When you look at me

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«Ihr letzter Termin ist hier, Mr. Gaines.»

Xavier riss den Blick von seinem Monitor los und drückte den Sprechknopf des Telefons auf seinem Schreibtisch, aus dem die blecherne Stimme seiner Sekretärin erklungen war. «Bitte schicken Sie sie in fünf Minuten herein.»

«Ja, Sir.»

In fünf Minuten würde endlich das Treffen stattfinden, auf das er bereits seit der Terminvereinbarung vor einigen Wochen hinfieberte. Im Grunde sogar noch länger, wenn man das letzte Jahr mitzählte, seit er sie auf dieser Wohltätigkeitsgala gesehen hatte. Er hatte auf eine Lücke in ihrem Terminplan warten müssen, bevor sie bereit gewesen war, sich überhaupt mit ihm zu treffen. Und dafür hatten seine Angestellten sich mächtig ins Zeug legen müssen.

Nervös stand er von seinem Schreibtisch auf und ging zur Fensterwand seines Büros im obersten Stockwerk eines Hochhauses im Bankenviertel von San Francisco. Gaines Industries gehörte zu den vielen Fortune-500-Firmen, die ihren Sitz in den sterilen Wolkenkratzern in dem Gebiet östlich der Kearny Street hatten. Die Dämmerung brach gerade herein und tauchte die Bucht in der Ferne durch einen Nebelschleier in pinkes und purpurnes Licht. Anders als in vielen anderen Großstädten, wo der Finanzdistrikt nach Feierabend verwaiste, blieb das historische Bankenviertel von San Francisco lebendig, dank all der

Die phantastische Aussicht half ihm nicht, seine Nerven zu beruhigen. Sein Magen verkrampfte sich vor Anspannung, und da er allein war, rieb er sich den Bauch. Die meisten Menschen hätten niemals vermutet, dass er unter seinem Tausend-Dollar-Anzug einfach nur ein Computernerd war, der darum kämpfte, seinen Platz in der Welt zu finden. Seine Angestellten nannten ihn «Iceman», und die Medien hatten ihn in die Schublade «berechnend und mysteriös» gesteckt. Auch wenn seine Firma gut dastand und Millionen abwarf, lief doch nicht alles so reibungslos, wie er es sich vorstellte. Im letzten Quartal hatten die Aktien fünf Prozent an Wert verloren. Das Ende seiner kurzen Beziehung mit dem aufstrebenden Model Pamela Squire hatte zudem an seinem Image gekratzt, vor allem die Dinge, die sie über ihn gesagt hatte – in aller Öffentlichkeit. Das war das Ergebnis, wenn er jemandem auch nur ein bisschen vertraute – er wurde als kaltherziger Schlipsträger und emotional verkümmert beschrieben.

Der rein geschäftlichen Seite seines Lebens war er gewachsen, den sozialen Aspekten nicht so sehr. Unglücklicherweise liefen Wirtschaft und Public Relations immer Hand in Hand.

Und genau aus diesem Grund brauchte er Peyton Smoke. Es war immens wichtig, sie davon zu überzeugen, den Job anzunehmen und ihm zu helfen – besonders weil nächsten Monat die Verhandlungen über die Regierungsaufträge anstanden. Allein bei dem Gedanken daran, wie viel Medienaufmerksamkeit dieses Geschäft hervorrufen würde, bekamen seine Magengeschwüre Magengeschwüre.

«Miss Smoke ist hier, um Sie zu sehen, Mr. Gaines.»

