an, das über der Stuhllehne hing. Viel zu warm, das Tweedjackett. Der Sommer hielt sich schon ganze zwei Tage. Vielleicht sollte er mal seinen leichten Anzug lüften, ehe das gute Wetter vorbei war. Warum nur hatte Sarah Fellstiefel angehabt, um sich darin die Fersen blutig zu laufen?
Seine Mutter war gestern Abend mit verweinten Augen aus der Kirche gekommen. Theo hatte noch in der Küche gesessen und es gesehen.
«Sitzt er vor dem Fernseher?», hatte sie gefragt, und ihr Ton war nicht freundlich gewesen. Theo hatte genickt. Doch ihn wunderte die Frage.
Er war immer davon ausgegangen, dass Ma die Fernsehflucht guthieß, die sie da allabendlich betrieben. Seit Jahren kannte er es nicht anders.
Jäh hatte sie diesen Anfang eines Gespräches beendet und war hinaufgegangen zum Fernsehzimmer.
Als er an diesem frühen Nachmittag aus der Schule gekommen war und sich an den Küchentisch setzte, um die Nudeln mit Hacksoße zu essen, kam er noch mal darauf zurück. «Was war gestern in der Kirche los, Ma?»
«Was soll da gewesen sein?»
«Du hattest geweint. Deine Augen waren rot.»
«Ach was. Ich war müde. Die Proben haben sich hingezogen, wegen des Konzerts am Sonnabend. Und die anderen hatten vorher noch reden wollen über das Mädchen im Wald.»
«Und du hast nicht drüber reden wollen?»
«Nein. Wem nutzt das denn?» Seine Mutter sah aus dem Fenster, das wie seines zur Straße hinausblicken ließ.
«Um wie viel Uhr ist euer Konzert?», fragte Theo.
«Du brauchst nicht zu kommen. Wird sowieso kaum voll werden bei dem guten Wetter. Da setzen sich doch alle in ihre Gärten.»
«Dann ist es doch gut, wenn wenigstens ich in der Kirche sitze», sagte Theo.
«Siebzehn Uhr fängt es an. ‹Du meine Seele, singe› heißt das Konzert.»
«Aha», sagte Theo.
«Ich gehe heute Abend wieder zur Probe. Das hat alles einen viel perfektionistischeren Anspruch als früher.»
Theo zögerte zu fragen, wer diesen Anspruch erhob. Er nahm an, dass die verweinten Augen mit dem- oder derjenigen zusammenhingen. Seine Mutter war leicht gekränkt, wenn Kritik an ihr geübt wurde. Er hatte keine Ahnung, wer im Kirchenchor das Sagen hatte. Er hielt sich von der Kirche fern, seit er vor drei Jahren konfirmiert worden war.
«Hast du gehört, dass Henze wieder da ist?», fragte er.
«Darüber wurde gestern auch gesprochen», sagte seine Mutter. «Wäre doch besser gewesen, hätte der tot im Wald gelegen.»
Theo sah seine Mutter an. Genau das war ihm auch durch den Kopf gegangen. Dennoch hatte er nicht erwartet, dass sie es aussprach.
«Theo?» Seine Mutter griff nach einem Küchentuch und drehte es in den Händen. «Im Traum sehe ich dich liegen», sagte sie. «Irgendwo. Tot.» Sie lächelte verlegen. «Pass auf dich auf», sagte sie.
Lucky war frühzeitig zu Hause gewesen. Ein kleiner Ausgleich für die Überstunde gestern. Weder Max noch Mia waren da. Auch Mama nicht. Sie arbeitete bei Karstadt in der Mönckebergstraße und hatte heute die späte Schicht. Da kam sie nicht vor zweiundzwanzig Uhr nach Hause. War eine ziemlich lange Fahrt in die Innenstadt und zurück.
Dafür leben wir im Grünen, sagte seine Mutter gern. Grüner als mit diesem Wald um die Ecke ging es wirklich kaum.
Lucky hatte gerade das verschwitzte Shirt abgestreift und stand mit nacktem Oberkörper vor dem Kühlschrank, um ein Bier herauszuholen, als es an der Tür klingelte.
Lüttich sah den jungen Mann mit dem gut trainierten gebräunten Oberkörper in der Tür stehen und schwitzte noch mehr in seinem Tweedjackett. «Max Oldelev?», fragte er.
«Das ist mein Bruder», sagte Lucky, «und der ist nicht da.» Er hatte keinen Zweifel, dass es ein Bulle war, der da vor ihm stand.