Xavier wandte sich vom Fenster ab, um seine Sekretärin

Peyton Smoke war mit den Jahren nur noch schöner geworden. Sie hatten einander seit der Highschool nicht mehr gesehen – ließ man den kurzen Blick außer Acht, den er bei der Gala letztes Jahr auf sie erhascht hatte. Langes, champagnerblondes Haar fiel bis über ihre Schultern. Das hellblaue Kostüm betonte ihre schlanke Silhouette, und ihr Outfit war zwar sexy, sagte ihm aber zugleich, dass sie keine halben Sachen machte. Wenn er sich richtig erinnerte – und das tat er –, waren die Augen hinter der geschäftsmäßigen schwarz umrandeten Brille himmelblau. Ihre Haut wirkte immer noch so hell und zart wie damals, mit nur einem Hauch von Pfirsich auf den Wangen. Auf ihren sündhaft roten Lippen lag ein höfliches Lächeln. Eilig sah er Fern an, weil sein Herz zu rasen begann.

Seine Sekretärin war Mitte fünfzig und trug ihre wilden braunen Locken unordentlich hochgesteckt. Er hatte den gesamten Tag noch nicht bemerkt, dass sie eine einfache graue Stoffhose mit einer farblich passenden Bluse trug. Es irritierte ihn, dass ihm Ferns Kleidung nun auffiel – und er sie zudem mit Peytons elegantem Outfit verglich.

Xavier räusperte sich. «Das wäre dann alles, Fern, vielen Dank. Sagen Sie allen, dass sie Feierabend machen können.»

«Ja, Sir.» Sie senkte den Blick auf den Boden, verließ den Raum und schloss die Tür hinter sich.

Die meisten seiner Angestellten hatten Probleme, Xavier in die Augen zu sehen. Ihn interessierte das nicht besonders, doch Peyton hatte es anscheinend registriert, da sie leicht irritiert die Augenbrauen hochzog.

«Miss Smoke, danke, dass Sie gekommen sind. Setzen Sie sich doch.»

Sie sah sich kurz in seinem Büro um, bevor sie auf dem Stuhl ihm gegenüber Platz nahm.

Er fragte sich, welchen ersten Eindruck sie wohl gewonnen hatte. Eilig schaute auch er sich um und versuchte, den Raum durch ihre Augen zu sehen. Er hatte vor ein paar Jahren einen Innenarchitekten beauftragt und dem Mann vollkommen freie Hand gelassen. Daher waren die Möbel in der Sitzecke am anderen Ende des Raums mit schwarzem Leder bezogen, die Tische bestanden aus Eisen und Glas, der Teppich war in kühlem Grau gehalten und sein Schreibtisch aus schwarzem Walnussholz. Die Bilder an den Wänden zeigten abstrakte Farbkleckse ohne jede Persönlichkeit. Wahrscheinlich wirkte sein Büro genauso gefühlskalt und unpersönlich, wie er selbst gerne in den Medien dargestellt wurde.

«Es ist schön, dich wiederzusehen. Du hast dich ziemlich verändert.» Sie tippte sich an die Schläfe. «Du bist deine Brille losgeworden, und ich habe eine bekommen. Und du wirkst so erwachsen.»

Nun, ein Wachstumsschub im College, gefolgt von unzähligen Stunden im Fitnessstudio, dazu ein paar Kontaktlinsen … all das zusammengenommen hatte den dürren Jungen aus der Highschool, der ständig gemobbt worden war, in einen Mann verwandelt, der sich behaupten konnte. Die Veränderungen hatten nicht über Nacht stattgefunden, aber für Peyton mussten sie überraschend sein.

Er nickte und konzentrierte sich auf die dünne Goldkette um ihren Hals. Ein kleiner Anhänger in Form eines Schlüssels lag in der Kuhle zwischen ihren Schlüsselbeinen.

Der fünfzehnjährige Xavier Gaines war kein Junge gewesen, den die Leute bemerkten – wenn sie nicht gerade auf ihm herumtrampelten, um sich überlegen fühlen zu können.

«Natürlich erinnere ich mich. Du hast mich unbeschadet durch Geometrie und Algebra gebracht.» Ihr Tonfall war so weich und geschmeidig wie die weiße Seidenbluse unter ihrem Jackett. In der Highschool hatte sie die Fähigkeit besessen, fast alles von den Leuten zu bekommen, was sie wollte, nur indem sie ihre Stimme geschickt einsetzte.

Und natürlich erinnerte sie sich an ihren Matheunterricht. Aber an ihn? Xavier hatte nie vergessen, dass sie die Einzige gewesen war, die damals für ihn eingetreten war und ihm in der Cafeteria einen Platz an ihrem Tisch angeboten hatte. Dieses mutige Verhalten hätte sie zu einer Ausgestoßenen machen können, doch stattdessen hatten alle Peyton geliebt. Es war den Leuten schwergefallen, nicht in ihre Umlaufbahn gesogen zu werden.

Er verschränkte die Finger fester, um sich unter ihrem direkten Blick nicht zu winden. «Ich bin mir ziemlich sicher, dass du es auch ohne meine Hilfe geschafft hättest.»

Das Grinsen, das auf ihrem Gesicht erschien, raubte ihm den Atem. «Du unterschätzt dich, Mr. Killer-IQ. Du hast eine App, die du in einem Studentenzimmer entwickelt hast, für fünfzig Millionen Dollar verkauft. Und ich meine mich zu erinnern, dass du auch als einer der begehrenswertesten Junggesellen an der Westküste gelistet wirst. Ich glaube, das war im People Magazine, richtig? In dem Artikel stand, dass dein unglaublich gutes Aussehen und dein Hirn deinen Mangel an Charme ausgleichen würden. Und dass die richtige Frau dich eines Tages schon ‹auftauen› würde.»

Sie legte den Kopf schief. «Ich lese den Alumni-Newsletter unserer alten Highschool.» Sie schürzte die Lippen. «Und das Wall Street Journal, die New York Times, bla, bla, bla. Also, hast du mich herbestellt, um über alte Zeiten zu reden, oder ist das ein geschäftlicher Termin?»

Seltsamerweise verspürte er plötzlich den Drang zu lächeln – was deswegen ungewöhnlich war, weil er sich normalerweise in der Gegenwart anderer Menschen nicht wohlfühlte und sich nicht erinnern konnte, wann er das letzte Mal gelächelt hatte. «Ein bisschen von beidem, um ehrlich zu sein.» Sie musste sein Angebot unbedingt annehmen, und so langsam bekam er den Eindruck, dass er jemanden wie sie nicht überzeugen konnte, solange sich ein Schreibtisch zwischen ihnen befand. «Hast du schon Pläne fürs Abendessen?»

Sie drückte sich eine Hand zwischen die Brüste – die er vergeblich zu ignorieren versucht hatte, nachdem sie sich seit der Highschool offensichtlich weiterentwickelt hatten – und keuchte theatralisch.

«Bittet der berühmte Mr. Gaines mich gewöhnliche kleine Person etwa um meine Begleitung?»

In diesem Moment sah er wieder einen der Gründe bestätigt, warum er sie so dringend brauchte: Sie besaß die Fähigkeit, jeder Person in ihrer Umgebung das Gefühl zu geben, sie wäre wichtig. In seiner Welt konnte das einen Geschäftsabschluss ermöglichen oder verhindern.

«Ja. Und wieso diskutieren wir den Rest nicht bei einem Essen?»

Sie musterte ihn einen Moment lang eindringlich. «Das hängt davon ab. Gehen wir in ein schickes Restaurant, wo ich die

Für einen Moment erlaubte er sich den Anflug eines Lächelns. Laut der Informationen, die er über sie eingeholt hatte, sprach sie fließend Schwedisch und Französisch und konnte sich im Fall des Falles auch auf Italienisch in einem Gespräch behaupten. Sprachen waren nie ihr Schwachpunkt gewesen. In der Highschool hatte sie sich sehr für das Fach Englisch begeistert, besonders für englische Poesie. Ziemlich oft hatte er sie in der Bibliothek gesehen, wie sie in einem Buch las.