Lüttich holte den Ausweis hervor und die Metallmarke. «Ich würde Ihren Bruder gern sprechen. Wann könnte ich denn da Glück haben?»
Das Glück, Max anzutreffen. Lucky hätte beinah mit den Augen gerollt. Max war nie da, wenn man ihn brauchte. Nur in völlig unpassenden Momenten lief er mal durchs Bild, wie vorgestern, als Leni am Auto lehnte.
«Geht es um diese Anzeige?», fragte Lucky.
Lüttich zögerte. Die Anzeige hatte ihn diese Spur aufnehmen lassen.
Er schüttelte den Kopf. «Nur eine Abklärung», sagte er.
Eine Abklärung. Was war eine Abklärung?
«Bitte kommen Sie wieder, wenn Max da ist», sagte Lucky, «oder meine Mutter. Ich kann Ihnen gar nichts dazu sagen.»
Lüttich nickte. «Ich gebe Ihnen meine Karte», sagte er.
«Es geht um das Mädchen im Wald, oder?», sagte Lucky aufs Geratewohl.
Lüttich sah ihn überrascht an.
«Damit hat mein Bruder sicher nichts zu tun.»
«Können Sie mir dazu etwas mehr sagen?»
Die Tür hinter Lüttich öffnete sich einen Spalt. «Guten Tag, Frau Ganske», sagte Lucky laut.
Lüttich drehte sich um, doch der Spalt verschwand gerade.
«Eine neugierige Nachbarin», sagte Lucky. «Kommen Sie rein.» Er ließ den Kommissar in das kleine Zimmer eintreten, das seine Mutter die «gute Stube» nannte. Viel stand nicht darin. All das, was sein Vater damals mitgenommen hatte, war nie ersetzt worden. Ein großes Sofa gab es, auf dem sie alle Platz fanden, Mama, Mia, Max und er, und wo sie dann saßen wie Hühner auf der Stange. Saßen sie nicht darauf, lagen da ein Haufen Kissen, die mit Glitzersteinchen bestickt waren. Mamas Vorstellung von Glanz.
Lucky ließ das gerade jetzt an Lenis BH denken.
Sie blieben beide vor dem hellen Eichenbuffet stehen, eines der besseren Stücke in dieser Wohnung. Gerahmte Kinderfotos standen darauf. Von Max und Mia und ihm.
«Sie sind schon achtzehn?», fragte Lüttich.
Lucky sah gekränkt aus. «Klar», sagte er, «ich heiße übrigens Lukas.»
«Kannten Sie das Mädchen aus dem Wald?»
«Ich weiß von ihr nur das, was in den Zeitungen stand.»
«Sie war in Ihrem Alter. Könnte doch sein, dass Sie ihr bei einer Party begegnet sind, in einem Jugendtreff oder so. Vielleicht irgendwo hier in der Gegend.»
«Ich ziehe mir schnell was über. Kommt mir komisch vor, halbnackt vor Ihnen zu stehen», sagte Lucky und ging nach nebenan ins Schlafzimmer seiner Mutter, wo der Korb mit der gewaschenen Wäsche stand und aufs Bügeln wartete. Er nahm ein T-Shirt vom Stapel und ging zu Lüttich zurück. Eigentlich ganz nett, dieser Bulle, dachte er.
«Sie haben das Bild von ihr in den Zeitungen gesehen?»
Lucky nickte. Er hatte es gesehen und gedacht, dass die Tote helle lange Haare hatte wie Leni, doch das würde er dem Kommissar nicht auf die Nase binden.
«Ich kenne sie nicht», sagte er.
Lüttich kramte eine Visitenkarte aus seinem Jackett und gab sie Lucky.
«Ihr Bruder soll sich bei mir melden», sagte er.
«Ich werde es ihm klarmachen», sagte Lucky.
Er brachte Lüttich zur Tür und wartete, bis der Kommissar die erste der vier Treppen hinuntergegangen war. Als er die Tür gerade schließen wollte, nahm er ein Geräusch aus dem Stock über ihm wahr. Ein kleines Zischen, als ob es jemand nicht ganz schaffte zu pfeifen. Lucky blickte hoch und sah Max dort oben hocken und durch die Stäbe des Geländers gucken.
Max legte einen Finger auf die Lippen und stand erst auf, als unten die Haustür ins Schloss fiel.
«Bullenbesuch?», fragte er.
«Und warum hockst du da oben?», gab Lucky zurück.
«Ich habe eure Stimmen gehört und keine Lust auf eine Begegnung.»
«Lauschst du immer erst an der Tür, bevor du aufschließt, oder was?»
«Das Auto vorm Haus kam mir schon verdächtig vor.»