Er stand auf. «Wir können überall hingehen, wo du möchtest.»

Sie stand ebenfalls auf und griff nach ihrer Handtasche, die zu ihren schwarzen High Heels passten. Allein deren Anblick verursachte ihm schon Schmerzen in den Knöcheln. Wie Frauen sich in diesen Folterinstrumenten bewegen konnten, ging über seinen Verstand.

«Bitte, nach dir.»

Ihr abschätzender Blick wanderte durch die obere Lobby, als sie zu den Liften gingen. Er vermutete, dass sie auch hier von dem effizienten Dekor nicht besonders beeindruckt war.

Sobald die Aufzugtüren sich hinter ihnen geschlossen hatten, drang in dem beengten Raum ihr Parfüm an seine Nase: leicht und luftig, mit einem Hauch von Beeren, Pfirsich und Moschus. Ein subtil sinnlicher Duft, Peyton nicht unähnlich. Der Duft hatte einen blumigen Unterton, und die Neugier löste seine Zunge.

«Ich mag dein Parfüm.» Verdammt. Zu reden, ohne vorher gründlich über seine Worte nachzudenken, entsprach eigentlich nicht seinem Charakter. Im Grunde galt das für jede Form von unnötigen Gesprächen. Xavier drückte den Knopf für die Lobby und vergrub die Hände in den Hosentaschen.

Amüsiert starrte er die rückwärts laufenden Zahlen über der Tür an. «Du hast ein Parfüm nach den Inhaltsstoffen ausgesucht?»

«Na ja, deswegen, und es roch toll.» Sie musterte ihn aus dem Augenwinkel. «Und der Flakon ist hübsch.»

Ein überraschtes Lachen entschlüpfte seiner Kehle. Er würde darauf achten müssen, in ihrer Umgebung wachsam zu bleiben.

«Ah, also ist er doch kein Gletscher.» Ihr neckender Tonfall passte zu dem Glitzern in ihren Augen.

Er brummte. «Offensichtlich hast du auch den Forbes-Artikel gelesen. Ich glaube, die genauen Worte lauteten: so eiskalt wie ein Gletscher in Grönland.»

«Fühl dich deswegen nicht schlecht. Sie haben auch geschrieben, du seist auf kryptische Weise brillant.»

«Du hast ein gutes Gedächtnis.» Dieser Artikel war vor zwei Jahren erschienen, als er nach dem Verkauf seiner Software-App Gaines Industries gegründet hatte.

«Um genau zu sein, ist es fotografisch.» Sie zuckte mit den Achseln. «Und wenn mich etwas interessiert, dann schenke ich dem Aufmerksamkeit.»

Unsicher, ob er sich geschmeichelt fühlen oder lieber nervös werden sollte, weil sie ihn interessant fand, legte er eine Hand an ihr Kreuz, um sie aus dem Aufzug zu geleiten.

Sein Bodyguard erhob sich von seinem Stuhl in der unteren Lobby und knöpfte sein schwarzes Anzugjackett zu. «Bereit zum Aufbruch, Mr. Gaines?»

«Ja. Joseph Limerick, ich möchte dir Peyton Smoke

Xavier hatte Joseph am Tag nach der Eröffnung von Gaines Industries eingestellt und diese Entscheidung nie bereut. Der ehemalige Army Ranger war dreiunddreißig Jahre alt, körperlich fit, absolut wachsam und hatte eine wirklich angenehme Persönlichkeit. Außerdem setzte er Anordnungen gut um und hielt sich dezent im Hintergrund, wenn es nötig war. Laut Xaviers Ex Pamela war der Mann auch durchaus nett anzusehen. Sein glatt rasierter Schädel passte in gewisser Weise gut zu seinem scharf geschnittenen Gesicht mit den stechenden braunen Augen. Und er füllte seinen Anzug besser aus als Xavier.

Mit hochgezogenen Augenbrauen musterte Peyton den Bodyguard von oben bis unten. «Muss ich mir in deiner Nähe Sorgen um meine Sicherheit machen, Xavier?»

«Nicht, solange Joseph dabei ist. Auch wenn es ein paar Drohungen gab, ist seine Anwesenheit überwiegend eine Vorsichtsmaßnahme.»

Peyton verdrehte die Augen und lächelte, als amüsierte sie sich über ihn.

Okay. «Du hast das als Witz gemeint.» Er vergrub die zu Fäusten geballten Hände wieder in den Hosentaschen.

«Ja, hatte ich.» Sie streckte dem Bodyguard die Hand entgegen. «Schön, Sie kennenzulernen. Danke, dass Sie unserem Land gedient haben.»

Joseph schüttelte ihre Hand und verbeugte sich leicht. «Die Freude ist ganz auf meiner Seite. Wohin soll es gehen?»

«Zum Abendessen.» Xavier räusperte sich. «Bist du mit dem Auto hier, Peyton?»

«Nein, ich bin mit dem Taxi gekommen.»

Sie gingen zu Xaviers am Straßenrand wartendem Wagen. Sofort öffnete sein Fahrer die Hintertür für sie. Die Luft war angenehm kühl und feucht für August, da von der Bucht her ein salziger Wind wehte. Xavier bedeutete Peyton, zuerst einzusteigen, doch stattdessen wandte sie sich seinem Fahrer zu, die Tür zwischen ihnen.

Sie legte eine Hand auf seinen Arm. «Wie heißen Sie?»

Die dunkle Haut des Mannes mittleren Alters erblasste leicht, und er senkte den Blick. Xaviers Angestellte waren nicht daran gewöhnt, dass seine Gäste direkt mit ihnen sprachen. «Archie Shift, Miss.»

«Ich freue mich, Sie kennenzulernen.» Sie tätschelte seine Hand, bevor sie auf den Rücksitz glitt.

Ein kurzes Lächeln huschte über Archies Gesicht, und schon nach einer Drittelsekunde war klar, dass auch Xaviers Fahrer Peytons Zauber verfallen war. Ein kurzer Blick auf Josephs Grinsen verriet, dass es seinem Bodyguard genauso ergangen war.

Mit einem Kopfschütteln stieg Xavier hinter ihr ein.

Sie landeten auf ihren Vorschlag hin in einer Pizzeria – ausgerechnet. Ein schneller Blick über die Ziegelwände und die einfachen Sitznischen bestätigte Xaviers Befürchtung, dass er hier vollkommen fehl am Platz war. Der köstliche Duft von Knoblauch und Tomatensoße erinnerte ihn allerdings daran, dass er nichts zu Mittag gegessen hatte. «Ich bin für dieses Lokal ein wenig overdressed.»

Noch im Türrahmen musterte Peyton ihn von oben bis unten. Bevor Xavier wusste, wie ihm geschah, hatte sie ihm das Jackett ausgezogen, seine Krawatte gelöst und die Ärmel seines Hemds bis zu den Ellbogen aufgerollt.

Dann setzten sie sich an einen Tisch. Xavier ließ sie bestellen, dann starrte er erneut auf ihre Kette. Etwas zu haben, worauf er sich konzentrieren konnte, half ihm, die Ruhe zu bewahren. Er fragte sich, von wem sie den Anhänger wohl bekommen hatte. Wahrscheinlich von ihrem verstorbenen Verlobten. Durch Bekannte hatte Xavier von Marks Selbstmord im letzten Jahr erfahren. Er hatte den Mann nie kennengelernt, aber Mark hatte mit Peytons Bruder Brian im Irak gedient. Mark hatte sich nur wenige Monate nach Brians Tod im Dienst das Leben genommen. Peyton war von ihrem Bruder aufgezogen worden, nachdem ihre Eltern im dritten Highschool-Jahr bei einem Autounfall ums Leben gekommen waren. Damit besaß sie nun gar keine Familie mehr.

Niemand – besonders nicht jemand, der so offen und freundlich war wie Peyton – sollte von so viel Dunkelheit umgeben sein. Und man hätte bei ihrem Anblick auch niemals etwas davon geahnt.

Als ihre Blicke sich begegneten, machte sich sein Mund erneut selbständig. Verdammt, ihre Augen hauten ihn immer noch um wie ein Schlag auf den Solarplexus. «Es hat mir sehr leidgetan, als ich das von Brian und Mark gehört habe.»

Sie starrte für einen Moment auf die Tischplatte, dann nickte sie langsam. «Danke dir. Die Arbeit hat mich abgelenkt.» Sie spielte an ihrem Kettenanhänger herum, dann lächelte sie. «Wie geht es deinen Eltern?»

«Sehr gut, vielen Dank.» Xavier hatte ein gutes Verhältnis zu seinen Eltern, doch er besuchte sie nicht oft. Seine Mutter mochte die Vorzeigefrau eines karriereorientierten Firmenanwalts gewesen sein, doch sein Vater liebte sie über alle Maßen. «Dad geht nächstes Jahr in den Ruhestand.»

Ach ja. Das. Seine Nackenmuskulatur verspannte sich. «Ich will dir einen Job anbieten.»

Wieder schossen ihre Augenbrauen nach oben. «Ich habe bereits einen.»

«Ich weiß.» Sie gehörte seit seiner Wahl vor drei Jahren zum Team von Bürgermeister Harrison. «Stimmt es, dass Harrison sich um einen Sitz im Senat bewerben will?»

Ihr strahlendes Lächeln bekam eine verschlagene Note. «Das kann ich weder bestätigen noch dementieren.»

Er konnte einfach nicht anders – er lächelte. «Wirst du bei ihm bleiben, wenn er das durchzieht?»

«Der Job wurde mir angeboten. Warum? Wie sieht dein Angebot aus?» Sie stützte ihr Kinn in die Hand, als diskutierten sie ein völlig harmloses Thema – wie süße Katzenbabys. Das war ihre große Gabe. Sie bekam die Leute an den Haken und holte sie gemächlich ein – und ihre Beute wünschte sich das auch noch.

Xavier beschloss, ihr erst einen Überblick über die Hintergründe zu verschaffen, und trank einen Schluck Wasser, um ein wenig Zeit zu gewinnen.

«Ich bin mir nicht sicher, wie viel du über Gaines Industries weißt, aber bisher haben wir uns hauptsächlich auf Apps, Geräte und Software für den privaten Sektor konzentriert. Im Stillen haben wir allerdings noch ein weiteres Standbein aufgebaut – für das Militär. Es geht dabei um zahlreiche Projekte, von der Nachverfolgung heimgekehrter Veteranen, um ihnen bessere medizinische Nachsorge zukommen zu lassen, bis hin zu zielgenaueren Waffen, um Kollateralschäden zu vermeiden. Mir bietet sich die Möglichkeit, einen Zehn-Jahres-Vertrag mit dem Militär

«Wow.» Peyton richtete sich auf. «Damit würde die Firma in eine ganz andere Liga aufsteigen.»

«In der Tat.» Er runzelte die Stirn. «Doch es gibt ein paar interne Probleme auf meiner Seite. Es wurden Bedenken zu meinen Motiven geäußert. Du hast gelesen, wie ich in den Medien dargestellt werde … und nachdem Regierungsverträge immer viel Aufmerksamkeit hervorrufen, zögern sie, sich mit jemandem einzulassen, der keine Gefühle und keine Persönlichkeit besitzt und zudem unfähig ist, in der Öffentlichkeit souverän aufzutreten. Gaines Industries wäre der Hauptansprechpartner für die Projekte, während wir gleichzeitig unsere aktuellen Geschäftsfelder fortführen.» Er hielt inne. «Ich bin zu … steif.»

Sie schürzte die Lippen und trommelte nachdenklich mit den Fingern auf den Tisch. «Du brauchst eine bessere PR-Managerin.»

«Und da kämest du ins Spiel. Bisher kümmert sich eine Agentur für uns um Pressemeldungen und Ähnliches, doch die wäre diesen neuen Ausmaßen nicht gewachsen.»

Der Kellner brachte das Essen und ging wieder. Peyton legte auf jeden Teller ein Stück Pizza, dann aßen sie für eine Weile schweigend. Xavier könnte förmlich sehen, wie sich die Zahnräder in ihrem Kopf drehten, also hielt er den Mund.

Sobald sie eineinhalb Stücke gegessen hatte, schob sie ihren Teller zur Seite. «Ich hätte da schon ein paar Ideen, doch vorher muss ich wissen, was genau du dir vorstellst.»

Erleichtert, dass sie sein Angebot nicht rundweg abgelehnt hatte, legte er seine Serviette neben den Teller.

«Mein Wissen über PR passt auf einen Stecknadelkopf. In Hinsicht auf die Firma brauche ich jemand für das interne

Sie rückte ihre Brille zurecht und starrte nachdenklich über seine Schulter ins Leere.

Sein Magen verkrampfte sich. «Ich weiß, dass das viel Verantwortung ist und ich eine Menge Arbeit brauche …»

«Das ist es nicht.» Sie wedelte mit ihrer zarten Hand, um seinen Kommentar abzutun. «Das Jobprofil entspricht mehr oder minder den Aufgaben, die ich jetzt bereits für Harrison übernehme, lediglich in einer anderen Größenordnung.»

Er nickte. «Was stört dich dann?»

Sie öffnete zweimal den Mund und schloss ihn wieder, bevor sie ihre Gedanken schließlich in Worte fasste.

«Zugegeben, Politik ist nicht der Bereich, in dem ich landen wollte, als ich meinen Abschluss in Marketing gemacht habe. Doch Harrison und ich haben von Anfang an gut miteinander harmoniert, und dasselbe gilt für seine Frau.»

Oh, zur Hölle. Er war das Problem. Xavier «harmonierte» mit niemandem. Wenn er nicht mal jemanden wie Peyton dazu bringen konnte, sich in seiner Nähe einigermaßen wohlzufühlen, dann steckte er in Schwierigkeiten. Allein der Gedanke, jemand anderen für die Position anwerben zu müssen, sorgte schon dafür, dass ihm der kalte Schweiß auf die Stirn trat. Verzweifelt versuchte er, eine Lösung zu finden.

«Dürfte ich fragen, warum du dich ausgerechnet für mich entschieden hast?»

«All das könntest du auch bei jemand anderem finden, wenn du die Bewerber vorher genau auswählst.» Ihr Blick huschte über sein Gesicht. «Ich …»

«Du musst deine Entscheidung nicht jetzt sofort treffen. Schlaf eine Nacht darüber, und vielleicht könnten wir uns morgen noch einmal treffen. Ich könnte dich in der Firma herumführen und dir alles genauer erklären.» Er schloss die Augen und bemühte sich, seinen Kiefer zu entspannen, bevor er erneut ihren Blick einfing. Ganz oder gar nicht. «Soll ich dir die Wahrheit verraten, Peyton? Ich vertraue dir. Und die Leute, von denen ich das behaupte, kann ich an einer Hand abzählen. Du kanntest mich bereits, bevor ich zum Millionär geworden bin. Du warst nett zu mir, als du es nicht hättest sein müssen. Du bist genau die Person, die ich an meiner Seite brauche.»

Geschafft. Himmel, er fühlte sich, als hätte er sich eine Schlagader aufgeschlitzt.

Ein langsames Lächeln verzog ihre Lippen, und gleichzeitig bildete sich eine kleine Falte zwischen ihren Brauen. «Wir sehen uns morgen. Dein Büro, vier Uhr.»